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Die Ernährung mit Hilfe einer PEG-Sonde – oder der bewusste Verzicht darauf – sollte Ergebnis eines sorgfältigen Abwägens von Nutzen und Risiken sein. Doch zum konkreten Verlauf solcher Entscheidungsprozesse liegen noch sehr wenig Erkenntnisse vor. Das Buch hilft, diese Lücke zu schließen: Anhand von Aktenanalysen und Interviews mit ExpertInnen werten die AutorInnen Entscheidungsabläufe im akutstationären Bereich und in stationären Pflegeeinrichtungen aus. Sie sprechen Empfehlungen für die Gestaltung solcher Prozesse aus. Das Buch enthält außerdem eine in Broschürenform gehaltene Entscheidungshilfe.
Entscheidungsfindung zur PEG-Sonde
18.11.2011
Sabine Bartholomeyczik, Claudia Dinand (Hrsg.)
Entscheidungsfindung zur PEG-Sonde bei alten Menschen Problemlagen und Entscheidungshilfe
S. Bartholomeyczik, C. Dinand (Hrsg.)
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www.mabuse-verlag.de
ISBN 978-3-86321-010-6
Mabuse-Verlag
Sabine Bartholomeyczik ist Lehrstuhlinhaberin für Epidemiologie-Pflegewissenschaft am Department für Pflegewissenschaft der Universität Witten/ Herdecke. Seit September 2009 ist sie außerdem Sprecherin des Standorts Witten im Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) mit dem Schwerpunkt „Versorgungsstrategien für Menschen mit Demenz“. Claudia Dinand ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Witten, und ist maßgeblich für die Entwicklung der Entscheidungshilfe verantwortlich.
Sabine Bartholomeyczik, Claudia Dinand (Hrsg.)
Entscheidungsfindung zur PEG-Sonde bei alten Menschen Problemlagen und Entscheidungshilfe
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
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Inhaltsverzeichnis
1.
Zusammenfassung ............................................................... 7
2.
Hintergründe und Problematiken der PEG .................... 17
2.1. Indikation und Prozedur .................................................................. 17 2.2. Rechtliche und ethische Aspekte ..................................................... 20 2.3. Entscheidungsfindung zur PEG ...................................................... 21 2.4. Forschungsgegenstand...................................................................... 27
3.
Der Entscheidungsprozess zur Anlage einer PEG-Sonde im Krankenhaus................................................................. 30
3.1. Patienten und Methodik ................................................................... 30 3.2. Ergebnisse .......................................................................................... 34 3.3. Diskussion .......................................................................................... 56
4.
Der Entscheidungsprozess im Spiegel von Bewohnerdokumentationen in Altenpflegeheimen ......... 61
4.1. Methodisches Vorgehen ................................................................... 61 4.2. Ethische Überlegungen ..................................................................... 66 4.3. Ergebnisse .......................................................................................... 68 4.4. Limitierungen .................................................................................. 117 4.5. Diskussion ........................................................................................ 119 4.6. Schlussfolgerung und Ausblick ..................................................... 128
5.
Der Entscheidungsprozess in stationären Einrichtungen der Altenhilfe aus der Perspektive von Pflegenden und niedergelassenen Ärzten .................................................. 130
5.1. Methodisches Vorgehen ................................................................. 130 5.2. Ergebnisse I: Kontext ..................................................................... 137 5.3. Ergebnisse II: Akteure im Entscheidungsprozess ....................... 143 5.4. Ergebnisse III: Entscheidungsfindung ......................................... 168 5.5. Verbesserungspotentiale / Persönliche Empfehlungen ............... 212 5.6. Zusammenfassung........................................................................... 216 5.7. Grenzen vorliegender Untersuchung ............................................ 220 5.8. Diskussion ........................................................................................ 222 5.9. Schlussfolgerung ............................................................................. 226
6.
Gemeinsame Diskussion der Teilergebnisse .................. 228
6.1. Prozessphasen .................................................................................. 228 6.2. Klientel ............................................................................................. 229 6.3. Prozess und Akteure ....................................................................... 231 6.4. Empfehlungen ................................................................................. 233
Literaturverzeichnis ................................................................. 237 Abbildungsverzeichnis ............................................................. 245 Tabellenverzeichnis .................................................................. 248 Entscheidungshilfe ................................................................... 249
Sabine Bartholomeyczik, Tina Quasdorf, Claudia Dinand, Rainer Markgraf
1. Zusammenfassung 1.1. Problemstellung Daten über Prävalenz und Inzidenz von PEG-Sonden beruhen auf unterschiedlichen Schätzungen. In Deutschland geht man davon aus, dass etwa 140 000 PEG-Sonden jährlich gelegt werden und dass etwa 65% der PEGSonden auf ältere Menschen entfallen. Schätzungsweise 30 bis 50% dieser Patienten haben psychische oder dementielle Erkrankungen. Insbesondere für Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz wird der Nutzen der enteralen Ernährung durch eine Ernährungssonde heute infrage gestellt. In der aktuellen Diskussion um den Umgang mit enteraler Ernährung durch PEG-Sonden wird gefordert, dass der Entscheidung für oder gegen das Anlegen einer PEG-Sonde ein Prozess des sorgfältigen Abwägens von Nutzen und Risiken im Einzelfall vorangeht. Über den praktischen Verlauf des Entscheidungsprozesses zur Einleitung einer künstlichen enteralen Ernährungsbehandlung mithilfe einer PEG, liegen bisher sowohl für den akutstationären Bereich als auch für stationäre Pflegeeinrichtungen in Deutschland kaum systematische Erkenntnisse vor. Das hier beschriebene Forschungsprojekt ist darauf ausgerichtet, diese Prozesse näher zu beleuchten. Das Projekt wurde durch den AOK-Bundesverband gefördert und ist in drei Teilbereiche unterteilt: Dokumentationsanalyse im akutstationären Bereich Dokumentationsanalyse in Altenpflegeeinrichtungen Experteninterviews in Einrichtungen der stationären Altenhilfe mit Pflegenden und niedergelassenen Ärzten.
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1.2. Der Entscheidungsprozess zur Anlage einer PEG-Sonde im Krankenhaus In drei Krankenhäusern in NRW, einem der Maximal-, einem der Schwerpunktversorgung und einer Geriatrie, wurden Daten aus den Akten von 277 Patienten erfasst, bei denen eine PEG gelegt wurde. Die Mehrzahl der PEG-Empfänger (50 - 75%) ist bereits vor der Krankenhauseinweisung hilfeabhängig oder pflegebedürftig. Ebenfalls die Mehrzahl der PEG-Anlagen erfolgt im Rahmen eines längeren Krankenhausaufenthaltes wegen überwiegend altersneurologischer oder Tumorerkrankungen. Anders als nach den Vorbefragungen an den beteiligten Krankenhäusern zunächst vermutet, spielt die stationäre Einweisung mit dem Zielauftrag einer PEG-Anlage eine völlig untergeordnete Rolle, passend hierzu auch die von den Hausärzten angegebenen Einweisungsgründe. Die konkrete Indikation ist überwiegend eine Dysphagie (> 70%). Eine vorstationär beobachtete Verschlechterung des Ernährungszustandes oder ein aktuell dokumentierter schlechter Ernährungszustand nehmen eine absolut nachrangige Rolle ein. Entscheidungsfähige Patienten mit anderen als altersneurologischen Erkrankungen finden sich vor allem in der Gruppe der jüngeren, unter 65-jährigen Patienten, bei denen intensivmedizinisch versorgte Krankheitsbilder oder Tumorleiden eine wesentliche Rolle spielen. Dies sind auch überwiegend die Patienten, bei denen PEG-gestützte Ernährungsverfahren nur vorübergehend oder zumindest wahrscheinlich nur vorübergehend zur Anwendung kommen. Die Rekonstruktion eines komplexen Entscheidungsprozesses zur Einleitung einer künstlichen Ernährungsbehandlung aufgrund retrospektiv erhobener Daten selbst unter ergänzender nachträglich durchgeführter Befragung von Krankenhausmitarbeitern ist problematisch. Deutlich wird zunächst, dass die formalen Aspekte der Entscheidungsfindung insbesondere bei nicht einwilligungsfähigen Patienten durchgehend an allen Kliniken beachtet werden. Bei vorliegenden gesetzlichen Betreuungsverhältnissen werden die Betreuer regelhaft in den Entscheidungsprozess eingebunden, gleiches geschieht mit den Angehörigen bei Patienten mit vorliegender Vorsorgevollmacht. Auch grundsätzlich ist die Beteiligung der Angehörigen in hohem Prozentsatz dokumentiert. Probleme zeigten sich hier in erster Linie bei Pa-
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Zusammenfassung
tienten mit fehlenden Lebenspartnern, was offensichtlich auch die Kontaktaufnahme zu anderen Angehörigen einschränkt bzw. erschwert. Auch die Dokumentation des formalen Entscheidungsprozesses ist stabil. In dieser Hinsicht führte die Nachbefragung bei der zweiten Patientengruppe nicht zu einem weiteren Informationsgewinn. Der inhaltliche Ablauf des Entscheidungsprozesses ist hingegen so gut wie nicht zu rekonstruieren, da dieser praktisch nicht dokumentiert ist und durch die Nachbefragung von Krankenhausmitarbeitern nicht relevant erhellt werden konnte. Dies wird anhand der Daten illustriert, durch die extrem geringe Rolle von Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen, so dass in der übergroßen Mehrzahl aller Fälle der mutmaßliche Patientenwille nicht darzustellen ist. In Anbetracht der öffentlichen Debatte um Patientenverfügungen und Sterbehilfe ist die geringe Prävalenz von Patientenverfügungen in der vorliegenden Untersuchung erstaunlich. Die vorliegende Untersuchung gibt keinen Aufschluss darüber, ob der formal gut dokumentierte Entscheidungsprozess bei nicht einwilligungsfähigen Patienten auch den inhaltlichen Kriterien genügt, die die Bundesgrichtshofurteile zum Abbruch künstlicher Ernährung (BGH 2003, 201) gesetzt haben. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit Betreuer oder Bevollmächtigte Kenntnisse über den mutmaßlichen Willen des Patienten hatten, ob diese Kenntnisse tatsächlich Basis der Entscheidungsfindung waren bzw. ob diese Fragen überhaupt mit den berechtigten Personen seitens der Entscheidungsträger diskutiert wurden. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang auch die äußerst seltene Einbeziehung des Hausarztes in den im Krankenhaus stattfindenden Entscheidungsprozess wie auch die nahezu nicht vorhandene Kontaktaufnahme zu den Alten- bzw. Pflegeheimen der bereits vorstationär heimversorgten Patienten.
1.3. Der Entscheidungsprozess im Spiegel von Bewohnerdokumentationen in Altenpflegeheimen Analysiert wurden in diesem Teil 72 Dokumentationen aus 11 Altenpflegeheimen einer Gelegenheitsstichprobe in NRW. Ausgewählt wurden nur Do-
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kumente von Bewohnern, die im Laufe ihrer Zeit als Bewohner der Einrichtung eine PEG-Anlage hatten Mehr als die Hälfte der teilnehmenden Personen mit PEG-Sonde ist älter als 80 Jahre. Etwa 70% der Bewohner weisen in ihrer Anamnese eine akute oder progredient verlaufende neurologische Erkrankung auf. In der Hälfte der Fälle lag eine Demenz vor. Bereits vor Anlage der PEG-Sonde wurden etwa drei Viertel der Teilnehmer in einer Altenpflegeeinrichtung betreut. In etwa der Hälfte der Fälle bedingte ein akutes Ereignis die Anlage der PEGSonde, bei ebenso vielen wird eine Dysphagie beschrieben. Etwa 50% der Teilnehmer hatten zum Zeitpunkt der PEG-Anlage einen BMI, der als normal oder hoch gilt, allerdings liegen bei 35% der Fälle keine Informationen hierzu vor. Etwa 70% der Teilnehmer erhalten zum Zeitpunkt der Erhebung ein ergänzendes orales Nahrungsangebot, der Umfang variiert jedoch stark. Bei etwa 33% der Teilnehmer traten Komplikationen auf, die auf die PEG-Sonde zurückzuführen sind. Vorwiegend handelt es sich um Wundifektionen. Ein Grundproblem dieser Dokumentenanalyse liegt darin, dass nur bei 16 (22%) der 72 untersuchten Dokumentationen Informationen zum praktischen Ablauf des Entscheidungsprozesses zu finden waren. In erster Linie sind dies Angaben zu Gesprächen zwischen den an der Entscheidung beteiligten Personen sowie zu Arztkontakten aufgrund ernährungsbedingter Probleme. In einigen Fällen finden sich Angaben zur Nutzung von Assessmentinstrumenten sowie zu Maßnahmen, die zur Verbesserung der Ernährungssituation durchgeführt wurden. Gespräche und Arztkontakte finden vorwiegend in den letzten zwei Wochen vor Anlage der PEG-Sonde statt. Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungssituation und der Einsatz von Assessmentinstrumenten finden kontinuierlicher über einen Zeitraum von etwa drei bis vier Monaten vor Anlage der PEG-Sonde statt. Während am häufigsten Angehörige und Ärzte am Entscheidungsprozess beteiligt werden, sehen sich die Pflegenden selbst nur selten als an der Entscheidung Beteiligte. Etwa 85% der Teilnehmer werden durch einen gesetzlichen Betreuer oder einen Vorsorgebevollmächtigten vertreten. Nur sieben Teilnehmer
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Zusammenfassung
(10%) haben eine Patientenverfügung, von denen nur eine einzige differenzierte Aussagen zur enteralen Ernährung enthält. Insgesamt finden sich nur sehr vereinzelte Textpassagen innerhalb der Bewohnerdokumentationen, die ein zusammenhängendes Bild des Entscheidungsprozesses im Vorfeld der Anlage einer PEG-Sonde bieten. Zumeist handelt es sich um nicht zusammenhängende Informationen auf verschiedenen Formblättern und verschiedenen Abschnitten der Dokumentationen, die mühsam zusammengefügt werden müssen. Auch anhand einiger weniger Fallrekonstruktionen auf Basis der Dokumentationen wird deutlich, dass ein zusammenhängender und strukturierter Prozess zur Entscheidungsfindung offenbar nur unzulänglich stattfindet. Die dokumentierten Informationen spiegeln in den meisten Fällen individuelle Prioritäten wider und scheinen weniger ein planmäßiges Vorgehen zu dokumentieren.
1.4. Der Entscheidungsprozess in stationären Einrichtungen der Altenpflege aus der Perspektive von Pflegenden und niedergelassenen Ärzten Im dritten Teil des Forschungsprojektes wurden qualitative leitfadengestützte Experteninterviews mit 26 Pflegenden aus Altenpflegeeinrichtungen und acht niedergelassenen Ärzten, die in Altenheimen an den Entscheidungsprozessen beteiligt waren, geführt. Hierbei sollte untersucht werden, wie Entscheidungsprozesse in der Realität aus der Perspektive der Betroffenen wahrgenommen werden. Als Ergebnis zeigt sich, dass Entscheidungsprozesse in Form eines Phasenmodells stattfinden, in dem sich drei wesentliche Einheiten unterscheiden. Die Phase vor der Entscheidung, in der beobachtend und meinungsbildend gearbeitet wird, die Phase des Entscheids mit der Konsequenz einer Handlung oder einem Handlungsverzicht und die Phase nach getroffener Entscheidung, in der die Entscheidung überprüft, bewertet und ggf. revidiert wird. Entscheidungsprozesse zur Anlage einer PEG dauern je nach Indikation zwischen einigen Tagen und mehreren Wochen, manchmal auch Monate. Die meisten Entscheidungen werden in den Kliniken getroffen. Die Ent-
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scheidungsprozesse sind komplex, uneinheitlich und durch individuelle Prioritäten beteiligter Personen gesteuert. Uneinheitlich, da die Krankheitsbilder und die Interventionsdauer differieren und spezifische Entscheidungen notwendig machen. Uneinheitlich auch, da viele Akteure zu unterschiedlichen Anteilen und Zeitpunkten beteiligt sind und den Prozess beeinflussen. Die wenigsten Bewohner in Altenpflegeheimen sind entscheidungsfähig, noch ist ein Wille bekannt oder schriftlich fixiert. In diesen Situationen übernehmen Angehörige mit Betreuungsvollmacht oder beauftragte Berufsbetreuer stellvertretend die Entscheidungsverantwortung. Familienangehörige sind stark emotional involviert, durch Rollenkonflikte mit der Entscheidung oft überfordert oder schlecht beraten. Berufsbetreuer zeichnen sich durch ihr distanziertes Verhältnis zur Person aus, über die entschieden wird und vollziehen häufig einen formalen Akt der Unterschrift. Die Pflegenden in den Altenheimen sind durch ihren engen und häufigen Kontakt mit Bewohnern Informationsträger, wenn Bewohner „nicht essen und trinken wollen oder können“ und lösen initial einen Entscheidungsprozess aus, sehen sich sonst jedoch eher als Koordinatoren und im Hintergrund der Entscheidung Tätige. Übrig bleibt die Entscheidung zum Wohle des Patienten anhand der medizinischen Indikation durch die behandelnden Ärzte. Ihnen verbleibt nicht nur formal die Rolle der Aufklärungsverantwortung, sondern aufgrund mangelnder Kenntnis, Fähigkeit oder Zeit formaler Entscheidungsträger, die sich auf den Rat und die medizinische Empfehlung verlassen, die Entscheidungsverantwortung. Instrumente zur Entscheidungsfindung wie Fallbesprechungen oder Entscheidungshilfen spielen aktuell eine marginale Rolle und werden kritisch diskutiert. Patientenverfügungen sind wichtig, liegen in der Realität jedoch nicht vor oder sind nicht aktuell oder explizit genug. Sichtbare Mangelernährung und dokumentierte oder messbare Ernährungsdefizite erhöhen den Druck auf die Handelnden. Prüfungen durch den MDK, der Heimaufsicht und eine Angst sich juristisch angreifbar zu machen, also eine Fehlentscheidung zu treffen, in Verbindung mit einer schlechten Versorgungsstruktur, wirken als Verstärker. Sie unterstützen den als bequemer und einfacher wahrgenommenen Weg, eine PEG-Anlage zu befürworten. Als schwerer und komplizierter wird die Entscheidung gegen eine PEG-Anlage gesehen.
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Zusammenfassung
Essen zu reichen entgegen dem Willen der Bewohner oder ein Verschlucken zu provozieren bedeutet Schaden zuzufügen und eine „Quälerei“. Attribute, die helfender Tätigkeit prinzipiell entgegenstehen. Kein Essen zu reichen bedeutet über kurz oder lang den Tod. Maßnahmen zur Vermeidung einer PEG bieten keine wirkliche Alternative. Wenn zudem ein klarer Nutzen der PEG nicht beschrieben werden kann und nicht auszuschließen ist, dass die PEG Leiden verlängert und Siechtum fördert, geraten die Beteiligten in eine Zwickmühle der Entscheidung. Ein klassisches Dilemma zeichnet sich ab, nämlich die Wahl zwischen zwei oder mehreren schlechten Alternativen. Unterstützt wird dies wiederum durch mangelnde argumentative Kraft die Entscheidung zu einer einmal gelegten PEG ohne Zustandsbesserung wieder rückgängig machen zu können.
1.5. Schlussfolgerungen Ein grundsätzliches Problem der Aktenanalysen stellt die Patienten-/ Bewohnerselektion dar, weil ausschließlich Personen erfasst wurden, bei denen eine PEG-Anlage erfolgte, nicht hingegen jene Personen, bei denen diese Maßnahme erwogen, letztendlich dann aber nicht durchgeführt wurde. Außerdem handelt es sich um überschaubare Gelegenheitsstichproben. Auch die Experteninterviews wurden bei einer Gelegenheitsstichprobe Interessierter durchgeführt. Dennoch kann die aus mehreren Perspektiven in einem Methodenmix durchgeführte Studie ein ziemlich stimmiges Bild zeichnen. Die Ergebnisse des Projektes bestätigen, dass es sich bei der untersuchten Population um eine Gruppe von Menschen handelt, bei denen ein sorgfältiger und individueller Entscheidungsprozess hinsichtlich der Anlage einer PEG-Sonde obligat ist. Insbesondere das vorwiegend hohe Alter der Teilnehmer und die damit häufig einhergehende Multimorbidität sowie ein in vielen Fällen vorliegendes Betreuungsverhältnis, das offensichtlich mit kognitiven Einschränkungen der betroffenen Personen zu begründen ist, sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Eine lückenlose Darstellung des Entscheidungsprozesses war anhand der Aktenanalyse nicht zu erwarten. Dennoch unterstützt die aufgezeigte geringe Transparenz und eine auf
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formale Aspekte beschränkte Entscheidungsfindung die Notwendigkeit strukturierender Hilfen. Gerade für problematische Entscheidungssituationen erscheint eine Handlungsorientierung sinnvoll und wird von den befragten Personen als auch von öffentlicher Seite befürwortet. Hier scheint ein Gesamtpaket unterschiedlicher Maßnahmen angebracht. Es ist zu empfehlen, Fallkonferenzen in Krankenhäusern und Altenheimen sowohl innerhalb der professionellen Teams als auch mit allen Beteiligten Patienten/Bewohnern, Angehörigen und gesetzlichen Betreuern bei Bedarf einzuberufen und zu kultivieren. An dieser Stelle hätte auch eine zu empfehlende systematische Überprüfung der getroffenen Entscheidung mit Entscheidungsalgorithmen ihren Platz. Eine auf die Person konzentrierte Organisationsstruktur mit Bezugspflegeelementen und verantwortlichen Ansprechpartnern könnte die Willkür im Prozess reduzieren und Informationslücken schließen. Das bestätigen die wenigen, aber positiven Erfahrungen einzelner befragter Ärzte und Pflegekräfte. Für die Zusammenarbeit der Institutionen und der Versorgungsakteure ist es vor allem hilfreich, wenn eine Entscheidung nicht dem Zufall überlassen bleibt. Eine Entscheidungshilfe (siehe Anhang) sollte daher frühzeitig zur Anwendung kommen, auch um die Möglichkeiten und die Rolle der Pflegenden in diesem Prozess zu stärken. Denn sie sind diejenigen, die aufgrund der Nähe zu den Bewohnern und den Angehörigen den mutmaßlichen Patientenwillen erkunden und ggf. auch Einfluss auf die Qualität von Patientenverfügungen nehmen können. Hierzu bedarf es vermehrter Kenntnisse zum Thema, auch um die Entscheidungen für die Nicht-Anlage einer PEG mit ihren Informationen stützen zu können. Von einer Entscheidungshilfe profitieren durch den Informationsgewinn letztlich alle zentralen Akteure im Entscheidungsprozess: Patienten/Bewohner, damit der mutmaßliche Wille entscheidungsleitend eruiert und eingesetzt wird; Ärzte und Pflegende, um ihre Aufklärungs- und Beratungskompetenz zu stärken und eigenen ethischen Konflikten und Dilemmata präventiv begegnen zu können und Angehörige, um der emotionalen Betroffenheit stichhaltige Argumente im Sinne einer informierten Zustimmung oder Ablehnung entgegen setzen zu können.
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Zusammenfassung
1.6. Entwicklung einer Entscheidungshilfe Ziel einer Entscheidungshilfe ist es Wissen zu vermehren, realistische Erwartungen über Nutzen und Schaden aufzuzeigen, den Abwägungsprozess zu unterstützen, Entscheidungskonflikte zu reduzieren und die Zufriedenheit mit der getroffenen Entscheidung zu erhöhen. Dazu muss sie wissenschaftlich fundiert und gleichzeitig auch in der Praxis anwendbar sein (Kasper, Lenz 2005). Vor diesem Hintergrund wurde in einem ebenfalls durch den AOKBundesverband geförderten und am Department für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke durchgeführten Folgeprojekt eine Entscheidungshilfe in Form einer Broschüre entwickelt. Sie baut auf die Ergebnisse des oben genannten Forschungsprojektes auf und ist als eine erste Maßnahme der Unterstützung zu verstehen. Die Broschüre wurde Anlehnung an die von Mitchell und Mitarbeitern am Ottawa Health Research Institute, Kanada entwickelte und 2008 überarbeitete und überprüfte (IPDAS-Kriterien, www.ipdas.ohri.ca) Entscheidungshilfe „Making Choices: Long Term Feeding Tube Placement in Elderly Patients“1 formuliert. Als Adressaten der Entscheidungshilfe wurden primär Angehörige in ihrer Funktion als stellvertretene Entscheidungsträger ausgewählt. Angesprochen sind aber auch professionell Tätige oder im Prozess beteiligte Personen. Die Textentwicklung wurde durch ein wissenschaftliches Expertengremium der Medizin (Geriatrie), Pflegewissenschaft, Ethik und Ernährungswissenschaft begleitet. Nach Fertigstellung fand eine erste Textvalidierung durch Anwender (Ärzte, Pflegende und medizinisch nicht vorgebildete Personen) statt .Danach wurde die Entscheidungshilfe in Form eines Audits auf ihre Praxistauglichkeit überprüft und erneut überarbeitet. Im Ergebnis wurde die Entscheidungshilfe als überwiegend ansprechend, gut nachvollziehbar, informativ und praxisnah bewertet und als positive Anregung und Unterstützung für den Abwägungsprozess sowie neutral bezogen auf die zu treffende Entscheidung empfunden. 1
Eine deutsche Übersetzung von Mitarbeitern der Tropenklinik ist unter folgendem Link: www.tropenklinik.de/Archiv/PEG.pdf verfügbar.
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Die entwickelte Entscheidungshilfe beantwortet in ihrem ersten Teil die wichtigsten Fragen zum Themengebiet. Angesprochen werden medizinische und pflegerische Aspekte zur Entstehung, Vermeidung und Behandlung von Ernährungsproblemen, Möglichkeiten und Grenzen einer künstlichen Ernährung in Bezug auf spezifische Indikationsstellungen, Technik und Bedeutung einer PEG im Alltag sowie rechtliche Aspekte einer stellvertretenden Entscheidung und zum Erfassen des mutmaßlichen Willens. In einem zweiten Teil werden drei Fallbeispiele vorgestellt, die auf realen Gegebenheiten beruhen. Sie sollen mögliche Entscheidungssituationen veranschaulichen. Ein herausnehmbarer Arbeitsbogen mit sechs Fragenkomplexen soll helfen die Entscheidungsfindung zu erleichtern und die konkrete Situation im Sinne des Willens der Person, für die stellvertretend entschieden wird, zu reflektieren. Sie ist in leicht modifiziertem Layout, aber inhaltlich unverändert am Ende dieses Buches abgedruckt. Das Original ist beim AOK-Bundesverband in gedruckter Form beziehbar oder steht unter der Internetadresse: www.aok.de/bundesweit/gesundheit/aok-entscheidungshilfen-28557.php als Download zur Verfügung.
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