Thomas Altgeld, Bärbel Bächlein, Christiane Deneke (Hrsg.)
Diversity Management in der Gesundheitsförderung Nicht nur die leicht erreichbaren Zielgruppen ansprechen!
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
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Inhaltsverzeichnis VORWORT Ursula von der Leyen..............................................................................7 Elisabeth Pott........................................................................................10 EINLEITUNG Thomas Altgeld, Bärbel Bächlein, Christiane Deneke.........................13 GRUNDLAGEN Peter Gross Multioptionsgesellschaft, New Diversity und Gesundheit ..................23 Michael Stuber Diversity Management in der Gesundheitsförderung - Zielgruppen und Zielgruppengenauigkeit im Wandel ..............................................35 Thomas Altgeld Diversity Management in der Gesundheitsförderung ..........................49 WELCHE DIVERSITÄTEN MÜSSEN IN DER GESUNDHEITSFÖRDERUNG UND PRÄVENTION VERSTÄRKT BERÜCKSICHTIGUNG FINDEN? Adelheid Kuhlmey Ältere als Zielgruppe der Gesundheitsförderung .................................75 Andreas Mielck Wie lassen sich die Zielgruppen für Interventionsmaßnahmen bestimmen? ...........................................................................................85 Petra Kolip, Ellen Kuhlmann Bedarfsgerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit – neue Horizonte für die Prävention ...............................................................................101 Theda Borde Zur Bedeutung der Ethnizität als Faktor im Diversity Management .115
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ANWENDUNGSFELDER UND PRAXISBEISPIELE Michael Drupp Diversity Management – Möglichkeiten und Grenzen einer Nutzung im Rahmen des betriebliches Gesundheitsmanagements...................137 Ärztekammer Niedersachsen Prävention schreibt die Ärztekammer Niedersachsen groß ...............151 BKK Landesverband Niedersachsen-Bremen Mit Migranten für Migranten – Interkulturelle Gesundheit in Deutschland.........................................155 Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover Diversity Management: Kreative Konzepte und gelebte Werte.........159 IKK-Landesverband Niedersachsen Pflege nach Qualität bezahlen ............................................................162 Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen Primärprävention – ohne die niedergelassene Ärzteschaft geht es nicht ...........................167 Landwirtschaftliche Krankenkasse Niedersachsen-Bremen Soziale Sicherheit unter einem Dach = Soziale Sicherheit aus einer Hand!.....................................................169 VdAK/AEV – Landesvertretung Niedersachsen e.V. Gesundheitsversorgung auf Grundlage der Selbsthilfe-Idee .............173 VERZEICHNIS DER AUTOREN UND AUTORINNEN SOWIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN .....................................177 DANKSAGUNG .............................................................................................179
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Vorwort Ursula von der Leyen Gesundheitsförderung und Prävention sind zentrale Bausteine jeder modernen Gesundheitspolitik. In diesem Punkt sind sich die Fachpolitiker und Fachpolitikerinnen weitgehend einig. Aber wie lässt sich mehr Prävention und Gesundheitsförderung effektiv und nachhaltig organisieren? Wie können breite Bevölkerungsgruppen und vor allem jene Zielgruppen mit dem größten Bedarf wirklich erreicht werden? Bislang haben die Sozialversicherungen und andere Träger das Problem, dass sie mit ihren Angeboten vor allem Menschen mit höherem Bildungsniveau und entsprechend besser ausgeprägtem Gesundheitsbewusstsein erreichen. Ältere Menschen oder sozial schwache Schichten werden dagegen kaum angesprochen, ebenso Männer. Dabei könnte eine umfassende gesundheitliche Vorsorge gerade bei diesem Personenkreis sehr viel bewirken. Es lohnt sich daher, künftige Präventionsangebote zielgruppengerecht auszurichten. Diese Idee ist im Rahmen der Gesundheitsförderung neu. Die wenigsten Konzepte und Programme sind bislang speziell für schwer erreichbare Gruppen gestaltet. Wir haben in Deutschland auch nicht das Problem, dass es an Ideen und Konzepten für Prävention fehlte. Im Gegenteil, die schier unüberschaubare Fülle der Angebote sowie ihr unvernetztes Nebeneinander macht viele Menschen geradezu „präventionsmüde“. Bestimmte Zielgruppen fühlen sich abgeschreckt und ausgeschlossen. Mit welchem Rezept können wir nun die „bildungsfernen Schichten“ erreichen? Die Weltgesundheitsorganisation geht nicht zu Unrecht davon aus, dass Gesundheit entscheidend dadurch bestimmt wird, wie unser alltägliches Leben aussieht. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, Strategien zur Gesundheitsförderung auch in der Familienpolitik, dem Bildungssektor oder der Stadtentwicklung nachhaltig zu verankern.
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Kindertagesstätten und Schulen sind beispielsweise hervorragende Orte, um Eltern auf Themen der Gesundheitsprävention und Risikofaktoren anzusprechen, die bei ihren Kindern zu chronischen Erkrankungen führen könnten. Übergewicht, Fehlernährung, Bewegungsmangel und Suchtverhalten sind für den größten Anteil aller chronischen Erkrankungen verantwortlich, insbesondere für Diabetes, koronare Herzerkrankungen, Rückenerkrankungen sowie Krebserkrankungen der Atemwege. Mehr als die Hälfte aller Kosten im Gesundheitssystem und in der Pflege wird durch diese Erkrankungen verursacht. Der Gesundheitssektor selbst und die sich neu formierende Präventionslandschaft müssen deshalb gezielt hier ansetzen. Besonders viel Sinn macht diese Strategie in den so genannten sozialen Brennpunkten. In diesen Stadtteilen müssen nicht nur in Kindertagesstätten und Schulen besondere Anstrengungen unternommen werden, um gesundheitliche Chancengleichheit für die dort aufwachsenden Kinder und ihre Familien zu erreichen. Gesundheitsförderung ist eine Gemeinschaftsaufgabe und kann einen wichtigen Beitrag zur gesundheitlichen Chancengleichheit leisten. Der Sozialsektor, die Kinder- und Jugendhilfe oder die Stadtentwicklung, Stadtteilarbeit und Ordnungskräfte können hierbei wertvolle Hilfe leisten. Wenn sie Hand in Hand arbeiten, kann es gelingen vor Ort stimmige Lösungen anzubieten, die von der Zielgruppe gerne angenommen werden. Die vorliegende Festschrift stellt das Problem der Zielgruppenausrichtung als zentrales Thema heraus. Gut ist, dass auch die geschlechtsund alterspezifischen Herausforderungen angesprochen sind. Männer sind beispielsweise eine besonders schwere Zielgruppe der Gesundheitsförderung. Aus einer Antwort auf eine Landtagsanfrage zur Männergesundheit stammt die Feststellung, dass die herkömmlichen drei K´s, die bei Frauen gemeinhin für „Kinder, Küche, Kirche“ stehen, in den gender studies bereits geschlechtsspezifisch für Männer umgedeutet werden mit „Karriere, Konkurrenz, Kollaps“. Auch die Integration von Migranten und Migrantinnen stellt uns vor große Herausforderungen. Sie leben oftmals in sozial schwierigen Stadtteilen. Gerade in der dritten Generation verfügen viele dieser Menschen nur über dürftige deutsche Sprachkenntnisse und leben in einem permanenten Spannungsverhältnis zwischen alter Heimat und neuer Identität. Als relevante Zielgruppe im Gesundheitswesen werden sie erst langsam entdeckt.
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Vorwort
Das Modellprojekt „Integrationslotse“ für Stadt und Landkreis Osnabrück sammelt hier wertvolle Erfahrungen. Seit Mai 2005 werden bilinguale Migranten und Migrantinnen in Qualifizierungskursen als „Mittler zwischen den Kulturen“ ausgebildet. Ehrenamtlich informieren sie ihre Landsleute zu Fragen der Zuwanderung, Gesetzen und staatlichen Hilfen. Das „Diversity Management“ soll als neuer Ansatz in der Gesundheitsförderung nicht die bestehenden Ansätze und Konzepte abschaffen oder ersetzen. Es ist der Versuch, bekannte Schwierigkeiten neu zu fassen und anzugehen. Ich bin sicher, dass dieser neue Blick auf ein bekanntes Thema interessante Perspektiven eröffnet. Ich gratuliere der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. herzlich zu ihrem 100-jährigen Vereinsjubiläum, das Anlass für die Publikation dieses Bandes ist. Ich wünsche mir, dass dieser Band Ihnen neue Lösungen aufzeigt, wie wir zu „mehr Gesundheit für alle“ kommen.
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Elisabeth Pott Den Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. nutze ich besonders gerne für ein einführendes Grußwort, weil ich von 1982 bis 1986 selbst Vorsitzende der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. gewesen bin. Aus dieser Zeit fühle ich mich der Landesvereinigung besonders verbunden. In meiner aktuellen Funktion in der Leitung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bin ich der Landesvereinigung für die gute und produktive, langjährige Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale dankbar. Wenn man bedenkt, dass die Landesvereinigung für Gesundheit in Niedersachsen e.V. heute 100 Jahre alt ist, dann können wir feststellen, dass die Gesundheitsförderung in den 100 Jahren nichts von ihrer Bedeutung verloren hat, auch wenn die Notwendigkeit von Prävention und Gesundheitsförderung angesichts des medizinischen Fortschritts zeitweilig in Vergessenheit geraten zu sein schien. Wenn wir heute darüber diskutieren, ob die Prävention nicht einen ganz anderen Stellenwert im Gesundheitswesen haben sollte – vergleichbar dem kurativen Bereich und der Rehabilitation – dann zeigt das, dass inzwischen die Erkenntnis gewachsen ist, dass bei allem Fortschritt in den Behandlungsmöglichkeiten mit Kuration und Rehabilitation alleine der Gesundheitszustand in der Bevölkerung nicht nachhaltig zu verbessern ist. In der Vergangenheit war die Prävention in ihrer Bedeutung oft unterbewertet und meistens auch finanziell unterausgestattet. Viele Akteure, die sich bisher in diesem Bereich engagiert haben, haben das mit oft hohem persönlichen Engagement, aber nicht selten als Einzelkämpfer und Einzelkämpferinnen, ohne adäquate Ressourcen und in einer unzureichenden Infrastruktur getan. Trotzdem konnten Konzepte und Strategien bis heute deutlich weiterentwickelt werden und zwar insbesondere eben von solchen Einrichtungen, die sich bei allen Schwierigkeiten nie haben entmutigen lassen. Dazu gehört ganz sicherlich die Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V., die immer in vorderster Linie die konzeptionelle Weiterentwicklung, das Aufgreifen neuer Themenschwer-
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Vorwort
punkte und die Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung nachdrücklich unterstützt hat. Dabei spielt das heute gewählte Thema „Diversity Management in der Gesundheitsförderung“ seit einigen Jahren, insbesondere seit die Diskussion über Gesundheitsziele in der Gesundheitsförderung begonnen wurde, eine zunehmend wichtigere Rolle. Die Festlegung von klaren Zielen, die Definition von Zielgruppen, der Einsatz zielorientierter und zielgruppengenauer Instrumente, das Auffinden zielgruppenadäquater Zugangswege und die Evaluation von zielgruppenorientierten Ansätzen und Maßnahmen gehören heute zum Standard in der Gesundheitsförderung, sind aber in vielen Fällen trotz allen Bemühens in der Praxis nur schwer realisierbar. Die Prinzipien der Gesundheitsförderung haben in erheblichem Umfang zu der Erkenntnis beigetragen, dass Zielgruppen in die Entwicklung von Strategien selbst eingebunden werden müssen. Die Zielediskussion stellt insofern einen Meilenstein in der Entwicklung moderner zielgruppenorientierter Gesundheitsförderungsprogramme dar. Die Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. hat dazu häufig neue Impulse gegeben, zur Entwicklung innovativer Ansätze beigetragen und umfangreich an neuen Entwicklungen mitgewirkt. Was die Charakterisierung der unterschiedlichen Zielgruppen angeht, sind Alter, soziale Schicht, Geschlecht, Behinderung, ethnische und sexuelle Orientierung, einige der zentralen Charakteristika und Merkmale unterschiedlicher Zielgruppen. Daneben gibt es andere Merkmale, die sich heute quer zu diesen Merkmalen durch unterschiedliche Zielgruppen ziehen. Dazu gehört die Frage des Lebensstils, die Zugehörigkeit oder die Neigung zu einer bestimmten Kultur, z.B. Musikkultur oder Jugendkultur. Sehr deutlich ist heute, dass in der Vergangenheit die Zielgruppenauswahl oft zu ungenau oder beliebig gewesen ist und dass heute angesichts des verbreiterten Wissens um Einflussfaktoren sehr viel gezieltere Strategien möglich sind. Entscheidend wird es für die Zukunft sein, ein Höchstmaß an differenzierter Ansprache von Zielgruppen und ein Höchstmaß an klimaschaffenden Maßnahmen in einer Gesellschaft miteinander so zu verbinden, dass auf der einen Seite ein gesamtgesellschaftliches Klima für ein Thema geschaffen wird und auf der anderen Seite bei den unterschiedlichen Zielgruppen in der Gesellschaft zu diesem Thema mit zielgruppenadäquaten Angeboten hohe Akzeptanz geschaffen wird. Die immer weitere Diversifizierung
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führt natürlich zu erhöhten Ansprüchen an die Gesundheitsförderung, an ihre Planung, an ihre strategische Ausrichtung, an Ressourcen und an Geld. Denn Diversifizierung bedeutet, dass, je feiner diversifiziert wird, um so mehr unterschiedliche Angebote mit unterschiedlichen Nuancen in unterschiedlicher Sprache mit unterschiedlicher Gestaltung gebraucht werden, um in solchen ausdifferenzierten Zielgruppen die gesteckten Ziele wirklich zu erreichen. Um in der Gesundheitsförderung erfolgreich zu sein, ist eine große Methodenvielfalt und die ständige Überprüfung notwendig, ob die zu Grunde liegenden Annahmen über die Zielgruppenmerkmale und demzufolge die zielgruppengerechten Strategien zutreffend sind. Verhaltensänderungen in ganzen Zielgruppen und bevölkerungsweit können allerdings auch bei der größten Zielgruppengenauigkeit nur erreicht werden, wenn die Ressourcen vorhanden sind, um mit adäquaten Strategien die Zielgruppen und die Bevölkerung in großer Zahl mittel- und langfristig mit der nötigen Angebotsvielfalt in hoher Impulsdichte zu erreichen. Ein Beispiel: Um für Menschen mit Migrationshintergrund diesen Anspruch zu erfüllen, müssten Angebote und Materialien in ca. 40-50 unterschiedlichen Sprachen und in kultursensibler Gestaltung in Deutschland vorgehalten werden. Das macht deutlich, welche Anforderungen die verstärkte Diversifizierung an die Akteure der Gesundheitsförderung stellt. Ich wünsche der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V., dass sie immer über die notwendigen Ressourcen verfügen wird, um diesen hohen Ansprüchen an erfolgreiche Gesundheitsförderung zu genügen. Ich wünsche ihr, dass sie auch in den nächsten Jahren eine der aktivsten und fachlich anspruchvollsten Einrichtungen im Feld der Gesundheitsförderung und eine zuverlässige Partnerin für andere bleibt. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist für eine auch zukünftig gute und enge Zusammenarbeit dankbar und ich hoffe sehr, dass wir ein weiteres Stück des Weges zu mehr und besserer Gesundheitsförderung in Deutschland gemeinsam gehen können.
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Einleitung Was für viele große Unternehmen auch in Deutschland mittlerweile zum selbstverständlichen Teil der Unternehmenskultur gehört, ist für die Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland noch Neuland. Der überwiegende Anteil der Maßnahmen und Projekte erreicht eben nicht heterogene Zielgruppen und schafft im Sinne der Weltgesundheitsorganisation nicht mehr Gesundheit für alle, sondern ist eindeutig mittelschichtorientiert. Erstens sind viele gesundheitsfördernde Angebote beispielsweise aus dem Wellnessbereich rein marktförmig organisiert, d.h. sie setzen von vorneherein auf Zielgruppen, die sich diese Dienstleistungen wie andere (exklusive) Dienstleistungen einfach leisten können. Diese Angebotsstruktur ist an sich nicht zu kritisieren, weil ihre Zielrichtung klar ist und sie gewinnorientiert arbeitet, d.h. nicht aus Geldern der öffentlichen Haushalte oder Sozialversicherungsträger finanziert wird. Zweitens sind aber viele Angebote vom Angebotskontext her und der Struktur der Maßnahme indirekt mittelschichtorientiert, da sie häufig auf bereits vorhandenem Gesundheitsbewusstsein aufbauen und in Bereichen angeboten werden, die ohnehin eher besser gestellte Bevölkerungsgruppen erreichen wie etwa Volkshochschulen oder betriebliche Qualifikationsangebote. Hier stellt sich allerdings sehr wohl die Frage nach dem öffentlichen Interesse an solchen Angeboten, die bestehende Ungleichheiten in den Gesundheitschancen eher vergrößern als verkleinern. Die Landesvereinigung für Gesundheit hat ihr 100-jähriges Vereinsjubiläum 2005 zum Anlass genommen, nachhaltige Strategien für mehr Zielgruppengenauigkeit zu diskutieren und zu überprüfen, was der Gesundheitsförderungsbereich von neuen Managementkonzepten lernen kann und lernen muss, um nicht nur die Bevölkerungsgruppen mit den höchsten Präventionsbedürfnissen zu erreichen, sondern die Bevölkerungsgruppen mit den höchsten Präventionsbedarfen. Nach neudeutschen Maßstäben ist die Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e. V. hoch betagt. Deshalb sei zur Einleitung auch ein kleiner Exkurs in die Anfänge der Vereinsgeschichte erlaubt, um deutlich zu machen, dass die heutigen Herausforderungen keineswegs neu
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sind, sondern Kernfragen der Organisation und Effizienz von Gesundheitsförderungsmaßnahmen seit langem darstellen. Die Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. wurde 1905 in Hannover als Hauptverein für Volkswohlfahrt von 30 Prominenten aus Politik, Wirtschaft und Kirche gegründet. Ziele des Vereins und Gründungsmotivation waren die Volkswohlfahrt, insbesondere die „Aufklärung über die Tuberkulosekrankheit“ und, damals wie heute die „Zusammenfassung verschiedener Zweige der Volkswohlfahrt“. In unserer aktuelle Satzung lautet das Vereinsziel: „Der Zweck des Vereins ist die Förderung der Gesundheit der niedersächsischen Bevölkerung. Die Aufgaben des Vereins sind, Aktivitäten und Maßnahmen der gesundheitlichen Aufklärung, der Gesundheitserziehung und der Gesundheitsförderung anzuregen, zu unterstützen, zu koordinieren oder selbst durchzuführen und die gemeinsamen Interessen der Mitglieder, unbeschadet deren Selbständigkeit, zu vertreten.“ 1907 bereiste ein Wandertuberkulosemuseum die Provinz Hannover und eine Beratungsstelle für Lungenkranke wurde eröffnet. Die durchschnittliche tägliche Besucherzahl betrug 322 Personen. Insgesamt wurden 88 Städte und Dörfer mit dieser ersten niedersächsischen Gesundheitswanderausstellung bereist. Weitere Themen der Anfangszeit waren Stillberatung für werdende Mütter, Wohnraumberatung (zur hygienischen, gesunden Wohnungsgestaltung) und die Ausbildung von „Wandernüchternheitslehrerinnen“, die über Gefahren des Alkohols aufklärten. Seit Mitte der 20er Jahre bis 1942 wurden im Harz und in der Lüneburger Heide Kinderkurheime für Kinder aus Arbeiterfamilien betrieben. 1948 wurde der Verein von der Militärverwaltung wieder zugelassen. Die Arbeitsschwerpunkte waren Gesundheitserziehung in Kindertagesstätten und Schulen sowie die Fortbildung von Gesundheitsberufen zu Präventionsthemen. Heute reicht das Aufgabenspektrum von der Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten bis zur Gesundheit von Hochbetagten in Einrichtungen der Altenhilfe. Eine besondere Herausforderung über die gesamte 100-jährige Vereinsgeschichte war die Abmilderung der gesundheitlichen Folgen sozialer Benachteiligung und Programme, die hier ansetzen, um gleiche Gesundheitschancen für alle zu gewährleisten.
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Einleitung
Anlässlich des Vereinsjubiläums wurde eine Befragung von 100jährigen in Hannover vorgenommen, die zu ihren gesundheitlichen Ressourcen im Lebensverlauf interviewt wurden. Fazit dieser Befragung ist, dass insbesondere Freundschaften und regelmäßige Bewegung Gesundheit fördern und Langlebigkeit begünstigen. Auch das ein oder andere Hobby oder Interesse, um nicht von Leidenschaft zu sprechen, der sich Mann oder Frau intensiv widmet, scheint zur Lebenszufriedenheit und zur sozialen Integration beizutragen. Es wurden keine Geheimtipps gefunden, aber auch nicht erwartet. Doch neben gesunder Lebensführung im klassischen Sinne, d.h. nicht rauchen, bestenfalls mäßig zu trinken, sich regelmäßig bewegen und sich nicht übermäßig oder falsch zu ernähren, sind es vor allem soziale Netzwerke, die gesund erhalten und die von den befragten 100-jährigen der Stichprobe auch als protektiver Faktor über den Lebensverlauf hinweg wahrgenommen wurden. Solche komplexen Botschaften sind in der aktuellen Diskussion über einen neuen Stellenwert von Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland kaum zu finden gewesen. Man konnte den Eindruck haben, zumindest der Bundespolitik gehe es vor allem um den schnellen Druck einfacher Plakate, die längst bekannte Botschaften vermitteln. Aber Gesundheitsförderung kann nur erfolgreich sein, wenn sie mehr ist als der einfache Belehrungsversuch mit dem mehr oder weniger erhobenen Zeigefinger. Dies lehrt uns schon jede leere Schachtel Zigaretten mit den aufgedruckten Warnhinweisen. Aber nicht nur die Botschaften und die individuelle Reaktion darauf müssen stimmen, sondern auch die Verhältnisse. Gesundheitsfördernde und präventive Projekte, die einen Beitrag zur gesundheitlichen Chancengleichheit leisten sollen und sozial benachteiligte Gruppen erreichen, können nicht nur aus der Gesundheitsversorgung und förderung selbst heraus organisiert werden. Im Wesentlichen sind hier andere Sektoren gefragt, die Gesundheitsförderung „mittransportieren“, nämlich der Sozialsektor, der Kinder- und Jugendhilfebereich oder die Stadtentwicklung. Die Sektoralisierung, die durch die deutsche Sozialgesetzgebung auf der einen Seite und die Zersplitterung von Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden in einem föderalen System auf der anderen Seite gegeben ist, erschweren eine
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Zusammenarbeit bei Gesundheitsförderungs- und Präventionsangeboten für sozial Benachteiligte. Ungleich besser wären vernetzte Ansätze, die die Unterschiedlichkeit von Zielgruppen berücksichtigen würden. Die Landesvereinigung kann auch auf eine Geschichte wechselvoller Diskussionen über Prävention und Gesundheitsförderung zurückblicken. Zur Zeit herrscht eine relative Einmütigkeit in der Wertschätzung von Gesundheitsförderung und Prävention quer über die Partei-, Institutionsund Professionsgrenzen hinweg. Aber die konkrete Ausgestaltung von Maßnahmen, die effektiv sind und die Zielgruppen erreichen, die sie erreichen sollen, bleibt umstritten. Standardlösungen sind hier voraussichtlich nicht zu entwickeln. Aus der Vereinsgesichte kann man auch lernen, dass Zielgruppen nicht am Ende von Maßnahmen stehen dürfen, sondern gleich von Anfang an in die Problemdefinition, die Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten und die Umsetzung von Maßnahmen einbezogen werden müssen. Es geht heute weniger um Volksbelehrung als um Empowerment, d.h. um Befähigung, sein Leben selbst gesund in die Hand zu nehmen und die gesündere Wahl zur leichteren Wahl zu machen, wie die Weltgesundheitsorganisation das formuliert hat. In diesem Band wirft Peter Gross deshalb zunächst einen Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen Gesundheit nur eine Wahl und vielen Wahlmöglichkeiten ist. In seiner Multioptionsgesellschaft ist eine Heterogenisierung der Lebensstile und -entwürfe zu verzeichnen. Er beschreibt die Aufsplitterung und Segmentierung moderner Gesellschaften und leitet daraus provozierende Schlussfolgerungen für Gesundheit ab. Michael Stuber führt anschließend in die Konzepte des Diversity Managements im Wirtschaftssektor ein und beschreibt die zahlreichen Faktoren von Unterschiedlichkeit, die dort eine Rolle spielen und gemanaged werden. Er skizziert dabei auch die Herausforderungen, die sich im Bereich der Gesundheitsversorgung stellen; etwa durch den Wettbewerb im Krankenhaussektor, der durch die Umgestaltung des Versorgungssystems ausgelöst wird. Er beschreibt aber auch die Herausforderungen, die Diversity an Non-Profit-Organisationen im Gesundheits- und Sozialwesen stellt und macht Vorschläge wie das Diversity Modell dort produktiv umgesetzt werden kann.
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Einleitung
Was Zielgruppengenauigkeit in Gesundheitsförderung und Prävention bedeutet und welche Strategien erfolgreich sind, erläutert Thomas Altgeld in seinem Beitrag zum Diversity Management in der Gesundheitsförderung. Er beschreibt dabei zunächst die massiven Wechselwirkungen zwischen Armut, Bildung und Gesundheit und leitet daraus Schlussfolgerungen für eine zielgruppengerechte und erfolgreiche Gesundheitsförderungsarbeit ab. An diese drei Grundsatzbeiträge schließt sich die genauere Betrachtung wesentlicher Unterschiede an, die über Erfolg oder Misserfolg von Präventionsmaßnahmen entscheiden. Adelheid Kuhlmey stellt Ältere als neue Zielgruppe der Gesundheitsförderung dar. Sie analysiert dabei zunächst die Bedingungen des demografischen Strukturwandels und deren Auswirkungen auf das Gesundheitsniveau der Menschen und charakterisiert Gesundheitsförderung für das Alter als einen Beitrag zur Gestaltung einer Lebensphase, die mehr als andere von gesundheitlichen Einbußen gekennzeichnet ist. Andreas Mielck setzt sich mit der genauen Bestimmung von Zielgruppen für Interventionsmaßnahmen auseinander. Insbesondere Personen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status weisen deutlich höhere Mortalitäts- und Morbiditätsraten auf. Soziale Benachteiligung ist ein zentraler gesundheitlicher Risikofaktor. Aber auch hier ist Ausdifferenzierung bei der Auswahl von Zielgruppen notwendig. Insbesondere muss der Sozialstatus mit Lebensalter und Geschlecht gemeinsam betrachtet werden um die Praxisrelevanz von Maßnahmen zu erhöhen. Er zeigt in seinem Beitrag dabei auch auf, das Wissenschaft und Praxis in dieser Fragestellung nicht immer an einem Strang ziehen, obwohl nur eine enge Verzahnung beider Bereiche erfolgversprechend ist. Neue Horizonte für die Prävention durch Bedarfs- und Geschlechtergerechtigkeit eröffnen Petra Kolip und Ellen Kuhlmann. Dass sich Frauen und Männer in Gesundheit und Krankheit unterscheiden gehört zwar mittlerweile zum Basiswissen im Gesundheitsbereich, aber dennoch spielt dieses Wissen bei der Umsetzung von neuen Versorgungsformen und Präventionsprogrammen kaum eine Rolle. Am Beispiel der DiseaseManagement-Programme weisen die Autorinnen nach, welche Potenziale bei einer Ignorierung des Faktors Geschlecht ungenutzt bleiben müssen. Sie definieren Gender Mainstreaming als Kernstrategie bei der
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Programmplanung- und -durchführung und somit entscheidend für die Qualität und Bedarfsgerechtigkeit von Angeboten. Die Bedeutung des Faktors Ethnizität innerhalb des Diversity Managements lotet Theda Borde aus. Sie beschreibt dabei zunächst die vorhandenen Defizite, weil Angehörige ethnischer Minderheiten bisher kaum an der Konzeption und Durchführung von Maßnahmen beteiligt wurden. An Beispielen aus der Gesundheitsversorgung weist sie nach, dass es eher zu einer negativen Stigmatisierung kommt als zum Einbezug von Sichtweisen und Bedürfnissen ethnischer Minderheiten. Sowohl in der Versorgung selbst als auch in der Gesundheitsförderung existieren deshalb erhebliche Zugangsbarrieren, die durch verschiedene Strategien erheblich reduziert werden könnten. Nach dieser ausführlichen Betrachtung der unterschiedlichen Zielgruppen der Gesundheitsförderung und den Potenzialen, die Diversity Management hier erschließen könnte, werden im letzten Teil des Bandes Anwendungsfelder und Praxisbeispiele aus den Mitgliedsorganisationen der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. vorgestellt. Michael Drupp stellt die Möglichkeiten und Grenzen einer Nutzung des Diversity Mangement-Ansatzes im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements vor. Die Rolle der Ärzteschaft wird von der Ärztekammer Niedersachsen und im Beitrag der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen ausführlich beschrieben. Der BKK Landesverband Niedersachsen-Bremen stellt ein erfolgreiches Beispiel der Gesundheitsförderung mit und für Migranten vor. Auch die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover setzt in ihren Angeboten bereits einige kreative Konzepte aus diesem Bereich um. Der IKKLandesverband Niedersachsen beschreibt in seinem Beitrag die Anwendung des Konzeptes auf den wichtigen Sektor der Pflege. Die Landwirtschaftliche Krankenkasse Niedersachsen-Bremen skizziert die besondere Herausforderung verschiedener Versicherungszweige unter einem Dach. Der Bereich der Praxisbeispiele wird abgeschlossen durch die Landesvertretung Niedersachsen des VdAK-AEV, deren Mitglieder ihre Wurzeln in der Idee der Selbsthilfe haben. Diese Veröffentlichung wäre nicht möglich gewesen ohne die Vielzahl von Anregungen aus den Mitgliedesrichtungen und den
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Kooperationspartnern der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V.. Allen Mitgliedseinrichtungen und Autoren und Autorinnen sowie Marlene Gerger, die umsichtig alle Korrektur- und Layoutarbeiten übernommen hat, sei deshalb an dieser Stelle für die tatkräftige Mitwirkung und die finanzielle Unterstützung des Vorhabens gedankt. Den Lesern und Leserinnen des Bandes wünschen wir zahlreiche Anregungen für die Praxis und hoffen, dass diese Publikation damit einen Beitrag zur mehr Zielgruppengenauigkeit in der Prävention und Gesundheitsförderung im Sinne eines verbreiteten Diversity Mangements leisten kann.
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