"Ein Zaun kennt viele Farben" - Gudrun Piechotta-Henze, Elke Josties, Ramona Jakok, Michael Ganß

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08.03.2011

16:25 Uhr

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Die HerausgeberInnen untersuchten mit Studierenden des

Gudrun Piechotta-Henze, Elke Josties, Ramona Jakob, Michael Ganß (Hrsg.)

Gesundheits- und Pflegemanagements an der Alice Salomon Hochschule Berlin die Möglichkeiten der aktiven, wertschätzenden Begegnung mit Menschen mit Demenz. Das Buch präsentiert und reflektiert ihre Erfahrungen mit dem

Tagebuchaufzeichnungen ergänzen die konzeptionellen und theoretischen Vertiefungen. Zu jedem Themenschwerpunkt gibt es praktische Tipps für die kreative Begegnung mit Menschen mit Demenz. Die Praxisberichte verdeutlichen, wie sehr begleitende und zu begleitende Personen von einer Arbeit profitieren, die Raum

„Ein Zaun kennt viele Farben“ Plädoyer für eine kreative Kultur der Begegnung mit Menschen mit Demenz

G. Piechotta-Henze, E. Josties, R. Jakob, M. Ganß (Hrsg.)

für kreative und biografische Vielfalt schafft.

„Ein Zaun kennt viele Farben”

Erzählen von Lebensgeschichten, mit Poesie, Kunst und Musik.

www.mabuse-verlag.de

ISBN 978-3-940529-95-4

Mabuse-Verlag


Gudrun Piechotta-Henze, Krankenschwester und Soziologin, ist Professorin für Pflegewissenschaft an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Elke Josties, Diplom-Pädagogin, ist Professorin für Soziale Kulturarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ramona Jakob, Diplom-Pädagogin und Sozialpädagogin, arbeitet freiberuflich als Dozentin für Schreibprozesse. Michael Ganß, Diplom-Gerontologe und Diplom-Kunsttherapeut, ist stellvertretender Vorsitzender der Werkstatt Demenz e. V. Gemeinsam mit Peter Wißmann gibt er die Zeitschrift „demenz. Das Magazin“ heraus.


Gudrun Piechotta-Henze, Elke Josties, Ramona Jakob, Michael Ganß (Hrsg.)

„Ein Zaun kennt viele Farben“ Plädoyer für eine kreative Kultur der Begegnung mit Menschen mit Demenz

Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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Inhalt

Reimer Gronemeyer Vorwort Gudrun Piechotta-Henze, Isabelle Kern, Jaqueline Kötschau, Jane Pfeifer Einleitung: Sich selbst (er)leben und den Mitmenschen begegnen

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Kultur der Begegnung: Lebensgeschichten Gudrun Piechotta-Henze Erinnern und Erzählen

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Isabelle Kern, Jaqueline Kötschau, Jane Pfeifer, Gudrun Piechotta-Henze Aus der Praxis für die Praxis

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Isabelle Kern, Jane Pfeifer, Jaqueline Kötschau Drei Lebensgeschichten im Rückblick • Joachim Schmidt: „Und wie die Zeit vergeht“ • Erna und Emil Bollmann: „Dann hab ich Emilchen auf dem Friedhof kennen gelernt. Das war das Beste“ • Anna Hoffmann: „Ich war immer gern gesehen, weil ich ein Tierfreund war“

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Isabelle Kern, Jaqueline Kötschau, Jane Pfeifer, Gudrun Piechotta-Henze Resümee

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Isabelle Kern, Jaqueline Kötschau, Jane Pfeifer, Gudrun Piechotta-Henze Hinweise für die Praxis

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Kultur der Begegnung: Poesie Ramona Jakob Worte im Nebel suchen – Poesie und Demenz

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Ramona Jakob, Andrea Kehler, Stefanie Müller, Ricarda Wreh Erfahrungen aus der Praxis

72

Ramona Jakob, Andrea Kehler, Stefanie Müller, Ricarda Wreh Resümee

86

Ramona Jakob Ausblick

89

Ramona Jakob, Andrea Kehler, Stefanie Müller, Ricarda Wreh Hinweise zur Organisation von Vorleserunden

92

Kultur der Begegnung: Kunst Michael Ganß Kunst, was ist das?

99

Esther Feistkorn, Michael Ganß, Stefanie Müller, Janine Walter, Ricarda Wreh Erfahrungen aus der Praxis

107

Esther Feistkorn, Stefanie Müller, Janine Walter, Ricarda Wreh Resümee I: Kunst ist eine Chance

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Michael Ganß Resümee II: Kunst kann eine Brücke sein

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Esther Feistkorn, Stefanie Müller, Janine Walter, Ricarda Wreh Hinweise für die Praxis

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Kultur der Begegnung: Musik Elke Josties Musik und ihre potentiellen Wirkungen auf Menschen mit Demenz

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Elke Josties Mit Musik Geschichte(n) auf der Spur

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Elena Bulakova, Elke Josties, Andrea Kehler, Jaqueline Kötschau, Susanne Spittel Begegnungen mit Musik – Erfahrungsberichte aus der Praxis

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Elke Josties Feedback und Ausblick

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Elke Josties Hinweise für die Praxis

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Autorinnen und Autoren, Herausgeberinnen und Herausgeber

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Vorwort

Der Wind hat sich gedreht: Menschen mit Demenz sind nicht mehr nur die Adressaten von Versorgungsleistungen. Dass eine gute Versorgung wichtig ist, steht außer Zweifel. Auf Deutschland kommen da – wie auf andere europäische Länder auch – große Herausforderungen zu. Aber der Wind hat sich gedreht: Neuerdings bekommen die von einer Demenz Betroffenen die Chance, sich selbst zu äußern und gehört zu werden. Das ist ein großer Schritt. Sie schreiben, sie malen, sie tanzen. Die Musik ist nicht nur ein verzwecktes therapeutisches Instrument, sondern wird eine – sagen wir mal ganz kühn – souveräne Lebens­ äußerung. Und es stellt sich heraus, dass die Menschen mit Demenz uns in Wort und Schrift, mit der Farbpalette oder ihrem Körper mehr mitzuteilen haben, als bisher für möglich gehalten wurde. Das trägt zu einer neuen Form des Erstau­ nens bei. Schau: Das sind ja keineswegs Menschen, die ihre Persönlichkeit verlo­ ren haben, sie sind keineswegs sprachlos, reglos, sie sind nicht nur belieferungs­ bedürftige Mängelwesen. Vielleicht ist das Wichtigste an diesem neuen Blick auf die Demenz, dass die Menschen nicht über einen Leisten geschlagen werden. In Zeiten der Vermes­ sung des Menschen und der standardisierten Versorgung, droht der Einzelne – ob nun modularisierter Student oder qualitätskontrollierte Pflegerin – sein Ge­ sicht zu verlieren. Was in diesem Buch, dem ich viele Leserinnen und Leser wünsche, kom­ petent und anregungsreich vorgestellt wird, das ist ein differenzierter Blick auf die Demenz: Es gibt keine Rezepte für alle, jeder ist anders, und manchmal ge­ lingt es, die Quellen zu öffnen, aus denen das je Eigene fließen kann. Hier sind mit einem Mal nicht „die Dementen“ Thema, sondern das Subjekt mit seinen einmaligen und unverwechselbaren künstlerischen Möglichkeiten. Manchmal besteht die Gefahr, dass die perfekte Versorgung diese Quellen verdeckt. Dieses Buch gibt viele Hinweise, die den Stein, der die sprudelnde Quelle der Krea­ tivität bisweilen abdeckt, hinwegwälzen. Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer Gießen, Februar 2011


Geselligkeit und Freude im Miteinander – Elisabeth Stein und Elena Bulakova


Einleitung: Sich selbst (er)leben und den Mitmenschen begegnen

Jeder Mensch in unserer Gesellschaft kann sich auf international und natio­ nal anerkannte Rechte berufen, die ihm unter anderem das Recht auf körper­ liche Unversehrtheit garantieren sollen. Außerdem sind jedem Menschen sozi­ ale Rechte wie das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§1 SGB IX) und das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstständigkeit (§2 SGB XI) ga­ rantiert. Soweit die rechtliche Ausgangslage – doch wie ist die Situation vieler Men­ schen im täglichen Leben und in außergewöhnlichen Lebenslagen? Wie ergeht es den Menschen, die ihre Rechte nicht mehr einfordern können, die sich in einer vulnerablen Lebenssituation befinden und keine Lobby haben? Wie ist die Situation für die Menschen, die ungeschützt dem Verhalten und den Hand­ lungen anderer ausgesetzt sind? Wie ist der Alltag für Menschen, die an einer Demenz erkranken und mit fortschreitender Erkrankung auf Begleitung, Hilfe und Pflege angewiesen sind? Zur Durchsetzung der „grundlegenden und selbstverständlichen Rechte“ ist 2006 die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen verfasst worden. Diese Charta will Leitlinie sein „für die Menschen und Institutionen (...), die Verantwortung für Pflege, Betreuung und Behandlung übernehmen.“ (BMFS­ FJ, BMG 2006, S. 6) Artikel 6 („Kommunikation, Wertschätzung und Teilhabe an der Gesellschaft“) schreibt fest: „Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Wertschätzung, Austausch mit anderen Menschen und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.“ (ebd., S. 18). Die sozialen Grundrechte bildeten die Orientierung für das studentische Projekt „Sich selbst (er)leben. Aktiv und kreativ in der Begegnung mit Men­ schen mit Demenz“ im Bachelor-Studiengang Gesundheits- und Pflegemanagement an der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH), das von 2008-2010 in drei Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz und für demenziell erkrankte Menschen, die in ihrer eigenen Wohnung leben, durchgeführt wurde. Ziel des Projektes war, mit kreativen Angeboten für Menschen mit Demenz eine Alltagskultur zu initiieren bzw. zu festigen, die 11


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• die Achtung, den Respekt und die Wertschätzung des einzelnen Menschen im täglichen Miteinander zur Grundlage hat, • das lebenslange Recht auf Lernen, Entwicklung, Kunst und Kultur aner­ kennt, • Selbstbestimmung, Selbstbewusstsein und soziale Identität ermöglicht und fördert, • die Gemeinschaft und soziale Teilhabe unterstützt. Auf wissenschaftlicher Ebene orientierte sich das Projektseminar vor allem am personenzentrierten Ansatz von Kitwood (2000) und an der Selbst-ErhaltungsTheorie (SET) von Romero, Eder (1992, vgl. auch Berghoff 1999). Auch wenn wir uns im Rahmen der theoretischen Vorbereitung mit unter­ schiedlichen Ansätzen der Therapie und Pädagogik beschäftigt haben und wich­ tige, praxistaugliche Erkenntnisse in die Vorbereitung und Durchführung des Projektes einflossen, grenzt sich das Plädoyer für eine kreative Kultur der Begegnung mit Menschen mit Demenz von Therapie und Pädagogik ab. Warum? Wir wollten eine enthierarchisierte Form der Begegnung ermöglichen. Die demenziell er­ krankten Menschen sollten die Experten sein, wir die begleitenden und aktivie­ renden Mitmenschen. Mit unseren kreativen Angeboten, dem Erzählen von Lebensgeschichten, Poesie, Kunst und Musik, wollten wir die Begegnungsmöglichkeiten für Men­ schen mit Demenz im Alltag bereichern. Unseres Erachtens haben Menschen mit Demenz das Recht auf ein ästhetisch anregendes und entwicklungsstimulie­ rendes Lebensumfeld.Therapeutische Begegnungen stellen dagegen immer eine Sondersituation dar und sind von einer besonderen Beziehung gekennzeichnet, die von dem therapeutisch arbeitenden Personal eine entsprechende Ausbildung verlangt. Das Gleiche gilt für eine pädagogische Arbeit, auch diese verlangt eine spezifische Ausbildung und stellt eine Sondersituation dar. Folgerichtig ist die vorliegende Publikation nicht nur ein Buch für Personen mit einer bestimmten Berufsausbildung oder ein Beitrag für eine pflegerische, therapeutische oder pädagogische Ausbildung. Es ist auch kein Buch, das nur für diejenigen geeignet ist, die ausschließlich in Wohngemeinschaften oder in Pri­ vatwohnungen Menschen mit Demenz begleiten. Vielmehr sind die Zielgrup­ pen dieses Buches motivierte und interessierte Menschen, die demenziell erkrankte Menschen im Alltag begleiten, die Aktivität und Kreativität in der Begegnung 12


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fördern möchten, die ein Miteinander und soziale Integration praktisch umset­ zen möchten. Kitwood (2000) nennt sieben Wege, um eine „Einsicht in die subjektive Welt der Demenz“ zu erhalten. Er bezeichnet diese Methode als eine Art „Schaffen einer Collage: Bruchstücke werden nebeneinander gelegt, und so wird nach und nach ein allgemeines Bild geschaffen.“ (Kitwood 2000, S. 111). Die sieben mög­ lichen Zugangswege sieht er: • im Lesen von selbst verfassten schriftlichen Berichten betroffener Men­ schen, • im aufmerksamen Zuhören in Interviews oder bei Gruppenarbeiten, • im aufmerksamen und phantasievollen Lauschen auf das, was die Menschen im Alltag äußern – auch oder vor allem, wenn scheinbar seltsame bis sinnlose Bemerkungen artikuliert werden, • im – biographie- und symptomgeleiteten – Ergründen von Verhalten, das als aktives und ressourcennutzendes Verhalten zu betrachten ist, • im Einbeziehen von Menschen, die eine Krankheit mit demenzähnlichen Symptomen durchlebt haben und sich daran erinnern können, • im Einsatz der eigenen poetischen Vorstellungskraft, die zum Beispiel in Form selbst verfasster Gedichte geäußert wird, • im Rollenspiel, das ermöglicht, intensiv in die Rolle einer Person mit de­ menzieller Erkrankung zu schlüpfen (ebd., S. 111ff.). In unserem Projekt haben wir einige dieser Zugangswege berücksichtigt, um nachzuspüren, wie es sich „anfühlen“ könnte, mit einer demenziellen Erkran­ kung zu leben. So haben wir Berichte und Bücher von betroffenen Menschen gelesen (z.B. Piechotta 2008; Taylor 2008; Rose 1996), wir haben gelernt, auf­ merksam zuzuhören, Gespräche zu führen und Lebensgeschichten zu lauschen, wir haben die Poesie einbezogen, indem wir Gedichte gelesen und gemeinsam „aufgesagt“ haben. Darüber hinaus schufen wir mittels künstlerischer Gestaltun­ gen sowie durch Gesang und Musik Begegnungsmöglichkeiten zu Menschen mit Demenz. Dabei wurden in der Praxis die kreativen Medien oftmals mitei­ nander verbunden. Unsere Erfahrungen und Reflexionen, die im Buch zusammengefasst sind, verstehen wir als Lernprozesse und als solche möchten wir sie auch von anderen verstanden wissen. Ein Miteinander ist niemals statisch, menschliches Verhalten 13


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und Handeln sind nicht vorhersehbar. Die Begegnung und das Miteinander von Menschen sind vielmehr ein Prozess. Dieser ist abhängig von den sich begeg­ nenden Personen, von ihren individuellen und aktuellen Befindlichkeiten und Gefühlen sowie von den äußeren Umständen, den Räumlichkeiten, der Zeit und anderen Faktoren. Auch Offenheit, Interesse und Flexibilität sind wichtige Voraussetzungen für eine gelingende und wertschätzende Begegnung. Wichtig ist die Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen und ihn ein Stück weit zu begleiten – sei es emotional, im psychosozialen Sinne oder bei Handlungsabläu­ fen. Das wiederum verlangt Respekt und Empathiefähigkeit, im professionellen Zusammenhang zudem theoriegestütztes Verständnis,Verhalten und Handeln. Menschen mit Demenz haben eine Gemeinsamkeit: ihre Erkrankung. Fata­ lerweise ist dieser gemeinsame Nenner oftmals der Grund und der Auslöser für die Umwelt, die unterschiedlichsten Individuen zu einer scheinbar homogenen Gruppe zusammenzufassen. Die verschiedensten Lebensläufe und -erfahrungen, Lebensumstände, Krankheitserleben und unterschiedlichen Formen der Demenz werden negiert. Mit der Diagnose – so hilfreich sie auch sein mag – wird die einzelne Person häufig zum Objekt und auf ihre Krankheit reduziert; wahrge­ nommen und bewertet wird ausschließlich ihr „verwirrt sein“. Das bedingt die Sichtweise, der demenziell erkrankte Mensch brauche ständig jemanden an sei­ ner Seite, er könne nicht mehr alleine entscheiden und habe weder das Bedürf­ nis noch das Recht, in Kultur- und Bildungsprozesse sowie in Lern- und Ent­ wicklungsprozesse involviert zu sein. Nachdrücklich möchten wir uns von einer solchen Sichtweise distanzieren! Wir vertreten vielmehr die Ansicht, dass jeder Mensch ein lebenslanges Recht auf Kultur, Bildung und Entwicklung hat. Die Studierenden, die in das Projekt involviert waren und an diesem Buch mitgearbeitet haben, sind ausgebildete Altenpflegerinnen, Gesundheits- und Krankenpflegerinnen oder Kindergesundheits- und Krankenpflegerinnen. Ihre Erfahrungen in der Begegnung von Menschen mit Demenz waren – ausbil­ dungs- und berufsbedingt – sehr unterschiedlich: von täglichen Kontakten, weil sie neben dem Studium im ambulanten oder stationären Bereich diese Klien­ tel betreuen, bis unerfahren, da sie ausschließlich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Namentlich handelt es sich um Elena Bulakova, Esther Feistkorn, Andrea Kehler, Isabelle Kern, Jaqueline Kötschau, Stephanie Müller, Jane Pfeifer, Susanne Spittel, Janine Walter und Ricarda Wreh. Da es sich um weibliche Studierende handelt, wird für sie im Folgenden nur 14


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die weibliche Form (Studentinnen) verwendet. Für eine bessere Lesbarkeit ha­ ben wir uns ansonsten auf eine Form, auf die männliche, geeinigt; die weiblichen Projektteilnehmerinnen sind hierbei eingeschlossen. Bevor die Studentinnen in die Praxis gingen, bearbeiteten sie Literatur zu den Themen Biografiearbeit, Biblio- und Poesietherapie, Kunst und Musik mit alten Menschen. Diese Literatur und weitere Literaturangaben sind am Ende des jeweiligen Kapitels aufgeführt. Anschließend oder parallel dazu, wurden mindes­ tens zweitägige praktische Vorbereitungen durchgeführt, die der theoretischen Vertiefung dienten und der Selbsterfahrung mit dem jeweiligen kreativen Me­ dium. Es folgte die praktische Umsetzung in der Begegnung mit demenziell er­ krankten Menschen. Daran erfolgte immer eine mehrstündige Auswertung und kritische (Selbst)Reflexion in der gesamten Gruppe. Die Zielgruppe unserer kulturellen Aktivitäten spiegelt nicht die Diversi­ tät der Lebenslagen der heutigen Seniorengeneration wider. Das Gros der Men­ schen, mit denen wir Kontakt aufgenommen hatten, ist in Berlin oder den öst­ lichen Regionen Deutschlands geboren und durch Kriegserfahrungen, teilweise auch durch Flucht oder Vertreibung geprägt. Die große Mehrheit ist weiblich und alle leben heute in Berlin. Folgende Personen haben teilweise oder vollständig teilgenommen: Emil und Erna Bollman, Ursula Bremstedt, Anna Hoffmann, Margot Jung, Carla Kaiser, Frieda Klein, Maria Lange, Elisabeth Mai, Hildegard Neumann, Liesbeth Renner, Edith Reiser, Joachim Schmidt, Hannah Schulz, Elisabeth Stein, Else Wagner, Marianne Wegener und Leonore Wolke. Vielen Menschen sind wir zu Dank verpflichtet: Wir danken den o.g. Men­ schen, die uns ihre Lebensgeschichten anvertraut haben, die mit uns in Form von Erinnerungspoesie in Kontakt getreten sind und mit denen wir zusammen künstlerische und musikalische Momente erlebt haben. Sie alle haben uns un­ vergessliche Begegnungen geschenkt. Gedankt sei auch ihren Angehörigen oder Da wir uns mitunter nicht sicher sein konnten, ob die von einer Demenz betroffenen Teil­ nehmer mit der Nennung ihrer Vor- und Zunamen, trotz schriftlicher Einwilligung durch Angehörige oder Betreuer, einverstanden sind, haben wir uns aus ethischen Gründen für eine Pseudonymisierung aller Teilnehmer entschieden. Wir haben Fotos in das Buch ge­ nommen, die im Rahmen der Kunst- und Musikbegegnung entstanden sind. Aus dem o.g. Grund sind auf den Fotos – bis auf eine ausdrücklich genehmigte und gewünschte Aus­ nahme – keine Gesichter abgebildet.

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ihren Betreuern/Betreuerinnen, die großes Vertrauen in uns hatten und stellver­ tretend die Einwilligung für die Teilnahme gegeben haben. Besonderer Dank gilt der Pflegestation Meyer & Kratzsch in Berlin, die so unkompliziert mit unserer Anfrage umgegangen ist und uns willkommen ge­ heißen hat. Namentlich seien Irina Fleischmann (Dipl.-Sozialarbeiterin/-päda­ gogin) und Margret Görtz (Pflegedienstleitung) erwähnt, die immer wieder ge­ duldig unsere Bitten erfüllt haben und für Nachfragen und Diskussionen zur Verfügung standen. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Wohngemeinschaften sei dafür gedankt, dass sie uns auf so vielfältige Art und Weise jederzeit unterstützt haben. Nicht zuletzt sei den Studentinnen dafür gedankt, dass sie – trotz der vie­ len Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, die ein solches Projekt immer mit sich bringt – engagiert mitgearbeitet, hochmotiviert an diesem Buch mitgeschrieben und Fotos zur Verfügung gestellt haben. Gudrun Piechotta-Henze, Elke Josties, Ramona Jakob, Michael Ganß

Literatur Berghoff, I. (1999): Förderpflege mit Dementen. Das Selbst-Erhaltungs-Thera­ pie-Konzept (SET). Wiesbaden: Ullstein Medical Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ); Bun­ desministerium für Gesundheit (BMG) (2006): Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen: Berlin, Bonn Kitwood, T. (2000): Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Huber Verlag Romero, B.; Eder, G. (1992): Selbst-Erhaltungs-Therapie. Konzept einer neuro­ logischen Therapie bei Alzheimer.Kranken. In: Zeitschrift für Gerontopsy­ chologie und Gerontopsychiatrie, 5, S. 267-282 Rose, L. (1997): Ich habe Alzheimer. Freiburg im Breisgau: Herder Piechotta, G. (Hrsg.) (2008): DasVergessen erleben. Lebensgeschichten von Men­ schen mit einer demenziellen Erkrankung. Frankfurt/Main: Mabuse-Verlag Taylor, R. (2008): Alzheimer und Ich. „Leben mit Dr. Alzheimer im Kopf“. Bern: Huber Verlag 16


Kultur der Begegnung: Lebensgeschichten



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Erinnern und Erzählen Altwerden All der Tand, den Jugend schätzt, Auch von mir ward er verehrt, Locken, Schlipse, Helm und Schwert, Und die Weiblein nicht zuletzt. Aber nun erst seh ich klar, Da für mich, den alten Knaben, Nichts von allem mehr zu haben, Aber nun erst seh ich klar, Wie dies Streben weise war. Zwar vergehen Band und Locken Und der ganze Zauber bald; Aber was ich sonst gewonnen, Weisheit,Tugend, warme Socken, Ach, auch das ist bald zerronnen, Und auf Erden wird es kalt. Herrlich ist für alte Leute Ofen und Burgunder rot Und zuletzt ein sanfter Tod Aber später, noch nicht heute. (Hermann Hesse) Die Biografie eines Menschen ist ein höchst erstaunliches und bestaunenswertes Lebens- und Kunstwerk. Mit der Biografie wächst, stabilisiert und verändert sich die soziale Identität: ICH bin ICH, ICH bin anders als DU, ICH verändere mich, bleibe dennoch ICH SELBER, ICH bin ein soziales einzigartiges Wesen in einer Gemeinschaft. Doch was passiert mit mir, wenn meine Biografie Lücken bekommt, wenn ich mich – aufgrund einer demenziellen Erkrankung – nicht 19


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mehr an meine Adresse erinnern kann und nicht weiß, wo ich zu Hause bin und wie ich nach Hause komme? Was passiert in mir und mit mir, wenn die Erinne­ rung an Namen und Personen schwindet – und damit die Eckpfeiler meiner Bi­ ografie und sozialen Identität? Erinnerungen sind lebensnotwendig. Mit fortschreitendem Alter wird das Entsinnen an das bisherige Leben wichtiger für Selbstsicherheit, Selbstwertge­ fühl und die Gefühle von Sicherheit und sozialer Integration. Demenz ist eine Erkrankung, die mit immer größer werdenden Gedächtnis­ lücken einhergeht. Je weiter sie voranschreitet, desto mehr geht damit auch der Verlust der eigenen Identität einher. So geht verloren, was MICH als Person cha­ rakterisiert und einmalig macht. Das Erzählen von MEINEM gelebten Leben, von mir als PERSON, von MEINER PERSÖNLICHEN Lebensgeschichte, ist keine Therapie gegen die Krankheitssymptomatik, aber das Erzählen weckt Kräfte; sich an die Vergangenheit zu erinnern, hilft, das eigene Leben anzuneh­ men, vor allem trägt es dazu bei, sich seiner sozialen Integrität und der eigenen Identität zu versichern, und damit an das zu erinnern, was MICH von anderen unterscheidet und was MICH einzigartig macht. Doch oftmals lässt eine demenzielle Erkrankung den „roten Faden des Le­ bens“ verschwinden, was Verunsicherung, Angst, Wut und Schamgefühle erzeu­ gen kann. Eine Problemlösung kann aber keinesfalls darin bestehen, die Lebens­ geschichte und Lebenserfahrungen ruhen zu lassen, nicht mehr danach zu fragen. (Ver)Schweigen kann derart negative Gefühle noch verstärken. Angebracht ist vielmehr, die – krankheitsbedingt – verschlossenen Türen, das Nicht-mehr-er­ innern-Können zu akzeptieren, aber das Interesse an und die Wertschätzung der Person, ihrer ganz persönlichen Lebensgeschichte und Lebenserfahrungen un­ verändert aufrechtzuerhalten und deutlich mitzuteilen. Ohnehin gibt es kein „falsch“ oder „richtig“ beim Erinnern und Erzählen der Lebensgeschichte, es gibt nur ein „anders“. Jeder Mensch erzählt seine Le­ bensgeschichte immer anders. Bildlich gesprochen: Erinnerungen können sich wie Geschwister oder sogar wie eineiige Zwillinge ähneln, sie sind aber niemals identisch. Immer kommt es darauf an, wie etwas wahrgenommen wurde, wie es zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext sinnhaft in­ terpretiert und gewertet und wem etwas erzählt wird. Gleichwohl kann ein Zuhörer, eine Schreibpatin helfen, mittels Fragen, Nachfragen, Stichworten den „roten Faden“ (wieder) zu finden, wenn dieser 20


erinnern und erzählen

zerrissen scheint, oder in einem Knäuel von Erinnerungen scheinbar nicht mehr aufzufinden ist. „Wenn es gelingt, den ‚roten Faden‘ wieder aufzunehmen und in Teilen wieder zu verbinden, kann sich die an Demenz erkrankte Person wie­ der als identisch, zugehörig und im Kontext der Biographie als kompetent erle­ ben.“ (Stuhlmann 2004; S. 74) Voraussetzungen für ein gelingendes Erzählen der Lebensgeschichte für Menschen mit Demenz sind das Interesse der Schreibpatin am Lebenslauf des Gegenübers, der Respekt und die Wertschätzung des Erlebten. Jede Studentin des Projektes „Sich selbst (er)leben. Aktiv und kreativ in der Begegnung mit Menschen mit Demenz“ nahm mit jeweils einer demenziell er­ krankten Person Kontakt auf und ließ sich – soweit dies möglich und gewollt war – die Lebensgeschichte erzählen. Die Erzählungen wurden mittels Tonband aufgezeichnet und anschließend verschriftlicht. So wurden die Studentinnen zu Schreibpatinnen. In der Vorbereitungsphase machten sich die Schreibpatinnen mit der Krank­ heitssymptomatik vertraut. Des Weiteren wurden im Vorfeld Literaturrecherchen zur Biografiearbeit, zu historischen und gesellschaftspolitischen Geschehnissen, die die Lebenszeit der Teilnehmer betreffen, durchgeführt. Es wurden verschie­ dene erzählanregende Hilfsmittel in der Gruppe diskutiert und ein kurzer In­ terviewleitfaden erstellt. Die Studentinnen bzw. Schreibpatinnen schrieben un­ mittelbar vor und nach den Gesprächen ein Prä- und Postscriptum, um eigene Erwartungen, Befürchtungen, Gefühle und Gesprächsverläufe festzuhalten und später auszuwerten. Um die soziale Identität, das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl des demenziell erkrankten Menschen zu stärken, wurde jedem „Lebensgeschichten­ erzähler“ später seine persönliche Lebensgeschichte von der Schreibpatin vor­ gelesen und das Schriftstück, zum Teil mit eingescannten Fotos und Bildern, übergeben. Auch die Situation des Vorlesens, die Gefühle und Reaktionen wur­ den von der Schreibpatin tagebuchartig festgehalten. Insgesamt nahmen wir für unser Vorhaben zu 18 Personen (mit Demenz) Kontakt auf. Wünsche seitens der Schreibpatinnen bezüglich der Auswahl der Gesprächspartner wurden – soweit es möglich war – berücksichtigt. Soweit möglich, sollten derlei Wünsche berücksichtigt werden. Wem es zum Beispiel sehr schwer fällt, mit Menschen umzugehen, die ein hohes Aggressionspotential explizieren, sollte man dies im Vorfeld mitteilen dürfen.

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Fünf potentielle Teilnehmer schieden aus, da bei drei von ihnen die Demenz schon sehr weit fortgeschritten war und sie sich verbal nur noch sehr einge­ schränkt äußern konnten, eine Person verstarb, und in einem „Fall“ untersagten Angehörige die Dokumentation der Lebensgeschichte, da das Erinnern und Er­ zählen ihrer Meinung nach den demenziell erkrankten Menschen zu sehr auf­ wühlen und belasten würde. Die erhobenen 13 Lebensgeschichten sind jede für sich genommen einzig­ artige Dokumente von Zeitzeugen, die sehr belastende politische Zeiten, Krieg, Flucht, Nachkriegszeit und vieles mehr, erlebt haben. Dennoch haben wir ent­ schieden, nicht alle 13 Lebensgeschichten im vorliegenden Buch darzustellen. Wir wählten drei Lebensgeschichten aus, die wir beispielhaft in ganzer Länge, allerdings in sprachlich redigierter und pseudonymisierter Form, verbunden mit den reflexiven Aufzeichnungen der jeweiligen Schreibpatin, vorstellen.

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