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06.09.2011
17:34 Uhr
Seite 1
„Gewichtsverlauf und Stillen“ betrachtet die verschiedenen Aspekte einer Stillbeziehung im Zusammenhang und leitet zu deren Beobachtung und Beurteilung über den gesamten Verlauf hinweg an.
und erweiterte Fassung der elektronischen Arbeitshilfe STILLDOK beigefügt. Diese ermöglicht Ihnen, mit geringem Aufwand individuelle, gut interpretierbare Gewichtskurven zu erstellen und umfassend zu dokumentieren. Die feinen Abstufungen der vorgeschlagenen Dokumentation, differenzierte Interpretationshilfen, viele Beispiele sowie die übersichtliche Darstellung in Frage kommender Maßnahmen ermöglichen eine sichere Beurteilung und – bei Bedarf – frühe und angemessene Interventionen. Unverzichtbar für alle, die sich für das Stillen einsetzen,
Gewichtsverlauf und Stillen
Dem Buch ist eine benutzerfreundlich überarbeitete
Márta Guóth-Gumberger
Gewichtsverlauf und Stillen Dokumentieren, Beurteilen, Begleiten
Eltern-/MütterberaterInnen und Fachpersonal in der Kinderkrankenpflege.
www.mabuse-verlag.de
ISBN 978-3-940529-89-3
Márta Guóth-Gumberger
insbesondere für Hebammen, StillberaterInnen, ÄrztInnen,
Mabuse-Verlag
Inhalt Dank...................................................................................................10 Vorwort...............................................................................................12 1 Einleitung...........................................................................................14 Im Mittelpunkt: die Beziehung zwischen Mutter und Baby................ 15 Die Grundlagen dieses Buches.......................................................... 15 Die Inhalte dieses Buches................................................................. 16 Warum das Augenmerk auf Gewicht und Wachstum richten?............. 17 Neu: Momentaufnahmen zum Verlauf zusammengefügt..................... 17 Neu: Interpretationskriterien auch für die ersten Monate................... 18 Neu: passender Maßstab zum Erkennen feiner Veränderungen............ 18 Neu: Rückschlüsse aus dem grafischen Verlauf der Kurve..................... 19 Neu: ein Programm zum Vereinfachen der Dokumentation................ 19 Wie Sie dieses Buch und das Programm STILLDOK benutzen........... 20 Hinweis zum Lesen der Diagramme.................................................. 21 2 Beratung und Dokumentation...........................................................22 3 Grundsätzliches zum Beurteilen von Stillverläufen...........................26 3.1 Warum ist eine zuverlässige Beurteilung wichtig?.................................26 Dokumentation beim gestillten Baby................................................ 27 Dokumentation beim nicht gestillten Baby........................................ 27 3.2 Warum den gesamten Verlauf betrachten?............................................28 3.3 Kriterien zur Beurteilung des Wachstums und des Stillverlaufs.............29 Beobachtungen – vielschichtige Informationen................................... 30 Ausscheidungen – eine schnelle Einschätzung..................................... 32 Gewichtsverlauf – ein geniales Frühwarnsystem................................. 33 4 Den Gewichtsverlauf dokumentieren................................................34 4.1 Die WHO-Standards als Grundlage.....................................................34 Perzentilkurven............................................................................... 34 z-scores............................................................................................ 35 WHO-Wachstumsstandards............................................................. 36 Folgerungen für gestillte und nicht gestillte Babys............................... 38 Folgerungen für die Unterstützung beim Stillen................................. 39
Inhalt
4.2 Wiegen und messen.............................................................................40 4.3 Wie häufig wiegen?...............................................................................40 4.4 Beurteilung des Gewichtsverlaufs in Zahlen........................................ 42 Der untere Grenzwert für die wöchentliche Gewichtszunahme........... 43 Kopfrechnen oder Kurve?.................................................................. 44 4.5 Gewichtsverlauf von Hand dokumentiert.............................................45 4.6 Gewichtsverlauf in den Vorsorgeheften.................................................47 4.7 Gewichtsverlauf mit dem Programm STILLDOK................................48 Individuelle Gewichtskurven mit STILLDOK.................................. 48 Dokumentation weiterer Informationen mit STILLDOK.................. 49 Diagramme in STILLDOK............................................................. 51 Anwendungsmöglichkeiten von STILLDOK..................................... 52 5 Den Gewichtsverlauf interpretieren...................................................53 Grundlagen der Interpretation......................................................... 53 5.1 Normaler Verlauf oder besondere Situation?.........................................54 Begleiten in den ersten Tagen............................................................ 55 Begleiten in den späteren Wochen...................................................... 55 5.2 Der Gewichtsverlauf beim gesunden termingeborenen Baby................56 Die physiologische Abnahme nach der Geburt.................................... 56 Altersgemäßes Wachstum: perzentilenparallel..................................... 58 Rückschlüsse auf die Milchbildung der Mutter................................... 60 Alltägliche Krankheiten.................................................................... 60 Unterschiedliches Wachstum vor und nach der Geburt....................... 61 Längenwachstum und Kopfumfang................................................... 62 Gewichtsverlauf bei künstlicher Säuglingsnahrung............................. 63 5.3 Kreuzen von Perzentilen nach unten.....................................................64 Suboptimale Gewichtszunahme........................................................ 64 Deutlich zu geringe Gewichtszunahme.............................................. 65 Schwere Gedeihstörung.................................................................... 67 Langsames Kreuzen der Perzentilen.................................................. 69 Langsames Wachstum oder Gedeihstörung?........................................ 69 5.4 Ursachen für zu wenig Milch und/oder nicht ausreichende Gewichtszunahme..................................................73
Inhalt
Mütterliche Ursachen für zu wenig Milch/Gewichtszunahme............. 74 Kindliche Ursachen für zu wenig Milch/Gewichtszunahme................ 76 5.5 Kreuzen von Perzentilen nach oben......................................................79 Übergewicht beim gestillten Baby?.................................................... 79 Sehr reichliches Muttermilchangebot................................................. 83 Übergewicht bei künstlicher Säuglingsnahrung.................................. 84 Übergewicht im zweiten Lebenshalbjahr........................................... 85 5.6 Gewichtsverläufe in besonderen Situationen.........................................86 Beruhigungssauger und Gewichtsverlauf............................................ 86 Brusthütchen und Gewichtsverlauf................................................... 87 Ungewollte Abstillspiralen................................................................ 88 Ein zu kurzes Zungenbändchen........................................................ 89 Ein übermäßig weinendes Baby........................................................ 90 Das frühgeborene Baby.................................................................... 91 Lippen-Kiefer-Gaumenspalte............................................................ 92 Schwere Krankheiten, Behinderungen............................................... 93 Gewichtsverlauf und plötzlicher Kindstod......................................... 93 5.7 Mögliche Fehlinterpretationen.............................................................94 6 Sinnvolle Maßnahmen ergreifen........................................................96 6.1 Stillmanagement in den ersten Tagen...................................................96 Bedingungen für einen guten Stillstart für jede Mutter....................... 97 Weitere Maßnahmen bei Risikofaktoren............................................ 98 6.2 Stillmanagement in den ersten Wochen und Monaten........................101 6.3 Die zentrale Frage: Welche Stillfrequenz?............................................103 Motivation für eine angemessene Stillfrequenz................................. 105 Gibt es Wachstumsschübe?.............................................................. 106 6.4 Maßnahmen beim Beginn der Stillmahlzeit....................................... 106 Vom Baby initiierter Stillbeginn..................................................... 107 Von der Mutter initiiertes Anlegen.................................................. 108 Hinführung zum Saugen an der Brust............................................ 109 Umgewöhnung von der Flasche zur Brust........................................ 110 Beratung bei Anlegeschwierigkeiten................................................. 112 6.5 Abstillspiralen vermeiden....................................................................112
Inhalt
6.6 Maßnahmen bei wenig Milch.............................................................112 Unbegründete Sorge, zu wenig Milch zu haben............................... 113 Einfache Maßnahmen, um die Milchmenge zu steigern................... 114 Zusätzliche Maßnahmen, um die Milchmenge zu steigern................ 114 6.7 Bei Bedarf: Zufüttern an der Brust.....................................................116 Wahl der zugefütterten Milch......................................................... 117 Vom Erwachsenen regulierte Fließgeschwindigkeit............................ 118 Vom Baby regulierte Fließgeschwindigkeit....................................... 119 Verschiedene Hilfsmittel zum Zufüttern an der Brust....................... 121 Die Wahl des Hilfsmittels und des Schlauches.................................. 123 6.8 Zufütterung und Gewichtskurve........................................................124 Aufholwachstum ab Beginn der Zufütterung................................... 124 Die Zufütterung abschätzen........................................................... 125 Aufbau der Milchbildung.............................................................. 126 Reduzierung der Zufütterung......................................................... 127 Babys, die ihren Bedarf nicht zeigen können.................................... 128 Babys, die ein Nahrungsangebot schwer annehmen können.............. 128 6.9 Erfahrungen mit Zufütterung an der Brust.........................................129 6.10 Die negativen Auswirkungen einer Flasche minimieren......................130 6.11 Bei Bedarf: gutes Pumpmanagement..................................................132 6.12 Maßnahmen bei einer schweren Gedeihstörung.................................133 Motivation der Eltern.................................................................... 134 Überprüfung der aktuellen Ernährungssituation.............................. 135 Ausführliche Ernährungsberatung................................................... 135 Begleitung der Eltern..................................................................... 137 6.13 Abfallen der Gewichtskurve bei Stillen und Beikost............................138 6.14 Bindungsförderung, wenn nicht gestillt wird......................................139 7 Zu erwartende Ergebnisse einer übersichtlichen Verlaufsdokumentation....................................................................140 8 Das Wichtigste im Überblick...........................................................142 Das Beratungsziel.......................................................................... 142 Die Beurteilung eines Stillverlaufs und Maßnahmen......................... 142 Die Beurteilung des Gewichts......................................................... 146
Inhalt
Erforderliche Maßnahmen beim Kreuzen von Perzentilen................ 146 Klassifikation: Kreuzen von Perzentilen nach unten......................... 148 9 Beispiele von Stillverläufen..............................................................150 9.1 Normaler Stillverlauf..........................................................................151 9.2 Brusthütchen verursacht zu geringe Gewichtszunahme......................152 9.3 Langsame Gewichtszunahme ohne künstliche Säuglingsnahrung aufgefangen...........................................................154 9.4 Stillen durch Zufütterung von künstlicher Säuglingsnahrung an der Brust erhalten..........................................................................156 9.5 Abfallender Gewichtsverlauf – keine Maßnahmen..............................158 9.6 Ausschließlich gestillt, schwere Gedeihstörung, schließlich Flasche..............................................................................160 9.7 Schwere Gedeihstörung bei künstlicher Säuglingsnahrung.................162 9.8 Übergang zum vollen Stillen bei Frühgeburt mit 840 Gramm............164 9.9 Mangelnde Gewichtszunahme als möglicher Risikofaktor für ALTE und SIDS...........................................................................166 9.10 Überstarker Milchspendereflex und Abstillmedikamente....................168 9.11 Adoptivfamilie: Stillen und Flasche nach Drogenentzug.....................170 9.12 Stillen und Zufütterung an der Brust bei primärer Laktationsinsuffizienz...........................................................172 9.13 Zufütterung an der Brust zu schnell reduziert.....................................174 10 Anhang..............................................................................................176 10.1 Materialien für die Dokumentation von Hand...................................176 10.2 STILLDOK Kurzanleitung................................................................176 Voraussetzungen für die Anwendung von STILLDOK..................... 176 STILLDOK auf den Computer übernehmen................................... 176 Für jedes weitere Kind STILLDOK-Datei neu speichern................. 176 Wenn Sie nur die Gewichtskurve darstellen wollen.......................... 177 10.3 Die CD..............................................................................................178 10.4 Kontaktadressen.................................................................................192 10.5 Anmerkungen....................................................................................195 10.6 Literatur.............................................................................................210 10.7 Register..............................................................................................219
Dank Ohne Anregung und Mitwirkung so vieler Menschen wäre dieses Buch nicht entstanden. Unseren Kindern verdanke ich die Erfahrung des Stillens, die mich tief berührt und verändert hat, und damit letztlich auch die Umorientierung von der Ingenieurin zur Stillberaterin. Die Kombination meiner beiden Berufe machte es mir möglich, das Programm STILLDOK zu entwickeln. Lisa Fehrenbach, der Beauftragten für Stillen und Ernährung des Deutschen Hebammenverbandes, danke ich für den Anstoß, das Programm STILLDOK in einer umfassenderen Form zu veröffentlichen, und für den Kontakt zum Mabuse-Verlag. Tobias Frisch und dem Verlag danke ich herzlich für die Bereitschaft, sich auf dieses Projekt einzulassen, und die gute Zusammenarbeit. Der Weltgesundheitsorganisation WHO ist das umfangreiche Material zum Wachstum gestillter Kinder zu verdanken. Für den angeregten Austausch über Wachstum, Standards und Stillen bin ich Adriano Cattaneo, Andrea Hemmelmayr, Barbara Kämmerer, Ingrid Zittera, Petra Schwaiger und Jutta Siegmund verpflichtet. Für das sorgfältige Lesen und Durcharbeiten des Manuskripts danke ich sehr Katrin Beck, Lisa Fehrenbach, Gabi Fleck, Rudi Gumberger, Andrea Hemmelmayr, Elizabeth Hormann, Barbara Kämmerer, Daniela Karall, Monika Mörtlbauer, Petra Naizari, Gabriele Nindl, Beate Pietschnig, Utta Reich-Schottky, Elien Rouw, Petra Schwaiger, Ute Taschner, Gudrun von der Ohe und Ingrid Zittera; Inken Hesse und Ineke Leiter lasen Teile des Manuskripts. Mit ihrem Hintergrundwissen als Hebamme, Still- und Laktationsberaterin IBCLC1, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin, Kinderärztin, Gynäkologin, Ärztin, Heilpraktikerin, Stillberaterin der La Leche Liga und der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen (AFS), Fachberaterin für Emotionale Erste Hilfe und Sozialarbeiter förderten sie das Buch entscheidend. Ich danke allen, die das Programm STILLDOK getestet und kommentiert sowie Beispielverläufe beigetragen haben: Katrin Beck, Arinya Blochum,
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Dank
Lisa Fehrenbach, Gabi Fleck, Andrea Hemmelmayr, Inken Hesse, Barbara Kämmerer, Daniela Karall, Christa Kebinger, Elisabeth Kurth, Ineke Leiter, Tanja Ludwig, Martin Radon, Gudrun von der Ohe, Petra Schwaiger, Iris Steidle, Ute Taschner und Ingrid Zittera. Ein herzlicher Dank an alle, die das Buch mit Fotos oder besonderen Gewichtsverläufen außerordentlich bereichert haben, vor allem Simone Amon, Eva Bogensperger, Lisa Fehrenbach, Andrea Hemmelmayr, Daniela Karall, Ineke Leiter, Monika Mörtlbauer, Beate Pietschnig, Elien Rouw, Petra Schwaiger, Andrea Siems, Hermann Sonnberger, Ute Taschner, Catherine Watson-Genna, Ingrid Zittera und dem Verband Österreichischer Stillberaterinnen (VSLÖ). Herrn Richard Henninger danke ich für wichtige Hinweise zur Arbeit mit Excel, die in der Anfangsphase der Entwicklung von STILLDOK entscheidend waren. Mein Dank gilt zudem Ingrid Zittera und Winfried Rainer vom Bezirkskrankenhaus Lienz für wesentlich Impulse, STILLDOK benutzerfreundlicher zu gestalten, Impulse, die aus ihrer Anwendung von STILLDOK für Krankenhaus und Stillambulanz entstanden. Und nicht zuletzt danke ich meinem Mann Rudi Gumberger herzlich für seine Geduld und umfangreiche praktische Unterstützung. Márta Guóth-Gumberger
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Vorwort Liebe Leserin, lieber Leser, dieses Buch – ein umfassendes Kompendium zum Thema Gewichtsentwicklung gestillter Kinder – ist ein wahrer Schatz. Es ist das erste Buch im deutschsprachigen Raum, das sich diesem Thema, das immer wieder große Unsicherheiten weckt, widmet. Dass sich gestillte Kinder anders als mit künstlicher Säuglingsnahrung ernährte Babys entwickeln, ist spätestens seit der Veröffentlichung der WHO-Standards zur Gewichtsentwicklung bekannt. Die Gewichtsentwicklung bei mit künstlicher Säuglingsnahrung gefütterten Kindern war in den meisten Fällen sehr einfach zu verfolgen. Muttermilch ist ein komplexes, lebendiges Nahrungsmittel mit mehr als 250 bekannten Bestandteilen (deren Funktion noch lange nicht vollständig entschlüsselt ist), die individuell variieren, je nach Alter und Gesundheitszustand des Babys, nach Tageszeit, dem Verlauf einer Stillmahlzeit und nach Ernährung und Ernährungsstatus der Mutter. Heute, in einer Zeit, in der immer mehr Frauen ihre Babys stillen wollen, sehen wir nicht nur, dass die Muttermilch viel komplexer ist als die, bei den vergangenen Generationen so beliebte, künstliche Säuglingsnahrung, sondern auch, dass jede Stillbeziehung ein ganzheitliches, komplexes System ist, das das Mutter-Kind-Paar, die Familie, ja, die ganze Gesellschaft involviert. Von uns als professionellen Beraterinnen wird ein viel genaueres, feinfühligeres Hinschauen und Beobachten verlangt, wenn wir stillende Frauen wirkungsvoll unterstützen wollen. Wir brauchen gutes Werkzeug und differenziertes Wissen, um für unsere Kinder eine stillfreundliche, bindungsfördernde Kultur, eine menschliche Beziehungskultur zu schaffen. Dieses Buch wendet sich an alle, die stillende Frauen beraten, an Gynä kologInnen, Hebammen, KinderärztInnen, Kinderkrankenschwestern und StillberaterInnen. Mit ihm halten Sie ein wertvolles, hilfreiches, profundes Werkzeug in den Händen. Ein Werkzeug, das Ihnen einen klaren, genauen Blick auf die Gewichtsentwicklung als einen zentralen Aspekt der kindli-
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Vorwort
chen Entwicklung erlaubt. Ein Werkzeug, das Ihnen Hilfestellungen zur Be urteilung und, wenn notwendig, zur Verbesserung der Stillbeziehung bietet. Ich wünsche diesem Buch, dass es dazu beitragen kann, dass Sie stillenden Frauen die Hilfe anbieten können, die sie brauchen, damit es Müttern gelingt, ihre Stillziele zu verwirklichen, und Babys so gedeihen, wie es ihrem genetischen Plan entspricht. Berlin, im August 2011
Lisa Fehrenbach Hebamme, IBCLC,
Beauftragte für Stillen & Ernährung
Deutscher Hebammenverband e.V.
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Einleitung
Sie begleiten Mütter und Babys, und Sie möchten das Stillen fördern und unterstützen. Sicherlich sehen Sie häufig sich normal entwickelnde Stillbeziehungen. Ab und zu jedoch stehen Sie wahrscheinlich vor folgendem Dilemma: Sie wollen die Einführung der Flasche vermeiden, sehen aber, dass die Gewichtszunahme eines Babys nicht zufriedenstellend ist. Zunehmend alarmiert warten Sie, bestellen das Baby zu einem Kontrolltermin, die Situa tion spitzt sich zu, der Stress wächst. Irgendwann können Sie es nicht weiter verantworten, schlagen nur eine einzige Flasche am Abend vor, und innerhalb kurzer Zeit heißt das Resultat Abstillen – kein befriedigendes Ergebnis, weder für das Stillpaar noch für Sie. In diesem Buch finden Sie eine Erklärung dafür und Alternativen, wie Sie einen solchen Verlauf vermeiden können. Sie haben über Jahre viel Erfahrung gesammelt, das Gedeihen eines Babys zu beurteilen. Dieses Buch wird Ihre Beobachtungen bestätigen und durch weitere Anregungen ergänzen. Es fasst zunächst die Zeichen eines normalen Stillverlaufs als Basis für jeden Kontakt mit einer stillenden Mutter zusammen. In vielen Fällen reicht dies aus, um eine gut verlaufende Stillbeziehung zu bestätigen. Manchmal jedoch zeigen sie an, dass die Situation intensiver angeschaut werden muss. Das Buch stellt dafür eine übersichtliche Verlaufsdokumentation vor, die nach kurzer Einarbeitungszeit den Überblick verbessern und zu mehr Zeit und Klarheit in der Beratung führen wird. Die Verlaufsdokumentation ermöglicht es auch, die Wirksamkeit vorgeschlagener Maßnahmen zu überprüfen. BeAbb. 1: Stillen kann die Beziehung zwischen sonders wertvoll ist dies für kritische Mutter und Baby vertiefen und festigen. Fälle, in denen Unsicherheit besteht. Foto: Karl Grabherr, www.karlgrabherr.at
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Einleitung
Im Mittelpunkt: die Beziehung zwischen Mutter und Baby
Auch wenn sich dieses Buch mit Fakten wie Gewichtsverlauf und sachlichen Beobachtungen befasst, bleibt die Förderung der Beziehung zwischen Mutter und Baby immer das Wichtigste. Die Bemühungen, den Stillverlauf verlässlich zu beurteilen und angemessen zu reagieren, dienen dem übergeordneten Ziel, diese Beziehung zu stärken.2 Das bei jeder Stillmahlzeit ausgeschüttete Hormon Oxytozin, der enge Körperkontakt und eine Kette von intuitiven gegenseiAbb. 2: Ein Stillpaar nach 3½ Monaten Stillpause und Relaktion – die tigen Reaktionen positive Auswirkung auf die Beziehung ist das Wichtigste. (K.D.)3 tragen wesentlich zum Aufbau der Bindung bei. Bei einer eingespielten Stillbeziehung ist das Saugen selbstverständlich, das Baby wird satt und Mutter und Kind haben Freude am Stillen. Eine klare Prägung auf die Brust und reichlich Muttermilch sind gewiss nicht alles, aber sie wirken sich unterstützend und erleichternd auf die Mutter-Kind-Beziehung aus. Die Bindung zwischen Mutter und Baby ist eingebettet und getragen von der Bindung zum Vater und zu anderen wichtigen Bezugspersonen. Dieses Netz trägt alle Beteiligten und spielt eine wichtige Rolle beim Aufbau der Stillbeziehung. Das Buch verfolgt das Ziel, das Stillen zu schützen und damit auch die Beziehungen in der Familie zu stärken. Die Grundlagen dieses Buches
Diese Publikation ist aus der Praxis und für die Praxis entstanden. Grundlage sind 422 Fallbeispiele, für die Informationen über Stillmanagement,
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Einleitung
eventuelle Probleme, Maßnahmen und der Verlauf dokumentiert wurden. Die Gewichtskurven wurden dafür in die grafische Darstellung der WHOStandards für gestillte Kinder eingetragen.4 Zum Teil liegen auch Daten über Länge und Kopfumfang vor. 295 Verläufe stammen aus der Tätigkeit der Autorin als Still- und Laktationsberaterin IBCLC in freier Praxis aus den Jahren 1999 bis 2011, 127 Verläufe sind von anderen Fachkräften5 und von Müttern6 zur Verfügung gestellt worden. In vielen Verläufen traten beim Stillen Probleme unterschiedlicher Schwere grade auf. Sie liefern die Grundlage, um herauszufinden, wie sich Stillprobleme auf den Gewichtsverlauf auswirken. Die Aussagen des Buches basieren auf diesen Verläufen und der Fachliteratur. Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass ein Beurteilungskonzept, das sich bei besonderen Stillsituationen herauskristallisiert und bewährt hat, auch bei der Betreuung von normalen Stillverläufen große Vorteile bietet. Die Inhalte dieses Buches
Das Buch bemüht sich, praxisrelevante Informationen bereitzustellen. Es geht von einem normalen Stillverlauf und dem dabei angemessenen Stillmanagement aus. Es erläutert, warum es wichtig ist, Beobachtungen, Ausscheidungen und Wachstum des Kindes im Zusammenhang zu betrachten und bei besonderen Situationen sorgfältig auszuwerten (Kap. 3.3). Klare Kriterien für die Beurteilung des Stillens erläutern, was anhand einer individuellen Gewichtskurve zu erkennen ist (Kap. 5). Kommentierte Fotos und Gewichtskurven7 sowie eine Sammlung von Fallbeispielen mit Gewichtskurve, Ausgangssituation, Interventionen und Ergebnissen (Kap. 9) erleichtern die Interpretation ähnlicher Kurven. Für nicht zufriedenstellende Stillverläufe oder Probleme werden die wichtigsten Maßnahmen übersichtlich zusammengefasst vorgestellt (Kap. 6). Sie basieren auf internationalen und nationalen Leitlinien, der umfangreichen Fachliteratur und langjähriger Beratungspraxis. Außerdem finden Sie Hinweise, wie wertschätzend beraten und die Mutter-Kind-Beziehung gestärkt werden kann. Die Quellen und einige weiterführende spezielle Anmerkungen sind am Ende des Buches
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Einleitung
zusammengefasst. Beigefügt sind Hilfsmittel für die Dokumentation von Hand und das Programm STILLDOK. Damit haben Sie ein erprobtes und bewährtes Handwerkszeug für die Begleitung von Mutter-Kind-Paaren an der Hand. Doch sind in erster Linie einfühlsame Beratung, Fachwissen und fachliche Intuition von entscheidender Bedeutung. Dieses Buch und die Dokumentationshilfen können sie nicht ersetzen, sondern nur ergänzen und bestätigen. Es geht nicht darum, Zahlen übermäßige Bedeutung zuzumessen, sondern darum, die vorhandenen Informationen zum Wohl von Mutter und Baby optimal zu nutzen. Warum das Augenmerk auf Gewicht und Wachstum richten?
Im ersten Lebensjahr eines Kindes entwickelt und vertieft sich die Bindung zu seinen Eltern, die Sinneswahrnehmung entfaltet sich, vielfältiges Lernen auf allen Ebenen findet statt. Das Kind wächst in die Familie hinein. Sein körperliches Wachstum liefert die unentbehrliche Voraussetzung dafür, dass dieser komplexe emotionale, kognitive und soziale Prozess ablaufen kann. Das Wachstum wird leicht messbar im Gewichtsverlauf abgebildet, und in Verbindung mit Beobachtungen und Ausscheidungen ist zu erkennen, ob die körperlichen Rahmenbedingungen für Wohlbefinden, Beziehungsaufbau und altersgemäße Entwicklung vorliegen. Wenn diese beeinträchtigt sind, kann das viele Ursachen haben, die entsprechende Maßnahmen erfordern. Es sollte jedoch immer gleichzeitig überprüft werden, ob Krankheit oder eine nicht ausreichende Nahrungszufuhr zu dem Problem beitragen. Mit dem Bereich Nahrungsmenge und Gewicht befasst sich diese Publikation. Neu: Momentaufnahmen zum Verlauf zusammengefügt
Das Buch greift bisher veröffentlichte und bewährte Konzepte auf, ergänzt sie und entwickelt sie weiter. In den letzten 15 Jahren ist vor allem die Fachliteratur zum Stillen in englischer Sprache außerordentlich angewachsen. Zur Dokumentation und Beurteilung von Stillsituationen wurden verschiedene Materialien veröffentlicht. Sie beziehen sich jeweils auf eine Momentaufnahme, wie sie in
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Einleitung
Bewertungsskalen zur Beurteilung des Stillens8, der Mamille9, des Zungenbändchens (Hazelbaker-Scale)10 oder im Beobachtungsbogen für eine Stillmahlzeit (S. 188 f.) dargestellt sind. Auch die Berechnung der durchschnittlichen Gewichtszunahme seit dem tiefsten Gewicht nach der Geburt erfasst nicht die einzelnen Veränderungen bis zum aktuellen Zeitpunkt. Die übersichtliche Verlaufsdokumentation in diesem Buch ist eine Weiter entwicklung, welche die Gewichtswerte und ausgewählte Informationen aus verschiedenen Momentaufnahmen zu einem Verlauf zusammenfasst, in den Mittelpunkt stellt und auch die Veränderungen in der Zwischenzeit genau betrachtet.11 Damit liefert sie wesentliche neue Informationen, erlaubt Rückschlüsse darauf, wie es zur akuten Situation gekommen ist, und zeigt, wie Maßnahmen wirken.12 Zum ersten Mal wird eine große Anzahl von grafisch dargestellten Gewichtsverläufen gestillter Kinder veröffentlicht. Neu: Interpretationskriterien auch für die ersten Monate
Die Literatur über das Wachstum und die Gewichtszunahme eines gestillten Babys ist umfangreich.13 Die Vorschläge zur Beurteilung sind unter schiedlich. Von der WHO veröffentlichte Interpretationskriterien für das Wachstum beziehen sich in erster Linie auf das Alter etwa ab der Einführung von fester Kost.14 Die vorliegende Publikation stellt erstmals Kriterien für die differenzierte Beurteilung der individuellen Gewichtskurve und des Stillverlaufs auch für die ersten sechs Monate zur Verfügung. Ob Babys nach sechs Monaten noch weiter gestillt werden, wie es national und international empfohlen wird15, hängt davon ab, ob das Stillen während der ersten sechs Monate aufrechterhalten werden konnte oder nicht. Beurteilungskriterien und vorgeschlagene Maßnahmen für das erste Lebenshalbjahr verfolgen das Ziel, das Stillen in dieser Phase zu erhalten, weil weltweit16 und auch in deutschsprachigen Ländern etwa die Hälfte der Babys im zweiten Lebenshalbjahr nicht mehr gestillt wird17. Neu: passender Maßstab zum Erkennen feiner Veränderungen
Grundlage der Beurteilung des Wachstums sind die WHO-Standards für gestillte Kinder.18 In der neueren Fachliteratur zum Stillen werden ausge-
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Einleitung
wählte Diagramme der WHO-Standards abgedruckt, in der Regel die Kurven Gewicht-über-Alter von 0 bis 2 Jahren, das heißt, in einem Maßstab mit einer sehr engen Zeitskala.19 Die übersichtliche Verlaufsdokumentation in diesem Buch schlägt als Weiterentwicklung vor, die Grafiken Gewicht-über-Alter von 0 bis 6 Monaten zu verwenden.20 Bei diesem Maßstab mit einer weiten Zeitskala ist sofort zu erkennen, ob die Gewichtskurve altersgemäß ist und damit höchstwahrscheinlich ein normaler Stillverlauf vorliegt. Selbst leichte Veränderungen können innerhalb von wenigen Tagen erkannt werden, lange bevor andere Anzeichen oder ein wirkliches Problem vorliegen. Sie können das Stillma nagement erfragen und Verbesserungen vorschlagen, die sofort greifen und damit das Entstehen von Problemen vermeiden helfen. Mittelschwere Probleme können lange vor klinischen Zeichen erkannt und ohne Zeitdruck untersucht sowie frühzeitige und vergleichsweise schonendere Maßnahmen ergriffen werden, die zu besseren Ergebnissen führen. Dass auch schwerwiegende Probleme wie extremes Unter- oder Übergewicht oder schwere chronische Erkrankungen bei einer solchen Dokumentation zu erkennen sind, versteht sich von selbst. Neu: Rückschlüsse aus dem grafischen Verlauf der Kurve
Neu sind auch die detaillierten Kriterien für Rückschlüsse, die aus dem grafischen Verlauf einer Gewichtskurve beispielsweise bei Knicken, beim Kreuzen von Perzentilkurven und aus der Steigung der Kurve gezogen werden können. Die Diagramme geben häufig wertvolle Hinweise. Anschließend ist es erforderlich, sie in der Beratung zu überprüfen. Neu: ein Programm zum Vereinfachen der Dokumentation
Die vorgeschlagene übersichtliche Verlaufsdokumentation kann von Hand durch Zeichnen einer individuellen Kurve in das entsprechende Diagramm der WHO-Standards erfolgen. Neu ist das diesem Buch beigelegte Programm STILLDOK, das mit minimalem Aufwand den Gewichtsverlauf eines Babys in einem geeigneten Maßstab in den WHO-Standards grafisch darstellt. Das Programm ermöglicht außerdem die Aufzeichnung der wich-
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Einleitung
tigsten Informationen in einer übersichtlichen Tabelle und liefert automatisch weitere Parameter wie genaues Alter und Gewichtszunahme in Gramm pro Woche. Wie Sie dieses Buch und das Programm STILLDOK benutzen
Wenn Sie sich einen schnellen Überblick verschaffen und die Inhalte des Buches sofort in der Praxis anwenden wollen, lesen Sie die Einleitung, die Zusammenfassung in Kapitel 8 sowie in Kapitel 5, wie Probleme anhand des Gewichtsverlaufs erkannt werden können. Blättern Sie das Buch durch und schauen Sie sich die Kurven und Fotos mit den Bildunterschriften und die Beispielsammlung in Kapitel 9 an. Sie können anhand der Kurzanleitung in Kapitel 10.2 sofort mit dem Programm STILLDOK Gewichtskurven darstellen und diese bei Ihren Beratungen nutzen. Sie können Erfahrungen sammeln und bei Interesse später mehr Details nachlesen. Natürlich ist es auch möglich, umgekehrt vorzugehen und sich zuerst mit den Hintergründen in den Kapiteln 3 bis 5 auseinanderzusetzen oder einzelne Kapitel zu lesen, die für Ihre Tätigkeit interessant sind. Eine Übersicht der wichtigsten Maßnahmen finden Sie in Kapitel 6. Das Buch wendet sich fachübergreifend an folgende Zielgruppen, die sich mit unterschiedlichen Aufgaben und Schwerpunkten um Mutter und Baby kümmern und sich für das Stillen einsetzen, unabhängig davon, ob sie neu in diesem Bereich arbeiten oder bereits viel Erfahrung haben: • Hebammen; • Still- und Laktationsberaterinnen IBCLC (International Board Certified Lactation Consultant); • ÄrztInnen (insbesondere KinderärztInnen, GynäkologInnen und ÄrztInnen im Krankenhaus, in der Geburtshilfe und auf Kinderstati onen) und ihre MitarbeiterInnen, insbesondere ArzthelferInnen; • Pflegepersonal im Krankenhaus (Hebammen, Gesundheits- und KinderkrankenpflegerInnen, Gesundheits- und KrankenpflegerInnen); • ehrenamtliche Stillberaterinnen beispielsweise der La Leche Liga (LLL) und der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen (AFS); • ElternberaterInnen/MütterberaterInnen;
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Einleitung
• interessierte Fachkräfte anderer Berufsgruppen, die mit Müttern und Babys arbeiten. Die hier vorgestellten Beurteilungskriterien können für zwei verschiedene Aufgabenstellungen angewandt werden. Einerseits helfen sie bei der einmaligen Einschätzung einer momentanen Situation unter Berücksichtigung des Verlaufes bis zu diesem Zeitpunkt. Das ist hilfreich für die Entscheidung, ob ein Weiterverweisen erforderlich ist. Manchmal ist es eine Herausforderung zu klären, ob eine Situation noch im Rahmen des „Normalen“ ist oder nicht. Andererseits ist das vorgeschlagene Vorgehen hilfreich bei besonderen Situationen, um nach der ersten Einschätzung den Verlauf weiter zuverlässig zu verfolgen, passende Maßnahmen zu ergreifen und ihre Wirkung zu evaluieren. Hinweis zum Lesen der Diagramme
Bei den Diagrammen in den Kapiteln 3, 4, 5, 6 und 9 wird die individuelle Gewichtskurve des Kindes in Schwarz dargestellt, der WHO-Standard zum Vergleich in Grau. Außerdem gilt für die Legenden: Beginn… Text im Rahmen mit Pfeilspitze oberhalb der Gewichtskurve benennt einen Zeitpunkt.
Stillen
Text mit Verweislinie unterhalb der Gewichtskurve markiert einen Zeitraum.
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