Weibliche Genitalverstümmelung - Marion Hulverscheidt

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Mabuse-Verlag Wissenschaft 63

Marion Hulverscheidt, Jahrgang 1970, hat in Kiel und Göttingen Medizin studiert. Das vorliegende Buch ist ihre Dissertation, die sie mithilfe eines Stipendiums der Heinrich-Böll-Stiftung und eines Gastaufenthalts am MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin verfasste. Sie arbeitet und lebt als Ärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in Kassel.


Marion Hulverscheidt

Weibliche Genitalverst체mmelung Diskussion und Praxis in der Medizin w채hrend des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Hulverscheidt, Marion: Weibliche Genitalverstümmelung : Diskussion und Praxis in der Medizin während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum / Marion Hulverscheidt. – Frankfurt am Main : Mabuse-Verl. 2002 (Mabuse-Verlag Wissenschaft; 63) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-935964-00-5

© 2002 Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1a 60486 Frankfurt am Main Tel.: 0 69 / 97 07 40 71 Fax: 0 69 / 70 41 52 www.mabuse-verlag.de

Druck: Prisma Verlagsdruckerei, Frankfurt am Main ISBN: 3-935964-00-5 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten


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Inhaltsverzeichnis 1.

Einleitung ............................................................................................... 9

1.1. 1.2. 1.3.

Stand der Forschung .............................................................................. 15 Quellenmaterial ..................................................................................... 18 Begriffsbestimmung .............................................................................. 20

2.

Kenntnis und Praxis um die weibliche Genitalverstümmelung von der Antike bis ins 18. Jahrhundert .............................................. 24

2.1. 2.2. 2.3.

Antike.................................................................................................... 25 Mittelalter.............................................................................................. 28 Frühe Neuzeit ........................................................................................ 29

3.

Historische Voraussetzungen und kulturelle Deutungsmuster für die Konjunktur der Klitoridektomie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ................................................. 40

3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.2. 3.3.

Medikalisierung der Masturbation ......................................................... 41 Die gesundheitlichen Folgen der Masturbation...................................... 43 Die Behandlungsmethoden .................................................................... 45 Die Idee der Reflexneurose.................................................................... 53 Der Geschlechtstrieb in der Klitoris....................................................... 59

4.

Gegenseitige Einflussnahme von Medizin und Anthropologie.......... 69

4.1. 4.2. 4.3.

Entwicklung der Anthropologie im späten 18. und im 19. Jahrhundert.. 71 Anthropologisches Material................................................................... 72 Das erste bildliche Zeugnis der rituellen weiblichen Genitalverstümmelung..................................... 74 Anthropologische Begründungen und medizinische Indikationen für die weibliche Genitalverstümmelung ............................................... 77 Die sogenannte 'Hottentottenschürze'..................................................... 82 Fazit ...................................................................................................... 89

4.4. 4.5. 4.6.


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5.

Der Eklat um Baker Brown in London, eine einflussreiche Kontroverse .......................................................... 90

5.1. 5.2. 5.3.

Baker Brown und seine Schriften .......................................................... 91 Die "kleine Polemik" zwischen Isaac Baker Brown und Charles West .. 95 Medizinhistorische Sichtweisen der Kontroverse ................................ 101

6.

Fallbeispiele aus dem deutschsprachigen Raum.............................. 104

6.1. 6.2.

Einleitung der Fallbeispiele ................................................................. 104 "Heilung eines vieljährigen Blödsinns, durch Ausrottung der Clitoris" – CARL FERDINAND VON GRAEFE, Berliner Arzt und Chirurg.................. 107 6.3. "Die Amputation der Clitoris und Nymphen, ein Beitrag zur Therapie des Vaginismus" – GUSTAV BRAUN, Wiener Gynäkologe................................................... 116 6.3.1. Erster Fall: "Die Amputation der Clitoris und der Nymphen, ein Beitrag zur Behandlung des Vaginismus" ...................................... 117 6.3.2. Zweiter Fall: "Ein weiterer Beitrag zur Heilung der Masturbation durch Amputation der Clitoris und der kleinen Schamlippen" ............. 121 6.4. Indikation "gewohnheitsmässige Onanie und nymphomanische Zustände" im Lehrbuch "Die operative Gynäkologie" – ALFRED HEGAR und RUDOLPH KALTENBACH, Gynäkologen in Freiburg im Breisgau ................................................. 128 6.5. "Pruritus clitoridis" – GOTTLIEB FRIEDRICH HEINRICH KÜCHENMEISTER, Dresdener Medizinalrat ....................................................................... 137 6.6. "Zur Behandlung der Hysterie", die Klitoriskauterisation von NIKOLAUS FRIEDREICH, Heidelberger Neuropathologe und Kliniker... 144 6.7. Diskussion der Fälle ............................................................................ 151 7.

Zusammenfassung/Summary............................................................ 160

8.

Bildteil ................................................................................................ 162

9.

Literaturverzeichnis .......................................................................... 168


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Meinen drei GroĂ&#x;mĂźttern gewidmet, Elfriede Martha Heyn, Liselotte Hulverscheidt und Dr. Herta Haas


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Danksagung Schon früh habe ich mir Gedanken gemacht, wer in der Danksagung meiner Dissertation erwähnt werden soll, erwähnt werden muss. Nun, am Ende der langen Wegstrecke, komme ich zu dem Schluss, dass es auch mir unmöglich ist, allen, die es verdient hätten, an dieser Stelle zu danken. So stellt diese Danksagung nur das Gerippe meiner Verbundenheit dar. Nicht umsonst an erster Stelle danke ich Michael Hagner für die Übernahme des Themas, die stetige Betreuung und für seine Contenance mit einer nicht immer einfachen Doktorandin. Er ermöglichte es mir, zwei Jahre als Gast am Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin zu arbeiten und die dortigen hervorragenden Möglichkeiten – in personeller und materieller Hinsicht – zu nutzen. Bei meiner Mutter und der Heinrich Böll Stiftung bedanke ich mich; ohne deren finanzielle Unterstützung hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Freundliche Unterstützung bei der Literaturrecherche bekam ich von kompetentem Bibliothekspersonal, genannt seien an dieser Stelle die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die Bibliothek des Institutes für Geschichte der Medizin in Wien und die Bibliothek des Max Planck Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Stellvertretend danke ich hier der DiplomBibliothekarin Anke Kleta. Neben einer Supervision, der finanziellen Absicherung und dem Quellenmaterial ist eine solche Arbeit nicht denkbar ohne den wissenschaftlichen Austausch und die Anregungen von außen. Besonders erwähnen möchte ich hier Janine Nuyken, die es in einer schweren Phase geschafft hat, das von mir Geschriebene im Gespräch ermutigend zu reflektieren. Anregende Gespräche und Diskussionen haben mich an vielen Punkten weitergebracht, dafür gilt mein Dank stellvertretend Jens Lachmund, Claudia Stein, Kai Torsten Kanz, Christina Brandt, Jürgen Harder und Rike Wapler. Für die psychische und logistische Unterstützung in der Endphase geht mein Dank an Angela Friedrichs, Carmen Franz und an Christoph Schnegg, den Layout-Man. Schlussendlich möchte ich auch Antonia Lotta danken, die durch ihr Wachsen und Dasein das Zustandekommen dieser Arbeit beschleunigt hat.


1. Einleitung Auf der Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing, China wurde die rituelle Verstümmelung der weiblichen Genitalien von Afrikanerinnen auf die Tagesordnung gesetzt. Seitdem erschien eine Vielzahl von medizinischen Artikeln zum Thema.1 In einigen Arbeiten wird einleitend erwähnt, dass es die weibliche Genitalverstümmelung auch in der westlichen Welt gegeben hat.2 Dies ist das Thema dieser medizinhistorischen Arbeit. Mir geht es darum, aufzuzeigen, dass die weibliche Genitalverstümmelung von Medizinerhand auch im deutschsprachigen Raum ausgeübt wurde. Bislang ist dies nur für den angloamerikanischen Raum nachgewiesen, für Frankreich finden sich vereinzelte Andeutungen.3 Diese Arbeit soll zeigen, dass die weibliche Genitalverstümmelung kein Merkmal der 'minderen Zivilisation' Afrikas ist, wurde sie doch, wenn auch nicht in vergleichbarem Ausmaß, aber in einem bestimmten Zeitraum, mit einer gewissen Ernsthaftigkeit in Europa praktiziert.4 Die hier dargestellten Fallbeispiele stammen aus deutschsprachigen, medizinischen Zeitschriften und Lehrbüchern hauptsächlich des 19. Jahrhunderts und können somit als Ausgangspunkte der Diskussion um die weibliche Genitalverstümmelung in der modernen, westlichen Medizin angesehen werden. Ausschlaggebend für die Auswahl der Fälle waren drei Momente: eine Frau oder ein Mädchen musste einen verstümmelnden Eingriff an ihrem Genitale erleiden. Zweitens fußte die Indikation für diesen Eingriff auf der Annahme, dass das sexuelle Verhalten der Frau oder des Mädchens veränderbar oder im Rahmen der zeitgemäßen Annahmen zu normalisieren sei. Damit engte sich das Spektrum ein auf solche Fälle, bei denen die operative Entfernung eines nach heutigem medizinischen Standardwissen gesunden Organs, Klitoris und/oder Schamlip1

In der medline, einer weltweiten medizinischen Datenbank finden sich unter dem Suchbegriff 'clitoridectomy, female circumcision' für den Zeitraum von 1966 bis 1994 11 Artikel, von 1995 bis 10/1999 111 Artikel. 2 Vgl. Lightfoot-Klein 1992, Gülle 1989, Lowry/Lowry 1976. 3 Shorter 1994, Scull/Favreau1986a, Fleming 1960 für den britischen Raum; Barker-Benfield 1975, ders. 1976b, Wallerstein 1989 für den amerikanischen Raum; Andeutungen zu Frankreich bei Foucault 1978, S. 157 und Ariès et al. 1987, S. 464. 4 Insbesondere der Bezeichnung 'barbarischer Ritus', vgl. der Artikel "Jenseits von Blixen" in der Frankfurter Rundschau vom 11. 7. 2000, S. 21, soll durch diese Arbeit entgegengetreten werden


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pen, vorgenommen wurden. Ausgeklammert sind aber pathologische Veränderungen der Klitoris wie kanzeröse, syphilitische oder durch Elephantiasis verursachte. Und drittens musste der Eingriff innerhalb eines medizinischen Settings durchgeführt worden sein. Im Speziellen werden als operative Eingriffe eingerechnet: die Entfernung der Klitoris, die Entfernung oder das Abschneiden der inneren Schamlippen (Nymphotomie), das Vernähen der Schamlippen, also die Infibulation und die Kauterisation der Klitoris und/oder der inneren Schamlippen mit einem Ätzstift.5 Zu den Indikationen für die verstümmelnden Operationen, die zu einer Änderung des sexuellen Verhaltens bei der Frau oder dem Mädchen führen sollten, zählen: die Nymphomanie und die Masturbation, der gesteigerte Geschlechtstrieb, die überstarke Wollust und Geilheit und die Tribadie, also die 'Verirrung' des Geschlechtstriebes auf das eigene Geschlecht hin. Diese Begriffe werden teilweise heute noch verwendet, sie bedeuten aber etwas anderes als vor 150 Jahren.6 In einigen Fallgeschichten wird es von den behandelnden Ärzten vermieden, von einem gestörten sexuellen Verhalten der Frau, der Patientin zu sprechen, beziehungsweise überhaupt von einem sexuellen Verhalten der Frau zu sprechen. Es werden andere Bezeichnungen verwendet. Dies gilt insbesondere für die Indikationen Vaginismus und Pruritus vulvae, diese lassen sich als Verschleierungs- und Entsexualisierungsstrategien lesen. Die hier dargestellten Fälle und die in ihnen durchgeführten medizinischen Praktiken erinnern an die großen Paradigmen der Medizin- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, an die Normalisierung, die Disziplinierung, die Medikalisierung und an das Paradigma, wonach Frauen die Opfer der Medizin waren und sind. Allein, dies ist keine theoretische Arbeit, es geht mir in erster Linie nicht um die Frage nach Opfer und Täter oder nach Schuld. Allerdings scheint es verführerisch, mit den großen Paradigmen zu argumentieren, und es scheint an einigen Stellen allzu augenfällig zu sein, dass es hier um einen der großen MachtDiskurse des 19. Jahrhunderts geht. Deswegen soll versucht werden, zumindest eine dieser Fragestellungen genauer in Augenschein zu nehmen. Die Medikalisierung als konzeptionelle Annahme, sowohl der Einbeziehung größerer Bevöl5

Unter Kauterisation versteht man eine Gewebszerstörung durch Brenn- oder Ätzmittel. Eine Nymphomanie war eine psychische Erkrankung, sie zählte zu den Monomanien und konnte, wenn auch nur in sehr seltenen Fällen, zum Tode führen. Das hat mit dem heutigen Verständnis von 'nymphoman' nichts mehr gemein. 6


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kerungsgruppen in das Gesundheitswesen als auch als Bezeichnung für den Machtzuwachs oder die Machtaneignung des Mediziners im 19. Jahrhundert, kann in den hier versammelten Fallbeispielen dargestellt werden.7 Der Arzt bestimmt, wann die Patientin krank ist, er bestimmt, was zu tun ist, damit sie wieder gesund wird. Er hat die Definitionsmacht und die Behandlungshoheit in der Arzt-Patientinnen-Beziehung. Die Heilung oder Gesundung liegt nicht in der Verantwortung der Patientin, sondern in der Verantwortung des Arztes, es wird eine Operation vorgenommen, die die Patientin nur erdulden kann. Der Arzt entscheidet dann, ob und wann die Behandlung erfolgreich beendet ist. Diese sehr rigide Darstellung soll in dieser Arbeit kritisch betrachtet werden, in Hinblick auf die Frage, ob der Arzt wirklich der Einzige war, der im Verhältnis zwischen Arzt und Patientin Entscheidungen treffen konnte und auch traf. Das Medikalisierungs-Modell an sich soll nicht grundlegend kritisiert werden, scheint es doch sehr hilfreich für das Verstehen beispielsweise der Diskurse um die Hysterie und die Masturbation im 19. Jahrhundert. Allerdings werden modifizierende Anmerkungen gegeben. Gleiches gilt für Ansätze in der Frauengeschichte, die das Medikalisierungsmodell aufgreifen. Hier folgt eine noch rigidere Auslegung der Medikalisierung, indem die Frauen als Patientinnen pathologisiert wurden, sie wegen ihres Geschlechtes als gesundheitlich gefährdet oder gar krank angesehen wurden. 7

Vgl. Frevert 1985, S. 42: "Unter Medikalisierung verstehen wir nicht nur die Einbeziehung tendenziell aller Menschen in ein immer dichteres, von akademischen Experten kontrolliertes Netz medizinischer Versorgung. Die Medikalisierung der Gesellschaft fand vielmehr auch auf der Ebene von Normen und Deutungsmustern statt, die die Mentalität sozialer Schichten und Klassen prägten und ihr alltägliches Verhalten strukturierten. Mit der Propagierung von Gesundheitsregeln grenzten Ärzte und Gesundheitsadministration zugleich solche Verhaltensweisen aus, die sie als krankheitsfördernd und gesundheitsschädlich bezeichneten. Die Rationalisierung menschlichen Verhaltens, seine Ausrichtung an verbindlichen, zweckgebundenen, von der Obrigkeit positiv sanktionierten Standards fand damit auch Eingang in die 'Körperökonomie'. Der Umgang mit dem eigenen Körper wurde gesellschaftlich normiert und kontrolliert, und die Einhaltung der Normen konnte als Gradmesser sozialer Integration und 'Zivilisierung' gelten." Als VertreterInnen dieser Medikalisierungsthese werden hier stellvertretend genannt: Ute Frevert, Gerd Göckenjahn, Michel Foucault. Einen kritischen Blick versucht Francisca Loetz 1993. Aufgeschlossen einem neutralen Sprachgebrauch gegenüber verwende ich nur dann die neutrale Form, wo sowohl Frauen und Männer gemeint sind. In den folgenen Zeilen ist die Geschlechterdichotomie entsprechend Arzt und Patientin.


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Dieses Opferbild soll hier nicht nachgezeichnet werden, scheint es auch kein Abbild, vielmehr ein schlechtes Zerrbild der Rolle der Frau in der ArztPatientinnen-Beziehung zu sein.8 Aus dem verwendeten Quellenmaterial kann keine Geschichte aus der Sicht der Patientin geschrieben werden, es handelt sich durchweg um Veröffentlichungen von Ärzten, doch sind die Patientinnen nicht so unsichtbar, wie es manche vermuten mögen. Wenn sie sichtbar wurden, wird dies dokumentiert und in der Diskussion nochmals aufgegriffen. Inwieweit das Medikalisierungsparadigma, so offensichtlich es auf den ersten Eindruck sein mag, in den dargestellten Fallgeschichten wiederzufinden ist, wird in der abschließenden Diskussion nochmals aufgenommen. Eine weitere Frage, die in dieser Arbeit aufgeworfen werden soll, thematisiert die Voraussetzungen oder Bedingungen, auf medizinischer und kultureller Ebene, die für die Konjunktur der weiblichen Genitalverstümmelung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verantwortlich gemacht werden können. Darauf gibt es mehr als eine Antwort. Bislang gegebene Erklärungen werden dargestellt und durch weiterführende ergänzt. Es ließen sich mehrere solcher Gegebenheiten ausmachen: zunächst handelt es sich bei der weiblichen Genitalverstümmelung nicht um eine neue Operation oder eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – wie es einige MedizinhistorikerInnen behaupteten9. Die Operation war schon vor dem Siegeszug der Chirurgie bekannt und wurde auch praktiziert. Dieses bekannte Wissen verband sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der Medikalisierung der Masturbation, deren Anfänge im 18. Jahrhundert liegen. Im 19. Jahrhundert erlangte sie eine Verschärfung, die unter anderem zu einem vermehrten Einsatz drastischer Methoden zur Prävention und Behandlung führte.10 Die weibliche Genitalverstümmelung war eine davon. Eng zusammen mit diesem Phänomen hängt der Aufschwung der chirurgisch-operativen Techniken, der sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts abzeichnete.11 Die Klitoridektomie wurde schon vor Einführung der Aethernarkose und der Theorie der Asepsis

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Eher unkritisch dargestellt findet sich dieses Medikalisierungsmodell bei Edward Shorter 1994 und bei Kathrin Schmersahl 1998 in Hinblick auf die Medikalisierung des Weiblichen. Vgl. auch Honegger 1996, Fischer-Homberger 1979 9 Barker-Benfield 1975, ders. 1976b, Scull/Favreau 1986a, Showalter 1985 10 Spitz 1952 11 Ackerknecht/Murken 1992, Kapitel 16; Eckart 1998, Kapitel 9.4 und 9.5


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durchgeführt, allerdings wurden diese neuen Techniken dann auch bei den verstümmelnden Eingriffen am weiblichen Genitale angewendet.12 Neben diesen praktisch-klinischen Veränderungen können auch zwei Denkmodelle, die im 19. Jahrhundert vermehrt Anklang fanden, für die häufigere Ausführung der weiblichen Genitalverstümmelung herangezogen werden: das Aufkommen der Reflextheorie und die Idee der Lokalisation des Geschlechtstriebes. Die Reflextheorie fand nicht nur unter den Seelenheilkundlern, sondern auch bei den Gynäkologen Anklang. Als theoretische Grundlage, wonach ein peripherer Reiz über Reflexbahnen zu zentralnervösen und folglich auch zu neurotischen Störungen führen konnte, fungierte sie bei einigen Vertretern dieser Fachrichtung zur Legitimierung der Klitoridektomie. Die Klitoris wurde wegen ihres Nervenreichtums und ihrer spezifischen Reizbarkeit als Entstehungsort für Irritationen und Überreizungen des Nervensystems und damit für psychische Störungen verantwortlich gemacht. Eine andere Theorie ist die von der Lokalisation des weiblichen Geschlechtstriebes in den weiblichen Genitalorganen. Der Geschlechtstrieb der Frau und ihre wollüstige Empfindung wurden als schwächer als beim Mann eingestuft. Dies ist eine Interpretation der in den Hippokratischen Schriften versammelten Feststellung, Frauen seien kälter als Männer. Im 19. Jahrhundert wurde diese Feststellung zu einem Paradigma – insbesondere für die bürgerliche Frau – erhoben.13 Dennoch galt bis Ende des 19. Jahrhunderts der Orgasmus der Frau als erforderlich für die Befruchtung. Laqueur versucht dieses begriffliche Dilemma zu lösen, indem er von der 'Leidenschaftslosigkeit' der Frau beim Or12

Weiter kann die These aufgestellt werden, dass sich manch ein Operateur mit der Proklamierung einer neuen Operationstechnik ein eigenes Denkmal setzen wollte. Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine Vielzahl von Operationen und Operationsinstrumenten mit den Namen der Operateure belegt, es gab diesbezüglich auch Diskussionen über die Benennung. Hier sei beispielhaft die Debatte um die Benennung der beidseitigen Oophorektomie oder Kastration der Frauen erwähnt. Alfred Hegar, Deutschland und Robert Battey, USA beanspruchten, sie erstmalig durchgeführt zu haben; vgl. Hegar 1877b, S. 1006. Die Folge war, dass diese Operation in Europa Hegar-Operation und in den USA Battey-Operation genannt wurde. Die Klitoridektomie hat keinen Eigennamen erhalten, sie ist aber eng verbunden mit dem Namen Baker Brown. In der kontroversen Diskussion um dessen medizinische Praktiken wurde der Terminus 'Clitoridectomy' insbesondere durch die Berichte im British Medical Journal und im Lancet geprägt. 13 Der englische Chirurg William Acton (1814-1875) behauptete 1857, dass Frauen von sexuellen Empfindungen zu ihrem Glück nicht sehr bedrängt werden. Vgl. Laqueur 1996, S. 223; Schmersahl 1998, S. 71, Hegar 1894, S.5; Cott 1987, S. 221 Fußnote 6; Breidenstein 1996


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gasmus spricht, die Frau hatte zwar einen Orgasmus, empfand ihn aber nicht.14 Der Geschlechtstrieb, der sowohl das Verlangen nach sexueller Befriedigung als auch das Gefühl der Befriedigung beinhaltete, wurde von einigen Autoren in der Klitoris lokalisiert. Zur Minderung eines zu starken Geschlechtstriebes, der angeblichen Ursache von Masturbation und/oder Nymphomanie, galt die Entfernung der Klitoris daher als eine plausible Behandlung. Deutlich wird auch hier wieder der Anklang der Paradigmen der Pathologisierung und Normalisierung des Weiblichen, wobei die Norm selbst einem historisch-kulturellen Wandel unterworfen war.15 Allerdings ist das zur Verfügung stehende Material nicht geeignet für eine Analyse der Normvorstellung vom weiblichen Geschlechtstrieb oder der 'normalen Klitoris'. Die Fallzahl ist zu gering und der Blick zu stark auf das Pathologische gerichtet. So kann die Normvorstellung nur angedeutet werden und muss in dem dynamischen Prozess des 19. Jahrhunderts gesehen werden. Es gab Normierungsbestrebungen, doch führten diese insbesondere in der Therapie nicht zu allgemeingültigen Grundsätzen. Ein weiterer Erklärungsversuch fußt auf der Tatsache, dass es etwa zeitgleich mit der Ausführung der weiblichen Genitalverstümmelung im deutschsprachigen Raum innerhalb der sich konstituierenden Anthropologie/Ethnologie eine Wissensverbreitung um die rituelle weibliche Genitalverstümmelung bei afrikanischen Ethnien gegeben hatte. Berichte von Expeditionen in das Innere von Afrika, welches erst im 19. Jahrhundert erforscht wurde, enthielten Beschreibungen und Schilderungen über die dort praktizierten Rituale und Traditionen. Das Wissen um die rituelle Beschneidung der weiblichen Genitalien war schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbreitet. Es wurde darüber in Teil von Lehrbuchwissen von geburtshilflichen (gynäkologischen) und anatomischen (anatomisch-pathologischen) Lehrbüchern berichtet. Das von den Afrika-Expediteuren gesammelte neue Wissen, die neuen Erkenntnisse, waren beeinflusst von der persönlichen Erfahrungswelt, der Wissensstruktur und damit dem 'Wissensfilter' dieser europäischen Forscher. Deren Erfahrungen über die Funktion und die Bedeutung der Klitoris in der westlichen Welt wirkten auf die Interpretation dieser traditionellen Praktiken. Umgekehrt beeinflusste auch die Kenntnis dieser Praktiken die Ausübung der weiblichen Genitalverstümmelung in der deutschen Medizin. Dies wird unter anderem an den Indikationen, die dafür in medizinischen Lehrbüchern angegeben werden, deutlich. 14 15

Laqueur 1996, S. 215; vgl. auch Cott 1987. Canguilhem 1974; Foucault 1983; Gardetto 1994


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Ein Ereignis in der Londoner medizinischen Fachwelt der Jahre 1866 und 1867 hatte großen Einfluß auf die medizinische Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung auf dem europäischen Kontinent. Isaac Baker Brown (18121873), ein Londoner Gynäkologe und Beförderer der operativen Gynäkologie, veröffentlichte 1866 ein Büchlein, in dem er die Klitoridektomie als Therapie der Hysterie, Epilepsie und anderer neurotischer Störungen empfahl. Diese Veröffentlichung löste eine kontroverse und intensive Diskussion in der Londoner medizinischen Fachwelt aus, an deren Ende Baker Brown aus der London Obstetrical Society ausgeschlossen wurde und die Klitoridektomie als grausame Praktik verdammt wurde. Baker Browns Veröffentlichung, die Diskussion um seine Person und um seine Praktiken waren auch im deutschsprachigen Raum bekannt.16 Etliche Autoren beziehen sich auf ihn, kritisieren ihn oder nehmen ihn zum Vorbild für ihr therapeutisches Handeln. Aus diesen Gründen wird dieser Eklat als Teil der Rahmenbedingungen für die Konjunktur der weiblichen Genitalverstümmelung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Medizin angesehen.

1.1. Stand der Forschung Zu deutschen Fällen ist – wie gesagt – noch keine ausführliche Darstellung erschienen.17 Das, was an medizinhistorischer Forschung zur weiblichen Genitalverstümmelung in der westlichen Welt erschienen ist, bezieht sich im Wesentlichen auf Baker Brown. Für Edward Shorter ist die Klitoridektomie ein "letzte(r) chirurgische(r) Ableger der Reflextheorie"18. Wurde die Klitoridektomie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zur Behandlung der Nymphomanie ausgeführt – dies illustriert Shorter mit einem französischen und einem deutschen Fallbeispiel – so änderte sich die Indikation durch den "Siegeszug der Reflextheorie".19 Die Entfernung der Klitoris wurde nun auch bei hysterischen Konvulsionen als erfolgversprechende Behandlung angewandt. Baker Brown wird als der stärkste Beförderer der Klitoridektomie bei Reflexhysterie angeführt. Für Shorter ist die Klitori-

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Vgl. Ullersperger 1867. Die Fälle von Graefe (vgl. Kapitel 6.2.) und von Braun (vgl. Kapitel 6.3.) werden am Rande erwähnt bei Shorter 1994, S. 145 und Anmerkung 81 S. 568; Wallerstein 1989, S. 162. 18 Shorter 1994, S. 144 19 Shorter 1994, S. 146 17


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dektomie eine breit bekannte und auch weithin geübte Praxis.20 Für den Zeitraum nach 1867, in dem nach anderen Autoren die Klitoridektomie nicht mehr ausgeführt wurde,21 gibt Shorter an, dass 1) die Operation in England noch bis in die 1890er Jahre ausgeübt wurde, 2) dass als Reaktion auf das schlechte Ansehen der Klitoridektomie die Kauterisation der Klitoris einen Boom erlangte und 3) dass über die Klitoridektomie in den USA noch bis etwa 1914 "mitunter in hymnischen Tönen" berichtet wurde. Zum deutschsprachigen Raum hat sich Shorter, abgesehen von der Darstellung des Graefe-Falles, nicht geäußert. Sein Ansatz, die Klitoridektomie nur mit der Konjunktur der Reflextheorie zu erklären, ist einseitig, da andere beeinflussende Variablen so aus dem Blickfeld gelangen. Auch erscheint Shorters Quellenkritik sehr oberflächlich, seine Darstellung eher reißerisch. In einer früheren Veröffentlichung hat Shorter schon einmal seine eingeschränkte Sichtweise auf die Reflextheorie als das Erklärungsmodell für die Medikalisierung der Hysterie und anderer weiblicher nervöser und sexueller Störungen dargelegt. Dieses Erklärungsmodell zeigt nur die Mittel der Machtausübung des Arztes. Die Beeinflussungsmöglichkeiten auf Seiten der Patientin, die schließlich erst einmal zum Arzt gehen muss, bevor dieser seine Autorität ausspielen kann, lässt Shorter vollkommen außer Acht.22 Der amerikanische Sexualwissenschaftler Edward Wallerstein veröffentlichte 1989 in der Zeitschrift für Sexualmedizin einen Artikel über die nichtreligiöse (männliche) Beschneidung in den USA.23 Darin entwickelt er die These, dass die Klitoridektomie der männlichen Beschneidung als Vorbild diente, welche wiederum zu einem vermehrten Ausführen der weiblichen Beschneidung (Entfernung der Klitorisvorhaut) in den USA führte. Die Akzeptanz der Klitoridektomie aus "vermeintlichen medizinischen Gründen" erleichterte in angelsächsischen Ländern die Verbreitung der männlichen Beschneidung. Wallerstein geht von der Masturbation als Indikation für die Verstümmelung der weiblichen und männlichen Genitalien aus. Die von ihm angegebene theoretische Basis ist einzig die Reflextheorie. Für seinen Fokus auf die Wirkmächtigkeit der männlichen Beschneidung im amerikanischen Raum bleibt die weibliche Genitalverstümmelung lediglich ein Erklärungsstrang, somit ist sie für diese Arbeit wenig hilfreich. 20

Shorter 1994, S. 150 Barker-Benfield 1976b, S. 120 22 Shorter 1989, S. 172 23 Wallerstein 1989 21


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John Duffy versucht in einem Artikel den Zusammenhang zwischen der Masturbation und der Klitoridektomie, beziehungsweise dem Arbeiten an einer Nähmaschine und den psychischen Folgen dieser Arbeit für die Frauen im 19. Jahrhundert, näher zu beleuchten.24 Außer einer aufgefundenen zeitlichen Koinzidenz von der Warnung vor fußbetriebenen Nähmaschinen und den Veröffentlichungen zur Klitoridektomie als Behandlung der Masturbation bietet dieser Artikel wenig Relevantes für die hier gestellten Fragen. Graham John Barker-Benfield ordnet die weibliche Genitalverstümmelung unter die Kategorie "sexual surgery" ein. Weil die weibliche Sexualität die Frauen verrückt werden ließ, mussten sie zivilisiert und behandelt werden.25 Theoretisches Erklärungsmodell war auch hier die Reflextheorie. Barker-Benfield unterscheidet nicht zwischen der Klitoridektomie, der Kastration der Frauen und anderen chirurgischen Eingriffen am weiblichen Genitale. In einer folgenden Veröffentlichung geht Barker-Benfield auf die Beschneidung der Klitorisvorhaut ein. Eine Gruppe von amerikanischen Ärzten gründete 1890 die Society of Orificial Surgery und das zugehörige Publikationsorgan Journal of Orificial Surgery.26 Aus den darin veröffentlichten Fallgeschichten wird deutlich, dass die dieser Gesellschaft angehörenden Praktiker diverse Operationen am weiblichen Genitale durchführten, um die Frauen von etwaigen psychischen und somatischen Störungen zu heilen, welche durch vermeintliche Störungen der weiblichen Sexualität bedingt waren. Schon ein von einer Frau als solcher empfundener Orgasmus wurde als pervers eingestuft und die Frau damit als therapiebedürftig betrachtet. Barker-Benfield stellt diese Forschungsergebnisse in Hinblick auf die männliche Beschneidung – und deren Popularität in der amerikanischen Gesellschaft – dar, er vergleicht nicht mit den Gegebenheiten in Europa. Einen eher sozialhistorischen Ansatz vertreten Andrew Scull und Diane Favreau in ihren beiden gemeinsamen Arbeiten über den 'Clitoridectomy Craze'.27 Sie beziehen sich nur auf Baker Brown, andere Fälle werden von ihnen nicht genannt. Als Voraussetzungen für die fixe Idee der Klitoridektomie geben sie 24

Duffy 1963 Barker-Benfield 1975, S. 280: "It was woman's sexuality that made woman mad." 26 Barker-Benfield 1976a Unter 'orificial surgery' ist die Chirurgie der unteren Körperöffnungen, Anus, Harnröhre und Vagina und dem umgebenden Gewebe zu verstehen. Zu den häufig ausgeübten Operationen gehörten die Klitorisvorhautbeschneidung, die Spaltung des Anus, und die Entfernung von Hämorrhoiden. 27 Scull/Favreau 1986a und 1986b. 25


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neben der Reflextheorie und deren enger Verknüpfung mit den weiblichen Geschlechtsorganen an, dass Baker Brown die Masturbation als Ursache des Wahnsinns anführte und alleinig verantwortlich machte.28 Auch die Etablierung der chirurgischen Techniken als routinemäßige Behandlung geben sie an, jedoch, durch die Fixierung auf den einen Fall engt sich das Blickfeld zu sehr ein. Es hat den Anschein, als sei hier ein Einzelfall beschrieben, und nicht ein Phänomen, das zwar nicht zur Routine wurde, aber doch von einigen damals sehr angesehenen Ärzten praktiziert wurde. Auch andere medizinhistorische Arbeiten zur Klitoridektomie oder weiblichen Genitalverstümmlung in der westlichen Welt konzentrieren sich hauptsächlich auf Baker Brown und verlassen die Ebene des Einzelbeispiels nicht.29

1.2. Quellenmaterial Als Quellenmaterial wurden deutschsprachige medizinische Zeitschriften ausgewählt, um so ein Abbild der Diskussion um die Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung zu erhalten. Auch medizinische Lehrbücher, vor allem Lehrbücher der Anatomie, der Pathologie und der Frauenheilkunde wurden als Quellen herangezogen. Auch dort konnten kritische Anmerkungen zu den Fällen aufgefunden werden. Auf die Untersuchung von Archivmaterialien wie persönlichen Notizen oder Operationsbüchern wurde bewusst verzichtet, weil diese Arbeit das beschreiben will, was bekannt, also veröffentlicht, war. Für den Zeitraum von etwa 1815 bis 1915 wurden in deutschsprachigen medizinischen Zeitschriften und Lehrbüchern etwa 100 beschriebene Fälle gefunden. Etwa 35 davon finden sich in den zwei Dekaden von 1865 bis 1885. Anhand dieser Zahlen ist es jedoch nicht möglich, valide Aussagen über die genaue Zahl der operierten Fälle zu machen. Dies ist auch nicht die Intention dieser Arbeit. Hier werden eher Aussagen über die Diskussion um die weibliche Genitalverstümmelung zu finden sein als konkrete Zahlen über das genaue Ausmaß. Es kann gezeigt werden, welches Wissen, welche Forschungsergebnisse und aktuellen Tendenzen in die Diskussion einflossen. Die Fallgeschichten, die den zeitlichen Rahmen der Arbeit abstecken, entstammen dem 19. Jahrhundert, die erste hier dargestellte deutsche Fallgeschichte stammt von 1825, die letzte von 1882. Die ursprüngliche Annahme war, dass

28 29

Scull/Favreau 1986a, S. 249; Scull/Favreau 1986b, S. 7 So bei Showalter 1985; Nichol 1969; Hodges 1998; Black 1997


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durch die von Freud formulierte Psychoanalyse und durch den Aufschwung der Sexualwissenschaften die Kritik an den genitalverstümmelnden Operationen unter sexuellen und psychischen Indikationen so stark zunahm, dass diese Eingriffe um die Jahrhundertwende verlassen wurden. Stichprobenartige Recherchen haben ergeben, dass diese Annahme so nicht zu halten ist. Zur Jahrhundertwende kam es zu einem Abschwung in der medizinischen Ausübung der weiblichen Genitalverstümmelung, gänzlich hörte sie jedoch nicht auf.30 Die weibliche Genitalverstümmelung im deutschsprachigen Raum war keineswegs eine allseits akzeptierte Praktik. Ihre Anhänger mussten sich einer Kritik der klinisch tätigen Ärzte der nämlichen Fachrichtungen ebenso stellen wie Einwänden von Psychiatern und Anatomen. Diese Kritik wird in direkter Bezugnahme zu den Fallgeschichten dargestellt werden. Ausgespart oder nur in wenigen Bemerkungen angedeutet, ist die 'männliche Genitalverstümmelung', also die Beschneidung der Penisvorhaut zur Behandlung und Prävention von Masturbation oder geistigen Störungen. Hier kann nur auf die Veröffentlichungen von Frederick Hodges verwiesen werden, der dieses Thema ausführlich für den anglo-amerikanischen Raum bearbeitet hat.31 In der aktuellen Debatte um die weibliche Genitalverstümmelung bei afrikanischen Ethnien wird erwähnt, dass es auch in der westlichen Welt eine Form der Genitalverstümmelung gibt, die starke Ähnlichkeit mit der Verstümmelung afrikanischer Mädchen und Frauen hat: die chirurgisch-plastische Korrektur der Genitalorgane bei Menschen mit einem nicht eindeutig zu bestimmenden Geschlecht, den Intersexuellen. Die an diesen Kindern in frühester Kindheit oft mehrfach durchgeführten Operationen und Eingriffe wie Dilatationen einer "zu engen Vagina" wirken hochtraumatisierend auf diese Menschen. Die Geschichte scheint erst im 20. Jahrhundert zu beginnen, eine systematische Bearbeitung steht noch aus.32 Laqueur schreibt: "The procedure [clitoridectomy; M. H.] was widely known, but only in the context of what other people did."33 Ein Teil der medizinhistorischen Diskussion um die Klitoridektomie hat einen nationalistischen 30

Es muss weiteren Arbeiten überlassen bleiben, ein genaues Ende, falls dies zu fassen ist, der Geschichte der weiblichen Genitalverstümmelung zu schreiben. Ein letzter Fall von Genitalverstümmelung zur Behandlung der Masturbation aus Deutschland ist von 1938 bekannt. Jobst 1938; vgl. auch Wallerstein 1989. 31 Hodges 1998; Hodges 1999 32 Vgl. Dreger 1998 33 Laqueur 1989, S. 113


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Charakter; was deutlich macht, wie schambesetzt und schuldkonnotiert im Diskurs um die 'verstümmelnde Schuld' diese Thematik ist. Alan Hunt merkt dazu in bissiger Weise an: Americans tend to blame the Englishman Dr. Isaac Brown for introducing the procedure in 1866, while the British respond by observing that this 'remedy' persisted in the United States until the end of the Second world war. Mc Claren rounds off this exercise of mutual guilt by drawing attention to the use of clitoridectomies in French asylums. 34

Die Fährte soll nicht weiter verfolgt werden, hingegen werden die in dieser Arbeit dargelegten Fälle aus dem deutschsprachigen Raum mit der um sie herum entstandenen Diskussion dargestellt werden, ohne die Frage der Schuld zu stellen. Es soll nicht darum gehen, Täter und Opfer zu identifizieren oder einzelnen Personen den 'Schwarzen Peter' zuzuschieben, es soll vielmehr aufgezeigt werden, dass ein solcher Ansatz die diesen Prozessen innewohnende Dynamik nur unzureichend erfasst.

1.3. Begriffsbestimmung Die aktuelle Debatte um die Beschneidung der weiblichen Genitalien bei Angehörigen afrikanischer Ethnien zeigt, wie schwierig es ist, diese Praktik wissenschaftlich angemessen zu benennen. Betroffene Frauen, die sich gegen die weibliche Genitalverstümmelung engagieren, finden den Gebrauch des Terminus 'Verstümmelung' gerechtfertigt, den Terminus 'weibliche Beschneidung' empfinden sie als Euphemismus.35 Bei ihnen werden die Genitalien nicht beschnitten, wie man eine Hecke beschneidet, sondern sie werden verstümmelt. Das Abschneiden eines Fingergliedes, so argumentieren sie, würde wohl auch kaum als Beschneidung bezeichnet werden, bei der 'genitalen Verstümmelung' handelt es sich sogar um die Entfernung eines Organs. Der Terminus 'weibliche Genitalverstümmelung' ist die Übersetzung des Terminus 'Female Genital Mutilation', der (falsch) auch in weibliche 'Geschlechtsverstümmelung' übersetzt werden kann. Eine solche Übersetzung führt wegen der Doppeldeutigkeit des deutschen Begriffs Geschlecht (sex und gender) zumeist in die Irre.

34 35

Hunt 1998, S. 599 Fußnote 98 Schnüll/Terre des Femmes 1999, S. 14


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Der Terminus Verstümmelung bezeichnet einen Eingriff in die körperliche Integrität.36 Die Diskussion, ob es sich bei der Entfernung oder der Amputation der Klitoris um eine Verstümmelung handelt, wurde auch im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum geführt. So argumentierte der Heidelberger Kliniker und Neuropathologe Nikolaus Friedreich (1825-1882)37 1882: (...) wohl aber ist der Vorwurf zurückzuweisen, daß es sich bei der Operation um eine "Verstümmelung" der Kranken handle. Wie man die Beseitigung eines so versteckt gelegenen kleinen Gebildes mit diesem Namen verurteilen konnte, ist nicht verständlich (...)38

Unter der Operation verstand Friedreich die von Baker Brown vorgenommene Klitoridektomie, die operative Entfernung einer gesunden Klitoris oder eines Teils der gesunden Klitoris zur Behandlung und Vorbeugung von Masturbation, Hysterie und anderen krankhaften Zuständen. Friedreich verteidigt in dem gegebenen Zitat die Klitoridektomie gegen den Vorwurf der Verstümmelung, weil nur ein so kleines und zudem kaum sichtbares Gebilde herausgeschnitten werde. Eine Verstümmelung kann aber kaum über die Größe, das Gewicht des Teiles, welches entfernt wird, oder über die Sichtbarkeit der Verstümmelung bestimmt werden. Wesentlich ist hier neben dem subjektiven Gefühl auch die Funktion des entfernten Körperteils. Hierzu merkte der Anatom Wilhelm Krause (1833-1910) an: Aus dem Nachweise besonderer mikroskopischer Wollustkörperchen, die sich gewiss nicht reproduciren, wenn sie einmal verloren gingen, ergiebt sich, wie barbarisch es sein muss, gesunden Mädchen aus irgend welchem Grunde die Clitoris zu exstirpiren.39

Der Klitoris wurde im 19. Jahrhundert mit anatomisch-physiologischen Argumenten eine Funktion innerhalb des Organismus zugeschrieben. Daraus wurden moralische Konsequenzen abgeleitet. Wohl gemerkt, Krause bezieht sich auf die

36

Eine Verstümmelung hat zum Zweck, gesunde Teile des Körpers oder von Körperorganen zu entfernen. Sie verursacht damit einen bleibenden Schaden. Der Körper als ganzes – und der Mensch – ist nach diesem Eingriff unwiderruflich verändert. 37 Vgl. Kapitel 6.6. 38 Friedreich 1882, S. 226 39 Krause 1866b, S. 88


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Klitoridektomie in der westlichen Medizin, und nicht auf die rituellen Praktiken afrikanischer Ethnien. Weil in der Debatte um die Beschneidung der weiblichen Genitalien zur angeblichen Behandlung von krankhaften Störungen und Geisteskrankheiten im 19. Jahrhundert dieselben oder ähnliche Begrifflichkeiten verwendet wurden, wie in der aktuellen Debatte zur Bekämpfung dieser Praktik, werde ich den Terminus 'weibliche Genitalverstümmelung' in dieser Arbeit gebrauchen. Der 'gesteigerte Geschlechtstrieb' bedeutete bei einer Frau, dass sie sich normwidrig verhielt, weil sie ein zu starkes Verlangen und ein zu sehr ausgeprägtes Empfinden der sexuellen Lust äußerte.40 Die Frau selbst empfand dies auch als störend und belastend, deswegen suchte sie medizinische Hilfe. Geschlechtstrieb und Wollust wurden von einigen Autoren synonym verwandt, andere unterschieden deutlich. Hatte der Begriff 'Wollust' im 18. Jahrhundert noch viele Bedeutungen, und die sexuale war nur eine unter ihnen, engte sich der Bestimmungsbereich im 19. Jahrhundert zunehmend auf die Sexualsphäre ein. In der hier untersuchten Periode allerdings waren der übersteigerte Geschlechtstrieb und die überstarke Wollust gängige Begriffe im medizinischen Diskurs. Gemeint war damit sowohl ein gesteigertes Verlangen als auch ein intensiveres Empfinden der sexuellen Lust, ein englischer Ausdruck hierfür wäre das 'sexual desire'. Da heutzutage der Terminus Geschlechtstrieb eine Assoziation zu Freuds Triebtheorien weckt, soll hier explizit gemacht sein, dass sich diese Arbeit mit den Sexualtheorien der Periode vor Freud beschäftigt. Ein wichtiger Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit der Selbstbefriedigung. Dafür gibt es etliche Begrifflichkeiten, die zu unterschiedlichen Zeiten Konjunktur hatten, der heute gebräuchliche Terminus 'Selbstbefriedigung' findet sich kaum in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Die Begriffe 'Onanie' und 'Selbstbefleckung' wurden zwar synonym mit dem von mir favorisierten Begriff 'Masturbation' verwendet, sie deuten jedoch in eine andere Richtung; die Onanie verweist schon im Namen auf die biblische Geschichte von Onan41, 'Selbstbeflekkung' impliziert etwas Schmutziges. Masturbation ist in der Konnotation annähernd neutral und auch für das weibliche Geschlecht angemessen. 'Pollutionen' erfassen hier den Gegenstand nicht.

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Zum Geschlechtstrieb der Frau im 19. Jahrhundert, vgl. Hegar 1894, S. 5; Krafft-Ebing 1997(1912), S. 13; Laqueur 1996, S. 223; Schmersahl 1998, S. 71 41 Vgl. Kapitel 3.1.


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Im Kapitel 2. wird die Vorgeschichte dargestellt. Es wird gezeigt, was man im 19. Jahrhundert über die weibliche Genitalverstümmelung wusste und praktizierte. Damit soll die Auffassung widerlegt werden, die weibliche Genitalverstümmelung und die Klitoridektomie im Besonderen sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, eine Erfindung von Baker Brown. Im Kapitel 3. werden die drei großen kultur- und medizinhistorischen Voraussetzungen näher beleuchtet. Die Debatte um die Masturbation als krankheitsauslösendes Übel verstärkte sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts. Proportional zu der Annahme von schlimmeren Krankheiten, die durch die Masturbation verursacht und verschlimmert würden, radikalisierten sich die prophylaktischen und therapeutischen Mittel zur Behandlung der Masturbation. Die operativen Therapien wurden im 19. Jahrhundert eingesetzt. Die Idee der Reflextheorie, beziehungsweise der reflektorisch entstehenden Neurose, hatte im 19. Jahrhundert Konjunktur. Woher sie kam, wo sie fruchtete, und wer sie vertrat, soll hier ebenfalls dargestellt werden. Die Diskussion um den weiblichen Geschlechtstrieb, dessen Ausprägung im Vergleich zum männlichen Geschlecht, die von ihm ausgehenden Gefahren für die Gesundheit der Frau, war Teil der Debatte um die Sexualität im 19. Jahrhundert. Die Annahme, der Geschlechtstrieb äußere sich in einem bestimmten Organ – beispielsweise der Klitoris –führte dazu, dass zur Behandlung eines als übermäßig angesehenen Geschlechtstriebs dieses Organ entfernt wurde. Diese bislang unbeachtete Erklärung soll auch in diesem Kapitel dargestellt werden. Im Kapitel 4. soll versucht werden, den Zusammenhang und die Verbindungslinien zwischen der praktischen Medizin und der sich konstituierenden Anthropologie des 19. Jahrhunderts darzustellen. Die medizinischen Indikationen sollen mit den von Ethnologen gegebenen Begründungen für den Eingriff verglichen werden, um feststellen zu können, ob es sich um zwei getrennte Phänomene handelte oder ob sie miteinander in Beziehung traten und wie diese Beziehungen aussahen. Daran anschließend soll in einem kurzen Abriss – jedoch mit einem intensiven Rückgriff auf die Primärquellen – der Eklat um Baker Brown dargestellt werden, vor allem in Hinblick darauf, was davon in Deutschland bekannt war (Kapitel 5.). Hier werden die bislang erschienenen historischen Arbeiten und deren Thesen nochmals kritisch beleuchtet. Im nachfolgenden Kapitel 6. werden, nachdem bis dahin die Voraussetzungen und Bedingungen und die möglichen Transferwege dargestellt wurden, fünf Fallbeispiele aus dem deutschsprachigen Raum und deren Kritik ausführlich dargestellt. In einer abschließenden Diskussion werden die Fälle untereinander verglichen und vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten Voraussetzungen diskutiert. Eine Zusammenfassung schließt die Arbeit ab.


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