Soziale Arbeit für alte Menschen - Christian Zippel, Sibylle Kraus

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Zu diesen und anderen Fragen bietet das Buch kompetente Hilfestellung. Alle beteiligten AutorInnen verfügen über umfangreiche praktische Erfahrung. Das Spektrum der sozialen Aufgaben bei alten Menschen wird umfassend, aktuell und praxisnah dargestellt. »Man wünscht sich mehr Bücher dieser Art, Dichte und Qualität, die praktischen und wissenschaftlichen Sachverstand bündeln und für berufliche Praxis und Politik nutzbar machen.« (Gesundheit und Gesellschaft)

ISBN 978-3-86321-000-7

Mabuse-Verlag

hiatrie

Rehabilitation

Christian Zippel, Sibylle Kraus (Hrsg.)

Assessment Case Man agement Wohnen Ca re Management Ehren

Soziale Arbeit amt Selbsthilfe Migr für alte Menschen ation Gewalt Sterben Ein Handbuch

Christian Zippel, Sibylle Kraus (Hrsg.)

Angehörige, SozialarbeiterInnen, Case ManagerInnen u.a. sehen sich in der Betreuung alter Menschen einer Vielzahl von Aufgaben gegenüber. Das erfordert umfangreiche Kenntnisse und den schnellen Zugriff auf Gesetzestexte und Adressen. Wann reicht eine Vorsorgevollmacht aus? Wie und wo kann eine Betreuung beantragt werden? Bei welchen Hilfsmitteln besteht Zuzahlungspflicht? Wann sind die Krankenkassen, wann die Pflegekassen leistungspflichtig? Welche Wohnformen helfen, eine Heimunterbringung zu vermeiden?

Soziale Arbeit für alte Menschen

Geriatrie Gerontopsyc

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Behinderung

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Mabuse-Verlag

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Christian Zippel, geb. 1942, langjähriger Ärztlicher Leiter einer Klinik für Geriatrische Rehabilitation, lehrt an der Alice Salomon Hochschule Berlin zu den Themen Altenhilfe, Geriatrie und Gerontologie. Leiter des Ständigen Ausschusses „Geriatrische Rehabilitation“ der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation. Sibylle Kraus, geb. 1962, leitet die Abteilung Case Management und Sozialdienst in den St. Hedwig Kliniken Berlin. Sie ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Vereinigung für Sozialarbeit im Gesundheitswesen und Leiterin der Fachgruppe Gesundheit im Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit.


Christian Zippel, Sibylle Kraus (Hrsg.)

Soziale Arbeit f端r alte Menschen Ein Handbuch

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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Inhalt

Angaben zu den Herausgebern und Autoren

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Einführung

15

David Kramer 1. Kapitel: Demografische Grundlagen: Die Entjungung des Wohlfahrtsstaats geht weiter

17

Christian Zippel, Norbert Lübke, Kristian Hahn 2. Kapitel: Gerontologie, Geriatrie und Geriatrische Rehabilitation

44

Sibylle Kraus 3. Kapitel: Aktuelle Entwicklungen im Gesundheitswesen und Auswirkungen auf die Soziale Arbeit

67

Sibylle Kraus, Hildegard Hegeler 4. Kapitel: Soziale Arbeit in der Geriatrie

77

Mechthild Niemann-Mirmehdi, Michael A. Rapp 5. Kapitel: Klinische Sozialarbeit in der Gerontopsychiatrie

94

Gabriele Trilhof, Markus Borchelt 6. Kapitel: Soziales Assessment und systematische Leistungserfassung Sozialer Arbeit in der Geriatrie unter DRG-Bedingungen

117

Ruth Remmel-Faßbender 7. Kapitel: Case- und Care Management – Bedarf und Anforderungen in der Altenhilfe

137


Susanne Tyll 8. Kapitel: Wohnen im Alter

163

Peter-Georg Albrecht,Thomas Kauer 9. Kapitel: Freiwilliges Engagement von Senioren und Engagementförderung

185

Silva Demirci, Dorothea Grieger 10. Kapitel: Interkulturelle Soziale Arbeit mit älteren Migrantinnen und Migranten

203

Rolf D. Hirsch 11. Kapitel: Gewalt im Alter

218

Imme-Kathrin Bertheau 12. Kapitel: Hospizbewegung und Altenarbeit

230

Dirk Müller, Christian Zippel 13. Kapitel: Palliative Geriatrie – ein noch junges Aufgabengebiet

249

Christian Zippel 14. Kapitel: Suizidgefährdung und Alter – was kann getan werden?

259

Christian Zippel 15. Kapitel: Sexualität und Alter – über den Umgang mit einem Tabuthema

285

Andrea Schulz, Monika Kunisch 16. Kapitel: Beratungs- und Unterstützungsangebote für ältere Menschen und ihre Angehörigen

301

Birgitta Neumann 17. Kapitel: Soziale Arbeit in Beratungsstellen für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen

321

Ulrike Jaeger 18. Kapitel: Soziale Arbeit in ambulanten Pflegediensten und betreuten Wohngemeinschaften

336


Anemone Falkenroth 19. Kapitel: Soziale Arbeit in stationären Pflegeeinrichtungen – von der Versorgungseinrichtung zum Lebens- und Wohnort

347

Sibylle Kraus 20. Kapitel: Die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung – SGB V 360 Christian Zippel, Matthias Schmidt-Ohlemann, Ulrich Maltry 21. Kapitel: Hilfsmittel und Hilfsmittelversorgung

369

Harry Fuchs 22. Kapitel: UN-Behindertenrechtskonvention

392

Harry Fuchs 23. Kapitel: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – SGB IX

400

Heike Ulrich, Sibylle Kraus 24. Kapitel: Soziale Pflegeversicherung – SGB XI

422

Heinz Stapf-Finé 25. Kapitel: Altenhilfe und die Möglichkeiten des SGB XII

443

Alexandra Gerken, Christian Zippel 26. Kapitel: Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und Betreuungsverfügung – die Willensbekundungen

462

Bernhard Ortseifen 27. Kapitel: Das Betreuungsgesetz und seine praktische Anwendung – was müssen Betreuung und Betreuer leisten?

472

Niels Korte 28. Kapitel: Allgemeine sozialrechtliche Bestimmungen

494

Abkürzungsverzeichnis

501

Stichwortverzeichnis

506



Angaben zu den Herausgebern und Autoren Herausgeber Zippel, Christian, Prof. Dr. med. Chefarzt der Geriatrischen Klinik Luckau/Brandenburg, Ärztlicher Leiter a.D. der MEDIAN Klinik Berlin-Mitte, Fachklinik für geriatrische Rehabilitation, Alice Salomon Fachhochschule für Sozialarbeit Berlin (ASH), Facharzt für Innere Medizin/Geriatrie, Leiter des Ständigen Ausschusses „Geriatrische Rehabilitation“ der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V. Kraus, Sibylle Dipl.-Sozialarbeiterin (FH), Sozialmanagerin, Case Managerin (DCC), Leiterin Sozialdienst/Case Management in den St. Hedwig Kliniken, Leitung Sozialdienst im St.-Josefs-Krankenhaus Potsdam, Vorstandsmitglied in der Deutschen Vereinigung für Sozialarbeit im Gesundheitswesen (DVSG), Leiterin der Fachgruppe Gesundheit im Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH).

Autoren Albrecht, Peter-Georg, Dr. phil. Dipl.-Sozialarbeiter, Lehrbeauftragter Hochschule Magdeburg-Stendal, FB Sozialund Gesundheitswesen, Masterstudiengang „Soziale Dienste und Gesellschaft“. Bertheau, Imme-Kathrin Dipl.-Sozialarbeiterin (FH), Diakonie-Hospiz Lichtenberg gGmbH. Borchelt, Markus, M.Sc., Dr. med. Geschäftsführender Inhaber des DRG-Kompetenzteams Geriatrie (DKGER) Berlin, www.geriatrie-drg.de. Demirci, Silva Dipl.-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (FH), zurzeit Doktorandin an der Freien Universität Berlin (FU), Organisationsberaterin, Mediatorin, Referentin für Interkulturelle Öffnung im Diakonischem Werk (DW) der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD).


angaben zu den herausgebern und autoren

Falkenroth, Anemone Dipl.-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (FH), Pflegewohnhaus am Waldkrankenhaus, Berlin-Spandau. Fuchs, Harry, Dr. phil. Dipl.-Verwaltungswirt, Abteilungsdirektor a.D., Sozialexperte, Lehrbeauftragter der Hochschule München im Masterstudiengang, Düsseldorf. Gerken, Alexandra Juristin, Leiterin des Betreuungsvereins Berlin-Mitte, Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin e.V. Grieger, Dorothea, Dr. phil. Ehemalige Mitarbeiterin im Arbeitsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Berlin. Hahn, Kristian, Dr. med. Facharzt für Innere Medizin/Geriatrie, Chefarzt, Klinik für Geriatrie, Diakonische Anstalten Neuendettelsau, stellv. Leiter des Ständigen Ausschusses „Geriatrische Rehabilitation“ der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V. (DVfR). Hegeler, Hildegard Dipl.-Sozialarbeiterin(FH), Luisenhospital/Rehabilitationsklinik/Haus Cadenbach, Aachen, Vorstandsmitglied in der Deutschen Vereinigung für Sozialarbeit im Gesundheitswesen (DVSG). Hirsch, Prof. Dr. Dr. Rolf D. Chefarzt der Abteilung für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie des Gerontopsychiatrischen Zentrums, Rheinische Kliniken Bonn, Präsident der Deutschen Akademie für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Vorsitzender der „HsMBonner Initiativen gegen Gewalt im Alter e.V.“. Jaeger, Ulrike Dipl.-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (FH), Koordination ambulant betreuter Wohngemeinschaften für demenziell erkrankte Menschen, Diakonie-Station Südstern Berlin, 1. stellv.Vorsitzende der Alzheimer-Gesellschaft Berlin e.V.

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angaben zu den herausgebern und autoren

Kauer, Thomas, Dr. phil. Dipl.-Sozialpädagoge (FH), Lehrbeauftragter der Hochschule für Sozialarbeit Magdeburg-Stendal, BA Studiengang „Soziale Arbeit“, FB Angewandte Humanwissenschaften, Masterstudiengang „Reha-Psychologie“ (FH), Projektleiter von METOP GmbH, An-Institut der Otto-v.-Guericke Universität Magdeburg. Kramer, David, Prof. PH Professor für Sozialpolitik an der Alice Salomon Hochschule (ASH), Berlin. Korte, Niels, Prof. Dr. jur. Alice Salomon Hochschule (ASH), Berlin, Kanzlei Korte, Unter den Linden 12, 10117 Berlin und Wichertstr. 45, 10439 Berlin. Kunisch, Monika Dipl.-Sozialarbeiterin (FH), Beratungs- und Koordinierungsstelle (BEKO) Ludwigshafen. Lübke, Norbert, Dr. med. Facharzt für Innere Medizin/Geriatrie, Leiter des Kompetenz-Centrum Geriatrie (KCG) für den GKV Spitzenverband und die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (beim MDK Nord). Maltry, Ulrich, Dipl.-Ing. Geschäftsführender Inhaber des Fachbetriebes für Rehabilitationstechnik Maltry, Potsdam. Müller, Dirk Exam. Altenpfleger Palliative Care, Projektleiter Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie. Unionhilfswerk (UHW) Senioren-Einrichtungen gemeinnützige GmbH Berlin. Neumann, Birgitta Dipl.-Sozialarbeiterin (FH), Alzheimer Gesellschaft Brandenburg e.V., Potsdam. Niemann-Mirmehdi, Mechthild Dipl.-Sozialpädagogin, Koordination Therapeutische Dienste, Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St.-Hedwig-Krankenhaus Berlin; Leitungsteam Gerontopsychiatrisches Zentrum, wiss. MA AG Gerontopsychiatrische Forschung. 11


angaben zu den herausgebern und autoren

Ortseifen, Bernhard Dipl.-Sozialarbeiter (FH), Geschäftsführer des Betreuungsvereins SKM – Katholischer Verein für Soziale Dienste in Heidelberg e.V.,Vorsitzender der Interessengemeinschaft der Betreuungsvereine in Baden-Württemberg. Rapp, Michael A., Dr. phil. Dr.med. Oberarzt, Gerontopsychiatrisches Zentrum, Leiter AG Gerontopsychiatrische Forschung, Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus Berlin-Mitte. Remmel-Faßbender, Ruth, Prof. i.K. Prorektorin der Katholischen Fachhochschule für Sozialarbeit Mainz, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Care Management und Case Management e.V. (DGCC). Schmidt-Ohlemann, Matthias, Dr. med. Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V. (DVfR), Leiter des Ad-hoc-Ausschusses „Hilfsmittel“, Facharzt für Orthopädie, Ärztlicher Direktor der Evangelischen Diakonischen Anstalten Bad Kreuznach. Schulz, Andrea Dipl.-Sozialarbeiterin, Dipl.-Gerontologin, Albatros gGmbH, Pflegestützpunkte Berlin. Stapf-Finé, Heinz, Prof. Dr. Soziologe und Volkswirt, Professor für Sozialpolitik, Alice Salomon Hochschule (ASH), Berlin. Trilhof, Gabriele M.A., Dipl.-Sozialpädagogin, DRG-Kompetenzteam Geriatrie (DKGER), Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA), Berlin. Tyll, Susanne Diplom-Pädagogin, Politologin, Mediatorin und DCM Basic Userin, Krefeld, Arbeitsbereiche Beratung, Fortbildung und Projektentwicklung zu Wohnen im Alter, Quartiersentwicklung und Altenarbeit. Lehrbeauftragte an der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, FB Sozialwesen. Gründungsmitglied und eine der beiden Sprecherinnen der LAG Wohnberatung NRW. 12


angaben zu den herausgebern und autoren

Ulrich, Heike Dipl.-Sozialarbeiterin (FH), Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales des Landes Bremen – Referat Ältere Menschen, 2. Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Sozialarbeit im Gesundheitswesen e.V. (DVSG).

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Einführung Innerhalb von gut einem Jahr nach seinem Erscheinen 2009 war das Buch „Soziale Arbeit für alte Menschen“ vergriffen, so dass ein Nachdruck notwendig wurde. Das belegt nicht nur den großen Informationsbedarf zur Sozialen Arbeit und sozialen Fragen im hohen Lebensalter, es zeigt auch das zunehmende Interesse an diesem Themenbereich. Wir als Herausgeber wollen dieses Interesse gern bedienen, weshalb wir uns schon frühzeitig um eine neue Auflage bemüht haben, verbunden mit Überarbeitung und Aktualisierung im Hinblick auf neue gesetzliche Regelungen, auch neue Erkenntnisse und Erfahrungen. Uns haben dazu auch die fast durchweg wohlwollenden Rezensionen ermutigt. Kritische Hinweise wurden berücksichtigt. Es sind nur wenige neue Autoren hinzugekommen, da sich die Kompetenz des Autorenprofils bestätigt hat. Überdies wurde das Buch um zwei neue Themen erweitert, auch auf Bitte von Nutzern des Buches. Es handelt sich um eine Darstellung zur Behindertenrechtskonvention der UN durch Dr. Harry Fuchs und um ein Kapitel zum Umgang mit der Sexualität im Alter. Die letzten beiden Jahre waren wiederum geprägt von Reformen im Gesundheits- und Sozialwesen, z. B. zur Patientenverfügung, dem Aufbau von Pflegestützpunkten oder im Sozialgesetzbuch V zur Gesundheits- bzw. Krankenversorgung. Sie fanden soweit wie möglich in den einzelnen Kapiteln Berücksichtigung, auch mit ihren manchmal negativen Auswirkungen wie in der Hilfsmittelversorgung. Das Spektrum der geriatrischen Behandlungs- und Rehabilitationsstrukturen konnte sich erweitern, wenn auch nur langsam. Auch darauf wird eingegangen. Als Herausgeber haben wir den Anspruch, die Breite der Sozialen Arbeit für und mit alten Menschen darzustellen. Wir haben wiederum das Prinzip verfolgt „aus der Praxis für die Praxis.“ Der Praxisbezug wird außerdem mit Hinweisen zu aktuellen Literatur- und Internetquellen untersetzt. Falls nicht anders ausdrücklich vermerkt, wurden alle Internetquellen Ende 2010 gesichtet. In den mehr theoretischen oder gesetzliche Grundlagen betreffenden Beiträgen wird durch Querverweise auf mögliche Praxisprobleme hingewiesen. Wir danken den Autoren und Autorinnen, dass sie sich weiterhin oder auch neu zur Mitarbeit an diesem Buch bereit erklärt haben, trotz der manchmal erforderlichen Begrenzungen hinsichtlich Gestaltung und Umfang der einzelnen Beiträge. Wir möchten nicht versäumen, dem Mabuse Verlag, besonders Herrn Tobias Frisch, für die Fortsetzung der jederzeit vertrauensvollen, engen Zusammenarbeit zu danken. 15


einführung

Wir hoffen, auch mit dieser Ausgabe „Soziale Arbeit für alte Menschen“ dazu beizutragen, dass alte Menschen auch bei Hilfebedarf, sei dies durch Behinderungen, Pflegebedürftigkeit, Demenz oder Ängste bedingt, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen können und sie dafür die erforderlichen Unterstützungsmaßnahmen erhalten. Alle, sowohl völlig selbstständige als auch die hilfebedürftige alte Bürger, wollen wir zu der Erkenntnis und vielleicht auch Einsicht ermutigen, dass sie von der Gesellschaft weiterhin beachtet und gebraucht werden. Das in Deutschland bestehende Sozialsystem hält ein sehr breit gefächertes Spektrum an Hilfe- und Unterstützungsangeboten vor, man muss sie nur kennen und sie gezielt einzusetzen wissen. Dafür ist dieses Buch mit entsprechenden Hinweisen und Ratschlägen reichlich versehen. Die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen werden angeführt. Unsere Vorstellungen über eine weitgehend selbstbestimmte Lebensgestaltung alter Menschen gibt einen guten, verbindenden Rahmen für eine professionelle Soziale Arbeit im Alter. Ein Handeln der Gesellschaft nach dieser Maxime hilft wohl am ehesten, den demografischen Herausforderungen gewachsen zu sein. Wir hoffen, dass alle sozialen Berufen und auch Ehrenamtliche in den verschiedenen Bereichen der Altenhilfe von diesem Buch profitieren können. Das betrifft auch Sozialarbeiter und Soziale Berufe in Aus- und Weiterbildung. Gleichfalls schließt dies die Aufforderung zur Eigeninitiative und Selbsthilfe alter Menschen ein, so weit es ihnen möglich ist. Gerade dieser Aspekt wurde im Kapitel zum bürgerschaftlichem Engagement besonders berücksichtigt. Am Schluss dieser Einführung möchten wir darauf verweisen, dass die Autoren und Autorinnen der einzelnen Kapitel die Inhalte jeweils selbst verantworten. Die in diesem Buch verwendete Bezeichnung „Soziale Arbeit“ bezeichnet die Aufgabenbereiche aller in der Sozialen Arbeit angesiedelten Berufe. Diese Definition von Sozialer Arbeit gilt ebenso für die dazu führenden Ausbildungswege. Damit wird gleichzeitig die Abgrenzung zu sozialem Handeln und Tätigsein durch andere Berufsgruppen, von Ehrenamtlichen oder anderen sozial engagierten Menschen deutlich. Die überwiegend männliche Form der Berufs- und Personengruppenbezeichnungen in diesem Buch dient allein der besseren Lesbarkeit, ist also pragmatisch bedingt. Natürlich sind gleichfalls alle Frauen der jeweiligen Personengruppen gemeint, also auch Sozialarbeiterinnen, Ärztinnen, Migrantinnen oder Nutzerinnen. Wir freuen uns über Ihre Hinweise und Kritik und wünschen Ihnen, dass Sie der Arbeit mit alten Menschen (weiter) Freude und Erfolge abgewinnen. Prof. Dr. med. Christian Zippel, Sibylle Kraus Juni 2011 16


1. Kapitel Demografische Grundlagen: Die Entjungung des Wohlfahrtsstaats geht weiter David Kramer In der öffentlichen Wahrnehmung der demografischen Herausforderung hat sich in letzter Zeit eine Menge getan. Wurde jahrelang das Thema verdrängt oder belächelt, so wird inzwischen ernsthaft darüber debattiert. Heute weiß fast jeder, dass wir zu viele Alte oder zu wenige Babys oder zu wenig Geld oder alles zusammen haben. Nun zeigt sich auch eine weitere Problemlage: Angeblich stehen wir in der Pflege und im Gesundheitswesen – wie auch in anderen Wirtschaftszweigen – vor einem Fachkräftemangel. In Wirklichkeit ist der Fachkräftemangel in der Pflege ein Nebenprodukt normaler sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen. Die traditionellen „provider of last resort“ auf diesem Gebiet, nämlich Töchter und Schwiegertöchter, stehen prozentual immer weniger zur Verfügung, obwohl durch die Pflegeversicherung in Deutschland diese traditionell nicht durch Lohn und Tarifvertrag geregelte Dienstleistung zumindest teilweise monetisiert und geregelt wurde. Die Gründe, warum Pflege – sowohl beruflich wie auch in der Familie – nicht ausreichend attraktiv ist, dürften komplex sein. Auf jeden Fall sind diese Gründe bisher wenig erforscht. Laut einer Studie aus dem Jahr 2009 arbeiten Pflegekräfte in der Altenhilfe durchschnittlich 8,4 Jahre in ihrem Beruf, Pflegekräfte in Krankenhäusern dagegen 13,7 Jahre. Das heißt, das sich abzeichnende Problem des Fachkräftemangels in der Altenpflege ist noch erheblich schärfer als in der stationären Krankenpflege. Darum ist es sehr bedeutsam angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Es wird deutlich, dass Berufe wie Altenpfleger und Sozialarbeiter in der Altenhilfe attraktiver gemacht werden müssen. Eine bessere Entlohnung kann dabei nur ein Teil der Lösung sein, sondern ebenso Ausbildung, Arbeitsbedingungen wie auch gesellschaftliche Anerkennung. Bereits heute arbeiten sehr viele Sozialarbeiter in der Altenhilfe, die Geriatrie eingeschlossen. Ihre Zahl wird zunehmen, zumal zusammen mit den demografischen Entwicklungen in Deutschland auch die Geriatrie an Bedeutung gewinnt. Trotz unübersehbarer Fortschritte in den letzten Jahren sind in den Lehrplänen der Hochund Fachhochschulen für Sozialarbeit – allerdings im sehr unterschiedlichen Maß – die Inhalte und Aufgaben der Sozialen Arbeit bei alten Menschen oft noch unterrepräsentiert. Das mag an mangelndem Interesse vieler Studierender liegen, für die Fragen des hohen Lebensalters und der Altenhilfe noch in zu weiter Ferne liegen. Eine 2002 an der Alice-Salomon Arbeitskreis Ausbildungsstätten für Altenpflege (2009).

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david kramer

Hochschule Berlin von David Kramer, Rolf Landwehr und Bernd Kollek durchgeführte Studie zu den professionellen „Werten“ von Studierenden der Sozialarbeit im Hauptstudium belegte empirisch die bis dahin eher anekdotisch getragene Vermutung, dass die junge Generation von angehenden Sozialarbeitern sich noch nicht wirklich für Altenhilfe und Geriatrie habe begeistern können. Die Ergebnisse dieser Studie, die Teil einer groß angelegten internationalen Untersuchung war, zeigen, dass die befragten Berliner Studenten in Zukunft weniger gern mit Senioren arbeiten möchten als mit allen anderen Altersgruppen.Von 16 angebotenen Arbeitsstellen im sozialen Bereich galt „Altersheim“ als am wenigsten attraktiv, die „Tageseinrichtung für Senioren“ lag an drittletzter Stelle. Darüber hinaus: Von 18 angebotenen Betroffenengruppen, mit denen künftige Sozialarbeiter arbeiten könnten, rangierten am Ende der Beliebtheitsskala abgeschlagen als Nr. 18 „Chronisch kranke Alte“. Übrigens: „Chronisch Kranke“ rangierten wesentlich höher in der Beliebtheitsskala. Es scheint nicht so sehr die chronische Krankheit zu sein, die abstößt, sondern offenbar das Alter. Es gibt kaum Hinweise, dass sich dieses Bild in den letzten Jahren wesentlich geändert hat.

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Mehr Demografie wagen

Die Demografie ist die Wissenschaft von den Entwicklungen der Bevölkerung. Sie hat mehr mathematischen Charakter als geisteswissenschaftliche Bezüge. Sie analysiert auf der Basis wissenschaftlicher Untersuchungen recht nüchtern Bevölkerungsbewegungen. Nicht nur in planerischer Hinsicht ist die Demografie für das deutsche Sozialsystem von erheblicher Bedeutung. Denn durch die Art der umlagebasierten Finanzierung der tragenden Systeme der Sozialversicherung in Deutschland werfen die vorhersehbaren, mittel-fristig nicht mehr umkehrbaren oder kompensierbaren demografischen Entwicklungen ernsthafte Fragen auf. Aber wo es Schatten gibt, muss es auch Licht geben. Die Soziale Arbeit kann sehr viel zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen beitragen, wenn sie rechtzeitig diese erkennt und entsprechende Konsequenzen zieht. Bis vor kurzem gab es in der deutschen Öffentlichkeit eine gewisse Zurückhaltung bei der Erörterung von demografischen Befunden.Vielleicht hat dies damit zu tun, dass das Mathematische an der Demografie hier und dort eine seelenlose Technokratie suggeriert. Aber nur wenig ist für das Gemeinwesen so folgenreich wie die Entwicklung seiner Bevölkerung. Auch die beruflichen und wissenschaftlichen Vertreter der Sozialen Arbeit scheinen die Tragweite der demografischen Entwick Kramer et al. 2003, S. 88-91

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1. kapitel: demografische grundlagen

lungen in Deutschland nur langsam zu begreifen. Diese sind geprägt besonders von zwei grundlegenden Tendenzen: • die Gesamtbevölkerung sinkt kontinuierlich, und • der Anteil alter Menschen erhöht sich ständig. Nach realistischen Annahmen sinkt die Einwohnerzahl Deutschlands von 1998 bis 2030 von 82,1 Millionen auf 77,5 Millionen Im Jahr 2050 wird sie bei 68 Millionen ankommen, wobei größere Zuwanderungszahlen schon eingerechnet sind. Der Anteil der über 60-Jährigen wird sich von 21,8 % im Jahr 1998 schon 2030 auf 37,9 % und 2050 auf über 40 % erhöhen. Noch deutlicher steigt der Anteil über 80-jähriger Personen, nämlich von 5,2 % 2010 auf 14,5 % im Jahr 2050. Genauere Zahlen sind jedoch wegen noch offener Einflüsse durch die Geburtenzahlen, Entwicklung der Lebenserwartung sowie Zahl und Alter von Zugewanderten gegenwärtig nicht vorherzusagen, was aber an den grundsätzlichen Entwicklungen nur geringfügig etwas ändern kann. Die Ursachen konzentrieren sich ebenfalls auf zwei – gegensätzliche – Trends: • die Geburtenrate sinkt und • die Lebenserwartung steigt. Selbst ein großer Zuzug von außen fängt den Geburtenrückgang nicht ab, wenn er auch manche demografischen Fehlentwicklungen kurzfristig abzuschwächen vermag, abgesehen davon, dass ein großer Zuzug von außen schwer überschaubare Probleme mit sich bringen dürfte. Zu bedenken ist folgender Befund von Birg: Will man den Anstieg des Altenquotienten allein durch die Einwanderung Jüngerer verhindern, dann müsste Deutschland bis 2050 188 Mio. Einwanderer aufnehmen. Sogar viel gemäßigtere Annahmen führen zu dem Ergebnis, dass bis 2100 Neueinwanderer und deren Nachkommen eine deutliche Mehrheit in der Bundesrepublik Deutschland bilden würden. Erklärungen für die problematischen Entwicklungen in Deutschland lassen sich auch aus demografischen Untersuchungsergebnissen ableiten. So sind die Zusammenhänge zwischen der Geburtenzahl pro Frau und der Lebenserwartung recht überzeugend. In den Ländern mit den höchsten Lebensstandards, gemessen am so Birg (2001): der hohe Einwanderüberschuss jünger Menschen wird bei etwa 170 Tsd/J. liegen. S.103. Statistisches Bundesamt, 12.koordinierte Vorausberechnung 2010 Birg 2001, S. 117.

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david kramer

genannten Human Development Index (HDI) , liegen die Geburtenzahlen pro Frau zwischen 1,1 und 1,8, in Deutschland bei 1,36. Für eine Bestandserhaltung der Bevölkerung (= Replacement-Rate) wären aber 2,1 Kinder pro Frau erforderlich. Dagegen kommen z. B. in der Republik Kongo und Äthiopien auf eine erwachsene Frau durchschnittlich mehr als 6 Kinder. Auch die Zahl der Frauen, die sich zur Kinderlosigkeit entschließen oder keine Kinder bekommen können, hat kontinuierlich mit steigendem Lebensstandard zugenommen. So bringen zur Zeit in Deutschland rund 30 % aller Frauen bis zum 32. Lebensjahr keine Kinder mehr zur Welt, unter Akademikerinnen liegt dieser Anteil sogar bei 40 %. In diesen Zahlen mögen sich zwar auch Schwierigkeiten wiederfinden, die Familien mit Kindern im gesellschaftlichen Leben zu erwarten haben, sie sind aber noch mehr das Ergebnis kulturell-ökonomischer Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert. Es kann als gesichert gelten, dass die Geburtenzahlen um so geringer sind, je umfassender die sozialen Sicherungssysteme sind. Änderungen von uralten Kulturmustern deuten sich an. Wer keine Kinder hat, kann auch keine Enkel haben. So wird annähernd die Hälfte der Bevölkerung spätestens in der übernächsten Generation keine Nachkommen mehr haben. Ähnliches gilt für andere verwandtschaftlichen Beziehungen – Geschwister, Tanten, Neffen oder Nichten, Cousins oder Cousinen. Sowohl die Kernfamilien wie auch die erweiterten Familien ändern nicht nur ihre Funktionen, sie bleiben weitgehend aus. D. h. eine Rückkehr auf das, was Politik- und Sozialwissenschaftler „Familismus“ nennen, erscheint – schon mangels Masse – in absehbaren Zeiträumen höchst unwahrscheinlich. Die Abb. 1 und 2 zeigen die fortschreitende Verformung der Alterspyramide in Deutschland während des weiteren Verlaufs des vorigen Jahrhunderts. Auf der linken Seite von Abb. 2 ist die Situation 1950 und 1999 nach zwei verloren gegangenen Weltkriegen, einer Wirtschaftsdepression und fast beispiellosen politischen Wirren zu sehen. So sieht man z. B. einen augenfälligen Einbruch bei verschiedenen Altersgruppen, besonders bei den 36- bis 41-Jährigen. Ist es überraschend, dass diese Menschen zwischen 1915 und 1920 geboren wurden? Das HDI fasst die Lebenserwartung, das Pro-Kopf-Einkommen und der Alphabetisierungsgrad eines jeden Landes zu einem vergleichbaren Wert zwischen 0 und 1 zusammen. Birg 2001,S. 24. Seit 1856 hat jeder Frauenjahrgang in Deutschland weniger Kinder zur Welt gebracht als der jeweils vorangegangene. Birg 2001, S. 51. Es handelt sich um einen recht stabilen Trend. „Familismus“ bezeichnet übertriebene, fortschrittshemmende Abhängigkeit und Rücksichtnahme auf Familie und Sippe. Siehe eine klassische Analyse des „Familismus“ am Beispiel eines italienischen Dorfes (Banfield 1958) und (Fukuyama 1995).

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1. kapitel: demografische grundlagen

Abb. 1: Altersstruktur in Deutschland 1910

Abb. 2: Altersstruktur in Deutschland 1950 und 1999

Quelle: Statisches Bundesamt 2000 -15 – 0346, S.14 21


david kramer

Es fällt auf, dass bestimmte Personen in allen drei abgebildeten „Pyramiden“ enthalten, praktisch „zu Hause“ waren, ohne dass wir sie aus der Demografie heraus persönlich identifizieren können. Fast wie bei einer Mumie können wir lediglich feststellen, dass sie mit von der Partie waren, ohne dass wir viel über sie wissen können. Die in der untersten Linie der Pyramide von 1910 (Linie 0) abgebildete Personen sind – soweit damals noch am Leben – mit den Personen in Linie 40 von 1950 und Linie 89 von 1999 identisch. Einige wenige Menschen haben also die gesamte Entwicklung der Bevölkerungsstruktur in Deutschland persönlich begleitet. Es sind immer noch einige von diesen bewunderten und bestaunten Menschen unter uns. Aus der Demografie erfahren wir nicht viel über sie, außer dass die meisten von ihnen Frauen sind. In einem seiner berühmtesten Fälle („the Silver Blaze case“) erkannte Sherlock Holmes den ausschlaggebenden Clou darin, dass ein Hund nicht bellte; in ähnlicher Weise ist hier beachtenswert, wie viele Menschen zu bestimmten Zeiten nicht geboren wurden. Die „Pyramide“ für 1999 illustriert eine weitere Besonderheit: das leichte Plus des männlichen Geschlechts im Kindes- und Arbeitsalter, gekoppelt mit dem viel stärkeren Überschuss von Frauen im Rentenalter. Das Reich der alten Menschen wird zahlenmäßig von Frauen dominiert. Durch die Kombination von Geburtenrückgang und langer Lebenserwartung kann sich in einem Land wie Deutschland auch die politische Macht zugunsten der Senioren verschieben. Sie repräsentieren einen steigenden Anteil der Wahlberechtigten, stellen eine wachsende Minderheit in Großverbänden wie den Gewerkschaften dar, gründen zunehmend eigene Organisationen und sind in Parteien und Seniorenbeiräten immer stärker präsent. Altbundespräsident Roman Herzog hat öffentlich befürchtet, wir sähen gerade Vorboten einer „Rentnerdemokratie“.10 Laut Untersuchungen von Prof. Oskar Niedermayer sind beide große Volksparteien Deutschlands in ihrer Mitgliederstruktur jetzt schon von den Alten fast mehrheitlich dominiert: in der CDU sind 48 % der Mitglieder über 60 Jahre alt, in der SPD sind es 46,7 %. Gegenüber der Linkspartei wirken diese beiden Parteien fast schon jugendlich, denn 68,1 % derer Mitglieder sind über 60 Jahre alt. Der Anteil über 60-Jähriger lag in der FDP-Mitgliedschaft mit 34,9 % deutlich niedriger. Unvollständige Angaben zu den Grünen ergaben einen Prozentsatz von 11,5 %.11 Enquete-Kommission „Demografischer Wandel“ 2002, S.49 10 Spiegel.de 2008: „Herzog warnt vor „Rentner-Demokratie“. 11 Bei den Grünen allerdings ist der Anteil der 30-59 Jährige unvergleichlich größer als bei allen anderen Parteien.Vgl. Niedermayer 2008, S. 4

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1. kapitel: demografische grundlagen

Viele Warner und Mahner ergehen sich in düsteren Prognosen über Verteilungskämpfe zwischen den Generationen. Man muss aber nicht jeden KassandraSpruch für bare Münze nehmen, um zum Ergebnis zu kommen, dass bislang ein angemessener Ausgleich zwischen den Generationen politisch stabil gehalten werden konnte. 2010 gab es gut 4 Millionen Menschen in Deutschland, die schon das 80. Lebensjahr erreicht haben. Für 2030 wird diese Zahl vom Statistischen Bundesamt auf fast 7 Millionen und für 2050 auf rund 10 Millionen geschätzt.12 Die Zahl der 100-Jährigen und älteren nimmt ebenfalls dramatisch zu: Von rund 12.000 im Jahre 1998 auf etwa 82.000 nach eher konservativen Annahmen um die Jahre 2065/70.13 Das Statistische Bundesamt macht keine getrennten Angaben über den Anteil von 100-Jährigen in Deutschland. Die Sammelposition „95 und älter“ zeigt allerdings, dass zum Stichtag 31.12.2004 insgesamt 147.749 Bürger 95 Jahre oder älter waren, 39.379 davon waren Männer und 108.370 Frauen. Ein Forscher der Website „Metagrid – die Schlaumeier-Community“ hat herausgefunden, dass der Bundespräsident jedes Jahr erstmals zum 100. Geburtstag Glückwünsche übermittelt. Ab dem 105. Geburtstag gratuliert er den Jubilaren jedes Jahr. Unterstützt wird er dabei vom Bundesverwaltungsamt, das die gesamte bundesweite Abwicklung vornimmt. Die Zahl der Grußadressen 2004 betraf zum 100. Geburtstag: 4.123 Jubilare, zum 111. Geburtstag 2 Jubilare. Das Bundespräsidialamt wird sich künftig auf erhebliche Mehrarbeit einstellen müssen. Die Altersverschiebungen bedeuten, dass bis 2050 immer mehr Rentner von immer weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter finanziell unterhalten werden müssen. Bis 2100 (denken Sie bitte daran, dass etliche Menschen schon geboren sind, die das Jahr 2100 noch erleben werden) wird es sogar mehr Menschen geben, die mind. 60 Jahre alt sind, als Menschen im Alter zwischen 20 und 59. Die Berechnungen bis 2050 sind sehr zuverlässig, darüber hinaus beschreiben sie auch die anzunehmende Faktenlage (Abb. 3). Allerdings können durch Kriege, Massaker oder schlimme Hungersnöte die demografischen Trends beeinflussen. Auch die Natur kann das, z. B. durch Überschwemmungen, Dürre, Erdbeben oder furchtbare Epidemien, siehe AIDS, mit außerordentlich negativen Auswirkungen auf die Altersstruktur. Es ist zu hoffen, dass nichts davon eintritt. Irgendwann im 19. Jahrhundert begannen die Menschen in Deutschland, in Permanenz weniger Kinder zu erzeugen, als zur Erhaltung des demografischen Gleichgewichts notwendig gewesen wäre. Der letzte Jahrgang in Deutschland, der 12 Statistisches Bundesamt 2008a, S. 22 13 Birg/Flöthmann 2001 47b, S. 209-212

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Abb. 3: Altersaufbau der Bevรถlkerung Deutschlands 2006/2050

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1. kapitel: demografische grundlagen

sich durch die Zahl seiner Kinder ersetzte, war 1892.14 Kurzfristig waren die Auswirkungen kaum bemerkbar, denn zunächst haben sie nur die Steilheit der Alterspyramide erhöht. Längerfristig konnten sie nicht mehr übersehen werden. Die Replacement-Rate ist die Geburtenrate, die notwendig ist, um die Elterngeneration zahlenmäßig zu ersetzen. Diese Rate liegt, wie gesagt, bei 2,1 pro Frau. Allerdings kann sich die reale Bevölkerungsstruktur trotzdem infolge von Änderungen in der Lebenserwartung, durch Krieg, Naturkatastrophen u. a. m. etwas verschieben. Wenn die Geburtenquote allerdings einige Jahrzehnte lang hinter der Replacement-Rate bleibt, kann irgendwann nicht mehr von einer „Alterspyramide“ gesprochen werden. Zu einer Pyramide fehlen dann an der Basis die Kinder. Um mit Ursula Lehr (2003) und Franz-Xaver Kaufmann (2005) zu sprechen: Deutschland leidet nicht so sehr an einer Überalterung, sondern an einer Unterjüngung durch zu wenig Kinder. Dass die Bevölkerungsstruktur in Deutschland aufgrund sowohl der langfristigen Trends in der Geburtenrate wie auch bei der Lebenserwartung schon lange nicht mehr pyramidenförmig ist, kann anhand der Abb. 2 und 3 nachvollzogen werden. So nimmt es nicht wunder, dass der Lebensbaum in Deutschland, wie die Altersstruktur der deutschen und zugewanderten Bevölkerung bezeichnet wird, eine zunehmende Verlagerung in ältere Jahrgänge widerspiegelt. Die Abb. 4 illustriert die kommenden Verschiebungen zwischen den Altersgruppen in der Gesellschaft. Ein steiler Anstieg der Altersgruppe der über 60-Jährigen bis 2030 ist bereits im vollen Gange. Dies zeigt, wie stark das demografische Gewicht der älteren Menschen in der Gesellschaft wird. Diese Situation ist beispiellos in der Geschichte und beinhaltet eine sehr ernste Herausforderung für den demokratischen Wohlfahrtsstaat. Um wie viel älter die Gesellschaft wird, hängt nicht zuletzt von der durchschnittlichen Lebenserwartung ab. In Deutschland lag 2007/09 die Lebenserwartung für männliche Neugeborene bei 77,33 und für weibliche Neugeborene bei 82,53 Jahren.15 In Afrika bewegen sich dagegen diese Zahlen seit vielen Jahren um das 50. Lebensjahr.

14 Miegel 2002, S.14-15 15 Statistisches Bundesamt 2010

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Abb. 4: Die Verschiebung der Altersstruktur in Deutschland 1998-2100

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Auswirkungen der demografischen Entwicklungen auf das Gesundheits- und Sozialwesen

Die demografischen Bewegungen konfrontieren unsere Gesellschaft mit bislang ungekannten Problemen. Trotzdem sollten sie nicht vorschnell mit negativen Bewertungen verbunden werden, wie es Begriffe wie „Überalterung“, „demografischer Niedergang“ oder gar „negative Bevölkerungsentwicklung“ nahelegen. Eine kritiklose Übernahme der genannten Worte könnte sehr schnell in eine diskriminierende Einschätzung alter Menschen münden. Die vorgelegten Zahlen sollten vielmehr differenziert interpretiert werden. So ist es zunächst eine Errungenschaft, dass Menschen im Durchschnitt länger und gesünder leben, die wir begrüßen sollten. Die Tatsache, dass die sozialen Sicherungssysteme durch die demografischen Entwicklungen immer stärker belastet werden, verlangt Reformen und Reform­ debatten, denn ohne Reformen im Sozialgefüge kann die heutige soziale und medizinische Versorgung nicht unbegrenzt in gleicher Qualität aufrecht erhalten werden. Für die Soziale Arbeit sind einige Daten besonders zu betrachten: 26


1. kapitel: demografische grundlagen

2.1 Zahl und Größe der privaten Haushalte Die Zunahme der Zahl und Größe privater Haushalte ist nicht nur durch die altersdemografischen Entwicklungen vorgegeben, sondern sie sind auch Ausdruck von Einstellungen, Haltungen und des vorherrschenden Wertesystems. 1870 gehörten zu einem Haushalt durchschnittlich über 4,5 Personen, im Jahr 1950 waren es immerhin noch um die 3 Personen. Heute liegt diese Zahl bereits bei 2,08 Personen, schon 2018 wird sie vermutlich unter die 2-Personen-Grenze rutschen.16 Ähnliche Entwicklungen sind im gesamten europäischen Raum zu beobachten, allerdings unterschiedlich stark. In der Europäischen Union liegt gegenwärtig der Durchschnittswert bei 2,4 Personen/Haushalt. Dagegen betrug die durchschnittliche Haushaltsgröße im Jahr 2000 in der Türkei immer noch 4,6 Personen.17 In Deutschland geht die Abnahme von Mehrpersonenhaushalten zwangsläufig parallel mit einer relativ konstanten Zunahme von Ein-Personen-Haushalten (= Singularisierung). Gegenüber 1950 ist heute der Anteil Alleinlebender an der Gesamtbevölkerung in den alten Bundesländern zweieinhalbfach so hoch. In den neuen Bundesländern ist er nicht ganz so hoch, aber die Tendenz ist steigend.18 An diesen Entwicklungen wirken alte Menschen indirekt und direkt mit. Einerseits ist die Kluft zwischen der Lebenserwartung der Männer und Frauen zugunsten der Frauen immer noch groß, was allgemein zu längeren Witwenzeiten führt, andererseits entschließen sich auch immer mehr alte Menschen, lieber allein zu leben als in unbefriedigenden Partnerschaften zu verbleiben.

2.2 Zahl der berufstätigen Bevölkerung zur Alterspopulation Die demografischen Entwicklungen haben erhebliche ökonomische Auswirkungen. Eine der wichtigsten könnte sein, dass die niedrigen Geburtenraten und der Bevölkerungsrückgang zu Wohlstandseinbußen führen. Diese Konsequenz kann zwar vermutet, aber nicht eindeutig bewiesen werden, weil schon eine Wachstumsrate von jährlich etwa 1,7 % des Bruttoinlandprodukts bis zum Jahr 2040 zu einer Verdopplung des Volkseinkommens führen könnte. Dieser Streit unter Bevölkerungs16 Statistisches Bundesamt 2007a, S.11 17 United Nations (UNO): Economic Commission for Europe 2005 18 Enquete-Kommission „Demografischer Wandel“ 1995, S. 263.Vgl. Rübenach/Weinmann 2008.

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wissenschaftlern, Ökonomen und Politikern ist noch nicht entschieden, zumal bei einer Beibehaltung der volkswirtschaftlichen Kraft sogar das Pro-Kopf-Einkommen durch sinkende Bevölkerungszahlen steigen müsste. Hier fehlt es noch an präzisen Daten aus einer Forschung, die sich mit den Auswirkungen der demografischen Veränderungen befasst. Gesichert ist, dass sich das Verhältnis Berufstätiger zu Rentnern weiter in Richtung Rentner verschiebt, Berufstätige also für immer mehr Rentner aufkommen müssen.

2.3 Zunahme des Migrantenanteils Obwohl es unrealistisch ist, auf die Rettung des demografischen oder sozialversicherungsmäßigen Status-Quo durch Einwanderung zu hoffen, soll das keineswegs heißen, dass nicht der Anteil von Migranten und ihre Nachkommen in Deutschland zu berücksichtigen wäre. Zunächst muss jedoch geklärt werden, was unter „Migrant“ zu verstehen ist und was nicht. Die formale Staatsangehörigkeit ändert sich mit jeder Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts und eignet sich deshalb nur bedingt als Sozialindikator. Wenn von einem weiteren Zuzug aus anderen Ländern nach Deutschland gedanklich abgesehen wird und nur bisher Zugezogene und diejenigen, die in Familien von bisher Zugezogenen geboren wurden, als „Migranten“ definiert, wird bald festzustellen sein, dass ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Deutschlands zunehmen wird. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass die „Migranten“, trotz Anpassungstendenz hin zur deutschen Geburtenrate, immer noch mehr Kinder pro Frau haben als der Durchschnitt der einheimischen Deutschen.19 Andererseits ist die Lebenserwartung der „Migranten“ insgesamt etwa 5 Jahre länger als die der Einheimischen. Die Differenz wird meistens auf den „Selektionseffekt“ bzw. „healthy worker effect“ zurückgeführt, wonach besonders gesunde Menschen dazu neigen, auszuwandern.20 D. h. auch ohne weitere Zuwanderung würde der Anteil von „Migranten“ an der Bevölkerung insgesamt und auch innerhalb der alten Bevölkerung in Deutschland zunehmen. Die Bereitstellung von Pflegeangeboten, die den Vorstellungen der „Migranten“ gerecht werden, gehört zu den Aufgaben, die Soziale Arbeit in der Altenarbeit vorantreiben sollte (s. 10. Kapitel). 19 Trotzdem bleibt die Fertilität der „Migrantinnen“ mit 1,9 deutlich unter der Replacement-Rate 20 Birg 2001, S. 103.

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1. kapitel: demografische grundlagen

Eine bestimmte Form der Altenarbeit, nämlich die von Migrantinnen – oft von illegalen Migrantinnen aus Osteuropa – muss erwähnt werden. Schätzungsweise etwa 100.000 Frauen arbeiten in Deutschland als „Live-in-Pflegekräfte“ im 24-StundenEinsatz. Ohne sie wäre die Pflege erheblich teurer, für die betroffenen Familien, aber auch für den Staat. Die soziale Leistungen von nichtdeutschen Pflegekräften sollte durch die Einbeziehung in das soziale Sicherungssystem sicher gestellt werden. Die Reform der Pflegeversicherung 2007 wich dieser Frage durch Nichtbefassung noch aus.21 Es ist aber unumgänglich hier Lösungen zu finden, denn nach jüngeren Berechnungen werden 2025 etwa 152 000 Pflegekräfte fehlen.22

2.4 Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme 2.4.1 Rentenversicherung Um den Altersquotienten, d. h. das Verhältnis der Menschen im arbeitsfähigen Alter zu denen im Rentenalter konstant zu erhalten, wäre – bei gleich bleibenden Altersparametern – eine sehr hohe Zuwanderung junger Menschen aus anderen Ländern nötig.Während 2000 noch rund 35 Millionen Menschen erwerbstätig waren, so können das nach den heutigen Arbeitsmarktbedingungen im Jahr 2030 nur noch etwa 30 Millionen sein, wobei eine stärkere Zuwanderung schon einberechnet wurde. Da Einwanderung allein keine Lösung bietet, wurde das Ruhestandsalter erhöht. „Reformen“, die in den letzten Jahren beschlossen wurden, beginnen jetzt schon Wirkung zu zeigen. 1992 wurden die vorgezogenen Altersgrenzen für Frauen (früher 63), für Arbeitslose (früher 60) und für langjährig Versicherte (früher 63) auf 65 angehoben – mit einer Übergangszeit von 2001-2014. 1997 wurde die Übergangszeit verkürzt auf 2004. Im Jahre 2004 wurde die Anhebung der vorgezogenen Altersgrenze für Schwerbehinderte von 60 auf 63 beschlossen. All dieses führt dazu, dass 2004 fast die Hälfte der Neurentner mit Abschlägen in Rente ging. Eine Trend­ umkehr beim durchschnittlichen Zugangsalter ist jedoch erreicht worden. Stufenweise soll das allgemeine Rentenalter in den nächsten Jahren auf 67 Jahre erhöht werden. Die Kombination von längeren Beitragszeiten und altersbedingten Abschlägen soll es ermöglichen, die prozentualen Abgaben der arbeitenden Bevölkerung zu senken. So sehr eine Konsolidierung der Rentenkassen zu wünschen ist, so groß ist die Gefahr, dass die „Reformen“ immer nur einige Jahre halten. 21 Vgl. Meyer-Timpe 2007a, S. 27 und 2007b, S. 28. 22 Statistische Bundesamt 2010, www.destatis.de

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Abb. 5: Durchschnittliches Zugangsalter der Rentenzugänge im Zeitablauf

Grafik von Ruland [o.D.], S. 31.

Diese Zusammenhänge deuten an, welche Folgen die demografischen Entwicklungen auf Rentenalter und Rentensystem haben werden. Die Veränderungen der letzten Jahre im Rentensystem sind wahrscheinlich nur Vorstufen von weiteren, tiefer greifenden Reformen. Entweder steigen die Rentenbeiträge für die immer geringer werdende berufstätige Bevölkerung, oder das Rentenniveau wird niedriger, oder das gegenwärtig noch dominierende Umlageverfahren wird als Hauptpfeiler der Altersvorsorge ersetzt durch ein anderes Finanzierungsverfahren. Der Begriff Umlageverfahren beschreibt das heutige Rentensystem, in dem die Rentenbeiträge der Berufstätigen unmittelbar an die Rentnergeneration weitergeleitet werden. Auf diesen Umstand muss hingewiesen werden, denn viele Menschen in Deutschland meinen, mit ihren Beiträgen zur Rentenversicherung Anteile an einem staatlich garantierten Versicherungsfonds zu erwerben. Tatsächlich nehmen sie nur teil an einer Umverteilungsmaschinerie. Der heute noch gelobte „Generationenvertrag“ wird wohl auf Dauer nicht aufrechterhalten werden können, d. h. u. a., dass von der älteren Generation ein größerer Beitrag als bisher für das gesellschaftliche Leben erwartet werden muss. Die heute noch Arbeitenden werden sich wohl neben dem jetzt bestehenden System zusätzlich eine kapitalgedeckte Alterssicherung aufbauen müssen. Die staatliche Rentenversicherung lebt heute schon fast „von der Hand in den Mund“. In seinem Schlussbericht hat die Enquetekommission „Demografischer Wandel“ des Bundes30


1. kapitel: demografische grundlagen

tags bereits 2002 festgestellt: „Wesentliche Aufgabe ist daher ein noch deutlicherer Ausbau der privaten wie der betrieblichen Altersvorsorge im Wege der Kapitaldeckung:Wenn dieser Ausbau erfolgt, ist darauf zu achten, dass dieser nicht in Konflikt gerät mit der gewollten engen Beziehung zwischen Vorleistung und späterer Gegenleistung in der Gesetzlichen Rentenversicherung. Die Alterssicherung wird sich in Zukunft aus beiden, aus umlagefinanzierten und kapitalgedeckten,Vorsorgeformen zusammensetzen“.23 Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass das Rentensystem kollabieren könnte. Aber das alte Mantra „die Renten sind sicher“, stimmt nur unter den berechtigten Annahmen, dass • das Rentenniveau weiterhin absinken wird, • der Renteneintritt zunehmend hinausgeschoben wird und • die Zahl der Versicherten, die mit beträchtlichen Abschlägen in Rente gehen, weiter ansteigen wird.24 Wahrscheinlich werden alle diese Faktoren zur Geltung kommen. Der Beitrag der Rentnergeneration kann ebenso mehr Freiwilligenarbeit und Bürgerschaftliches Engagement bedeuten wie auch eine gesundheitsbewusste, kompetenzerhaltende Lebensweise. Die Balance zwischen Alt und Jung muss neu gefunden werden. Die Soziale Arbeit kann muss ihre Sachkenntnisse einbringen, um die altersbedingten Belastungen für den Einzelnen und die Sozialsysteme so gering wie möglich zu halten. Bei den sich abzeichnenden Systemveränderungen wird die Soziale Arbeit auch reichlich damit zu tun haben, solchen alten Menschen Unterstützung au geben, die sich nicht rechtzeitig auf die Systemveränderungen einstellen oder einzustellen vermögen. 2.4.2 Krankenversicherung Die Krankenversicherung hat mit kräftigen Finanzproblemen zu tun. Im Lichte der Alterungsprozesse kann die Prognose nicht rosig sein. Es gibt zuverlässige Statistiken über die Behandlungskosten bei eingetretener Krankheit. Bemerkenswert ist die Verteilung von Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht (Abb.6 und 7). So sind sehr alte Frauen pro Kopf die teuersten „Kunden“ des Gesundheitssystems. Die durchschnittlichen Krankheitskosten 2004 für Frauen über 85 Jahre und mehr lagen bei 15.680 €. Die durchschnittlichen Ausgaben für alte Männer waren zwar geringer, aber trotzdem wesentlich höher als in anderen Altersgruppen. So hat die Enquete-Kommission „Demografischer Wandel“ des Deutschen Bundestages 23 Enquete-Kommission „Demografischer Wandel“ 2002, S. 168 24 Vgl. Ruland [o.D.].

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Abb. 6: Krankheitskosten 2004

Abb. 7: Verteilung der Krankheitskosten

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die Vermutung geäußert, dass die Pro-Kopf-Ausgaben im Gesundheitswesen im Jahr 2040 bei 80-Jährigen rund 20mal höher sein werden als bei jungen Menschen. Die erheblich höheren Kosten im Alter resultieren vor allem aus dem Anstieg altersassoziierter Erkrankungen. So wurde für Mecklenburg-Vorpommern ausgerechnet, dass sich die höchsten Anstiege von 2005 bis 2020 durch höhere Fallzahlen an Demenz (+91,1 %), Herzinfarkt (+28,3 %), Diabetes mellitus (+21,4 %) und bösartige Erkrankungen des Dickdarms (+31 %) ergeben.25 Es passt vielleicht zu einer sich entjüngenden Gesellschaft, dass die Ausgaben für Kinder und Jungerwachsene stark unterproportional sind. Dies wirft die Frage auf, ob nicht Mehrausgaben bei diesen Altersgruppen für Prävention und Früherkennung einen größeren gesundheitspolitischen Ertrag (an zusätzlich gewonnenen aktiven, gesünderen Lebensjahren) erbringen würden? Den Problemen der Rentenversicherung kann vielleicht durch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit beigekommen werden, für die Krankenversicherung gibt es diese Möglichkeit nicht. Selbst wenn Menschen bis zu ihrem 90. Geburtstag arbeiten würden, würde das die Kosten nicht senken. Andererseits sinken die Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) tendenziell, weil Einnahmen durch die Beitragszahler sinken, d. h. die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben wird immer größer. Das Auseinanderklaffen der Schere könnte theoretisch über eine Erhöhung der Beitragssätze verringert werden, aber schließen ließe sich die Schere nicht. Es ist noch nicht abzusehen, was mit den bisherigen Regulativen der Krankenversicherung passiert (s. 20. Kapitel). Der medizinische Fortschritt wirft außerordentlich schwierige Frage der Finanzierung und der Verteilung auf. Eine weitgehend anerkannte Prognose der Entwicklung der Gesundheitskosten in Deutschland sieht bis 2040 jährliche Wachstumsraten bei den Gesundheitsausgaben von 1,4 % (gewichtetes Mittel) vor, allein aufgrund des medizinischen Fortschritts.26 Selbst wenn diese Prognose stimmt, kann es sein, dass die jährliche Steigerungsrate in Einzelbereichen – wie z. B. zeitweilig in den USA bei den Ausgaben für Rentner – wesentlich höher sind.27 Gerade die präventiven Ansätze der sozialen Gerontologie als Terminus für die soziale Altenarbeit werden künftig noch wichtiger sein, als sie es heute schon sind. In seinen Ausführungen in „Hintergrundinformation zu den Empfehlungen der Expertenkommission der Bertelsmann Stiftung Ziele in der Altenpolitik“ stellt Kruse fest, dass 70 % der mit dem Alter verbundenen Vorgänge beeinflussbar seien. 25 Siewert,U. et al. 2010 26 PROGNOS 1998, S. 83ff. 27 Breyer u. Ulrich 2000

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Abb. 8: Überlebenskurve für Männer und Frauen, 1875 – 2000

Berechnungen und Grafik von Felder (2005), S. 2-4; Quelle: Max-Plank-Institut für demografische Forschung Rostock

Eine positive körperliche und geistige Entwicklung könne bis in das hohe Alter durch Stärkung der Prävention gefördert werden. Obwohl die Menschen älter werden, ist es möglich, dass sie länger „jünger“ leben.28 Die statistische Entjüngung der Gesellschaft scheint durchaus mit einer Verbesserung der Lebensqualität im Alter vereinbar zu sein. Im Alter kommen die Probleme der Multimorbidität bzw. Polypathie zum Tragen (s. 2. Kapitel). Dieser Zustand geht oft den hochspezialisierten Strukturen des Gesundheitssystems gegen den Strich. Koordination und Kooperation unter den Subsystemen sind unterentwickelt. Nicht selten sind alte Patienten nicht mehr in der Lage, sich durch die Vielfalt der sozialen und medizinischen Angebote zu kämpfen und den bürokratischen Forderungen bei Anträgen gerecht zu werden. Neben den Gesundheitskosten, die durch die Verlängerung der Lebenserwartung verursacht werden, schlagen die Kosten des Sterbens zu Buche.Viele Gesundheitsökonomen haben errechnet, dass die letzten Monate vor dem Tod oft sehr teuer sind – unabhängig, in welchem Alter der Tod eintritt. Ethisch-verantwortliches Handeln wird auch darum bei künftigen Versuchen, die Gesundheitskosten unter Kontrolle zu halten, sehr wichtig sein. Die Lebenserwartung in Deutschland hat sich seit der Reichsgründung erheblich ausgeweitet. Anfang des 20. Jahrhunderts betrug die Lebenserwartung bei Frauen 48,3 Jahre und bei den Männern 44,8 Jahre. Ein männlicher Neugeborener hat28 Kruse 2005, S. 5

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te damals nur eine Wahrscheinlichkeit von 5 %, 80 Jahre alt zu werden. Heute ist die Wahrscheinlichkeit für einen Neugeborenen, diese Altersmarke zu erreichen, auf 45 % gestiegen. Bei weiblichen Neugeborenen hat sie sich von 6,5 % auf 65 % erhöht. Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Säuglings- und Kindersterblichkeit noch sehr hoch. Wenn ein Kind aber das fünfte Lebensjahr erreichte, so stabilisierte sich die Sterblichkeit. Dann verlief die Überlebenskurve über viele Jahre hinweg praktisch linear, sie fiel erst nach dem 60. Lebensjahr ab.29 Die starken Veränderungen der Überlebenskurve in den vergangenen 125 Jahren, die sich in den oben dargestellten Kurven (Abb. 8) niederschlagen, lassen sich als „Rektangularisierung“ treffend beschreiben.Vor hundert Jahren starben 2/3 der Deutschen vor ihrem 60. Geburtstag. Heute sind es dagegen weniger als 10 %. Da sich der Fußpunkt der Kurven nur wenig nach rechts bewegt hat, ist die Überlebenskurve im hohen Alter sehr steil geworden. D. h. „der Tod wurde im Verlauf des Jahrhunderts immer weiter ins hohe Alter verdrängt“.30 Diese historisch-demografische Tatsache hat für die sozialen Sicherungssysteme – insbesondere für das Gesundheitssystem – erhebliche Konsequenzen. Nicht nur das hohe Alter selbst, sondern auch die Häufung der Sterbefälle im hohen Alter erklärt die hohen Gesundheitsausgaben für alte Menschen.31 Die Gesundheitsreform 2007 beinhaltete Refor men v. a in vier Bereichen: • Die Einführung einer Krankenversicherung für alle (s. 20. Kapitel). • Eine Reform der Versorgungsstrukturen und der Kassenorganisation: Krankenhäuser dürfen ambulant behandeln. Palliativmedizin soll verbessert werden. Es gibt einen Rechtsanspruch auf Rehabilitation und auf häusliche Krankenpflege. Impfungen und notwendige Kuren sollen Pflichtleistungen werden. Die Versorgung mit Arzneimitteln soll sicherer und wirtschaftlicher werden. • Eine Reform der Finanzierungsordnung: Mit Einführung des Gesundheitsfonds ab dem 1. Januar 2009 zahlen alle Beitragszahler den gleichen Beitragssatz. Damit gelten – wie in der Gesetzlichen Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung – schon heute einheitliche Beitragssätze auch in der GKV. Jede Krankenkasse erhält pro Versichertem eine pauschale Zuweisung. Diese wird gleichzeitig nach Alter, Geschlecht und bestimmten Krankheitsfaktoren modifiziert. Dieser morbiditätsorientierte und zugleich einfachere Risikostrukturausgleich innerhalb des Gesundheitsfonds umfasst so die zwischen den Kassen ungleich verteilte Krankheitsbelastung der Versicherten. 29 Felder 2005, S. 3 30 ebd., S. 3 31 ebd., S. 2-6

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• Eine Reform der privaten Krankenversicherung (PKV): Ab 1. Januar 2009 müssen die Unternehmen der PKV einen Basistarif anbieten. Es besteht Kontrahierungszwang, Risikozuschläge oder -ausschlüsse gibt es im Basistarif nicht.32 Wie bei der Rente, so hebt die Enquetekommission „Demografischer Wandel“ auch im Bereich der Gesundheitspolitik die Bedeutung von Eigenverantwortung hervor: „Gesamtgesellschaftliche Aufgabe sollte dabei in erster Linie die Abdeckung existenzieller und essenzieller Risiken durch die Solidargemeinschaft sein. Unabhängig davon muss in Zukunft zuerst und zunächst jeder Einzelne für seine Gesundheit verantwortlich sein. Mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung müssen zum gesundheitspolitischen Grundkonsens in unserer Gesellschaft werden“.33 2.4.3 Pflegeversicherung Untersuchungen gehen davon aus, dass die Zahl an Pflegebedürftigen mit etwas über zwei Millionen Bürgern sich weiterhin erhöhen wird. Das resultiert vor allem aus dem starken Anstieg der Zahl der über 80-jährigen Menschen bis 2050, da Pflegebedürftige vor allem aus dieser Altersgruppe kommen. Dieser Anteil soll sich von 5,2 % 2010 auf 14,5 % im Jahr 2050 erhöhen.34 Die jüngere Generation in Deutschland wird damit konfrontiert sein, sowohl die Lasten des bestehenden Systems zu tragen als auch einen Kapitalstock aufzubauen, der die eigene Altersversorgung sicherstellt. Es davon auszugehen, dass sich die Kosten der gesetzlichen Pflegeversicherung von 19 Milliarden € im Jahr 2008 auf 37 Milliarden € bis 2060 erhöhen werden. Dadurch müsste der Beitragssatz der GPV von heute 1,95 % auf 4,5 % steigen. Auch aus diesem Grund wird über neue Finanzierungsformen der Pflegeversicherung zu diskutieren sein, z. B. in Form einer kapitalgedeckelten Finanzierung oder angepassten Zusatzversicherungen.35 Außerdem ist noch nicht zu überschauen, welche finanzielle Auswirkungen der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff haben wird, der immerhin fünf Bedarfsstufen und nicht mehr drei wie bisher vorsieht. Die allgemeinen „Eckdaten“ der Pflegestatistik 2005 und Einzelheiten über 32 Bundesministerium für Gesundheit 2008b 33 Enquete-Kommission „Demografischer Wandel“ 2002, S. 218 34 Statistisches Bundesamt, 12.koordinierte Vorausberechnung 2010 35 PKVpublik, Oktober 2010: Wissenschaftliches Institut der Privaten Krankenversicherungen.

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Abb. 9: Eckdaten der Pflegestatistik

Statistisches Bundesamt 2007, S. 11 Leistungsempfänger sind Abb. 9 zu entnehmen.36 2007 lag die Zahl der Pflegebedürftigen schon bei 2,2 Millionen, 2020 wird sie bei 2,9 Millionen zu erwarten sein.37 Die meisten Pflegebedürftigen werden von Angehörigen versorgt. Die Mehrheit der durch Pflegedienste Versorgten sind in der Pflegestufe 1 eingestuft. Heft 2 der Berichtreihe „Demografischer Wandel in Deutschland“ setzt sich mit der Tatsache auseinander, dass im Dezember 2005 über zwei Drittel der Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause, in der Regel von (meist weiblichen) Angehörigen, gepflegt wurden. D. h. ungeachtet der finanziellen und organisatorischen Anstrengungen der GPV, zeigt sich eine hartnäckige Kontinuität in der häuslichen Versorgung von alten 36 Diskrepanzen zwischen den Daten des Statistischen Bundesamts und des Gesundheitsministeriums scheinen abrundungsbedingt zu sein, sie sind jedenfalls nicht erheblich. 37 Statistisches Bundesamt 2010

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Menschen. Ein „Trend zur professionellen Pflege“. ist aber zweifelsohne vorhanden. Bisher ist dieser aber keineswegs als rasant zu bezeichnen, denn trotz eines Anstiegs der Zahl Pflegebedürftiger von 1999 bis 2005 um 6 % bzw. 112.000 Personen, ging die Zahl der durch Angehörige Gepflegten nur von 72 % auf 68 % zurück. Solange der kulturelle, nennenswerte Bestand der Betreuung von Teilen der alten Bevölkerung zu Hause in familiärer Verantwortung anhält, werden Fragen der Qualität der Versorgung wie auch zur angemessenen Unterstützung der nichtprofessionellen Dienstleister(innen) aufmerksam verfolgt werden müssen. Die häusliche Pflege wird zu 80 % von weiblichen Personen geleistet oder mit geleistet, die eng mit dem Pflegebedürftigen verwandt sind. Die Mehrheit der Pflegebedürftigen verfügt über mehr als nur eine Hilfsperson. Fast ein Drittel der Hauptpflegepersonen ist selbst über 65 Jahren alt. Die Enquetekommission des Bundestages weist darauf hin, dass zunehmend auch „soziokulturelle Bedingungsfaktoren der Singularisierung wie die sinkende Heirats- und die steigende Scheidungsneigung gegenüber den demografischen Faktoren an Bedeutung zunehmen“.38 Die Zahl der Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen hat sich in letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Es handelt sich um abhängig Beschäftigte im Sozialwesen mit pflegerischem und hauswirtschaftlichem Beruf. Seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 betrug der Beschäftigungsanstieg rund 300 000 Personen. Mit weiteren Steigerungen ist zu rechnen.Von den 546.397 Personen, die 2005 in Heimen arbeiteten, war 85 Prozent weiblich. Anzumerken ist, dass weniger als ein Prozent der Beschäftigten im ambulanten Bereich über einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss verfügen. Im stationären Bereich sind dies etwa 1,5 % der Beschäftigten.39 Die Soziale Arbeit müsste – auch im eigenen Interesse – dazu beitragen, dass möglichst alle verstehen, welch enorme Herausforderungen im Bereich der Pflege auf die Gesellschaft zukommen. Da das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) von 2008 vorsieht, das Fallmanagement in den Pflegekassen und das Entlassungsmanagement in den Krankenhäusern zu verbessern, wäre es wichtig, dass auch Sozialarbeiter durch zielgerichtete Ausbildungsangebote in die Lage versetzt werden, diese Aufgaben erfolgreich wahrzunehmen.

38 Enquete-Kommission „Demografischer Wandel“ 2002, S. 238 39 Bundesministerium für Gesundheit 2008c, S. 135

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