"Demenz" – Jenseits der Diagnose

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Als Krankheitsbild und psychische Störung gehört die »Demenz« mittlerweile zu den meistuntersuchten Phänomenen. Allein: Ihre pflegefachdidaktische Aufbereitung steht erst am Anfang. Ulrike Greb, Wolfgang Hoops und Studierende des Lehramtes für berufliche Schulen der Universität Hamburg haben »das Leben mit einer Demenz« zwei Semester lang ins Zentrum der theoretischen Seminararbeit gestellt, ein Lernfeld curricular geplant und fallbezogen vier Lernsituationen pflegefachdidaktisch ausgearbeitet. Dieser Band eröffnet den Lehrenden für Pflegeberufe einen kulturkritischen Blick auf die Demenz und führt sie in die berufsdidaktischen Grundlagen des Strukturgitteransatzes für die Pflege ein. Ein schulpraktisch erprobtes Unterrichtssetting wird vorgestellt, seine Realisierbarkeit erläutert und fachwissenschaftlich reflektiert.

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„Demenz“ – Jenseits der Diagnose

30.05.2008

Ulrike Greb, Wolfgang Hoops (Hrsg.)

»Demenz« – Jenseits der Diagnose Pflegedidaktische Interpretation und Unterrichtssetting

U. Greb, W. Hoops (Hrsg.)

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ISBN: 978-3-938304-89-1

Mabuse-Verlag

Mabuse-Verlag Wissenschaft 105


Mabuse-Verlag Wissenschaft 105

Ulrike Greb, Prof. Dr. phil., MA Päd., Krankenschwester (Arbeitsschwerpunkte: 3V\FKLDWULH XQG 3V\FKRVRPDWLN /HKUHULQ I U 3Ă€HJH 3URIHVVRULQ I U %HUXIVSlGDJRJLN PLW GHP 6FKZHUSXQNW 'LGDNWLN GHU EHUXĂ€LFKHQ )DFK richtung Gesundheit der Universität Hamburg, im Institut fĂźr Berufs- und :LUWVFKDIWVSlGDJRJLN GHU )DNXOWlW (U]LHKXQJVZLVVHQVFKDIW 3V\FKRORJLH XQG %HZHJXQJVZLVVHQVFKDIW $UEHLWV XQG )RUVFKXQJVVFKZHUSXQNWH /HK UHUELOGXQJ +RFKVFKXOGLGDNWLN %LOGXQJVIRUVFKXQJ (QWZLFNOXQJ IDFK didaktischer Kriteriensätze im Strukturgitteransatz (ÂťDialektik, Deutung, 'LGDNWLNŠ XQG %LOGXQJ I U HLQH QDFKKDOWLJH (QWZLFNOXQJ *,Q( Wolfgang Hoops .UDQNHQSĂ€HJHU PLW PHKUMlKULJHU %HUXIVHUIDKUXQJ LQ %HWKHO LQ GHU 5HKDELOLWDWLRQ LP DPEXODQWHQ 3Ă€HJHGLHQVW XQG LP $OWHQKHLP 6WXGLXP I U GDV /HKUDPW 3Ă€HJHZLVVHQVFKDIWHQ PLW GHP 8QWHUULFKWVIDFK HYDQJHOLVFKH 7KHRORJLH I U EHUXĂ€LFKH 6FKXOHQ YRQ DQ GHU 8QL versität OsnabrĂźck, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. Ulrike Greb im Institut fĂźr Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Hamburg. 3Ă€HJHZLVVHQVFKDIWOLFKH XQG SĂ€HJHIDFKGLGDNWLVFKH )RUVFKXQJVVFKZHUSXQNWH 3Ă€HJHHWKLN UHNRQVWUXNWLYH )DOODUEHLW HPSLULVFKH +DQGOXQJVIRUVFKXQJ LQ GHQ %HUXIVIHOGHUQ *HVXQGKHLW 3Ă€HJH XQG GLVNXUVWKHRUHWLVFKH %HJU QGXQJHQ IDFKGLGDNWLVFKHU .ULWHULHQVlW]H QDFK GHP 6WUXNWXUJLWWHUDQVDW] 3Ă€HJH


Ulrike Greb, Wolfgang Hoops (Hrsg.)

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Druck: Faber, Mandelbachtal ,6%1 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten


Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen und Anlagen ................................................6 Einleitung .......................................................................................................7 Wolfgang Hoops Kapitel 1: »Demenz« – Jenseits der Diagnose .......................................... 11 Ulrike Greb Kapitel 2: Das Strukturgitter für die Fachrichtung Pflege ʊ Entstehungsgeschichte und Begründungszusammenhang .....................31 Ethel Narbei Kapitel 3: ›Der Tag, der in der Handtasche verschwand‹ Möglichkeiten der fachdidaktischen Filmanalyse ...........................................................103 Ulrike Greb/Wolfgang Hoops Kapitel 4: Didaktische Analyse und Planung des Lernfeldes ............... 117 Studierende der Universität Hamburg (LOB Gesundheit) Kapitel 5: Didaktische Gestaltung des Lernfeldes ›Pflege und Begleitung demenziell erkrankter Menschen‹........................................145 Schlussbetrachtung ...................................................................................239 Autorenverzeichnis ...................................................................................245 Literatur und Quellenverzeichnis............................................................248 Anhang .......................................................................................................263


Verzeichnis der Abbildungen und Anlagen

Abb. 1: Didaktisches Instrumentarium ...........................................................9 Abb. 2: Didaktische Matrix am Beginn des Entwicklungsprozesses ...........37 Abb. 3: Spezifizierung des Strukturgitters für die Pflege in der Psychiatrie 39 Abb. 4: Referenzrahmen des Strukturgitters Pflege .....................................48 Abb. 5: Dialektische Reflexionskategorien für die Pflegedidaktik ..............96 Abb. 6: Auszug Transkription zum Film von Marion Kainz (2001) ..........107 Abb. 7: Auszug Tabellarische Transkription...............................................108 Abb. 8: Codebaum für die Filmanalyse ...................................................... 111 Abb. 9: Screen shot Filmanalyse mit MAXQDA ....................................... 114 Abb. 10: Spezifizierung didaktischer Reflexion durch die Filmanalyse .... 115 Abb. 11: Gliederung nach dem Perspektivenschema W. Klafkis ...............123 Abb. 12: Querschnitt des Gehirns in Frontalansicht...................................165 Abb. 13: Reflexionskategorie Selbst- und Fremdwahrnehmung................203 Anlage 1: Szenische Transkripte.................................................................264 Anlage 2: Bestellung des Films ..................................................................269 Anlage 3: Verlaufsplanung nach Heinrich Roth .........................................270 Anlage 4: Curriculare Organisation des Lernfeldes....................................271 Anlage 5: Beobachtungsauftrag AG 1 (5.1.1).............................................272 Anlage 6: Beobachtungsauftrag AG 2 (5.1.1 und 5.2)................................273 Anlage 7: Beobachtungsauftrag AG 3 (5.1.1 und 5.3)................................274 Anlage 8: Der Panter (Rainer Maria Rilke) ................................................275 Anlage 10: Lektüreübung Leibphilosophie ................................................276 Anlage 10: Lektüreübung. Textauszug Sabine Weidert (2007: 85-88).......278 Anlage 11: Seminarplanung im Sommersemester 2007.............................280 Anlage 12: Strukturgitter für die beruflichen Fachrichtung Gesundheit ....281 Anlage 13: Strukturgitter Intensivpflege und Anästhesie ...........................282 Anlage 14: Kleines Glossar zum Medizinischen Exkurs............................283 Anlage 15: Arbeitsaufträge zur Talk Show .................................................284 Anlage 16: Die Spiegelmetapher — Exkurs zur Lernsituation 3 ...............287

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Einleitung

Mit dem vorliegenden Band verfolgen wir mehrere Ziele: Vor allem geht es uns darum, die ersten Zugänge zur Didaktik der beruflichen Fachrichtung Gesundheit und Pflege anhand studentischer Erfahrungen und Planungsarbeiten zu dokumentieren (Kapitel 5). Damit möchten wir zugleich eine hochschuldidaktische Konzeption zur Diskussion stellen. Den zweiten Schwerpunkt legen wir auf die musterhafte Darstellung und Demonstration der Umsetzung des erziehungswissenschaftlichen Strukturgitteransatzes für die Pflegeberufe. Dies geschieht auf der Basis einer historischen Einführung: Das Strukturgitter für die Fachrichtung Pflege – Entstehungsgeschichte und Begründungszusammenhang (Kapitel 2). Mit dieser Herangehensweise eng verknüpft ist der pädagogische Zugang zum Unterrichtsgegenstand: ›Pflege und Begleitung demenziell erkrankter Menschen. Eine Einführung in die Gerontopsychiatrie‹. Diesen inhaltlichen Schwerpunkt, unsere dritte Intention, erläutert Wolfgang Hoops im ersten Kapitel Demenz Ȇ Jenseits der Diagnose. Insgesamt liegt uns eine Form der Unterrichtsforschung am Herzen, über die wir hoffen, mit den Lehrenden an beruflichen Schulen in einen direkten Austausch zu treten. Von daher sind die studentischen Beiträge auch so angelegt, dass sie zur unmittelbaren Erprobung einladen und den unter schulischem Alltagdruck planenden Kollegen die Arbeit hilfreich erleichtern können. Dadurch erhoffen wir uns, zumindest hier vor Ort in Hamburg, eine Belebung der pflegedidaktischen Diskussion. Sie bildete eine wesentliche Voraussetzung für die kooperative Lehrerbildung im neuen Masterstudium und die damit verknüpften studentischen Forschungsprojekte, welche in der Phase des Kernpraktikums vorgesehen sind. Zur Konzeption Dieser Band, der den Lernfeldinhalt »Demenz« aufnimmt, um in eine bildungstheoretische Form der Lernfeldarbeit einzuführen, eröffnet den Lehrenden für Pflegeberufe einen kulturkritischen Blick auf die Demenz und führt sie in einer mehrperspektivischen Betrachtung in die berufsdidakti-

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Ulrike Greb/Wolfgang Hoops

schen Grundlagen des Strukturgitteransatzes für die Pflege ein. Ein bereits schulpraktisch erprobtes Unterrichtssetting zur Demenz (über 30 Ustd.) am Beispiel Altenpflege wird vorgestellt, seine Realisierbarkeit erläutert und fachwissenschaftlich reflektiert. Fachdidaktik Gesundheit und Pflege In der Didaktik der beruflichen Fachrichtung Gesundheit und Pflege arbeiten wir mit unterschiedlichen pflegedidaktischen und allgemeindidaktischen Instrumenten. Pflegedidaktisch ziehen wir das (Basis-)Strukturgitter für die Pflege heran (Greb 2003ff.). Der Referenzrahmen dieses Strukturgitters und die dort gewonnenen neun Reflexionskategorien bilden den Kern der didaktischen Analyse und geben der Arbeit mit den allgemeindidaktischen Konzepten eine spezifische Ausprägung und Struktur (vgl. Kapitel 2). Diese Reflexionskategorien werden auf allen didaktischen Ebenen immer wieder herangezogen. Sie heißen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Leiderfahrung und Leibentfremdung (Feld 1.I) Mimesis und Projektion (Feld 1.II) Individualität und Standardisierung (Feld 1.III) Beziehung und Methode (Feld 2.I) Selbstbestimmung und Fremdbestimmung (Feld 2.II) Tradition und Emanzipation (Feld 2.III) Individuum und Organisation (Feld 3.I) Humanität und Sozialtechnologie (Feld 3.II) Rentabilitätsanspruch und soziale Gerechtigkeit (Feld 3.III)

In der curricularen Planung des Lernfeldes arbeiten wir bildungstheoretisch nach dem Modell der Kritisch-Konstruktiven Didaktik von Wolfgang Klafki. Die Studierenden orientieren sich an der von Klafki vorgesehenen Systematik des Perspektivenschemas. Bedingungsanalyse und Begründungszusammenhang werden in Kapitel 4 für das gesamte Lernfeld eingeführt, in Kapitel 5 erläutert jede studentische Arbeitsgruppe einzeln die zu ihrem thematischen Abschnitt einer Lernsituationen gehörenden Entscheidungsfelder Thematische Struktur (4), Erweisbarkeit (5), Zugänglichkeit und Darstellbarkeit (6) sowie die Lehr-Lernprozessstruktur (7). Für die Planung der Lehr-Lernprozessstruktur ziehen wir unterschiedliche Didaktische Konzepte heran, die in ihrer Offenheit und ihrem Grad an Schülerorientierung variieren. Die Anordnung dieser vorliegenden Lehreinheit und der Lernsitu-

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Einleitung

ationen folgt einem Problemlöseprozess (Anlage 3: 270) gemäß der Phasierung nach Heinrich Roth. Deshalb übernehmen die erste und zweite Lernsituation überaus deutlich eine problemorientierte Prozessplanung, die dritte Lernsituation ist dagegen am Artikulationsschema Ingo Schellers erfahrungsbezogen angelegt und die vierte Lernsituation wurde handlungsorientiert nach dem Konzept von Hilbert Meyer arrangiert.

Berufspädagogik: didaktische Instrumente Unterrichtsplanung: Didaktische Konzepte Didaktische Modelle

z.B.: exemplarisches Lehren Perspektivenschema W. Klafkis ProblemProblemorientierter Unterricht

Fachdidaktische Strukturgitter Analyse von Lernfeldern

Prof. Dr. Ulrike Greb

HandlungsHandlungsorientierter Unterricht

Planung von Lernsituationen

ErfahrungsErfahrungsorientierter Unterricht

Abb. 1: Didaktisches Instrumentarium

Exemplarik Weil ein entscheidender Schwerpunkt der pflegedidaktischen Arbeit auf der Entwicklung und Förderung der Hermeneutischen Einzelfallkompetenz liegt, haben wir die gesamte Lerneinheit exemplarisch an der Situation einer Frau Mauerhoff ausgerichtet, die uns im Dokumentarfilm von Marion Kainz begegnet. Da die juristische Situation bezüglich des Filmeinsatzes im Unterricht diffizil ist (Anlage 2: 269:), wir aber den planenden Lehrern dennoch die Möglichkeiten geben möchten, unseren Entwurf an ihren Schulen zu er-

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Ulrike Greb/Wolfgang Hoops

proben, haben wir Ethel Narbei gebeten, ihre aufwändige Transkription dieses Films in szenischen Auszügen zur Verfügung zu stellen (Kap. 3, Anlage 1: S. 264ff.). Und Stefan Buhr, der bereit war, uns seine Erfahrungen mit einem Videoprojekt im Seminar vorzustellen, hat uns seine Einstiegssequenz zur Veröffentlichung überlassen (vgl. 5.3.5, S. 218). Danksagung Unser Dank gilt in erster Linie allen Studierenden, die im Wintersemester 2006/07 den Mut aufgebracht haben, ihre im Proseminar entwickelte Lehreinheit an einer Altenpflegeschule zu erproben — ohne ihre curriculare Vorarbeit und Videodokumentationen hätte unser Hauptseminar im darauf folgenden Sommersemester so nicht stattfinden können —, der Altenpflegeschule, die uns die Zustimmung zur Erprobung dieser Einheit gab und selbstverständlich den Schülerinnen und Schülern der Ausbildungsklasse. Für sie, noch am Beginn der Ausbildung stehend, war es besonders schwer mit einer fremden didaktischen Konzeption (strenger Fallbezug) und ständig wechselnden Lehrpersonen zurechtzukommen. Sie haben unsere Studierenden trotz aller Widrigkeiten gut unterstützt und, soweit das die widrigen örtlichen Bedingungen zuließen, den Unterricht überaus aktiv sowie selbstbestimmt mitgestaltet. Den Studierenden waren sie durch ihre Feedbacks zum Unterricht ein wichtiges Korrektiv und eine nachdrückliche Herausforderung für das weitere Studium. Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren. Insbesondere jenen Studierenden, die während des gesamten Redaktionsprozesses als Ansprechpartner zuverlässigen Kontakt zu uns hielten und für die zügige Korrekturarbeit in ihren Gruppen Sorge getragen haben. Wir danken besonders Ethel Narbei und Stefan Buhr, die uns extern und trotz ihrer enormen unterrichtlichen Eigenverpflichtungen mit einem Beitrag unterstützt haben.

Hamburg, den 30. März 2008 Ulrike Greb und Wolfgang Hoops

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Wolfgang Hoops

Kapitel 1: »Demenz« – Jenseits der Diagnose

1.1 Demenz: kulturelle Dimensionen eines Begriffs ..............................12 1.1.1 Diesseits der Diagnose..........................................................................13 1.1.2 Ansätze für Pflegende ...........................................................................15

1.2 Jenseits einer Kriterien- und Zuschreibungslogik ...........................17 1.3 Exkurs: Das nicht-demente Selbst ....................................................20 1.4 Demenz: das Ende des Rollenspiels ..................................................23 1.5 Zum Gegenstandsverhältnis des ›davor‹...........................................25 1.6 Anforderungen für die Pflege und Pflegefachdidaktik ....................28

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Wolfgang Hoops

1.1 Demenz: kulturelle Dimensionen eines Begriffs Wenn Wissenschaftler heute über »Demenz« sprechen, scheint die Mehrheit der Autoren schon immer darin übereingekommen, dass »Demenz« vornehmlich ein medizinisches Problem sei. Namentlich geht es darum, wie sehr Angehörige, Betroffene, Pflegende oder wie Fachärzte mit dieser Krankheit zurechtkommen oder eben gar nicht damit zurechtkommen. Immer erfahren wir mindestens: Der Einzelne erleidet ein Nachlassen des Gedächtnisses, den Verlust der Geistesfähigkeit sowie Sprach-, Wahrnehmungs- oder Verhaltensstörungen (vgl. Mace/Rabins 1986: 20-25, S. 19). Diese Sichtweise bestimmt auch uns professionell Pflegende in der täglichen Arbeit maßgeblich: Demenz bedeutet Defizit bis zum Tod.1 Im Mittelpunkt stehen Begriffe wie Abnahme oder Abbau.2 Doch das war nicht immer so. In der Frömmigkeitsbewegung des Pietismus zum Beispiel mit seiner besonderen Wertschätzung der Kindheit sah man in den heute als Demenzsymptomen klassifizierten Verhaltensformen eine Rückkehr zu kindlicher Unschuld und damit zu Gott (vgl. Moeller 2000: 303). In der Kunst, so etwa im Musikdrama ›Tristan und Isolde‹ Richard Wagners, finden wir die Idee, dass Ich-Verlust, Selbstvergessenheit und Versunkensein ein Moment der Einsicht und des Glücks für die Menschen bereit halten. Beide Beispiele zeigen: Gegenüber allzu eindeutigen und allzu voreiligen Erklärungen ist Skepsis angebracht. Es ist an der Zeit, innezuhalten und »Demenz« multiperspektivisch zu denken. Und das bedeutet: die betroffenen Menschen genauer anzuschauen, jeden von ihnen einzeln wahrzunehmen, sie als Andere in ihrer Andersheit zuzulassen. Gerade das leistet eine primär defizitorientierte Sicht nicht. Doch auch die gegenwärtige (gesundheits-)politische Realität animiert uns wenig, die vorgefertigten Wahrnehmungskanäle für die Betroffenen zu öffnen. Im Wesentlichen gehorcht sie zwei Prinzipien: Separation der Be-

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Vgl. die selbstverständliche Abwärtsstufung bis zur »Bettlägerigkeit« bei Neumann 2002: 27. 2 Vgl. Grond 1984: 80: »Der abgebaute, demente Kranke«

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troffenen und Reduktion der Kosten für die Pflege der an Demenz erkrankter Menschen. Zwar sind unlängst eine Vielzahl von Demenzstationen eingerichtet worden mit der Folge, dass die Betroffenen normale Altenpflegeeinrichtungen kaum mehr behelligen. So wird gegenwärtig alles getan, um nach einer Phase dieser aus Fördermitteln finanzierten Modellprojekte auf Eigenfinanzierung umzustellen (Freter 2003: 18f.) – und das geht natürlich einher mit Reduzierung des Personalbudgets. Finanziert werden von der Pflegeversicherung ohnehin nur Minimaltätigkeiten wie Attendswechsel oder Abduschen. Unzureichend berücksichtig wird die Präsenz, also Zeit. Pflege im eigentlichen Sinne, Zuspruch, Beschäftigung, Unternehmungen, geistige Anregung, kommen gar nicht vor. Das heißt die für die Betroffenen wesentliche Pflege wird in der Realität zunehmend Angehörigen überlassen oder solchen Pflegenden, die weitgehend ohne Verdienstoptionen pflegen. Da überrascht es nicht, wenn die Pflegeversicherung die Pflegeleistungen kaum anhand gerontopsychiatrischer Kriterien begutachtet. Sogar auf die beschriebenen medizinischen Symptomatiken im engeren Sinne geht das Pflegeeinstufungsverfahren nicht dezidiert ein (Schwarz 2006). Das liegt zum einen an dem funktionalen und auf die Logik von Abrechnungsverfahren statt auf die Bedürfnisse von pflegebedürftigen Menschen konzentrierten Pflegebegriff der Pflegekassen. Hier handelt es sich um ein Verständnis von Pflege, das pflegewissenschaftlichen Standards diametral entgegen steht.3 Es bleibt festzuhalten, dass Pflegende durch diese Rahmenbedingungen, um nicht zu sagen die Dramenbedingungen der Pflegeversicherung4, kaum dazu motiviert werden, jenseits der Diagnose über Demenz nachzudenken. 1.1.1 Diesseits der Diagnose Erst kürzlich machte der Freiburger Neurologe und Psychiater Joachim Bauer (2006) erneut darauf aufmerksam, dass naturwissenschaftliche Erklärungsansätze der letzten Dezennien sich als gänzlich unzureichend erwiesen

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Vgl. Positionspapiere des Deutschen Berufsverbands für Altenpflege (dbva) e.V. 2008 Fussek (2008) verwendet für diesen Phänomenkomplex neuerdings den Terminus »Mafia«. Man wird sehen, ob er sich da durchsetzt (vgl. 5.2.2, S. 197) 4

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haben. Beispielsweise hätten von ihrem objektiven Befund der Plaques her, weitaus mehr Menschen als »dement« zu gelten (Braak 1993: 97). Um also nicht allen Plaquesbesitzern gleich eine Demenz zu attestieren, schlägt Bauer im Rekurs auf aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung über so genannte Spiegelneuronen einen neueren Erklärungsansatz vor. Diese Neuronen sind in der Lage, dem Bewusstsein die soziale Umwelt als Gegenbild widerzuspiegeln. Vereinfacht gesprochen, lernt der Mensch mit ihrer Hilfe durch dauernde innere Rückspiegelungs- oder Widerspiegelungsleitung von der äußeren Realität. Nach dieser Hypothese geht Demenz einher mit einem Verlust dieser durch Spiegelneuronen ständig aktivierten Lern- und Wiederlernaktivität des menschlichen Gehirns; Demenz hieße quasi zerbrochene Spiegelneurone. Ein teilweiser Ausfall oder Wegfall des dauernden sozialen Lernens bedeutet »… im biosemiotischen Sinne also im Sinne der Fähigkeit, durch Austausch symbolischer Zeichen mit anderen Menschen eine gemeinsame Wirklichkeit zu konstruieren.« Mit der Folge: Verlernen, Vergessen und Identitätskrisen.5 Rein naturwissenschaftlichen Erklärungsansätzen zu folgen, und das zeigt sich nicht nur im Falle einer Demenz, ist bei den wenigsten »Krankheiten« zwingend.6 Überhaupt bleibt die Zuordnung des Terminus Krankheit weitgehend schwierig.7 Denn die Bezeichnung Demenz umfasst eine Vielzahl diffuser Symptome, die sich kaum in eine immergleiche und lineare Phasenabfolge pressen lassen.

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Bauer 2006: 2ff.; vgl. Bauer 1994. Am ehesten wohl noch bei denen, bei welchen wir uns nicht krank fühlen, sondern tatsächlich krank oder verletzt sind. 6

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Das hier von Eva-Maria Neumann (2002: 23) wiedergegebene Zitat von Angehörigengruppen der Alzheimer Gesellschaft aus Hannover (1993), klingt mir in ihrem Ausschließlichkeitspathos nach einer Beschwörungsformel oder durchaus sinnvoller Entlastungsstrategie als nach rationaler Auseinandersetzung mit dem Problem der Zuordnung »Krankheit«: »die Krankheit akzeptieren – nur dann ist adäquater Umgang mit dem Erkrankten möglich.«

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So wird man mit dem Bio-Psycho-Sozialen-Modell (Uexküll 2003), einem biosemiotischen Ansatz (Bauer 1994)8 oder mit sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen (Siegrist 2005) pflegerisch präziser arbeiten können und auch zu anderen Einstellungen gelangen. Schon die Überschrift von Bauers Aufsatz drückt das aus: »Erst eine seelische, dann eine neurobiologische Erkrankung« (Bauer 2006: 1). Nach Bauer’s These von der Transformation des Sozialen ins Gehirn, wie sie die Scharnierstelle der Spiegelneuronen leistet, ist es eben nicht gleichbedeutend, in welcher Weise ich mich als Pflegender vor den als dement geltenden Menschen verhalte und welches Bild von mir dadurch über die Neuronenaktivität des Gegenübers im Anderen entsteht. Die Prozesse, die Bauer in der Terminologie der Neurobiologie beschreibt, werden im fachdidaktischen Strukturgitteransatz (Feld 1.II) von Greb unter dem Gesichtpunkt von Selbst- und Fremdwahrnehmung thematisiert (Greb 2005: 83): »Die Art und Weise, in der sich Pflegende durch fremdes Leid berühren lassen, ist maßgeblich abhängig von ihrer leiblichen Selbstwahrnehmung. In ihren bewussten und unbewussten Möglichkeiten, auf das fremde Krankheitserleben Bezug zu nehmen, sich mimetisch anzuschmiegen und auf Projektionen eigener Schmerzerfahrung und Ängste zu reflektieren, liegt das professionelle Potential.« 1.1.2 Ansätze für Pflegende Neben den Arbeiten von Bauer und Greb haben eine Vielzahl weitere gezeigt, wie wichtig es ist, eine angemessene hermeneutische Sinndeutung gegenüber Betroffenen einzuüben. Innerhalb der Pflegeausbildung wird es dazu notwendig sein, Altenpflegeschülern zu vergegenwärtigen, wie man überhaupt das Alter, Verlernen, Vergesslichkeit und Ich-Auflösung – möglichst in pluralen Zugängen (wissenschaftlich, ethisch, historisch und ästhetisch) – sinnvoll kontextualisieren kann, um eine professionelle Ausbildung hermeneutischer Einzelfallkompetenz zu befördern. Eine Kompetenz, die

8 Bauer versteht sich selbst als produktiver Weiterdenker der zeichen- wie systemtheoretischen Rahmenkonzeption Thure von Uexkülls.

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ihrem Kern nach keineswegs neu ist: Schon Oliver Sacks (1998) berichtet in Fallerzählungen davon, wie neurologische Störungen individuelle Kontexte verlangen. So hat er darin beispielsweise den Einfluss von Räumen und Orten gegenüber schwer zugänglichen Patienten immer wieder deutlich werden lassen. In der Pflegeforschung haben qualitativ angelegte Arbeiten, wie die von Corry Bosch (1998: 111-128) mit der Konstruktion der »Vertrautheit« für eine Erweiterung der Perspektive gesorgt. Vertrautheit bedeutet hiernach originär lebensweltliche Bezüge für demenzerkrankte Bewohner zu ermöglichen, d.h. für das Individuum: Denn »Vertrautheitserfahrungen sind im strengen Sinne individuell« (Bosch 1998: 113). Ferner hat sich Naomi Feil mit ihrem Alltagstheateransatz der Validation unlängst auch im deutschsprachigen Raum Gehör verschafft. Validation richtet sich streng auf die Äußerungsformen der als dement geltenden Bewohner aus und versucht situationale Verhaltensstrategien für Pflegende improvisierend einzuüben (Feil 2007). Jüngst hat ein Theaterprojekt in Mölln, »Kunststücke Demenz«, einen künstlerischen Umgang zwischen Schauspielern und den verwirrt scheinenden Menschen auf der Theaterbühne aufgezeigt und dokumentiert (Bremen/Greb 2007). Dabei entwickelten sich vor den Zuscheuern spontan kleine Dramen, fragmentarische Betrachtungen des Lebens und episodische Tanzeinlagen. All diese Ansätze stärken in unterschiedlicher Weise einen individuellen und gleichsam einen situativen Zugang gegenüber dement geltenden Menschen und stehen somit in parteilicher Weise für diese Menschen ein. Sie machen kenntlich, dass es für Altenpflegeschüler vorrangig gegenüber diesem Personenkreis um Ausbildung einer hermeneutischen Einzellfallkompetenz geht, sprich um Ausbildung situativer und individueller Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz. Beides wird im zugrundeliegenden Strukturgitteransatz, sowohl in seiner ausgewiesenen Perspektivität als auch in seinen Kategorien (vgl. Kap.2) professionell vorbereitet und in seiner geplanten Anwendung unterrichtspraktisch realisiert. Zunächst werde ich darstellen, warum es wissenschaftsimmanent derart große Probleme gibt, genau zu sagen, was Demenz denn eigentlich ist. Daraufhin schlage ich vor, Vergesslichkeit und Verwirrtheit am Lebensende als einen Weg des subjektiven Bewusstseins zum Tode zu verstehen. Es wird

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gezeigt, welche Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen für die Pflegepraxis und Pflegeausbildung erwachsen (vgl. Kap. 5).

1.2 Jenseits einer Kriterien- und Zuschreibungslogik Für die geforderte kulturtheoretische Erweiterung des pflegewissenschaftlichen Blicks ist es hilfreich, an Simone den Beauvoirs (2000) Reflexionen über das Alter zu erinnern. Die französische Existentialistin und Feministin hat darauf hingewiesen, dass sich eine alte Frau weder alt fühlen, noch die äußeren Zeichen des Alterns als »objektive« selber wahrnehmen müsse. Das innere Bild der leichthin so genannten »Alten« ist eben gar nicht alt. Ihnen wird ihr Alter durch den Blick von Außen, vom sogenannten Anderen her signalisiert und angesagt. Körperliche Erscheinungen wie faltige Haut, graue Haare, sehnige Stimme, Postklimakterium lösen kulturell vermittelte schablonierte Reaktionen der Außenwelt aus: »Du bist alt«, »Du bist unattraktiv«, »Du wirst gesellschaftlich nicht mehr gebraucht«.9 Schon diese Skizze einer existenziellen Sicht auf das Alter veranlasst uns, zu fragen, ob sich eine von Außen vergesslich anmutende Person innerlich vergesslich fühlt, oder ob eine von Außen verwirrt scheinende Person sich innerlich wirklich verwirrt fühlt? Der Terminus Demenz erweist sich hier zur Erklärung nur begrenzt aussagekräftig, es sei denn man verstünde die dahinterliegende existenzielle Erfahrung Betroffener. Betroffene hört man oftmals sagen »Ich bin vergesslich«, sie fragen »Was ist mit mir?« oder diagnostizieren selber »Mir ist so komisch«. Hier findet die subjektorientierte Demenzforschung Anknüpfungspunkte10. Im Unterschied dazu kann ein Demenztest den Betroffenen sogar Schaden zufügen, denn die Zuschreibung »Demenz« hat einen so endgültigen Charakter wie eine HIV-Diagnose. Man wird’s nicht mehr los und ist fortan sozial geoutet (vgl. Dörner 1975: 137-149).

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Die kränken. Sehr sogar. So zieht sich die Person peu á peu von Gesellschaften, von der Gesellschaft und deren »objektiv« vertretenen Realitäts- und Altersverständnis zurück. Schon darin kann eine Ursache für die äußerliche Zuschreibung »Vergesslichkeit« ausgemacht werden. 10 Vgl. z.B.: Piechotta 2008; Stechl 2008; Uhlmann/Uhlmann 2008.

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Wolfgang Hoops

Aus kulturtheoretischer Perspektive erscheint die Demenz ohnedies eher wie eine willkürliche Setzung. Das wies der französische Historiker Michel Foucault bereits 1961 in jenem Kapitel seiner Monographie Wahnsinn und Gesellschaft11 nach, das ausschließlich der Demenz gewidmet ist. Er zeigte darin, dass Demenz im Grunde ein vollkommen symptomoffenes Geschehen ist, so dass sich alle möglichen Arten von psychischen Kulminationen hier zuordnen lassen. Auch kann sie durch alle erdenklichen Ursachen bedingt sein. Foucaults Untersuchung bezieht sich auf die uns bis heute prägende Epoche der frühen Neuzeit (16. bis 18. Jhd.). Damals begann die methodische Erforschung des Wahnsinns mit wissenschaftlichen Mitteln (vgl. Greb 1995: 9-20.). Und Demenz wird hier jene Kategorie, der man alles subsumiert, was in die anderen Diagnosen nicht hineinpasst.12 Man nennt diese Erscheinungen »stupiditas« (Verblödung) oder negativ »De-Mentia«, also Gehirnschwund, Denkunfähigkeit oder auch nur »Ohne Geist«. Erst seitdem Alois Alzheimer 1906 seine Studie über Auguste Deter der medizinischen Öffentlichkeit vorstellte, wird Demenz positiv, d.h als ein mikroskopisch nachweisbares Resultat von konkreten experimentellen Beobachtungen definiert. Hier sieht der Forscher nun den konkreten Abbau im Kopf verstorbener Kranker. Die »Demenz« sieht er freilich nicht, nur bestimmte Erscheinungsformen eines bestimmten Gehirns. An dieser Sichtweise hat sich in medizinischen Lehrbüchern (zur Altenpflegeausbildung) bis heute nicht wesentliches verändert.13 Somit bleibt »Demenz« bei Alzheimer eine bloße Zuschreibung, die nichts von den individuellen Lebenswelten der Betroffenen weiß. Differen-

Foucault 1999: Wahnsinn und Gesellschaft, im Original: Histoire de la folie (Geschichte des Wahnsinns oder Irrsinns). 12 Liest man ein Zitat Dufour bei Foucault wird auch schnell klar, dass unter den Symptomatiken in der Tat unterschiedliches gefasst wurde: »Die von Demenz Befallenen sind in allen Dingen sehr nachlässig und indifferent; sie singen, lachen und amüsieren sich ohne Unterschied über das Böse wie über das Gute. Hunger, Kälte, Durst (…) werden in ihnen sehr gut spürbar, aber sie sind deshalb nie niedergeschlagen. Sie spüren auch die Eindrücke, die die Gegenstände auf die Sinne ausüben, aber sie wirken nie davon beeindruckt.« 11

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Vgl. Kurz 2002; Möller 1996; Weis/Weber 1997.

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zierte Handlungs- und Wahrnehmungsoptionen für die Pflegenden ergeben sich daraus nicht. Die Pflege der an Demenz erkrankten Menschen auf das von Alzheimer inaugurierte Analysepotential zu beschränken, ist gleichbedeutend mit reiner »Patientenignorierung«14. Foucaults Studie über die Demenz ruft dagegen ins Bewusstsein, dass die eigentliche Pflegeleistung ganz woanders liegt: »Als Form des Wahnsinns wird die Demenz nur von außen erlebt und gedacht, als Grenze, an der sich die Vernunft in einer unzugänglichen Abwesenheit aufhebt« (Foucault 1999: 262). Das ist zunächst eine sehr irritierende Aussage, behauptet Foucault doch nicht weniger, als dass die Demenz in unserem Fall nur von den Pflegenden oder Angehörigen erlebt wird, keineswegs aber von denen, welchen das Attribut »dement« zugeschrieben wird. Damit wirft Foucault genau genommen die Frage auf, wer denn nun eigentlich pflegebedürftig ist? Die für pflegebedürftig gehaltenen dementen Patienten oder etwa diejenigen, die sich den Menschen nur als animal rationale vorstellen können. Wenn es für Foucault die Erfahrung der Abwesenheit der Rationalität ist, die den Inhalt der Demenzerfahrung ausmacht, dann kann er nur letzteres meinen. Es sei dahingestellt, wie weit man dem Philosophen darin folgen mag, soviel aber ist gewiss: Herauszufinden, wo sich nun Pflegebedürftige in ihrem vermeintlichen demenziellen Erleben befinden, kann nur gelingen, wenn man die eigenen Empfindungen und Urteile reflektiert, sobald man Ihnen handlungspraktisch begegnet. Es sind die Grenzgänge der Pflege, wie wir sie pflegedidaktisch z.B. mit der Kategorie Empathie und Intervention beschreiben15. Foucaults kulturtheoretische Überlegungen legen nahe, auch andere als die wissenschaftlichen Wissensformen heranzuziehen, um Sprache, Ausdrucksmöglichkeiten und Handlungsrepertoire der Pflege zu bereichern. So

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Wittneben 1994: 151: Patientenignorierung markiert hiernach die gegenläufige Bewegung zur (gewünschten) Patientenorientierung: Versuche das Offene und jeweils Besondere zu erfragen, zu erfahren oder zu erforschen, bleiben bessere Ausnahmen. Meist gibt man sich mit dem Wenigen, was man meint zu wissen, zufrieden und das, was man in der Pflegesituation auch noch wahrnehmen könnte, wenn man es denn könnte, ignoriert man vollends oder sagt »ja, ja«. Lacht eventuell noch darüber und geht zum nächsten Pflegebedürftigen weiter. Ihre Zahl ist ohnehin groß. 15

Vgl. Greb 2003: 176-200: Beziehung und Methode.

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Wolfgang Hoops

finden wir zum Beispiel in der Kunst einen Kontext, der sich dem, was demenziell Beeinträchtigte erleben, Vergesslichkeit, innerer Formzerfall oder Ich-Auflösung, längst gestellt hat. Das Erleben »weltferner Einsamkeit«16 von Gustav Mahler ist dafür genauso ein Beispiel wie das Vergessen. Vergessen, vor allem das Selbstvergessen kennen wohl die meisten Menschen im Zustand des Verliebtseins oder der Liebe, wie es uns beispielsweise »Tristan und Isolde« in Wagners gleichnamigem Musikdrama (1957) vor Augen führen, wenn die Beiden sich erst mühsam wieder ihrer selbst vergewissern: Isolde: »Bin ich's? Bist du's? Halt ich dich fest?« Und der geliebte Tristan: »Bin ich's? Bist du's? Ist es kein Trug?« Dieser Verwirrtheitszustand, mehr noch, dieser Ich-Verlust geht schließlich in bewusste Selbstaufgabe und Hingabe an den Anderen über. Man ist eins und vergisst seine rationalen Wurzeln. Alles in allem ist diese offenkundig simple, aber in der Realität wohl seltene Liebessprache gleichsam auch eine Einsicht in eine demente Episode, in der die für heutige Pflegende typischen Kennzeichen der Demenz — wie geistige Verwirrung oder Sprachdurcheinander — durchaus positiv besetzt sind. Um nun für Schüler in der Altenpflegeausbildung einen didaktischen Zugang zu demenziellen Phänomenen zu finden, was ja nicht allein wegen des enormen Altersunterschieds objektiv eines der größten didaktischen Probleme überhaupt darstellt, scheint uns somit gerade die Thematik Liebe und Selbstvergessenheit geeignet.

1.3 Exkurs: Das ›nicht-demente Selbst‹ Foucaults Analyse spürte uns eine interessante Frage auf, der wir uns hier annehmen möchten: Wovon gehen wir eigentlich aus, wenn wir vom Normalen sprechen? Diese Frage stand lange Jahre im Zentrum der Psychiatriekritik, die sich unter den Bezeichnungen Antipsychiatrie und Sozialpsychiatrie in der Nachkriegszeit etablierte (vgl. Greb 1995). Neben zahlreichen Werken hat uns diese Bewegung eine Reihe bedeutsamer Fragen für den Altenpflegeunterricht hinterlassen:

16 Floros 1977: 430: Mit »Ich bin der Welt abhanden gekommen ...« beginnt beispielsweise eines der Rückert-Lieder Gustav Mahlers.

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