Jacques-Emmanuel Schaefer, Dr., geb. 1969, Arzt f체r Psychiatrie und Psychotherapie/Geriatrie am Geriatrischen Zentrum der Universit채tsklinik T체bingen.
Jacques-Emmanuel Schaefer (Hrsg.)
Alter und Migration Tagungsband der 15. Gerontopsychiatrischen Arbeitstagung des Geriatrischen Zentrums an der Universit채tsklinik T체bingen
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
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Inhaltsverzeichnis Vorwort � ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� 7 Dorothea Grieger Soziale und gesundheitliche Lage von älteren Migrantinnen � und Migranten in der Bundesrepublik Deutschland �� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� 9 Dietmar Czycholl Migration und Alter: Psychologische und Versorgungsaspekte ���� ��� ��� ��� ��� ��� �24 Andrea Zielke-Nadkarni Soziokulturelle Besonderheiten jüdischer Migranten und � Migrantinnen aus der GUS als Ausgangspunkt für eine � personenbezogene Versorgung �� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� �34 Angelika Ertl Angekommen!? – Entwicklungsaufgaben im Alter bewältigen �� ��� ��� ��� ��� ��� �52 Andrea Riecken Aussiedler in der Gesundheitsversorgung – ein Modell zum Erwerb interkultureller Kompetenz � ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� �76 Dietmar Czycholl Prozesse interkultureller Öffnung in der Altenhilfe ���� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� �� 112 Andrea Zielke-Nadkarni Pflege und Betreuung jüdischer Migrantinnen und Migranten � ��� ��� ��� ��� ��� �� 116 Monika Behret Konzeption und Durchführung eines häuslichen Kranken- und Altenpflegekurses für türkisch-muslimische Frauen � ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� �� 120 Ertan Öner Vom Gastarbeiter zum Migranten – darauf waren wir nicht vorbereitet! � �� 128 Angaben zu den Autorinnen und Autoren ���� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� ��� �� 132
Vorwort Alter und Migration – das Thema scheint zunächst eher ein Randgebiet der Geriatrie und Gerontologie zu betreffen. Bedenkt man aber, dass sich der Anteil von MigrantInnen über 60 Jahre bis 2030 in Deutschland wahrscheinlich mehr als vervierfachen wird, ist von einer deutlichen Zunahme älterer Menschen mit Migrationshintergrund auszugehen, die zukünftig der medizinischen und pflegerischen Hilfe bedürfen werden. Neben den größtenteils aus dem Mittelmeerraum stammenden ArbeitsmigrantInnen der ersten Generation, die im Rentenalter zunehmend in Deutschland bleiben, betrifft dies vor allem die AussiedlerInnen, die formal nach dem Grundgesetz als Deutsche gar nicht zu den MigrantInnen gehören, doch in hohem Maße von den Problemen der Migration betroffen sind, und schließlich die Gruppe der Asylsuchenden. Migration bedeutet nicht zwangsläufig Krankheit. Migration kann aber auf das Risiko, im Alter zu erkranken, Einfluss nehmen. Starke körperliche Belastungen am Arbeitsplatz, erhöhte Arbeitslosigkeit bei niedrigerer beruflicher Qualifikation, ein im Durchschnitt geringerer ökonomischer Status, sprachliche und kulturelle Barrieren, die zu einem schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung beitragen, der ungeklärte Aufenthaltstatus mit drohender Abschiebung ins Heimatland können bei der Entstehung psychischer wie physischer Krankheiten im Alter bedeutsam sein. Vielfach fehlt es im klinischen und pflegerischen Alltag an der Zeit, Sensibilität oder schlicht der Kenntnis, adäquat mit den psychosozialen Aspekten der Krankheiten älter und pflegebedürftig gewordener MigrantInnen umzugehen. Häufig sind die Betroffenen auch nur begrenzt in der Lage, ihre gesundheitlichen Probleme sowie mögliche Belastungsfaktoren angemessen zu artikulieren. In der Folge werden nicht selten die somatischen Beschwerden in den Vordergrund gestellt – so kann wenigstens etwas getan werden! Die 15. Gerontopsychiatrische Arbeitstagung an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen versammelte ExpertInnen mit diversen beruflichen Hintergründen, die in ihren Beiträgen verschiedene Aspekte dieses komplexen Themas darstellten.
Der jetzt vorliegende, lang erwartete Tagungsband vereint alle Beiträge, die Vorträge und Workshops und bietet den Lesern in seiner Vielfalt und Verschiedenheit einen guten Überblick zum Thema. Wir danken dem Mabuse-Verlag für die geduldige Begleitung bei der Erstellung des Bandes und wünschen allen Leserinnen und Lesern eine bereichernde Lektüre. Jacques-Emmanuel Schaefer, Herbst 2008
Dorothea Grieger
Soziale und gesundheitliche Lage von älteren Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik Deutschland Sie waren damals Pioniere – sie sind auch heute wieder Pioniere: die Arbeitsmigrantinnen und -migranten der ersten Generation, früher Gastarbeiter genannt. Sie waren damals gesund, jung und arbeitsfähig, heute ist ein Teil von ihnen bereits alt geworden und kränker als der Durchschnitt der Deutschen. Die Arbeitsmigranten haben damals durch ihre Arbeit dazu beigetragen, die deutsche Wirtschaft voranzubringen, heute sind manche von ihnen Frührentner oder arbeitslos. Einige Fakten:
1. Demografische Entwicklung Migrantinnen und Migranten ab 60 sind eine schnell wachsende Bevölkerungsgruppe (Stand Ende 2003: 758.000 Pers., m. 441.900, w. 316.100; Schätzung bis 2010: 1,3 Millionen Pers.; Schätzung bis 2030: 2,8 Millionen Pers.) . 2 .8 6 0 .0 0 0
3 .0 0 0 .0 0 0 2 .5 0 0 .0 0 0
2 .5 0 0 .0 0 0
2 .0 0 0 .0 0 0
1 .3 0 0 .0 0 0
1 .5 0 0 .0 0 0
1 .0 0 0 .0 0 0
5 0 0 .0 0 0
0
4 0 0 .0 0 0
1997
2010
2020
2030
Abb. 1: Personen ausländischer Herkunft über 60 Jahre, � Quelle: Sozialcourage 2/2000
Die Grafiken wurden erstellt von Heike Bleek, Arbeitsstab der Integrationsbeauftragten.
Dorothea Grieger
Der Männeranteil ist, anders als bei den Deutschen, höher als der Frauenanteil, Hochaltrige ab 80 Jahren sind insgesamt noch selten. Die quantitativ stärkste Gruppe unter den Älteren sind Menschen aus den ehemaligen Anwerbeländern, unter diesen am häufigsten mit 19,9 % Menschen spanischer Herkunft, dann kroatischer, griechischer, italienischer, serbischer und montenegrinischer, portugiesischer und türkischer und bosnisch-herzegowinischer Herkunft.
10
12,6 26,5 24,8 16,6 15,4 8,6 10,7 19,6 15,8 7,6 17,5 20,3 18,2
140.716 99.644 54.515 27.978 25.220
32.687 20.607 9.546 54.291 184.947 1.337.717
in %
232.648 497.950
Absolut
unter 18
1) EU vor der Erweiterung Quelle: Statistisches Bundesamt
EU-Staaten1) Türkei Serbien und Montenegro Italien Griechenland Polen Kroatien BosnienHerzegowina Portugal Spanien Afrika Asien Insgesamt
Staatsangehörigkeit
18.155 11.589 9.868 44.232 122.520 817.946
59.032 58.524 32.701 38.458 23.081
154.704 220.899
absolut
10,9 8,9 7,8 14,2 13,4 11,2
10,4 9,7 9,2 11,8 9,8
8,4 11,8
in %
18 bis unter 25
51.328 47.361 44.085 136.797 354.873 2.488.424
166.078 180.011 110.921 126.749 64.719
581.253 598.090
absolut
30,7 36,3 35,0 44,0 38,9 33,9
29,2 29,9 31,3 38,8 27,4
31,4 31,9
in %
25 bis unter 40
49.775 37.697 37.616 62.040 211.118 1.932.750
141.359 189.852 101.607 114.660 85.718
615.271 368.246
absolut
29,8 28,9 29,9 20,0 23,1 26,4
24,9 31,6 28,7 35,1 36,2
33,3 19,6
in %
40 bis unter 60
7.668 7.041 8.257 5.529 14.509 317.067
26.437 29.701 20.885 5.821 19.318
105.614 97.782
Absolut
4,6 5,4 6,6 1,8 1,6 4,3
4,7 4,9 5,9 1,8 8,2
5,7 5,2
in %
60 bis unter 65
7.468 6.328 16.605 8.054 24.028 440.861
34.618 43.526 34.001 13.216 18.514
160.496 94.694
absolut
4,5 4,8 13,2 2,6 2,6 6,0
6,1 7,2 9,6 4,0 7,8
8,7 5,0
in %
65 und älter
167.081 130.623 125.977 310.943 911.995 7.334.765
568.240 601.258 354.630 326.882 236.570
1.849.986 1.877.661
absolut
100 100 100 100 100 100
100 100 100 100 100
100 100
in %
insgesamt
Soziale und gesundheitliche Lage von älteren Migrantinnen und Migranten
Tabelle 1: Altersstruktur ausgewählter Staatsangehörigkeiten 2003
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Dorothea Grieger
Derzeit sind 10,2 % der in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken über 60 Jahre alt, in der Hauptstadt Berlin liegt ihr Anteil mit 9,65 % leicht unter dem bundesdeutschen Durchschnitt.
2. Ökonomische Lage Die Einkommen von älteren Migrantinnen und Migranten liegen wesentlich niedriger als die von Deutschen (Tucci u. a. 2005). Das bedeutet ein hohes Armutsrisiko. Am stärksten davon betroffen sind ältere Türkinnen und Türken. 1.600,00 €
40,00%
1.470,20 € 35,50%
1.400,00 €
35,00% 1.190,70 €
1.200,00 €
1.043,70 € 25,70%
1.000,00 €
816,20 €
22,70%
30,00% 25,00%
800,00 €
20,00%
600,00 €
15,00%
400,00 €
10,00%
9,70%
200,00 €
5,00%
0,00 €
0,00% Deutsche
Türkei und ExJugoslawien
EU-Anwerbe-länder
Aussiedler
Armutsquote
Abb. 2: Durchschnittseinkommen und Armutsrisikoquote der Deutschen und � ausgewählten Staaten/Bevölkerungsgruppen ab 60 Jahre im Jahr 2003
Gründe sind: Kürzere Gesamtarbeitszeiten, schlechtere Bezahlung der geleiste ten Arbeit (meist aus Un- oder Angelerntentätigkeiten). Eine Rolle spielt auch die häufigere vorzeitige Verrentung aus gesundheitlichen Gründen wegen Schwerarbeit und ungünstiger Arbeitsbedingungen – demzufolge erhalten die Älteren auch niedrige Renten.
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Soziale und gesundheitliche Lage von älteren Migrantinnen und Migranten
3. Wohnen Bis heute sind die Wohnverhältnisse von Migrantinnen und Migranten schlechter als die von Deutschen. Es gibt nach Untersuchungen des sozioökonomischen Panels (Wochenbericht DIW 2001) sogar einen Ausländerfaktor, demzufolge die Tatsache, dass jemand Ausländer ist, dazu beiträgt, auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt zu sein. Alter der Bezugsperson von ... bis
Insgesamt EinMehrpersonenhaushalte personen- zusammen davon mit ... Personen 2 3 4 5 u. haushalte mehr mit deutscher Bezugsperson Männer 45–65 9.531 1.500 8.030 4.314 1.936 1.311 469 65 und mehr 5.489 977 4.512 4.050 373 67 22 Frauen 45–65 2.819 1.677 1.142 786 253 81 23 65 und mehr 4.588 4.135 452 396 42 10 5 Zusammen 45–65 12.350 3.177 9.173 5.100 2.189 1.392 492 65 und mehr 10.077 5.113 4.964 4.445 415 77 27 mit ausländischer Bezugsperson Männer 45–65 766 125 641 239 183 127 91 65 und mehr 149 34 115 88 18 6 / Frauen 45–65 167 86 81 45 21 10 / 65 und mehr 61 54 7 6 / / / Zusammen 45–65 933 211 722 285 204 137 96 65 und mehr 210 88 123 94 18 6 / Tabelle 2: Privathaushalte nach Alter und Staatsangehörigkeit der Bezugsperson sowie nach Haushaltsgröße in 1000, April 2002, � Quelle: Statistisches Bundesamt; eigene Berechnung
Im Vergleich zur deutschen Bevölkerung leben ältere Migrantinnen und Migranten auch in schlechter ausgestatteten und kleineren Wohnungen. Sie leben Ergebnis des Mikrozensus – Bevölkerung in Privathaushalten; / = kein Nachweis, da Ergebnis nicht ausreichend.
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Dorothea Grieger
zudem zu einem erheblich höheren Anteil als Deutsche in Mehrpersonen haushalten. Ältere Migrantinnen ab 65 Jahren leben (wie ältere deutsche Frauen) zu einem deutlich höheren Anteil in Einpersonenhaushalten als Männer.
Türkei Italien Griechenland Ex-Jugoslawien Vietnam Gesamt
Einzelpersonenhaushalte 10 12 8 9 2 41
Zweipersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
9 8 5 4 9 35
3 2 5 0 0 10
Tabelle 3: Derzeitige Wohnformen von älteren Migrantinnen nach Nationalität (n=86), � Quelle: Studie „Lebenssituation der älteren allein stehenden Migrantinnen“ des � Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005
Ältere Migrantinnen und Migranten vor allem türkischer Herkunft wohnen häufig in Mehrgenerationenhaushalten (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Bericht zur Lage der Ausländer 2005). Das muss kein Nachteil sein, im Gegenteil kann es für die Pflege durch Familienangehörige ein Vorteil sein. Ist die Wohnform des Mehrgenerationenhaushalts aber mit einer kleinen und/oder für Pflegebedürftigkeit nicht ausgestatteten Wohnung gekoppelt, entsteht eine ungünstige Situation für alle Beteiligten.
4. Gesundheit Als die ersten Arbeitsmigrantinnen und -migranten in die Bundesrepublik kamen, wurden sie auf ihre Gesundheit hin sehr genau untersucht. Demzufolge waren sie auch lange Zeit weniger häufiger krank als gleichaltrige Deutsche. Dieser „Healthy Migrant Effect“ hielt über 20 Jahre lang an. Heute allerdings sind ältere Migrantinnen und Migranten häufiger und früher von geriatrischen Krankheiten betroffen als gleichaltrige Deutsche (Razum u. a. 2005). Häufiger als Deutsche derselben Altersgruppe leiden sie auch unter chronischen
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Soziale und gesundheitliche Lage von älteren Migrantinnen und Migranten
Krankheiten und Multimorbidität. Insbesondere ältere Migrantinnen berichten nach neuen nationalen wie internationalen Studien (Ethnicity Health and Social Care 2004) über einen besorgniserregend schlechten Gesundheitszustand. Dies betrifft die physische wie psychische Gesundheit. Es gibt aber auch Positives zu berichten: Von schweren Krankheiten wie Herz-, Kreislaufschwäche oder bestimmten Krebsarten sind sie (noch) weniger betroffen als Deutsche und das Sterberisiko von älteren Migrantinnen und Migranten ist (noch) geringer als das der deutschen Bevölkerung gleichen Alters (Razum u. a. 2005). Ein oft vermuteter eigener, besonders für ältere Migrantinnen und Migranten geltender Krankheitsfaktor kann aus der bisherigen Forschungslage nicht abgeleitet werden. Demenzerkrankungen treten nach neueren Studien bei Menschen mit Migrationshintergrund in etwa gleich häufig auf wie bei der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung (Expertenanhörung, Berlin 2005).
5. Familiäre Netzwerke Ältere Arbeitsmigrantinnen und -migranten haben selbstverständlich einen Anspruch auf Unterstützung sowie ambulante und stationäre Versorgung im Alter. Im 6. Familienbericht wie auch im 3. Altenbericht der Bundesregierung wird explizit auf die große Bedeutung familiärer Netzwerke in Migrantenfamilien Bezug genommen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, jeweils Berlin 2000 und 2001). Dennoch ist eine Versorgung bei Krankheit und/oder im Alter, von der auch deutsche Beratungsdienste wie Altenhilfe und Migrationsberatung manchmal immer noch ausgehen, längst nicht mehr als Selbstverständlichkeit leistbar. Abzusehen ist, dass sich in Migrantenfamilien Strukturen so verändern werden, dass z. B. aus Gründen räumlicher Trennung oder Berufstätigkeit mehrerer Familienmitglieder die Versorgung zunehmend durch die sozialen Regeldienste erfolgen muss.
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Dorothea Grieger
6. Wünsche und Realität Emotional befinden sich ältere Migrantinnen und Migranten häufig in einem Dilemma: Einerseits möchten sie an ihrem bisherigen Lebensplan festhalten, der die Rückkehr in die Heimat vorsah, andererseits gibt es in Deutschland durch Kinder und Enkel inzwischen so viele familiäre Bindungen, dass das Weiterleben dort attraktiv wird. Das Pendeln zwischen beiden Ländern als Kompromiss – an sich bei guter Gesundheit und ausreichenden finanziellen Mitteln eine gute Möglichkeit – ist mit zunehmendem Alterungsprozess keine Dauerlösung. Auch rechtliche Einschränkungen behindern das Pendeln. Nach § 37 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz besteht ein Recht auf Wiederkehr für Ausländer, die im Bundesgebiet Rente beziehen und sich über 8 Jahre rechtmäßig in Deutschland aufgehalten haben. Nach § 51 AufenthG erlischt der Aufenthaltstitel, wenn jemand aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist oder ausreist und nicht innerhalb von 6 Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder einreist. Ausnahmen hierzu gibt es für Ausländer mit Niederlassungserlaubnis, die sich 15 Jahre rechtmäßig in Deutschland aufgehalten haben, sofern der Lebensunterhalt gesichert ist. Letzteres ist bei Ausländern mit kleiner Rente, die ergänzende Sozialhilfe beziehen, ein Problem. Die Annahme, dass die Kinder Hilfeleistungen erbringen, unterliegt häufig der sozialen Kontrolle der ethnischen Gemeinschaft. Daher kann eine Auseinandersetzung über unterschiedliche Normen und Werte und dementsprechende Handlungsweisen zwischen den Generationen schwierig sein. Aber längst nicht alle Migrantinnen und Migranten erwarten Hilfeleistungen von ihren Kindern. Wie ältere Deutsche auch will die Mehrheit selbständig und selbstbestimmt leben. Vor allem ältere Migrantinnen äußern sich nach der oben genannten Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in diesem Sinne (Matthai 2005).
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Soziale und gesundheitliche Lage von älteren Migrantinnen und Migranten
7. Zugangsbarrieren bei der Nutzung der deutschen Institutionen „Lieber eine Knoblauchsuppe zu Hause als ein Kaninchen im Altenheim“, so die Äußerung einer älteren Migrantin aus Spanien (Ertl 2000). Dieser Satz bringt Vorstellungen über die deutsche Altenhilfe auf den Punkt. Auch ambulante Dienste sind häufig nicht bekannt, ebenso die eigenen rechtlich gesicherten Ansprüche an das deutsche Altenhilfesystem. Zugangsbarrieren seitens der Migranten können ferner Verständigungsprobleme, Hemmungen vor deutschen Institutionen aufgrund negativer Erfahrungen mit Institutionen und Unsicherheiten über rechtliche Konsequenzen bei Inanspruchnahme von Sozialleistungen sein. Auf Seiten der deutschen Institutionen wird die Notwendigkeit interkultureller Öffnung wegen des – scheinbar – noch fehlenden Bedarfs häufig nicht gesehen. Aus Unkenntnis besteht eine allgemeine Rat- und Hilflosigkeit bei der Entwicklung von Angeboten, die auch Migrantinnen und Migranten mit einbeziehen. Kenntnisse über das Migrationsgeschehen sind dürftig und es besteht kaum Kontakt zur potenziellen Klientel. Es überwiegen monokulturelle Ausrichtung und geringe Sprachenvielfalt.
8. Kultursensible Altenhilfe In den vergangenen Jahren sind dennoch viele Projekte und Maßnahmen zur Verbesserung der Lage und zur interkulturellen Öffnung der Altenhilfe entstanden. Auf den verschiedensten Ebenen wird dabei auch die Partizipation von Migrantenorganisationen an der Gestaltung von Angeboten thematisiert – ein Beitrag zur Integration. Wertschätzung und Dialog auf gleicher Augenhöhe sind Voraussetzungen für den Erfolg solcher Projekte.
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Dorothea Grieger „ÄLTER WERDEN IN DEUTSCHLAND“ � INFORMATIONSREIHE FÜR ÄLTERE MENSCHEN AUS DER TÜRKEI
Abb. 3: Projektgruppe � „Informationsreihe für ältere Migranten“
Projekte und Maßnahmen auf Bundesebene: — Seit 1998 wird die Informationsreihe „Älter werden in Deutschland“ erfolgreich für ältere Migranten aus der Türkei eingesetzt (Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2001). Sie wird zurzeit im Rahmen eines Promotionsvorhabens evaluiert. Ferner wird die Informationsreihe derzeit für russischsprachige Zuwanderer übersetzt und auch inhaltlich an deren Bedürfnisse angepasst. — Im Oktober 2004 haben Träger der Freien Wohlfahrtspflege, das Kuratorium Deutsche Altershilfe sowie über 60 weitere Verbände und Einrichtungen der Altenhilfe die Kampagne für eine kultursensible Altenhilfe „Aufeinander zugehen – voneinander lernen“ (Arbeitskreis Kampagne für eine kultursensible Altenhilfe 2005) auf den Weg gebracht. Ihr Ziel ist es, bis Anfang 2006 vielfältige regionale und lokale Vorhaben für eine kultursensible Altenhilfe anzustoßen. Das bereits 2002 vorgestellte „Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe“ (Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenpflege 2002) soll publik gemacht und in die Praxis umgesetzt, konkrete Schritte zur kultursensiblen Altenhilfe und -pflege vor Ort sollen unterstützt und die Partizipation älterer Migrantinnen und Migranten an Altenhilfestrukturen gefördert werden.
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Soziale und gesundheitliche Lage von älteren Migrantinnen und Migranten
— Ein bedeutender Schritt in der Ausbildung für eine kultursensible Altenhilfe wurde 2002 mit der in Zusammenhang mit der Neuregelung der Altenpflegeausbildung erlassenen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Altenpflegerinnen und -pfleger getan. Die Ausbildungsordnung sieht nunmehr vor, dass die Auszubildenden im theoretischen und praktischen Unterricht ethnienspezifische und interkulturelle Aspekte sowie Glaubens- und Lebensfragen erlernen und in die Pflege integrieren sollen. Eine ähnliche Regelung gibt es inzwischen auch für die Krankenpflegeausbildung. — Mit der bundeszentralen „Informations- und Kontaktstelle für die Arbeit mit älteren Migranten“ (IKoM), die von der Aktion Courage getragen und vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie der Bundesstadt Bonn gefördert wird, ist eine strukturbildende und vernetzende Einrichtung entstanden. IKoM bietet als erste Einrichtung in der Bundesrepublik einen Überblick über die vorhandenen Fachkenntnisse im Bereich Altenhilfe für Migrantinnen und Migranten. Die Kontaktdatenbank enthält Informationen über Projekte und Angebote in ganz Deutschland und die Literaturdatenbank ermöglicht einen Überblick über Veröffentlichungen zum Thema. Der IKoM-Newsletter informiert in regelmäßigen Abständen über Projekte, Neuerscheinungen, Veranstaltungen und Weiterbil dungsangebote. Fachkräfte und Fachstellen erhalten darüber hinaus Unterstützung bei der Entwicklung und Umsetzung von Angeboten für ältere Migrantinnen und Migranten.
9. Politikplanung Die Bedürfnisse älterer Migrantinnen und Migranten werden in den letzten Jahren bei den zuständigen Fachstellen des Bundes, der Länder und vieler Kommunen in Planungs- und Projektvorhaben verstärkt berücksichtigt. Beispielsweise bezieht die Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz Berlin in ihren Leitlinien der künftigen Seniorenpolitik auch die Lebenssituation älterer Migrantinnen und Migranten mit ein. Auch das Land Rheinland-Pfalz unterstützt die Integration in bestehende Strukturen
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Dorothea Grieger
durch die Leitlinien seiner Seniorenpolitik. Gleiches gilt für das Land Nord rhein-Westfalen. 2003 bezog der Düsseldorfer Landtag „Senioren mit Migra tionshintergrund“ ausdrücklich in die Weiterentwicklung seiner Integrationsoffensive mit ein, und die Enquetekommission „Situation und Zukunft der Pflege in NRW“ beschäftigt sich im Rahmen einer Bestandsanalyse ebenfalls mit der Versorgung älterer Migranten. Neben der Förderung von Projekten durch Fachministerien findet das Thema „Ältere Migranten“ auch in bestehende und von den Bundesministerien initiierte und geförderte Aktivitäten der Altersforschung und -planung Eingang. So wird sich der vom BMFSFJ 2002 in Auftrag gegebene „Alterssurvey“ erstmalig auch mit Lebenslagen älterer Migrantinnen und Migranten beschäftigen. Bei der empirisch quantitativen Untersuchung werden Daten erhoben, die einen Vergleich der Lebenssituationen älterer Deutscher und älterer Migranten erlauben. Die Ergebnisse können als Informationsgrundlage für Entscheidungsträger und der wissenschaftlichen Forschungen dienen. Ebenso wird der 2006 erscheinende 5. Bericht zur Lage der älteren Generation in Deutschland auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten viele aktuelle Informationen über ältere Migrantinnen und Migranten enthalten.
10. Empfehlungen der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration Vor dem Hintergrund der kontinuierlich steigenden Zahl an älteren Migrantinnen und Migranten in Deutschland wächst auch der Bedarf an einer auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Regelversorgung durch die sozialen Dienste (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2005). Bei den Angeboten kultursensibler Altenhilfe und Altenpflege sind deutliche Fortschritte zu verzeichnen, die zum Teil bereits strukturbildenden Charakter haben. Von der Existenz einer umfassenden und systematischen kultursensiblen Versorgungslage kann dennoch bisher noch nicht ausgegangen werden. Weitere Anstrengungen sind erforderlich, um den begonnenen Prozess zu verstetigen und Nachhaltigkeit zu erzielen. Für die Politikplanung ist entscheidend, die demografische Entwicklung und die Lebenslagen der älteren Migrantinnen und Migranten aufzuarbeiten
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Soziale und gesundheitliche Lage von älteren Migrantinnen und Migranten
und systematisch in der Sozialberichterstattung von Bund, Ländern und Kommunen aufzugreifen. Bei der Aufarbeitung von Daten sollte bedacht werden, dass der Bedarf von Menschen mit Migrationshintergrund nicht ausreichend berücksichtigt wird, wenn weiterhin allein das Kriterium der Staatsangehörigkeit zur Grundlage der Erhebungen gemacht wird. Durch gezielte Studien sollten der Bedarf älterer Menschen mit Migrationshintergrund umfassender erhoben werden. Angemessene Versorgung kann nicht ohne Partizipation der Betroffenen gelingen. Um eine nachhaltige interkulturelle Öffnung der Altenhilfe und Altenpflege gewährleisten zu können, sollten Fachstellen der Verwaltung und Träger von Versorgungseinrichtungen auf die Beteiligung von Migrantinnen und Migranten besonderen Wert legen. Angesichts der Bedeutung eigenethnischer Netzwerke für die erste Generation älterer Migrantinnen und Migranten sollten Selbsthilfeorganisationen und eigenethnische Netzwerke bzw. deren Multiplikatoren gezielt in die Planung und Ausgestaltung von kultursensiblen Angeboten der Altenhilfe und Altenpflege mit einbezogen werden. Die interkulturelle Öffnung der Regeldienste bleibt eine wichtige Forderung mit Blick auf die angemessene Versorgung älterer Migrantinnen und Migranten und Teil der Modernisierung der Altenhilfe. Dieses Ziel sollte in den Leitlinien der Träger und Förderer und damit institutionell verankert werden. Nur wenn die Leitung der jeweiligen Institutionen diesen Prozess unterstützt, wird allerdings die Umsetzung von Leitlinien erfolgreich sein, da sie von allen getragen werden muss. Ferner geht es um Veränderungen in der Personal- und Organisationsstruktur. Aus- und Fortbildung zu Themen der kultursensiblen Altenhilfe und Altenpflege sollten fester Bestandteil der Organisations- und Personalentwicklung sein.
Literatur Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenpflege/Kuratorium Deutsche Altenhilfe (Hrsg.): Für eine kultursensible Altenpflege. Eine Handreichung. Köln, Juni 2002.
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Dorothea Grieger
Arbeitskreis Kampagne für eine kultursensible Altenhilfe, Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.): Kampagne für eine kultursensible Altenhilfe „Aufeinander zugehen – voneinander lernen“. Dokumentation der Auftaktveranstaltung vom 1. Oktober in Berlin, Berlin, März 2005. Siehe auch Pressemeldung des AWO-Bundesverbandes vom 5.7.2005 „Zwischenbilanz“ unter www.kultursensible-altenhilfe.de. Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hrsg.): Älter werden in Deutschland. Fachtagung zu einer Informationsreihe für ältere Migranten, Berlin und Bonn, 2001. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Ältere Migrantinnen und Migranten – Hintergrundinformationen und Handlungsfelder. Berlin, April 2005, unter www.integrationsbeauftragte.de. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.): Sechster Bericht über die Lage der Ausländer und Ausländerinnen in Deutschland. Berlin, August 2005. Ertl, Angelika: afw-Arbeitshilfe. Praxisfeld Interkulturelle Altenpflege. Darmstadt, 2000. Expertenanhörung „Versorgung von psychisch erkrankten älteren Migranten/innen“. Berliner Senat (Hrsg.), Berlin, 2005. Machleidt, Wielant, Grieger, Dorothea, Kimil, Ahmet, Menkhaus, Björn, Salman, Ramazan: Integration von älteren Migranten in Psychiatrie, Psychotherapie und psychosozialen Hilfsangeboten. Psychotherapie im Alter 2006. Minority Elderly Health and Social Care in Europe. Summary Findings of the Minority Elderly Care (MEC) Project, European Commission, Priae Research Briefing, December 2004 (hektografiertes Manuskript, Brüssel, 2005). Matthäi, Ingrid: Die „vergessenen Frauen“ aus der Zuwandergeneration. Zur Lebenssituation von allein stehenden Migrantinnen im Alter. Wiesbaden, 2005. Razum, Oliver, Geiger, Ingrid, Zeeb, Hajo, Ronellenfitsch, Ulrich. „Gesundheitsversorgung von Migranten“, in: Deutsches Ärzteblatt 101, H. 43, Deutsches Ärzteblatt Verlag, Köln, 2005. Wochenbericht des DIW (Hrsg.) 30/2001, Berlin, 2001.
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Soziale und gesundheitliche Lage von älteren Migrantinnen und Migranten
Zucci, Ingrid, Wagener, Gerd: „Einkommensarmut bei Zuwanderung überdurchschnittlich gestiegen“, in: DIW Berlin (Hrsg.), Wochenbericht, H.5, 2005, Berlin, 2005.
Web-Adressen: www.integrationsbeauftragte.de (Sechster Bericht über die Lage der Ausländer und Ausländerinnen in Deutschland u. v. m.). www.bmfsfj.de (Untersuchung zu älteren Migrantinnen, demnächst der fünfte Bericht zur Lage der älteren Generation in Deutschland, mit dem Schwerpunkt „Potenziale des Alters“ 30.08.2005 Flyer, der Bericht erscheint 2006). www.ikom.de (Infonetz zu älteren Migranten).
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