Inhaltsverzeichnis Ulrich Wahn Zum Geleit ..................................................................................................... 7 Theda Borde, Matthias David Vorwort der Herausgeber ............................................................................... 9 Matthias David, Jürgen Pachaly Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich ......................................................................... 11 Anne-Madeleine Bau, Raffaella Matteucci Gothe, Theda Borde Gibt es Unterschiede im Ernährungsmuster von Kita-Kindern verschiedener Ethnien? Ergebnisse aus Berlin-Wedding ............................ 31 Dietrich Delekat Zur gesundheitlichen Lage von Kindern in Berlin ...................................... 55 Haci-Halil Uslucan, Urs Fuhrer, Simone Mayer Erziehung in Zeiten der Verunsicherung. Elterliches Erziehungsverhalten und die Gewaltbelastung von Migrantenjugendlichen ................ 65 Christian von Ferber, Ulrike Prüß, Liselotte von Ferber, Gerd Lehmkuhl Zur Selbsteinschätzung Jugendlicher deutscher und nichtdeutscher Muttersprache nach dem Youth Self Report. »Soziale Benachteiligung« oder »relative deprivation«? ........................................................................ 89 Rainer-Georg Siefen Psychische Entwicklungsrisiken bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ............................................................................... 107 Urte Finger-Trescher, Trauma und Traumaverarbeitung bei Eltern und Kindern mit Migrationshintergrund ............................................................................... 121 Joachim Gardemann Kinder auf der Flucht: Zur Gesundheitssituation von Flüchtlingskindern in ihren Herkunftsländern und im Aufnahmeland Deutschland .. 139 Christoph Grüber Asthma und Allergie bei türkischstämmigen Kindern in Berlin ............... 161
Ibrahim Yehia Akzeptanz von Impfungen bei Migrantenfamilien ................................... 169 Liane Schenk Kulturelle oder soziale Benachteiligung? Gesundheitsverhalten von Migrantenkindern – Ergebnisse aus der Pilotphase des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys ........................................................................ 187 Inge Nowak Mo.Ki – Monheim für Kinder: Konsequente präventive Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe ...................................................................... 203 Manuela Seidel Gesundheitsfördernde Schule im sozialen Brennpunkt ............................ 211 Ingrid Papies-Winkler Kinderbeteiligung für eine gesunde und zukunftsfähige Stadt – »Kiezdetektive«.......................................................................................... 227 Zahra Mohammadzadeh Gesundheitsförderung mit Flüchtlingskindern – eine »Realpolitik« im 21. Jahrhundert ..................................................................................... 235 Riem Tisini Soziale und gesundheitliche Förderung von arabischen Mädchen bei AKARSU im Projekt INAS ........................................................................ 247 Lucyna Wronska Interkulturelle Sozialpädagogik ................................................................. 253 Theda Borde Repräsentation ethnischer Minderheiten in Studien und Gesundheitsberichten. Erfordernis, Chancen und Nebenwirkungen ............................ 267 Anhang Theda Borde und Matthias David Checkliste »Interkulturelle Öffnung von Krankenhäusern und anderen Versorgungseinrichtungen« ....................................................................... 291 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .................................................. 307
Ulrich Wahn
Zum Geleit In einer Zeit, in der von manchem das Konzept der multikulturellen Gesellschaft als gescheitert angesehen wird, die Probleme von Kindern mit Migrationshintergrund zum Thema zu machen, scheint mir außerordentlich verdienstvoll zu sein. Die Bedeutung sprachlicher Defizite von Migrantenkindern in Deutschland und der damit zusammenhängenden verminderten Chancen zur beruflichen Eingliederung wird derzeit in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Weniger beachtet wird die Problematik einer spezifischen Morbidität von Migrantenkindern, die aus geographischen Regionen mit völlig unterschiedlicher Exposition gegenüber Infektionserregern zu uns ins Land kommen. Tuberkulose und HIV sind wichtige Beispiele für dramatische Unterschiede in der Epidemiologie. Mit der Akkulturation in Deutschland zeigt sich in vielen Bereichen auch eine Anpassung an das spezifisch deutsche Morbiditätsspektrum. Hier weit verbreitete Volkskrankheiten wie Allergien und Asthma werden dann mit ähnlicher Inzidenz in Migrantenfamilien beobachtet, wenn eine weitgehende Angleichung der Lebensstile erfolgt ist. Den Herausgebern dieses Buches gebührt Respekt und Anerkennung dafür, dass sie mit der Fokussierung der Thematik auf die Problematik von Kindern mit Migrationshintergrund Defizite ansprechen, die für alle Berufsgruppen, die sich mit der Entwicklung und Gesundheit von Kindern befassen, außerordentlich bedeutsam sind. Es ist zu wünschen, dass die Impulse, die hier gegeben werden, nicht nur in der Stadt Berlin, sondern überall im Land ein breites Echo erhalten.
Theda Borde, Matthias David
Vorwort der Herausgeber Seit 1971 wird in der Bundesrepublik alljährlich von der in Wiesbaden ansässigen Gesellschaft für Deutsche Sprache das »Wort des Jahres« bekannt gegeben, wobei es sich eigentlich um eine Zehnerliste jener Begriffe handelt, die »den öffentlichen Sprachgebrauch in besonderer Weise prägen«. Diese Rangliste ist daher kein Zufall, sondern entspricht dem, was sich gerade im gesellschaftlichen Diskussionsprozess befindet. Unter den 3 500 Kandidaten wurden für das Jahr 2004 auf Platz 1 »Hartz IV«, auf Platz 2 »Parallelgesellschaft«, auf Rang 3 »Pisa-gebeutelte Nation« und auf den vierten Rang »gefühlte Armut« gewählt. Diese Reihung zeigt nicht nur, wie zeitgemäß der Titel des bundesweiten Kongresses »Armut und Gesundheit« ist, sie bestärkt uns auch in dem Bemühen, immer wieder das Thema der medizinischen Betreuung und Behandlung von Migranten zum Mittelpunkt eines Symposiums im Rahmen dieses Kongresses zu machen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes beruhen zum überwiegenden Teil auf Vorträgen dieser Tagung, die am 3. und 4. Dezember 2004 im Berliner Rathaus Schöneberg stattfand. Viel wurde im Jahr 2004 insbesondere nach den Ereignissen in unserem Nachbarland, den Niederlanden, über Parallelgesellschaften in der Bundesrepublik diskutiert und auch die Ergebnisse der neuen Pisa-Studie gaben Anlass, über Bildungsdefizite bei Deutschen im allgemeinen, aber vor allem auch bei Kindern mit Migrationshintergrund verstärkt nachzudenken und intensiv nach Lösungen für die höchstens als mittelmäßig einzustufenden Ergebnisse der Schüler in Deutschland zu suchen. Nur einige Tage vor unserem Symposium wurden erste Daten aus dem Entwurf des Zweiten Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung veröffentlicht. Demnach hat sich der Anteil derjenigen, die mit einem Einkommen unterhalb der von der EU definierten Armutsgrenze auskommen müssen (= Haushalte unter 60 Prozent des mittleren Einkommens eines Landes) von 1998 bis 2003 von 12,1 auf 13,5 Prozent erhöht, wobei dieser Anteil bei Ausländern überdurchschnitt-
10
Thea Borde, Matthias David
lich um 4,4 Prozent (von 19,6 auf 24,0 Prozent) anstieg. Sie müssen dreimal häufiger (8,4 versus 2,9 Prozent) von Sozialhilfe leben als ihre deutschen Mitbürger. Dem im Frühjahr 2005 erscheinenden Bericht ist auch zu entnehmen, dass die wichtigste Ursache für das erhöhte Armutsrisiko bei Migrantinnen und Migranten Bildungs- und Ausbildungsmängel sind ist. Ganz bewusst wählten wir für die wissenschaftlichen Vorträge und Workshops des 4. Migrations-Symposiums der Charité-Frauenklinik, das zum zweiten Mal nach 2002 unter dem Dach des nunmehr 10. bundesweiten Kongresses »Armut und Gesundheit« stattfand, das Thema »Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund«. Neben Besonderheiten in ihrer Lebenswelt sollten Aspekte von Gesundheit und medizinischer Versorgung im Krankheitsfall im Mittelpunkt stehen. Wir haben uns dazu der Zusammenarbeit mit dem Otto-Heubner-Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Charité, insbesondere der Klinik von Professor Wahn, versichert und konnten für die Vorträge eine Reihe von sehr kompetenten Referentinnen und Referenten gewinnen. Neben den zum Teil erheblich ergänzten und überarbeiteten wissenschaftlichen Vorträgen des Symposiums (Anne-Madeleine Bau, Theda Borde, Matthias David, Dietrich Delekat, Joachim Gardemann, Christoph Grüber, Liane Schenk, Rainer-Georg Siefen und Haci-Halil Uslucan und andere) wurden in diesen Band auch sechs besonders interessante Beiträge aus den beiden von Ingrid Papies-Winkler (Plan-und Leitstelle Friedrichshain-Kreuzberg) organisierten Workshops übernommen (Zahra Mohamedzadeh, Inge Nowak, Ingrid Papies-Winkler, Manuela Seidel, Riem Tisini und Lucyna Wronska). Zusätzlich haben wir drei weitere Beiträge aufgenommen, die wichtige Facetten zu diesem Buch beizusteuern (Christian von Ferber und andere, Urte Finger-Trescher und Ibrahim Yehia). Wir hoffen, mit diesen 18 aktuellen Arbeiten aus Forschung und Praxis interessierten Leserinnen und Lesern einen aktuellen Überblick zum Schwerpunkt des Symposiums verschaffen zu können. Abgerundet wird der Band durch Überlegungen zur Verbesserung der Migrationsforschung und Gesundheitsberichterstattung über Menschen mit Migrationshintergrund sowie eine überarbeitete Version unserer Checkliste »Zur interkulturellen Öffnung für Gesundheits- und Sozialeinrichtungen«. Theda Borde, Matthias David
Berlin, im Januar 2005
Matthias David, Jürgen Pachaly
Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich Die vom Statistischen Landesamt Berlin im Jahre 2004 herausgegebene Aufschlüsselung der Altersverteilung der Berliner Bevölkerung zeigt bei der Gegenüberstellung von Deutschen und türkischen Migranten in der Altersgruppe unter 15 und 15 bis 45 Jahre einen zum Teil deutlich höheren Anteil der jüngeren Migranten. In den Altersstufen 45 bis 65 und über 65 Jahre ist das Verhältnis umgekehrt (Abb. 1). Abbildung 1: Deutsche und türkischstämmige Migranten, prozentualer Anteil der Altersgruppen in der ethnischen Gruppe (Stand Dez. 2004) 60 D eu tsc h e 50
30 20
Bevölkerungsanteil (in %)
40
T ü rkisc h e M ig ran ten
10 0 u n ter 15
15-45
45-65
ü b er 65
Jahre
Auswirkungen dieser Entwicklung für alle im Bereich der Geburtshilfe Tätigen sind schon jetzt zu konstatieren und der Anteil von Migrantinnen unter den gebärenden Frauen, welcher derzeit zum Beispiel im Virchow-Klinikum/ Berlin-Wedding schon zwischen 40 und 50 Prozent liegt, wird wohl in den nächsten Jahren noch weiter steigen. Trotz dieser »multikulturellen Realität« in den Praxen und Krankenhäusern sind immer noch erhebliche Defizite bei der so genannten interkulturellen Öffnung der sozialen und medizinischen Versorgungseinrichtungen festzustellen. Ein Problembewusstsein auf Seiten
12
Matthias David, Jürgen Pachaly
des medizinischen Personals ist zwar vorhanden, die Auseinandersetzung mit dem Thema »geburtshilfliche Versorgung von Migrantinnen« erschöpft sich jedoch praktisch immer in einer – zumeist auch tagespolitisch beeinflussten – Feststellung von Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten und der »Andersartigkeit« zumindest der Zuwanderinnen aus islamisch geprägten Herkunftsländern. In diesem Zusammenhang sei an die Berliner Mindestanforderungen erinnert, die beim letzten (dritten) Migrationssymposium der Charité-Frauenklinik anlässlich des bundesweiten Kongresses »Armut und Gesundheit« im Jahre 2002 aufgestellt wurden. Sie umfassten Forderungen nach einer Verbesserung auf der Ebene Sprache/Kommunikation/Information, Aus-/Fort-/ Weiterbildung, Forschung, Kooperation/Vernetzung, Gesundheitsberichterstattung und Qualitätssicherung (David 2003). Wir forderten regional wie auch überregional die gesundheitliche Lage von Migranten ebenso wie die von deutschen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in den Berichten der Städte, Gemeinden und Länder im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung (besser) zu erfassen. Auf dem Forschungssektor mahnten wir seinerzeit insbesondere Aktivitäten im Bereich der Versorgungsforschung unter Einbeziehung der Migrantenpopulation in Deutschland an. Unser Beitrag zu diesen Überlegungen ist die nachfolgend vorgestellte Analyse und kritische Bewertung der Berliner Perinataldaten. In Vorbereitung dieser Analyse erfolgte eine Sichtung der aktuellen, seit Ende der 1990er Jahre international publizierten Literatur zum Thema »Migrantinnen in der geburtshilflichen Versorgung«. Es fanden sich eine Reihe von interessanten Ergebnissen, die jedoch ein zum Teil widersprüchliches Bild ergeben, wie die Übersicht (Tab. 1) zeigt.
Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich 13 Tabelle 1: Zusammenfassende Übersicht der Ergebnisse wesentlicher internationaler Publikationen zum Themenkomplex »Migration und Geburtshilfe«, die seit Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht wurden Parameter Perinatale Mortalität
Erstautor
Jahr d. Veröff.
Unters. Land
Hauptaussage
Diani
2003
Italien
erhöhte Mortalität bei Migrantenkindern
Salihu
2004
USA
erhöht bei schwarzen gegenüber weißen Amerikanern (Ein-/Zwillinge)
Rizzo
2004
Italien
keine Unterschied zwischen Migrantinnen und Einheimischen
1990
Dänemark keine erhöhte Fehlbildungsrate bei Migrantinnen
Stoltenberg
1997
Norwegen erhöhtes Risiko, wenn beide Eltern pakistanischer Herkunft (Konsanguinität)
Vangen
1999
Norwegen bei Neugeborenen pakistanischer Migrantinnen häufiger als bei Einheimischen
Rizzo
2004
Italien
Anämierate
Vangen
1999
Norwegen bei pakistanischen gegenüber norwegischen Frauen erhöht
Geburtskomplikationen
v. Bulow
1990
Dänemark keine wesentlichen Unterschiede zwischen Frauen pakistanischer und marokkanischer Herkunft und einheimischen Frauen
Vangen
1999
Norwegen insgesamt bei pakistanischen Frauen häufiger Komplikationen
Westerway
2003
Australien Zunahme makrosomer Neugeborener bei chinesischen Migrantinnen; 1992 zu 1999/ 2000 häufiger starke Blutungen postpartal bei Migrantinnen und Einheimischen
Goldberg
2003
USA
Operative v. Bulow Entbindungen
1990
Dänemark keine wesentlichen Unterschiede zwischen Frauen pakistanischer und marokkanischer Herkunft
Braveman
1995
USA
Vangen
2002
Norwegen mehr Notkaiserschnitte bei somalischen gegenüber norwegischen Frauen
Angeborene Mac Fehlbildungen
bei Neugeborenen von Migrantinnen häufiger
Asiatinnen mehr schwere Dammrisse
schwarze im Vergleich zu weißen Amerikanerinnen häufiger Kaiserschnitt
14
Matthias David, Jürgen Pachaly Diani
2003
Italien
bei Migrantinnen häufiger Sectio
Rizzo
2004
Italien
mehr geplante Kaiserschnittentbindungen bei einheimischen Italienerinnen
Yoong
2004
Großbritannien
Kosovo-Albanerinnen vs. Einheimische: kein Unterschied
Frühgeburten- Hickey rate
1997
USA
Assoziation mit BMI – mehr Frühgeburten bei schwarzen und weißen Amerikanerinnen gegenüber Hispanics
Diani
2003
Italien
kein Unterschied zwischen Migrantinnen und einheimischen Frauen
Patel
2004
Großbritannien
schwarze und Frauen asiatischer Herkunft höheres Risiko als Einheimische
Rizzo
2004
Italien
kein Unterschied zwischen Migrantinnen und einheimischen Frauen
Zeitkin
2004
Frankreich Bei afro-karibischen Frauen höher als bei anderen Migrantinnen und einheimischen Frauen
Rust
2003
USA
bei schwarzen, Frauen asiatischer Herkunft und Hispanic geringer als bei weißen Amerikanerinnen
Yoong
2004
Großbritannien
bei Kosovo-Albanerinnen geringer
PDA-Rate
BMI = body mass index; PDA = Periduralanästhesie
Viele Veröffentlichungen in den letzten fünf Jahren stammen aus den USA, wo man sich ausführlich und zumeist auf der Grundlage sehr großer Fallzahlen mit den geburtshilflichen Ergebnissen verschiedener ethnischer Gruppen beschäftigt hat. So wurden beispielsweise Unterschiede bei der Tot- und Frühgeburtenrate zu ungunsten schwarzer gegenüber weißen Frauen und eine höhere Periduralanästhesierate zur Unterdrückung der Geburtsschmerzen bei weißen Amerikanerinnen festgestellt (Salihu u. a. 2004, Rust u. a. 2003). In Italien ließ sich eine niedrigere primäre Sectiorate bei Migrantinnen und eine höhere Fehlbildungsrate bei dieser Subpopulation nachweisen (Rizzo u. a. 2004). Studien aus Frankreich und Großbritannien zeigen eine höhere Frühgeburtenrate bei afro-karibischen beziehungsweise schwarzen Frauen (Zeitkin u. a. 2004, Patel u. a. 2004), während eine Untersuchung in Italien kein erhöhtes Risiko bei Migrantinnen fand (Diani u. a. 2003). Ein Vergleich
Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich 15
der Perinataldaten einheimischer norwegischer und zugewanderter somalischer Frauen zeigte einen ungünstigeren kindlichen Zustand nach der Geburt, mehr Notsectios und eine höhere pränatale Mortalität (Vangen u. a. 2002). In neuerer Zeit sind praktisch keine Studien erschienen, die sich mit dem Vergleich perinataler Ergebnisse bei Frauen deutscher und nichtdeutscher Herkunft beschäftigt haben. Die Basis der Diskussionen in Deutschland bilden Untersuchungen aus den späten 1970er Jahren, die mit der Einführung der Perinataldatenerhebung in der Bundesrepublik verbunden waren. So haben Oeter u. a. (1979) auf der Grundlage von Daten aus dem Großraum Hannover festgestellt, dass soziale Faktoren wie die Nationalität einen signifikanten Zusammenhang zur perinatalen Mortalität zu ungunsten von Kindern nicht deutscher Herkunft haben und dass eine Verlegung in eine Kinderklinik signifikant häufiger bei Kindern ausländischer Mütter erfolgte. In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 1979 schreiben Kolleck, Korporal und Zink, dass als allgemein bekannt gelten kann, dass ausländische Frauen die Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft weniger häufig und weniger intensiv nutzen. Neben den Sprachschwierigkeiten, denen ausschlaggebende Bedeutung beizumessen sei, wirken sich auch die größere Kinderzahl, das andere Verständnis von der Rolle der Frau in der Familie, die soziale Distanz zu medizinischen Diensten und mangelhafte sozialrechtliche Informationen hemmend auf die Inanspruchnahme aus. Die Autoren führen einige klinische Arbeiten aus der Bundesrepublik und Österreich auf, die sich mit häufigeren Komplikationen in Schwangerschaft und Geburt bei Migrantinnen beschäftigt haben: So wurde an der II. Universitätsfrauenklinik in Wien von 1970 bis 1972 bei Frauen aus Jugoslawien und der Türkei festgestellt, dass hier mehr Schwangerschaftskomplikationen (insbes. eine Anämie) und eine höhere perinatale Mortalität zu beobachten ist. Die höhere Anämiehäufigkeit bestätigen auch Untersuchungen in Tübingen. Wiederum in Wien wurden von 1967 bis 1972 bei Ausländerinnen doppelt so viele Kinder mit angeborenen Missbildungen festgestellt wie bei österreichischen Frauen (zit. in Kolleck u. a. 1979). Auch in Wien fanden sich gehäufte Frühgeburten bei ausländischen Frauen. Kolleck u. a. (1979) können diesen Befund für Westberlin für die Jahre 1969 bis 1976 mit der Einschränkung bestätigen, dass dies vor allem auf diejenigen ausländischen Frauen zutraf, die nicht aus den für Berlin typischen Anwerbeländern (Türkei, Jugoslawien,
16
Matthias David, Jürgen Pachaly
Griechenland) kamen. In Hamburg wurden von 1969 bis 1973 bei Ausländerinnen mehr Geburtskomplikationen und operative Entbindungen als bei deutschen Frauen beobachtet. Kolleck und Mitarbeiter (1979) fassen zusammen, dass ausländische Frauen ein erhöhtes Risiko haben, eine Frühgeburt zu erleiden, und offenbar auch häufiger operativ entbunden werden.
Ziele und Methodik der Untersuchung Folgende Forschungsfragen wollten wir mit unserer Auswertung der Berliner Perinataldaten klären: 1. die Erfassung wichtiger Perinataldaten wie der kindlichen und mütterlichen Mortalität als bedeutendem Qualitätsindikator für die geburtshilflichen Kliniken als auch für das Gesundheitswesen eines Landes insgesamt; 2. die Erstellung eines Beitrags zur (migrantenspezifischen) Versorgungsforschung durch Daten zu Defiziten, Inanspruchnahme, Strukturen, Informiertheit und Aufzeigen von Entwicklungen; 3. die Schaffung einer Diskussionsgrundlage zur Überprüfung empirischer Klischees, Aktualisierung vorhandener Informationen, Anregungen für weitere vertiefende Forschungsarbeiten. Die oben dargestellten Ergebnisse aus anderen Migrantenpopulationen aber auch die aus anderen Versorgungssystemen sollten für das deutsche Gesundheitssystem überprüft und durch eigene Fragestellungen ergänzt werden. Nach unserer Kenntnis wurden größere Erhebungen zu diesem Thema in der Bundesrepublik Deutschland nur in den siebziger und frühen achtziger Jahren durchgeführt, so dass eine Überprüfung der aus dieser Zeit stammenden Ergebnisse und der häufig unkommentiert und unüberprüft in späteren Veröffentlichungen weiter gegebenen Resultate dringend notwendig erscheint. Als Basis dienten die Rohdatensätze der Berliner Klinikentbindungen der Jahre 1993 bis 1999. Diese wurden von der Perinatalkommission der Ärztekammer Berlin in anonymisierter Form zur Verfügung gestellt. Es sollten nicht nur geburtshilfliche sondern auch soziokulturelle Faktoren berücksichtigt werden, so dass eine Unterteilung des Datenmaterials sowohl nach der Parität (Erst-/Mehrgebärende) als auch nach der Ethnizität (Deutsche versus Migrantinnen) sowie nach der Schicht (Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht) vorgenommen wurde.
Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich 17
Zur Überprüfung von Studienergebnissen aus den 1970er und achtziger Jahren, wie sie im Ergebnis der Auswertung von Perinataldaten aus Deutschland und Österreich veröffentlicht wurden, ergaben sich folgende Fragestellungen: Gilt für »ausländische Gebärende« immer noch, dass sie eine erhöhte perinatale Mortalität, erhöhte Rate angeborener Fehlbildungen beim Neugeborenen, erhöhte mütterliche Anämierate, mehr Geburtskomplikationen, mehr operative Entbindungen, weniger Vorsorgeuntersuchungen und eine erhöhte Frühgeburtenrate aufweisen ? Als Datengrundlage dienten nach Ausschluss unvollständiger Datensätze und der Mehrlingsgeburten schließlich 154 502 Einlingsentbindungen. Hiervon waren 134 535 deutsche Gebärende und 19 967 Migrantinnen. 51,8 Prozent der Gebärenden bekamen ihr erstes Kind. 20 Prozent des Gesamtkollektivs wurden der Unter-, 72,5 Prozent der Mittel- und 7,5 Prozent der Oberschicht zugeordnet. Die Schichtbildung erfolgte, in Anlehnung an ein Verfahren von Wegner (1985), nach zwei wesentlichen, dem Perinatalbogen zu entnehmenden Parametern, nämlich dem Beruf der Schwangeren beziehungsweise des Ehepartners und dem Familienstand. Die Gruppe Oberschicht ist besonders bei den Migrantinnen klein und sehr inhomogen besetzt, was eine klare statistische Auswertung erschwert. Daher werden sich die nachfolgenden Ausführungen auf die Frauen in Unter- und Mittelschicht, unterteilt jeweils nach Erst- und Mehrgebärenden, sowie Deutsche gegenüber Migrantinnen beschränken. Die heterogene Gruppe der Frauen mit Migrationshintergrund wurde eingegrenzt – nämlich auf die größte Gruppe von Migrantinnen in Deutschland, die türkischstämmigen Gebärenden. Eine gewisse Unschärfe ergibt sich daraus, dass die entsprechende Codierung im Perinatalbogen den Passus »mittlerer Osten« enthält, worunter laut Angaben auf diesem Bogen neben der Türkei auch Afghanistan, Pakistan und nordafrikanische, arabische Länder fallen. Nach einer relativ repräsentativen Handauszählung im Virchow-Klinikum dürften in Berlin aber etwa 85 bis 90 Prozent türkische Migrantinnen diese Gruppe ausmachen. Den größten Anteil der verbleibenden 10 bis 15 Prozent umfassen Frauen libanesischer Herkunft.
18
Matthias David, Jürgen Pachaly
Untersuchungsergebnisse 1. Perinatale Mortalität (Abbildung 2) Abbildung 2: Perinatale Mortalität (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität 1 0,9
Dt.
Migr.
0,8 0,7
Perinatale Mortalität (in %)
0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0 US-EG
US-MG
MS-EG
MS-MG
(für diese und alle nachfolgenden Abbildungen werden folgende Abkürzungen verwendet: Dt. = deutsche Frauen, Migr. = Migrantinnen; US = Unterschicht; MS = Mittelschicht; EG = Erstgebärende; MG = Mehrgebärende) (p > 0,01)
Wie bei der Müttersterblichkeit zeigt sich auch für die perinatale Mortalität kein signifikanter Unterschied zwischen den untersuchten Gruppen (Erstund Mehrgebärende der Unter- und Mittelschicht, Deutsche versus türkischstämmige Migrantinnen).
Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich 19
2. Angeborene Fehlbildungen (Abbildung 3)
Rate Angeborener Fehlbildungen bei den Neugeborenen (in %)
Abbildung 3: Rate angeborener Fehlbildungen beim Neugeborenen (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität; * = signifikanter Unterschied (p < 0,01) 2,5 Dt.
Migr.
2
1,5
1
0,5
0 US-EG
US-MG
MS-EG
MS-MG
Während für die Erst- und Mehrgebärenden der Unterschicht kein Unterschied feststellbar war, zeigte sich ein signifikanter Unterschied in der Mittelschichtgruppe: Sowohl von den Erst- als auch von den Mehrgebärenden nicht deutscher Herkunft wurden signifikant mehr Neugeborene mit kindlichen Fehlbildungen unterschiedlichen Schweregrads geboren.
20
Matthias David, Jürgen Pachaly
3. Mütterliche Anämie (Abbildung 4) Abbildung 4: Mütterliche Anämierate (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität; * = signifikanter Unterschied (p < 0,01)
Mütterliche Anämierate (in %)
20 18
Dt.
16
Migr.
14 12 10 8 6 4 2 0 US-EG
US-MG
MS-EG
MS-MG
Für diesen Parameter ist das Ergebnis eindeutig - in allen Untersuchungskollektiven haben die deutschen Frauen eine statistisch eindeutig nachweisbare geringere Anämierate als die Migrantinnen. 4. Geburtskomplikationen (Abbildung 5 und 6) Unter diesem Punkt werden beispielhaft die Episiotomiefrequenz und die Rate unter der Geburt durchgeführter Mikroblutuntersuchungen beim Kind dargestellt (Abb. 5 u. 6).
Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich 21 Abbildung 5: Dammschnittrate (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität; * = signifikanter Unterschied (p < 0,01) 60 Dt.
50
Migr.
Dammschnittrrate (in %) Dammschnittrr
40
30
20
10
0 US-EG
US-MG
MS-EG
MS-MG
Abbildung 6: Rate von Mikrobenblutuntersuchungen (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität; * = signifikanter Unterschied (p < 0,01) 18 16
Dt.
Migr.
Mikroblutuntersuchung (Rate in %)
14 12 10 8 6 4 2 0 US-EG
US-MG
M S-EG
MS-M G
Die Dammschnittrate ist bei den Erstgebärenden sowohl in der Unter- als auch in der Mittelschichtgruppe in beiden Untersuchungskollektiven gleich, während sich bei den Mehrgebärenden eine eindeutig höhere Dammschnitt-
22
Matthias David, Jürgen Pachaly
rate bei den deutschen Frauen nachweisen lässt. Auch wenn man weitere Unterkollektive bildet und nochmals Mehrgebärende mit zwei gegenüber Mehrgebärenden mit drei und mehr Kindern vergleicht, bleibt dieser signifikante Unterschied zu ungunsten der deutschen Gebärenden bestehen. Mikroblutuntersuchungen wurden bei den Mittelschicht-Frauen in der selben Häufigkeit durchgeführt, wobei insgesamt, wie auch in den Unterschicht-Kollektiven, der Prozentsatz bei den Erstgebärenden deutlich höher war (Abb. 6). Bei den Migrantinnen wurde unter der Geburt signifikant häufiger eine Mikroblutuntersuchung aus der kindlichen Kopfhaut zur Verifizierung des fetalen Zustands durchgeführt. Dieser deutliche Unterschiede zeigte sich im Unterschicht-Kollektiv sowohl bei den Erst- als auch bei den Mehrgebärenden. 5. Operative Entbindungen (Abbildungen 7 und 8) Da das Thema Kaiserschnittentbindung immer auch Mittelpunkt fachlicher Diskussionen war und ist und die Sectiorate zumindest bis zum Beginn der »Wunsch-Sectio-Ära« vor etwa zwei bis drei Jahren ein wichtiges Qualitätskriterium war, wird auf die Frequenz sekundärer und primärer Sectios getrennt eingegangen. Sekundäre Sectios, also solche, die sich aus dem Geburtsgeschehen ergeben, wurden in allen vier Untersuchungsgruppen etwa gleich häufig durchgeführt, jeweils etwas häufiger bei den Erst- als bei den Mehrgebärenden.
Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich 23 Abbildung 7: Anteil von Kaiserschnittentbindungen (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität 12 Dt. Sekundäre Sectio (in %)
10
Migr.
8 6 4 2 0
US-EG
US-MG
MS-EG
MS-MG
Abbildung 8: Anteil geplanter Kaiserschnittentbindungen (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität; * = signifikanter Unterschied (p < 0,01) 7
Anteil geplanter Entbindungen per Sectio (in %)
Dt.
M igr.
6 5 4 3 2 1 0 US-EG
US-M G
M S-EG
M S-M G
Bei den primären, also geplanten Sectios, die per definitionem vor Beginn der eigentlichen Geburt durchgeführt werden, war das Bild ein völlig anderes: Hier findet sich eine signifikante Differenz zwischen deutschen und Frauen mit Migrationshintergrund, insofern, als in allen vier Untersuchungs-
24
Matthias David, Jürgen Pachaly
gruppen signifikant mehr Kaiserschnittentbindungen bei Deutschen durchgeführt wurden. 6. Frequenz von Vorsorgeuntersuchungen (Abbildung 9) Die Anteile der Frauen ganz ohne Vorsorgeuntersuchung beim niedergelassenen Arzt während der Schwangerschaft waren bei den deutschen und den Frauen mit Migrationshintergrund gleich. Eine kleinere Gruppe von Schwangeren (2 bis 8 Prozent) ging erst nach der 20. SSW erstmals zu einem Frauenarzt/einer Frauenärztin. Diese aus medizinischer Sicht zu späten Erstkontakte kamen bei Migrantinnen um ein Drittel häufiger vor als bei deutschen Frauen. Setzt man 10 Vorsorgeuntersuchungen als Untergrenze an, so haben deutsche Frauen prozentual deutlich häufiger mehr Vorsorgeuntersuchungen gehabt als die Migrantinnen gleicher Schicht und Parität.
Anteil Schwangerer mit < 11 Vorsorgeuntersuchungen (in%)
Abbildung 9: Anteil von Schwangeren mit weniger als 11 Vorsorgeuntersuchungen im Verlaufe der Schwangerschaft (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität; * = signifikanter Unterschied (p< 0,01) 60 Dt.
Migr.
50
40
30
20
10
0 US-EG
US-MG
MS-EG
MS-MG
Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich 25
7. Frühgeburtlichkeit (Abbildung 10) Hierzu wurde zunächst nur die Frühgeburtenrate bis 34 vollendeten Schwangerschaftswochen (SSW) ausgewertet, da bei Neugeborenen, die nach der 34. SSW zur Welt kommen, heutzutage kaum noch mit wesentlichen Schäden durch die Frühgeburtlichkeit zu rechnen ist. Abbildung 10: Anteil der vor Ende der 34. Schwangerschaftswoche geborenen Kindern (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität 3 Dt.
Migr.
Anteil Frühgeburten bis 34/0 SSW (in %)
2,5
2
1,5
1
0,5
0 US-EG
US-MG
MS-EG
MS-MG
Für diesen Parameter fanden sich in den vier Untersuchungskollektiven keine signifikanten Unterschiede zwischen deutschen Frauen und der Gruppe der größtenteils türkischen Migrantinnen. Betrachtet man den wichtigen so genannten Apgar-Wert 5 Minuten nach der Geburt (Abb. 11), der den klinischen Zustand des Neugeborenen charakterisiert, so ist insbesondere der Anteil von Kindern mit relativ schlechten Werten ≤ 7 wichtig. Nur in der Gruppe der Mittelschicht-Frauen/Mehrgebärenden zeigte sich ein signifikanter Unterschied zu ungunsten der Neugeborenen von Migrantinnen. In den anderen drei Gruppen ist statistisch kein Unterschied nachweisbar. Ein ähnlicher Trend wird bei der Verlegungsrate der Neugeborenen in eine Kinderklinik sowie bei dem unmittelbar nach der Geburt im arteriellen Nabelschnurblut gemessenen pH-Wert, der ebenfalls ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung des kindlichen Zustandes darstellt, deutlich.
26
Matthias David, Jürgen Pachaly
Abbildung 11: Anteil von Neugeborenen mit einem Apgar-Wert 5 Minuten nach der Geburt von 7 und weniger (in %) nach Schicht, Parität und Ethnizität; * = signifikanter Unterschied (p < 0,01)
3,5
Anteil von Neugeborenen mit Apgar 5 min < 8 (in %)
Dt.
Migr.
3 2,5 2 1,5 1 0,5 0 US-EG
US-MG
MS-EG
MS-MG
Resümee Nachfolgend seien die wichtigsten Resultate der Datenauswertung der Berliner Perinatalerhebungen der Jahre 1993 bis 1999 kurz zusammengefasst. Sie gelten vor allem für die große Gruppe der türkischen Migrantinnen der zweiten Generation, die anders als ihre Mütter, die als »Gastarbeiterinnen« oder nachgezogene Ehefrauen zuwanderten, zumeist in Deutschland aufgewachsen sind. 1. Die Untersuchung konnte aufzeigen, dass sich in den 1990er Jahren die wichtigen perinatalen Qualitätsparameter kindliche und mütterliche Mortalität sowie Frühgeburtlichkeit soweit aneinander angenähert haben, dass sich keine statistischen Unterschiede mehr nachweisen lassen. 2. Legt man einige andere Perinataldaten zu Grunde, scheint die Charakterisierung »Risiko Migrationshintergrund« immer noch zuzutreffen – dies gilt insbesondere für einen schlechteren kindlichen Zustand unmittelbar nach der Geburt. 3. Beim Vorsorgeverhalten lassen sich noch geringe Unterschiede nachweisen, die übermäßige – teils wohl auch ärztlich induzierte – Nutzung der Schwangerenüberwachung ist bei den Migrantinnen nicht so ausgeprägt wie bei den deutschen Frauen.
Migrationshintergrund als geburtshilflicher Risikofaktor? Perinataldaten im Vergleich 27
4. Als wichtiges Diskussionsthema und Qualitätskriterium gilt die Dammschnittrate: Episiotomien wurden bei Migrantinnen deutlich weniger geschnitten als bei Frauen deutscher Herkunft. 5. Hinweise auf Unterschiede in der Versorgungsqualität könnten die unterschiedlichen Raten von geplanten Kaiserschnitten sowie die niedrigere Rate von PDAs zur Schmerzausschaltung unter der Geburt bei Migrantinnen zeigen. 6. Ein Beispiel für weiterhin notwendige prophylaktische Maßnahmen ist die weiterhin hohe Anämierate bei den Schwangeren mit Migrationshintergrund. Obwohl eine umfängliche, gut validierte Datengrundlage zur Verfügung stand, sind Ungenauigkeiten sowohl bei der Schicht- als auch der Nationalitätszuordnung nicht auszuschließen. Wünschenswert im Sinne einer zukünftig verbesserten Analysemöglichkeit ist die Aufnahme von eindeutigen Kriterien für soziale und ethnische Faktoren in den Perinatalbogen beziehungsweise entsprechende derzeit in den Kliniken verwendete Computerprogramme.
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