Männergesundheit — Frauengesundheit - Hoebel, Hünefeld, Klärs

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Die Soziologin Lena Hünefeld rückt mit „Männer und Depressionen“ die männliche Geschlechtsidentität und die damit verknüpften gesellschaftlichen Erwartungen als Verzerrungsfaktor in Depressionsprävalenzraten in den Mittelpunkt ihrer Magisterarbeit. Ein defizitäres Gesundheitsverhalten der Männer infolge unterdurchschnittlicher Bereitschaft, sich gesundheitsförderlich zu verhalten, ist für die zweite Gewinnerin des Innovationspreises, Gabriele Klärs, unbestritten. Aus dieser Erkenntnis leitet sie einen Ansatz für „gendersensible Gesundheitsberatung“ ab. Gesundheitswissenschaftler Jens Hoebel widmet sich in seiner Arbeit den geschlechtsspezifischen Symptomatiken des akuten Myokardinfarkts (Herzinfarkt) und macht plausibel: Eine frühzeitige Diagnose ist entscheidend für den Erfolg aller notwendigen Akut- und Anschlussbehandlungen. Hierbei berücksichtigt der Jungakademiker die geschlechtsspezifischen Chancen zu autonomem Handeln. Der BKK Innovationspreis Gesundheit wird jährlich mit wechselnden Schwerpunktthemen durch den BKK Landesverband Hessen an (Fach-)Hochschulen in Deutschland ausgeschrieben. Prämiert werden hervorragende wissenschaftliche Arbeiten von Studenten und Absolventen, die Theorie und Praxis des Schwerpunktthemas einander näher bringen.

ISBN 978-3-940529-94-7

9 783940 529947

Männergesundheit – Frauengesundheit

Prämierte Arbeiten des BKK Innovationspreises Gesundheit 2010

„Männergesundheit – Frauengesundheit“ ist aus den Gewinnerarbeiten des 10. BKK Innovationspreises Gesundheit entstanden und beleuchtet aus verschiedenen Fachrichtungen den „kleinen Unterschied“:

Männergesundheit – Frauengesundheit

Männer sind anders als Frauen. Sie werden anders krank, sie sind anders gesund, sie leben anders. Unterschiedliche Arbeits- und Lebensbedingungen von Männern und Frauen, aber auch ein unterschiedliches Gesundheits- bzw. Krankheitsverhalten haben Auswirkungen auf Krankheiten und deren Verläufe.

Hoebel Hünefeld Klärs



Jens Hoebel Lena Hünefeld Gabriele Klärs

Männergesundheit – Frauengesundheit

Prämierte Arbeiten des BKK Innovationspreises Gesundheit 2010

Mabuse-Verlag


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Umschlaggestaltung: Ulrich Dietzel | www.idüll.de Druck: Prisma Verlagsdruckerei, Saarbrücken ISBN: 978-3-940529-94-7 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten


Inhalt

Vorwort ................................................................................................................ 7

Geleitwort ............................................................................................................. 9

Männer und Depression Die männliche Geschlechtsidentität und die damit verknüpften gesellschaftlichen Erwartungen als Verzerrungsfaktor in Depressionsprävalenzraten – Psychotherapeuten berichten über Depressionspatienten aus der Praxis von Lena Hünefeld, M.A. 1 Einleitung .................................................................................................. 13 2 Depression – Das Erkrankungsbild ........................................................... 14 3 Depression - Eine Frauenkrankheit? ......................................................... 22 4 Männer und Depression - das Versteckte leiden....................................... 27 5 Expert(inn)eninterviews mit Psychotherapeut(inn)en zu ihren Praxiserfahrungen mit Depressionspatienten ............................................ 37 6 Interviewergebnisse................................................................................... 46 7 Diskussion ................................................................................................. 58 8 Interventionen............................................................................................ 60 9 Literatur ..................................................................................................... 63

Gesundheitsberatung geschlechtersensibel gestalten von Gabriele Klärs 1 Einleitung .................................................................................................. 69 2 Frauengesundheiten - Männergesundheiten ............................................. 70 3 Personale Gesundheitsberatung ................................................................ 87 4 Gender(n) – wie geht das .......................................................................... 95 5 Gendersensible Gesundheitsberatung ..................................................... 102 6 Fazit und Ausblick .................................................................................. 112 7 Literatur ................................................................................................... 113

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Inhalt

Gesundheitliche Ungleichheit – Soziale Unterschiede im Wissen um Herzinfarktsymptome von Jens Hoebel 1 Einleitung ................................................................................................ 123 2 Stand der Forschung ................................................................................ 125 3 Fragestellung der empirischen Arbeit ..................................................... 136 4 Methodisches Vorgehen .......................................................................... 137 5 Ergebnisse ............................................................................................... 143 6 Diskussion und Schlussfolgerungen ....................................................... 152 7 Literaturverzeichnis................................................................................. 156

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Vorwort „Frauen sind anders krank als Männer, Männer sind anders gesund als Frauen.“ „Frauen leben länger als Männer.“ „Frauen haben mehr medizinische Diagnosen, Männer leiden öfter an potenziell lebensbedrohlichen Zuständen.“ „Frauen betreiben Vorsorgemedizin, Männer Reparaturmedizin.“ „Für Frauen bedeutet Gesundheit Wohlbefinden, für Männer Abwesenheit von Krankheit.“ Die Gegenüberstellung von Thesen zu Frauen- und Männergesundheit ließe sich immer weiter fortsetzen, fest steht jedoch: Frauen und Männer sind unterschiedlich – auch beim Thema Gesundheit. Wurde der weibliche Körper traditionell als die Abweichung zur „Norm“ des Männerkörpers begriffen, hinterfragt die Frauengesundheitsforschung schon seit Längerem die Strategien der Pathologisierung des weiblichen Körpers. Gleichzeitig wurden die Zusammenhänge zwischen Gesundheit und sozialen Faktoren offengelegt und bewiesen, dass die unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen und Männern Auswirkungen auf Krankheitsverläufe haben und sogar zu ganz spezifischen Krankheiten führen können. Um Chancengleichheit in der Gesundheit, d. h. eine gleichwertige gesundheitliche Versorgung von Frauen und Männern, erzielen zu können, müssen beide Geschlechter bei allen für die Gesundheit relevanten Entscheidungen berücksichtigt werden – und das von der Forschung über die Entwicklung neuer Therapien und Medikamente bis hin zu einer geschlechterspezifischen Versorgung. Während das Thema „Gender Health“ in der Schweiz bereits in Forschung und Lehre sowie der Gesundheitspolitik eine feste Größe ist, steckt die Disziplin in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Der BKK Landesverband Hessen hat deshalb im Jubiläumsjahr des BKK Innovationspreises Gesundheit den akademischen Nachwuchs nach Lösungsansätzen zu einer gleichwertigen und geschlechterspezifischen Gesundheitsversorgung gefragt. Der 10. BKK Innovationspreis Gesundheit stand unter dem Schwerpunktthema „Männergesundheit – Frauengesundheit“. Zahlreiche Ausarbeitungen wurden eingesendet, darunter praxisorientierte Konzepte, wie die unterschiedlichen Probleme und Interessen der Ge-

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Vorwort

schlechter bei der Gesundheitsversorgung besser berücksichtigt werden können. Ideen, wie Frauen und Männer motiviert werden können, die eigenen Gesundheitsdefizite zu erkennen und ihnen präventiv vorzubeugen, aber auch die Entwicklung beispielhafter Projekte zu strukturellen Veränderungen und besseren geschlechterspezifischen Versorgung Die schwierige Aufgabe, aus allen eingesendeten Arbeiten die Gewinner auszuwählen hatte eine hochkarätige Fachjury: Professor Dr. Ursula Härtel, Leiterin Arbeitsgruppe Gesundheitsforschung am Humanwissenschaftlichen Zentrum der LMU München; Professor Dr. Frank Sommer, Universitätsprofessor für Männergesundheit am Institut für Männergesundheit / Zentrum für Operative Medizin der Klinik und Poliklinik für Urologie, Hamburg; Professor Dr. Wolfgang Weidner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie am Klinikum Gießen und Marburg, und Lars Grein, Vorstand der BKK PricewaterhouseCoopers. Die Schirmherrschaft hatte im Jubiläumsjahr Professor Dr. Dr. Winfried Banzer, Institut für Sportwissenschaften Frankfurt am Main und Beisitzer im Vorstand der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e. V. (BVPG) übernommen. Wir danken Schirmherrn und Jurymitgliedern für ihr Engagement bei der Verleihung des 10. BKK Innovationspreises Gesundheit. Wir danken aber auch dem akademischen Nachwuchs, der durch seine Ideen, Gedanken und Ausarbeitungen der Entwicklung des Gesundheitswesens in Deutschland neue Impulse gibt. Jürgen Thiesen Vorstandsvorsitzender BKK Landesverband Hessen

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Geleitwort Beim Thema „Männergesundheit – Frauengesundheit“ ist quasi jeder Experte. Bei näherer Betrachtung muss man jedoch feststellen, dass ein etwas differenzierteres Herangehen notwendig ist. Wir stehen an einer Zeitenwende: mit Ausnahme einiger afrikanischen Länder südlich der Sahara versterben heute mehr Menschen an sogenannten nicht übertragbaren Krankheiten als an Infektionskrankheiten. Laut neuesten Daten der Weltgesundheitsorganisation sind nichtübertragbare Krankheiten für 63% aller Todesfälle weltweit verantwortlich. Diese Erkrankungen sind zum großen Teil vermeidbar und stehen in engem Zusammenhang mit Lebensumständen und –Stilen. Greifen wir einen Risikofaktor heraus: Der Bewegungsmangel ist der viertwichtigste Risikofaktor für die Entwicklung dieser Krankheiten. Dabei ist nicht nur zu wenig Sport, sondern auch zu viel Sitzen ein großes Problem. Wir sitzen bei der Arbeit, zu Hause am Tisch oder vor dem Fernseher, unterwegs im Auto. Aus neueren Untersuchungen wissen wir, dass Sitzen per se pathophysiologische Konsequenzen nach sich zieht. Durch das Sitzen kommt es zu einer Reduzierung der Muskelaktivitäten und dies greift massiv in den Fettstoffwechsel ein. Ein spezielles Enzym wird motiviert, nicht mehr so aktiv zu sein, was negative Konsequenzen auf den Fettstoffwechsel hat – mit vielen Folgen. Wir können das Sitzen nicht ganz aus unserem Leben verbannen; wir können aber die negativen Effekte eindämmen, indem wir z.B. möglichst oft kleine Pausen einbauen, wenn es möglich ist, aufstehen und einige Schritte gehen. Bewegungsmangel beginnt leider schon im Kindesalter. Es gibt einige Tendenzen hier: Mädchen im Allgemeinen und Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund bewegen sich weniger. Ein spezielles „Mädchenproblem“ ist, wenn muslimische Mädchen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen. Diese gelernte Passivität setzt sich fort bis ins Alter. Bei alten Menschen, die nicht mehr aus dem Haus gehen wollen, die Angst haben, sich außerhalb des Hauses zu bewegen, hat dies ganz fatale Konsequenzen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass Bewegung hochevidenzbasierte positive Effekte bei nahezu allen chronischen Erkrankungen hat. Die Litera-

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Geleitwort

tur dazu ist über 50 Jahre alt, wir müssen sie nur endlich aufgreifen. Die erste große und in einer der renommiertesten Fachzeitschrift publizierte Untersuchung fand in London statt. Professor Morris hat Busfahrer und Schaffner im Hinblick auf das Mortalitätsrisiko durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersucht. Er hat festgestellt, dass Bewegung sowohl die Entstehung von kardiovaskulären Erkrankungen als auch die Mortalität nach einem Herzinfarkt deutlich senken kann. Diese mittlererweile als „Klassiker“ geltende Untersuchung ist über 50 Jahre alt und wird von neueren Studien Tag für Tag aufs Neue bestätigt. Das Gleiche gilt für Diabetes. Hier gibt es eine hohe Evidenz dafür, dass es zu einer Reduzierung des Medikamentengebrauchs kommen kann, wenn es uns gelingt, die Bewegung in den Alltag zu integrieren (Bewegung, nicht Marathonlauf). Die Anzahl der Indikationen aus dem Morbiditätsspektrum der chronischen Erkrankungen kann man noch ergänzen und erweitern. Stichwortartig sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass wir noch vor einer ganz anderen Herausforderung stehen, nämlich der massiven Zunahme der psychosomatischen Erkrankungen. Auch bei Depression gibt es Hinweise, dass regelmäßige körperliche Aktivität durchaus eine einem Medikament adäquate positive Wirkung haben kann. Das Schöne ist, dass man mit Bewegung und Sport zu jeder Zeit anfangen kann. Aus Untersuchungen wissen wir, dass Bewegung in jedem Lebensalter einen positiven Effekt hat. Wir müssen auch geschlechtsspezifische und niederschwellige Angebote bereitstellen, die die unterschiedlichen Vorlieben, Erfahrungen und kulturellen, sozialen Traditionen berücksichtigen. Versprechend sein kann der partizipatorische Ansatz, der die Zielgruppe in die Gestaltung der Angebote einbindet. So haben wir in einem von den beiden Bundesministerien Bildung und Forschung (BMBF) und Gesundheit (BMG) gefördertem BIG Projekt Sportangebote für muslimische Frauen speziell nach ihren Wünschen, wie z.B. Frauenschwimm- und Badetag oder Fahrrad- oder Rückegymnastikkurse, organisiert. Differenzierte Bewegungsangebote können segensreich sein, sie können in der Primärprävention, aber auch im sekundären Bereich einen ganz wichtigen Beitrag leisten. Wir dürfen aber nicht außer Acht lassen, dass Männer und Frauen Bewegung und auch die Beratung zur Bewegung oft unterschiedlich aufgreifen und sich Unterschiedliches wünschen. Männer suchen eher eine Herausfor-

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Geleitwort

derung, sie sind risikobereiter und wollen sich testen. Sie laufen Marathon, überqueren die Alpen, trainieren für eine Mountainbike- oder für Tiefschneetouren. Frauen bewegen sie sich, weil sie was für ihre Gesundheit tun wollen. Bei Frauen, besonders bei älteren Frauen, spielen für das Eintreten in einen Sportverein auch soziale Aspekte eine große Rolle. Wenn wir erreichen möchten, dass Menschen, die sich noch nicht oder nicht genug bewegen aktiver werden, müssen wir diese unterschiedlichen Ausgangslagen und Wünsche berücksichtigen. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir einen Schritt in Richtung eines Gesundheitssystems gingen, in dem die Prävention eine akzeptierte vierte Säule ist und nicht ein Anhängsel, das man ab uns zu hervorholt, wenn es gerade passt.

Professor Dr. Dr. Winfried Banzer Mitglied des Vorstands der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V., Universität Frankfurt

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Männer und Depression Die männliche Geschlechtsidentität und die damit verknüpften gesellschaftlichen Erwartungen als Verzerrungsfaktor in Depressionsprävalenzraten – Psychotherapeuten berichten über Depressionspatienten aus der Praxis von Lena Hünefeld, M.A.

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Einleitung

Depressionen zählen unter den psychischen Erkrankungen seit den 70erJahren des 20. Jahrhunderts (Ehrenberg 2004) zu den besonders häufigen und schwerwiegenden Störungen, die mit einem hohen Suizidrisiko einhergehen. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind derzeit über 121 Millionen Menschen von Depressionen betroffen, Tendenz steigend (WHO 2010). Obwohl die affektive Störung eine sehr hohe Prävalenzrate aufweist, werden Depressionen im Alltagsverständnis oftmals nicht als psychische Krankheit angesehen und Betroffene sehen sich mit gesellschaftlicher Stigmatisierung und Intoleranz konfrontiert (Möller-Leimkühler 2000). Besonders für Männer ist ein offener Umgang mit Depressionen in westlichen Gesellschaften schwierig (Real 1999; Weber 2002; Wolfersdorf 2006). Männlichkeit ist dort häufig durch Eigenschaften wie Leidfähigkeit, Selbstbewusstsein, Rationalität oder Stärke definiert (Williams/Best 1990; Alfermann 1996; Sielert 1999; Bischof-Köhler 2006), die nicht mit Depressionssymptomen wie Antriebslosigkeit, Traurigkeit oder Verzweiflung kompatibel sind. Weiterhin stehen Jungen und Männer unter dem permanenten Druck, ihre Gefühle zu kontrollieren und ihre Probleme eigenständig zu lösen – mehr als dies bei Mädchen und Frauen der Fall ist (Chodorow 1986; Brückner/Böhnisch 2001). Ein Ergebnis, das sich wiederholt in epidemiologischen Studien zeigte, ist, dass Frauen doppelt so häufig von Depressionen betroffen sind wie Männer. So liegt derzeit die Lebenszeitprävalenz für Frauen bei 20 – 25 %,


Lena Hünefeld

für Männer nur bei 7 – 12 % (WHO 2010). Aufgrund dieser Erkenntnis wurde in der Vergangenheit vermehrt der Frage nachgegangen, warum Frauen häufiger von Depressionen betroffen sind, und sowohl auf der biologischen/genetischen als auch auf der sozialpsychologischen Seite wurden Erklärungsmöglichkeiten geprüft. Während sich die bestehenden Erklärungsansätze vornehmlich auf das weibliche Geschlecht beziehen, stehen im Fokus dieses Kapitels Männer und ihr Gesundheitsverhalten sowie der Umgang mit Depressionssymptomen. Dabei wird die Hypothese verfolgt, dass gesellschaftliche Erwartungen an den Mann zu einem geschlechtsspezifischen Umgang („Doing Gender“) mit Krankheitssymptomen im Allgemeinen und Depressionssymptomen im Speziellen führen, der eine Ungleichheit in den Diagnoseraten von Depressionen bei Frauen und Männern produziert. Weiterhin wird angenommen, dass es sich bei den Lebenszeitprävalenzraten von Depressionen nicht um ein Abbild der Wirklichkeit handelt, sondern dass eine Verzerrung in der Statistik vorliegt und Männer und Frauen in einem ähnlichen Maße von dieser affektiven Störung betroffen sind. Mithilfe von Experteninterviews mit sechs PsychotherapeutInnen über ihre Erfahrungen mit Depressionsbetroffenen sollen zum einen Informationen über den Umgang mit Depressionen von Männern und Frauen gesammelt werden und zum anderen gesellschaftliche Faktoren aufgedeckt werden, die zu einem geschlechtsspezifischen Umgang mit Depressionen führen.

Theoretischer Teil 2

Depression – das Erkrankungsbild

Im Allgemeinen lässt sich unter dem Begriff ‚Depressionen’ ein breites Spektrum von Verstimmungszuständen und Verhaltensweisen subsummieren, das von normalen Stimmungsschwankungen bis hin zur schweren, behandlungsbedürftigen Beeinträchtigung der Befindlichkeit reicht (vgl. Hecht 1990: 30). Aber nicht jede traurige Stimmung ist eine Depression. ‚Normale’ Stimmungsschwankungen depressiver Art sind weit verbreitet und können z. B. durch Verlustereignisse wie Trennungen, Scheidungen oder Todesfälle 14


Männer und Depressionen

in der Familie ausgelöst werden und klingen auch ohne therapeutische Interventionen nach einiger Zeit ab. Depressionen unterscheiden sich wesentlich vom dem Zustand der Traurigkeit. Depressive Menschen sind nicht in der Lage, sich über etwas zu freuen, und haben darüber hinaus größte Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. 1 Depressive Stimmungslagen, die überdurchschnittlich lange andauern, von starker Intensität und bezüglich ihrer Auslösebedingungen als unangemessen erscheinen, lassen sich schließlich als Erkrankung definieren. Im Grunde gibt es kaum einen Bereich der seelischen Befindlichkeit, der nicht von der Depression betroffen sein kann, „deshalb nannte sie jemand einmal die Krankheit der ,Losigkeiten’, denn die Depression macht gefühllos, hoffnungslos, antriebslos, hilflos“ (Müller-Rörich 2007: 2). Das durch die Krankheit veränderte Gefühlsleben der Betroffenen wirkt sich direkt auf deren Beziehungsfähigkeit aus und führt somit zu einer Verkomplizierung des Lebensbereichs – den betroffenen Personen wird eine stabile Lebensgrundlage entzogen. Zu den Kernsymptomen der Depression zählen: • gedrückte Stimmung • Verminderung von Antrieb und Aktivität • Freud- und Interesselosigkeit • ausgeprägte Müdigkeit nach kleinsten Anstrengungen • Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens • Erstarrung des Gefühlslebens (Affekthemmung) • somatische Beschwerden • Agitiertheit2 • Suizidgedanken Sie werden ‚Kernsymptome’ genannt, weil sie bei der Diagnostik von Depressionen im Vordergrund stehen. Dabei müssen nicht unbedingt alle Kernsymptome gleichzeitig auftreten. Je mehr dieser Kernsymptome über einen längeren Zeitraum vorliegen, umso wahrscheinlicher ist die Diagnose einer Depression (vgl. Müller-Rörich 2007: 9). Die Schwere einer Depression ist wiederum abhängig von den einzelnen Ausprägungen der Kernsymptome. 1

Vgl. http://www.depression.ch/de/ueberblick/keine-depressionen.php (02.12.2008). Vgl. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2008/fr-icd.htm (01.12.08). 2

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Das Symptom der gedrückten Stimmung gab der Krankheit ihren Namen – ‚deprimere’ = unterdrücken/niederdrücken (vgl. Hau 1997: 277). Der Betroffene fühlt sich schlecht, obwohl die äußeren Lebensumstände keinen ausreichenden Anlass dazu geben. Durch die Verminderung von Antrieb und Aktivität kann für die betroffenen Personen schon das morgendliche Aufstehen zu einer Schwierigkeit werden. Jede Bewegung und jedwede Anforderung trifft auf einen inneren Widerstand und kann zu einer unverhältnismäßigen Anstrengung werden. Somit äußert sich die depressive Antriebslosigkeit in einer Hemmung, etwas zu tun (vgl. Müller-Rörich: 13). Die Freud- und Interesselosigkeit, die mit der Depression häufig einhergeht, ist ein lähmender und alles umfassender Prozess. Der Betroffene verliert jegliche Freude am Leben und fühlt sich mit diesem nicht mehr positiv verbunden. Die Empfindungen des Kranken sind insgesamt in der Weise beeinträchtigt, dass es zu einer Erstarrung des Gefühlslebens kommt, zu einer sogenannten Affekthemmung. In schweren Fällen kann sich sogar eine völlige Gefühllosigkeit einstellen; Betroffene berichten häufig, dass sie sich wie tot fühlen (vgl. Müller-Rörich 2007: 9). Viele Menschen erleben in ihrer Depression aber auch intensive Gefühle von Trauer, oft ohne den Grund dafür zu kennen. Diese Traurigkeit äußert sich dann häufig durch Tränen oder unkontrollierte Weinkrämpfe. Eine besonders bedeutende Komponente von Depressionen ist das herabgesetzte Selbstwertgefühl, das als Kennzeichen aller Depressionen gesehen werden kann und bis zum Selbsthass gehen kann (vgl. Müller-Rörich 2007: 24). Häufig führen Depressionen zu Suizidversuchen oder zum erfolgreichen Suizid. Es wird angenommen, dass 15 % der Betroffenen mit schweren Depressionen durch einen Suizid versterben (Robert-Koch-Institut 2010). So scheint für viele Betroffene die Selbsttötung der einzige Ausweg aus dem Leiden der Depression, obwohl Depressionen mit therapeutischer und medikamentöser Behandlung meist erfolgreich geheilt werden können.

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Männer und Depressionen

2.1

Diagnose von Depressionen

Depressionen werden in der Praxis mittels zweier zentraler Klassifikationssysteme diagnostiziert – der ICD-10 und der DSM-IV. Beide Systeme dienen der Diagnose von physischen wie auch psychischen Erkrankungen. Das ICD-10 ist ein von der Weltgesundheitsbehörde (WHO) erstelltes, weltweit anerkanntes Diagnoseklassifikationssystem. Die Abkürzung ICD steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ und die Zahl 10 für die „zehnte Revision“ dieser Klassifikation. Die deutsche Ausgabe dieses Klassifikationssystem heißt ICD-10-GM und wurde vom deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) herausgegeben.3 Das ICD-10 ist ein einachsiges, monohierarchisches Klassifikationssystem, das sich in verschiedene Kategorien und Subkategorien aufteilt: • eine dreistellige allgemeine Systematik (Bsp.: F32 – Depressive Episode) • eine vierstellige ausführliche Systematik (Bsp.: F32.0 – leichte depressive Episode) • gelegentlich fünfstellige Verfeinerung (Bsp.: M23.31: Sonstige Meniskusschädigungen, vorderes Kreuzband oder Vorderhorn des Innenmeniskus)4 Die Notation dieses Systems ist alphanumerisch. Die erste Stelle ist ein Buchstabe, die Stellen zwei bis fünf enthalten Ziffern, wobei die vierte Stelle durch einen Punkt abgetrennt ist. Die Bezeichnung F00. – 99. umfasst in diesem Klassifikationssystem alle psychischen und verhaltensspezifischen Störungen. Im Bereich F30. – 39. lassen sich alle affektiven Störungen finden, zu denen auch die Depression gehört. Das Krankheitsbild der Depression ist wiederum unter den Kategorien F32. – F34. zu finden. Insgesamt umfasst die ICD: • 21 Krankheitskapitel • 261 Krankheitsgruppen 3

Vgl. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/index.htm (02.11.2008). Vgl. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2008/fr-icd.htm (02.11.2008). 4

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• 2.037 dreistellige Krankheitsgruppen (Kategorien) • 12.161 vierstellige Krankheitsgruppen (Subkategorien) Wie bereits erwähnt, gehören depressive Syndrome zu den affektiven Erkrankungen. Als affektive Erkrankungen wird eine Gruppe von Erkrankungen bezeichnet, bei der Störungen der Gestimmtheit (Affektivität) gemeinsam mit Störungen des Antriebs und der Psychomotorik auftreten. Grundsätzlich können im Verlauf affektiver Erkrankungen zwei Syndrome unterschieden werden, die als zwei entgegengesetzte Pole aufgefasst werden können: das depressive Syndrom und das manische Syndrom (vgl. Dilling 2001: 138). Im Klassifikationssystem ICD-10 wird die Unterteilung zwischen manischen Episoden (F30.-), bipolare affektive Störungen (F31.-), depressive Episode (F32.-), rezidivierende depressive Störung (F33.-) und Dysthymia (F34.1) getroffen. 5 Aufgrund des Forschungsschwerpunktes Depressionen in dieser Arbeit wird nur auf die depressiven Syndrome eingegangen. Das Klassifikationssystem DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), Version 4 wird von der American Psychiatric Association herausgegeben und wird in Deutschland häufig als ein Ersatz bzw. eine Ergänzung zur ICD-10 verwendet. Die Diagnose nach der DSMIV beruht auf einer multiaxialen Einteilung: • Achse I: Klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme. Hauptsächlich Zustandsstörungen, schwere mentale Fehlstörungen und Lernunfähigkeit • Achse II: Persönlichkeitsstörungen und geistige Behinderungen • Achse III: Medizinische Krankheitsfaktoren. Diese Achse umfasst körperliche Probleme, die bedeutsam für die psychische Erkrankung sein können • Achse IV: Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme • Achse V: Globale Beurteilung des Funktionsniveaus anhand der GAFSkala (Global Assessment of Functioning = psychologische Skala zur Erfassung des allgemeinen Funktionsniveaus einer Person in psychischer, sozialer und beruflicher Sicht) Zu einer Diagnose gehört die Angabe des Zustandes einer Person auf jeder 5

Vgl. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2008/fr-icd.htm (02.11.2008).

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dieser fünf Achsen. Insgesamt weist der DSM für die Achsen I und II 16 diagnostische Kategorien auf. Auch hier sind die Depressiven Störungen unter den Affektiven Störungen zu finden. Die in der ICD-10 als depressive Episode definierte Form der Depression wird in den DSM-IV als ‚Major Depression’ bezeichnet. Die weitere Form der Depression in der DSM-IV ist die Dysthymie. 2.2

Erklärungsansätze für Depressionen

Im Folgenden wird ein Einblick in verschiedene biologische und genetische, soziale und psychologische Erklärungsansätze gegeben, die sich mit möglichen Ursachen von Depressionen beschäftigen. Die vollständigen Ursachen für Depressionen sind bis heute nicht umfassend geklärt und es kann von einem Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren ausgegangen werden. 2.2.1 Biologische und genetische Erklärungsansätze Als eine biologische/genetische Ursache von Depression gilt ein Mangel an Botenstoffen, sogenannten Neurotransmittern, der zu einer Störung des Stoffwechsels im Gehirn führt. Besonders die Botenstoffe Serotonin, Noradrenalin und Dopamin sind von großer Bedeutung bei der Entstehung einer Depression. Durch einen Mangel dieser Botenstoffe im synaptischen Spalt kann es zu einer Dysfunktion an den prä- bzw. postsynaptischen Rezeptoren kommen, sodass Informationssignale nicht weitergeleitet werden. Durch diese Funktionsstörung der Neurotransmitter können Empfindungen wie Freude oder Zufriedenheit dann nicht mehr verspürt werden und negative Gefühle werden immer stärker.6 In der Medizin ist es allerdings umstritten, ob es sich beim Neurotransmittermangel um eine Rahmenbedingung oder um die Krankheitsursache handelt. Das Auftreten von Depressionen bei Patienten, die kein einschneidendes Ereignis wie den Verlust eines geliebten Menschen oder eine schlimme Krankheit erlebt haben, könnte den Beweis für eine genetische Disposition darstellen. Einige Familien-, Adoptiv- und Zwillingsstudien haben gezeigt, dass bei manchen Menschen eine genetische Empfindlichkeit 6

Vgl. www.kompetenznetz-depressionen.de/ (09.12.2008).

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für Depressionen besteht. Es konnten sogar Hinweise gefunden werden, dass bestimmte Gene betroffen sind, die mit dem Serotonin-Transporter-Gen in Zusammenhang stehen (Dilling 2001: 140). 2.2.2 Soziale Erklärungsansätze Eine Ursache, die in einem engen Zusammenhang mit Depressionen steht, ist ein kritisches Lebensereignis, wie zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes, die Trauer um einen geliebten Menschen oder eine chronische Überlastung (Brown/Harris 1978; Wittchen 1999). Depressionen können eine mögliche Folge von belastenden Lebensereignissen sein, die die Bewältigungsmöglichkeiten einer Person überschreiten. Ein weiterer Faktor, der bei der Depressionsentstehung diskutiert wird, ist der Einfluss der sozialen Integration von Individuen. Social-SupportKonzepte (Gottlieb 1981/1983, Cohen/Wills 1985, Shinn et al. 1984, Shumaker/Brownell 1984), die eng in Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen stehen, postulieren in ihren Grundkonzeptionen, dass soziale Stützsysteme eine schützende Funktion gegenüber belastenden Lebensereignissen haben. Zu den Stützsystemen gehören beispielsweise das Bestehen einer vertrauensvollen Partnerschaft oder die Verfügbarkeit eines Freundeskreises, mit dem Probleme besprochen werden können. Alain Ehrenberg beschäftigt sich mit einer weiteren möglichen Ursache von Depressionen. Er sieht die gesellschaftlichen Strukturen und die damit einhergehende Individualisierung als eine Quelle der Überforderung der Gesellschaftsmitglieder. Die wachsende Freiheit und die Zunahme der Selbstverantwortung geht auch mit einer Zerstörung sozialer Netze und Anonymität einher. Die Überforderung und der Mangel an Unterstützung kann wiederum zu Depressionen führen (Ehrenberg 2004). 2.2.3 Psychische Erklärungsansätze Die psychische Konstitution eines Individuums und seine Persönlichkeit spielen zusätzlich zu den genannten Erklärungsansätzen eine sehr bedeutende Rolle als Entstehungsursache von Depressionen. Basierend auf Versuchen von Seligman et al. besteht die Annahme, dass die Konfrontation mit Situationen, in denen ein Individuum die Erfahrung macht, dass keine seiner Reaktionen Wirkung zeigt, zu einem Gefühl der

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Hilflosigkeit führt und gravierende emotionale, kognitive und motivationale Defizite auslösen kann (Seligman 1975; Hecht 1990, Zimbardo 2003). Kommt es zu einer andauernden und häufiger auftretenden Hilflosigkeitserfahrung in subjektiv bedeutsamen Situationen, kann diese Erfahrung über die Zeit und verschiedene Kontexte hinweg generalisiert werden – Seligman spricht von „gelernter Hilflosigkeit“. Da die gelernte Hilflosigkeit sich in Symptomen äußert wie verringerter Nahrungsaufnahme, Gewichtsverlust, verminderter sexueller Aktivität, weniger sozialen Aktivitäten und einer Abnahme des Noradrenalin-Spiegels im Gehirn, die den Depressionssymptomen sehr ähnlich sind, wird angenommen, dass gelernte Hilflosigkeit die Entstehung von Depressionen beim Menschen erklären kann. 7 Gefühle der Hilflosigkeit führen aber nicht in jedem Fall zu einer Depression. Wichtige Einflussfaktoren für die Entstehung von Hilflosigkeit und von Depressionen sind beispielsweise sozial vermittelte Bewältigungsstrategien, das individuelle Stressempfinden und die -bewältigung sowie die bisherigen Erfahrungen, die eine Person gemacht hat (McMahon 1987; Hecht 1990; Zimbardo 2003). Weiterhin ist die Selbstwahrnehmung einer Person und ihre Sicht auf die Welt ausschlaggebend (Beck 1967). So kann eine pessimistische Betrachtung der Zukunft, eine negative Sicht der Welt und eine negative Wahrnehmung der eigenen Person auf lange Sicht zu einer Depression führen. Wie bereits erwähnt, kann bei der Entstehung von Depressionen von einem engen Zusammenspiel der genannten biologischen und genetischen, sozialen und psychologischen Einflussfaktoren ausgegangen werden, sodass häufig mehrere Ursachen für eine Depression verantwortlich sind.

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Vgl. http://www.verhaltenswissenschaft.de/Psychologie/Psychische_Stoerungen/Affek tive_Stoerungen/Depression/Ursachen_Depression/ursachen_depression.htm (10.12.08).

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