Mabuse-Verlag Wissenschaft 113
Birgit Panke-Kochinke, geb. 1954, ist Didaktikerin, Pflegewissenschaftlerin, promovierte Historikerin und habilitierte Soziologin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Zentrum f체r Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Witten und als Lehrbeauftragte der Universit채t Osnabr체ck und der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe.
Birgit Panke-Kochinke
Berufliche Handlungskompetenz erwerben Ergebnisse der qualitativen Evaluation eines Curriculums in der Gesundheits- und Krankenpflege
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
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Satz: Wolfgang Röckel, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main Druck: Prisma Verlagsdruckerei, Frankfurt am Main ISBN: 978-3-940529-93-0 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten
Inhalt Vorwort ............................................................................................... 8 1
Einleitung .......................................................................................... 11
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Die didaktischen Grundlagen .......................................................... Kontextorientiertes Lernen. Die neurowissenschaftliche Grundlage .. Das explizite und implizite Wissen .................................................... Emergenz und Kompetenz. Die systemtheoretische Perspektive ........ Systemische Achtsamkeit ................................................................... Diagnostische, salutogenetische und klientenzentrierte Haltung ........
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3 Die empirische Untersuchung .......................................................... 3.1 Die Ergebnisse .................................................................................... 3.2 Die Konstruktion des Curriculums ..................................................... 3.2.1 Die berufliche Handlungskompetenz .................................................. 3.2.2 Die Konfliktfeldanalyse ...................................................................... 3.2.3 Das Ausbildungsziel ........................................................................... 3.2.4 Die curriculare Struktur .................................................................... 3.3 Das Forschungsdesign ...................................................................... 3.3.1 Methodische Grundlagen ................................................................. 3.3.2 Der Zeitraum der Evaluation ............................................................ 3.3.3 Die beteiligten Personengruppe ........................................................ 3.3.4 Die Evaluationsinstrumente .............................................................. 3.4 Die Evaluationsergebnisse ............................................................... 3.4.1 Die Zwischenergebnisse ................................................................... 3.4.1.1 Der erste Zwischenbereicht .............................................................. 3.4.1.2 Der zweite Zwischenbericht ............................................................. 3.4.1.3 Der dritte Zwischenbericht ............................................................... 3.4.1.4 Zusammenfassung der Ergebnis im Ăœberblick der drei Ausbildungsjahre ......................................................................
35 35 40 40 41 41 44 47 47 51 51 52 55 56 56 62 68 71 5
3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 4 4.1 4.2 4.2.1
Die impliziten und expliziten Handlungsmodelle ............................. 76 Kongruenz und Intraversion ............................................................. 76 Defragmentierung und Introversion .................................................. 78 Die LĂśsungsstrategien ...................................................................... 81 Der Transfer ................................................................................... 87 Determinanten fĂźr Lehr- und Lernprozesse in dualen Ausbildungen ...87 Parameter zur Analyse von Lehr- und Lernprozessen ...................... 90 Das Analyseinstrument ..................................................................... 91
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Die emergente Simulation .............................................................. 99
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Perspektiven .................................................................................. 113
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Literatur ........................................................................................ 119
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„Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruß und unnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt; in der Christenheit weniger Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe.“ (Comenius 1657, zit. nach Raithel 2009: 93–94))
Berufliche Handlungskompetenz erwerben
Vorwort Die Perspektive ist keineswegs neu. Comenius hat es bereits ebenso eindeutig wie verständlich ausgedrückt: Es geht darum, die Unterrichtsweise aufzuspüren, bei der die Lehrenden weniger lehren und die Lernenden dennoch mehr lernen und das zu mehr Freiheit, Vergnügen und „wahrhaftigem Fortschritt“ führt. Modern ausgedrückt und für die duale Berufsausbildung zugespitzt also die Determinanten von Lehr- und Lernprozessen herauszufiltern, die Lehr- und Lernprozesse so beeinflussen können, dass sie nachhaltig eine Haltung hervorbringen, die selbst gesteuert ein lebenslanges Lernen begründet. Und zwar so, dass sie zielgerichtet eine Menschenbildung unterstützt, die sich ethisch begründet, Qualifikationen und Kompetenzen vermittelt und damit den Erwerb einer beruflichen Handlungskompetenz vorbereitet. Das ist untrennbar mit „Vergnügen“ am Lernen, also „Spaß“ beziehungsweise Motivation, verknüpft. Und das ist auch verknüpft mit dem Anspruch, „unnütze Dinge“ zu lassen und so einen Raum der „systemischen Achtsamkeit“ (Arnold 2007) zu entfalten, in dem die notwendige Ruhe und Gelassenheit für „vergnügtes“ Lernen stattfinden kann. Woran lässt sich aber nun erkennen, was die gewünschten Lernprozesse befördert und was sie behindert? Wo findet sich in solchen Lernprozessen das „Vergnügen“, dass unverzichtbar ist? Und wie findet man heraus, welche Lerngegenstände „unnütz“ und welche „nützlich“ sind? Das sind grundlegende Fragen, die bei der Planung didaktischer Prozesse berücksichtigt werden müssen. Die Schülerinnen und Schüler nennen das „Korrespondenz“ und beschreiben diesen positiven Lernprozess sehr genau. Für sie sind diagnostische Fähigkeiten notwendig, um die „richtigen“ Fragen stellen zu können. „Springen können“, also motiviert und willentlich handeln zu können, ermöglicht am Ende „Zufriedenheit“. Um die „richtigen Fragen“ stellen zu können, muss man über Wissen und Erfahrung, vor allem Problemlösungsstrategien verfügen. Zufriedenheit und damit auch Wohlbefinden kennzeichnen Gefühlszustände, die ein hohes Maß an innerer Ausbalancierung erfordern. Sie hängen ab von den Vorgaben und Handlungsmöglichkeiten, die jeder Lernende bereits mitbringt. Sie gründen auf einem biografisch geprägten Handlungsmuster, das in etwa so zu formulieren 8
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wäre: Ich bin zufrieden vor dem Hintergrund dessen, was ich mir ermöglichen darf und entsprechend auch genießen kann. Wenn Didaktik auf eine Planung und damit Steuerung von Lernprozessen zielt, muss sie sich auch darüber im Klaren sein, wo die Grenzen ihrer Planbarkeit liegen. Folgt man dem neurowissenschaftlichen Erkenntnisstand, sind die Grenzen der Planung denkbar eng. Zum einen ist es das Gefühl, das eindeutig in seiner biografisch angelegten Spur die Denkprozesse in ihren Kontextvariationen bindet. Lernen erfordert vor diesem Hintergrund diagnostische Fähigkeiten und Räume, die selbstreflexive Prozesse ermöglichen. Es geht im Wesentlichen darum, neue Wege des Lernens, die der eigenen Persönlichkeit entsprechen, entdecken und nutzen zu können. Diese Perspektive lässt sich ergänzen durch eine Perspektive, die Bildungsprozesse und damit auch Prozesse der Aneignung von Wissen und Erfahrung unter einer systemtheoretischen Perspektive betrachtet. Der Begriff der Emergenz (Luhmann 1987) erklärt zumindest ansatzweise, warum der Planbarkeit von Lernprozessen immer Grenzen gesetzt sind. Lernprozesse verlaufen abduktiv. Erkennbar ist das Ergebnis, aber weniger der Weg, der zu diesem Ergebnis geführt hat. Solche Prozesse sind individuell unterschiedlich, je nachdem welche Voraussetzungen der Einzelne für das Lernen mitbringt. Es lassen sich allerdings durchaus auf einer Erscheinungsebene Voraussetzungen zur Ermöglichung solcher erwünschter emergenter Lernprozesse erfassen. Man muss sich fragen, wo und wie man eine Haltung, eben die der „systemischen Achtsamkeit“ befördern kann, denn diese bietet überhaupt erst einmal einen geeigneten Raum, um Kompetenzen erwerben zu können. Dem Lernen einen passenden Raum zu geben, war auch ein zentrales Ziel, das die Konstruktion des Curriculums des Kooperationsverbundes niedersächsischer Krankenpflegeschulen leitete. Am Ende des Evaluationsprozesses nun lassen sich einige Ergebnisse präsentieren, die Hinweise auf Einfluss- und Vermittlungsvariablen geben, die emergente und emotional begründete Lernprozesse in der beruflichen Bildung zumindest bedingt durchschaubar machen. Der Evaluation des Curriculums ging eine Entwicklung curricularer Grundlagen nicht nur voraus, sondern begleitete diese auch prozessorientiert. Die Dozenten an beiden Ausbildungsstandorten haben dieses System des „just in time“ produktiv angenommen und übersetzt. Sie haben gelernt, sich ihren eigenen Lernmustern zu stellen. Dem Mehr an Arbeit korrespondierte auch ein Mehr an 9
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„Spaß“. „Spaß“ war das Synonym, das auch die Schülerinnen und Schüler verwendeten, um anzuzeigen, dass eine Arbeit in sich stimmig, gut organisiert und humorvoll im Team ablaufen sollte, wenn sie als erfolgreich bezeichnet werden kann. Das zumindest habe ich in den Dozententeams gespürt. Wir haben uns gemeinsam ein Stück entwickelt im Sinne eines kooperativen Dialogs. Ich danke diesen Menschen für diese äußerst belebende Erfahrung. Und ebenso – ohne eine finanzielle Förderung und geduldige Begleitung durch die Institutionen, also die Ausbildungsträger, hätte ein solches Unterfangen überhaupt nicht in dieser Zeit umgesetzt werden können. Das erhält zumindest meinen Glauben daran, dass Bildungsförderung auch unter ungünstigen Rahmenbedingungen möglich ist. Letztendlich danken möchte ich auch den Schülerinnen und Schülern, die sich einfach in diesem Entwicklungsprozess befanden, ihn getragen und ertragen haben. Ihre kritischen Bemerkungen, ihre Rückmeldungen waren wesentlich, um überhaupt Ergebnisse präsentieren zu können. Und am Ende dieses Prozesses kam auch die Rückmeldung, man habe hinreichend gute Grundlagen gewonnen, um sich in der Praxis sicher fühlen zu können.
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Einleitung
1 Einleitung Wie kann es gelingen, den Prozess des Erwerbs beruflicher Handlungskompetenz (Bader 19990, Bremer 2001, Handreichung 1999, Kooperationsverbund 2009, Panke-Kochinke 2008 b, Pätzold 1999, Rauner 2004. 2006 a, 2006 b) in dualen Ausbildungsgängen der Gesundheitsfachberufe didaktisch so zu planen, dass Schülerinnen und Schüler besser als bisher befähigt werden, in ihrem zukünftigen Beruf professionell zu arbeiten (Kapitel 1)? Um diese Frage beantworten zu können, waren mehrere Schritte erforderlich. In einem ersten Schritt musste geklärt werden, welche bereits bestehenden didaktischen Vorgaben für einen solchen didaktischen Ansatz tragfähig sind (Kapitel 2). Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften (Arnold 2007, 2009, Damasio 2007, Hüther 2006, Markowitsch 2009, Roth 2007, Singer 2002, Spitzer 2002) verweisen für den Bereich der Erwachsenenpädagogik darauf, dass Emotionen das Denken und damit auch die Reflexionsfähigkeit in einem hohen Maße mitbestimmen (Kapitel 2.1). Das, was man aushalten kann, definiert also den Umgang mit dem, was man zu denken und zu handeln in der Lage ist. Veränderung kann in diesem durch Erfahrung fest gefügten Handlungsmuster nur eintreten, wenn die „gefühlte Evidenz“ eine andere wird. Das lässt sich überzeugend nur erfahren durch ein „neues Erleben“. Es ist nicht nur und vor allem nicht primär die Erweiterung der Wissensbestände, die eine Selbstreflexion ermöglicht; es ist vor allem auch eine Frage, in welchen emotionalen und damit auch sozialen Kontexten dieses Lernen abläuft, die die Frage von Selbstveränderung als Ziel von Bildung mitbestimmt. Diese sollten erkennbar werden. Die Ergebnisse der Berufsbildungsforschung (Rauner 2006) lassen eindeutig erkennen, dass es gerade die impliziten Lernprozesse im situativen Handlungsvollzug in der beruflichen Praxis sind, die einen hohen Stellenwert in dem Erwerb von Expertise haben (Kapitel 2.2). Neben der Aneignung von expliziten Wissensbeständen, einer problem- und handlungsorientierten Didaktik in schulischen Lernprozessen und der Erkenntnis, dass man die impliziten Lernprozesse in der Praxis bisher allenfalls ansatzweise aufschlüsseln kann, erschien zum andern die Erkenntnis zentral, dass Lernprozesse dem Prinzip der Emergenz 11
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(Luhmann 1987, 1988) folgen (Kapitel 2.3). Sie lassen sich allenfalls im Rahmen von gezielten Perturbationen ermöglichen, aber keinesfalls in ihrer Wirkung vollständig planen. In einem zweiten Schritt konnten vor dem Hintergrund dieser didaktischen Ansätze Variablen einer Zielbestimmung in der didaktischen Konstruktion für die Ausbildung in den Gesundheitsfachberufen abgeleitet werden. Deutlich wurde, dass eine Haltung der „systemischen Achtsamkeit“ eingeübt werden kann, die die Chance auf die Lernprozesse fördert, die im Sinne einer didaktischen Zielsetzung förderungswürdig sind. Deutlich wurde auch, dass der Erwerb von Selbstlernkompetenzen eine gute Grundlage darstellt, um ein tragfähiges Fundament für ein solches sich selbst ergänzendes Lerngebäude zu bilden. Eine diagnostische, salutogenetische und klientenorientierte Haltung wurden als grundlegende Zielperspektive herauskristallisiert (Kapitel 2.4 und 2.5). In einem zweiten Schritt ließ sich im Rahmen einer empirischen Untersuchung (Panke-Kochinke 2007, 2008 a, 2008 b, 2009 a) exemplarisch klären, wie eigentlich in diesen dualen Ausbildungsgängen gelernt wird (Kapitel 3). So ließen sich Vermittlungsvariabeln erfassen, die Einblick geben konnten in die lernförderlichen und lernbehindernden Szenarien in einem solchen emergierenden Lernprozess. Sicherlich nicht erschließbar waren die Prozesse des impliziten Lernens (Neuweg 2006), die keine sprachliche Form gefunden haben oder nicht mithilfe von textanalytischen Auswertungsverfahren als implizite Argumentationsmuster zu entschlüsseln waren. In der Triangulation der verschiedenen Auswertungsinstrumente ließen sich jedoch, vornehmlich aus dem subjektiven Blick des Auszubildenden, die Vermittlungsvariablen ausmachen, die Lernen im Sinne der angestrebten beruflichen Handlungskompetenz unterstützen oder behindern. Ansatzpunkt zur Erfassung solcher Vermittlungsvariablen waren erkennbare Transferleistungen zwischen den beiden Lernstandorten Schule und Praxis, von den Schülerinnen und Schülern „Korrespondenz“ genannt. Methodenkompetenz als Voraussetzung für einen reflektierenden Umgang mit situativen Anforderungen ließ sich vergleichsweise eindeutig als eine Vermittlungsvariable identifizieren. Sie leiteten die Reflexionsfähigkeit als notwendiges Instrument, um die „richtigen“ Fragen stellen zu können. Erkennbar waren auch die situativen Bezüge, die ein hohes Innovationspotential im Sinne einer perturbierenden Funktion hatten. Das „Springen können“, also die willentliche Motivation, eine Situation vor dem Hintergrund der Reflexion bewäl12
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tigen zu wollen, war zentral. Und ebenso deutlich war erkennbar, dass der Aspekt der empathischen Beziehungsaufnahme und -gestaltung zum Patienten schwierige Transferleistungen erforderte. Er definierte wesentlich das mit, was für Schülerinnen und Schüler „Zufriedenheit“ in der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit ausmachte. Das ist das Praxisfeld, in und an dem am meisten gelernt werden kann und wird. In einem abschließenden vierten Schritt wurden auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse Determinanten für Lehr- und Lernprozesse in dualen Ausbildungen entwickelt (Kapitel 4). Parameter für Lehr- und Lernprozesse ließen sich erfassen. Eine didaktische Grundlage für das Konzept der emergenten Simulation wurde entwickelt (Kapitel 5).
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