Wie Frauen zu Patientinnen werden - Nicolas Tsapos

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Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld veröffentlicht. Der Autor dankt den von Bodelschwinghschen Stiftungen und dem Verein für Diakonie- und Sozialgeschichte e.V. für die finanzielle Unterstützung bei der Veröffentlichung.

Nicolas Tsapos studierte Geschichte, Französisch und Englisch auf Lehramt und ist hauptamtlicher Vorstand der Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Ostwestfalen-Lippe e. V.


Nicolas Tsapos

Wie Frauen zu Patientinnen werden Soziale Kategorisierungen in psychiatrischen Krankenakten der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (1898-1945)

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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1.

EINLEITUNG .............................................................................................................................. 7

2.

EINFÜHRUNG IN DEN UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND ........................................... 14

3.

METHODISCHE VORBEMERKUNGEN ZUR KONVERSATIONSANALYTISCHEN VORGEHENSWEISE AN SCHRIFTLICHEN TEXTEN UND ZUM MODELL DER SOZIALEN KATEGORISIERUNG........................................................................................ 23

4.

WIE FRAUEN ZU PATIENTINNEN WERDEN – SOZIALE KATEGORISIERUNGEN IN DEN KRANKENAKTEN .................................................................................................... 35

4.1 ZUORDNUNG DER BESCHRIEBENEN PERSONEN ZUR KATEGORIE „KRANKE/PATIENTIN“ ................... 36 4.1.1 Darstellung eines biographischen Bruchs ................................................................................ 37 4.1.2 Bezeichnung mit krankheitsbezogenen Kategoriennamen ........................................................ 46 4.1.3 Interaktive Aushandlung von Kategorien ................................................................................. 66 4.1.4 Implizite Kategorienzuweisungen ............................................................................................. 80 4.2 ZUSCHREIBEN VON SPEZIFISCHEN EIGENSCHAFTEN DER ZUGEHÖRIGEN DER KATEGORIE „KRANKE/PATIENTIN“ ....................................................................................................................... 84 4.2.1 Zuschreibungen von Eigenschaften durch kategorientypische Adjektive und Aktivitäten ........ 85 4.2.2 Darstellung des Grades der Pflegebedürftigkeit der Patientin anhand eines festen Beschreibungsparadigmas ........................................................................................................ 95 4.3 BEWERTUNGEN DER ZUGEHÖRIGEN DER KATEGORIE „KRANKE/PATIENTIN“ .................................... 99 4.3.1 Adversative Beschreibungsmuster bei den ärztlichen Bewertungen hinsichtlich der Zugehörigen der Kategorie „Kranke/Patientin“ .................................................................... 100 4.3.2 Adressatenorientierte Bewertungen der Patientinnen ............................................................ 103 4.3.3 Das ärztliche „Monopol“ bei der Bewertung des Patientinnenzustandes ............................. 108 4.3.4 Der Sonderfall der Bewertung „Schizophrenie“ .................................................................... 112 4.4 ZWISCHENFAZIT ZUR SOZIALEN KATEGORISIERUNG IN DEN KRANKENAKTEN ................................. 117 5.

DARSTELLUNG DER KOMMUNIKATIVEN AKTIVITÄTEN DER PATIENTINNEN ........................................................................................................... 122

5.1 BERICHTE ÜBER DAS KOMMUNIKATIVE VERHALTEN IM ALLGEMEINEN .......................................... 124 5.1.1 Kommunikative Aktivitäten, die das Störverhalten und den Pflegebedarf der Patientin vermitteln ................................................................................................................................ 125 5.1.2 Darstellung der Kommunikationsfähigkeit/Ansprechbarkeit der Patientin ............................ 128 5.1.3 Non- und paraverbale Auffälligkeiten beim kommunikativen Handeln .................................. 133 5.2 BERICHTE ÜBER DAS SPRACHLICHE HANDELN DER PATIENTINNEN ................................................. 140 5.2.1 Redewiedergabe der Patientinnen bei der Rekonstruktion von Ereignissen .......................... 153 5.2.2 Formen der Redewiedergabe ................................................................................................. 173 5.2.3 Konstanz und Variation in der Darstellung: Rückgriff auf Vorgeformtheit ........................... 184 5.2.4 Prozessuale Auffälligkeiten: Veränderungen in der Darstellung im zeitlichen Verlauf ......... 198 5.2.5 Bewertungen des sprachlichen Patientinnenhandelns durch die VerfasserInnen .................. 202 5.3 ZWISCHENFAZIT ZUM KOMMUNIKATIVEN VERHALTEN DER PATIENTINNEN .................................... 206 6.

FAZIT UND AUSBLICK ........................................................................................................ 211


7.

MARTHA KLINGENBERG, EINZELFALLSTUDIE EINER LANGZEITPATIENTIN ........................................................................................................ 220

7.1 BESCHREIBUNG DER AKTENLAGE UND DER ENTHALTENEN QUELLENTYPEN ................................... 220 7.2 DIE METHODISCHEN HERAUSFORDERUNGEN EINER BIOGRAPHISCHEN REKONSTRUKTION .............. 223 7.3 DIE BIOGRAPHIE DER „MARTHA KLINGENBERG“ ............................................................................ 225 7.3.1 Familiengeschichte und das Leben bis zur ersten Aufnahme in Bethel .................................. 226 7.3.2 Der erste Aufenthalt in Bethel, Mai 1923-Mai 1925 .............................................................. 237 7.3.3 Der erste Aufenthalt bei der Äbtissin von K., Mai-Oktober 1925 .......................................... 241 7.3.4 Der zweite Aufenthalt in Bethel, Oktober 1925-Mai 1926 ..................................................... 242 7.3.5 Der zweite Aufenthalt bei der Äbtissin von K., Mai 1926-Januar 1927 ................................. 243 7.3.6 Der dritte Aufenthalt in Bethel, Januar 1927-August 1930 .................................................... 246 7.3.7 Der dritte Aufenthalt bei der Äbtissin von K., August 1930-Dezember 1931 ......................... 255 7.3.8 Marthas Aufenthalt bei ihrer Familie, Dezember 1931-Juli 1934 ......................................... 261 7.3.9 Der vierte Aufenthalt in Bethel, Juli 1934-Januar 1935 ........................................................ 266 7.3.10 Marthas letzter Aufenthalt zu Hause, Januar 1935 .............................................................. 272 7.3.11 Aufenthalt in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, Januar-Juni 1935 ................................. 273 7.3.12 Der fünfte und letzte Aufenthalt in Bethel, Juni 1935-Mai 1940 .......................................... 277 7.4 ABSCHLIEßENDE BEMERKUNGEN ZUR EINZELFALLSTUDIE MARTHA KLINGENBERG ....................... 291 8.

LITERATURVERZEICHNIS ................................................................................................ 294

9.

ANHANG .................................................................................................................................. 298


1.

Einleitung

Vordergründig könnte man bei der Forschungstätigkeit an Krankenakten betreuter Patientinnen ein hohes Verständnis für eine unter Historikern und Archivaren weit verbreitete Meinung entwickeln, es handele sich bei Krankenakten nur um äußerst heterogene, strukturlose Massenakten mit wenig Aussagekraft, die als Quellen für Fragestellungen der unterschiedlichen Disziplinen kaum lohnten. Landläufig hatte ohnehin die Auffassung vorgeherrscht, dass sie eher vor Auswertungen zu bewahren seien, da sie „maliziösen Benutzern“, die Zugang zu ihnen erhielten, den Missbrauch von schützenswerten Informationen ermöglichten. Doch schon vor mehr als einem Jahrzehnt versuchte der Bielefelder Historiker Joachim Radkau diese Vorurteile zu entkräften.1 Im Rahmen seiner Forschungen zum Phänomen der „Neurasthenie“2 (Nervenschwäche) im Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert demonstriert er eindrucksvoll, dass in der Tat ein öffentliches Interesse an der Aufbewahrung und Auswertung von Krankenakten betreuter Patienten besteht. Tatsächlich muss man wohl feststellen, dass Krankenakten einen Quellentyp darstellen, der nicht sehr leicht zugänglich ist und deren Nutzen für das jeweilige wissenschaftliche Erkenntnisinteresse sich nur schwer erschließt: Sie sind extrem heterogen, vor allem aber stellen sie als Relikte klinischer Alltagsaktivitäten immer „nur“ das weniger geschätzte pragmatische Pendant zum jeweils zeitgenössischen medizinischen Elitediskurs dar, welcher auch anschließend die medizinhistorischen Forschungen dominierte. Folglich müssen sie in ihrem Aussagegehalt jeweils erst „gehoben” bzw. erschlossen werden.

1 2

Radkau (1997) Radkau (1998)

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Erste Anstöße, dass es an dieser Stelle zu Veränderungen kommen müsse, gab es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. 1951 stellte Henry E. Sigerist in seiner A History of Medicine fest: „The history of medicine, however, is infinitely more than the history of the great doctors and their books. Medical science is important, but it is wasted unless its findings are applied on a large scale.“3 Sein Zürcher Kollege Erwin Ackerknecht nahm 1967 diesen Gedanken wieder auf und appellierte im Journal of the History of Medicine and Allied Sciences für eine behavioristische Herangehensweise in der Medizingeschichte.4 Nach seiner Auffassung wird die allseits bekannte Zeitspanne zwischen einer Erfindung und ihrer verbreiteten Akzeptanz und Anwendung in der Praxis weit unterschätzt. Hinsichtlich der Medizingeschichte sei für ihn die Lektüre von Hans H. Walsers „Die Ärzte und der Krieg am Beispiel des deutsch-französischen Krieges von 1870/71“5 ein Schlüsselerlebnis gewesen, in dem dieser nachweist, dass eine Vielzahl der Amputationen ohne Narkose erfolgt sei, obwohl man nach medizinhistorischer Erkenntnis von einer generellen Einführung der Narkose bereits ein Vierteljahrhundert zuvor ausgegangen war. Man müsse sich eingestehen, so Ackerknecht, dass man häufig äußerst grundlegende Tatsachen medizinischer Praxis oder deren soziologische Aspekte selbst für nicht weit zurückliegende Epochen kaum kenne. Deshalb plädiere er für zusätzliche Untersuchungen, etwa an Fallstudien, die das medizinische Alltagshandeln beleuchten. Diese Forderung nahmen Günter Risse und John Harley Warner zum Anlass, für eine systematische Untersuchung speziell von Krankenakten als sozialhistorische Quelle zu plädieren.6 Nach ihrer Auffassung seien Krankenakten „überlebende Artefakte der Interaktion zwischen Arzt und Pati-

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Sigerist (1951: 14) Ackerknecht (1967) 5 Walser (1967) 6 Risse/Warner (1992) 4

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Einleitung

ent“. Sie könnten Erkenntnisse liefern über bestimmte lokale oder regionale Behandlungsmethoden oder über das zeitgenössische Krankheitsverständnis. Für Sozialhistoriker sei nach ihrer Meinung aber auch der Zugang zu Informationen über Behandlungen von Interesse, die nach sozialen Kriterien der Patienten differenziert werden, also beispielsweise unterschiedliche Behandlungen je nach Alter, Geschlecht, Hautfarbe, sozialer Klassenzugehörigkeit, Beruf oder Religion. Für besonders spannend – wenn auch wenig untersucht – halten sie in Ergänzung zur ärztlichen Expertenperspektive die in den Krankenakten vorhandenen Informationen über die Wahrnehmung der Krankheit und der entsprechenden Behandlung aus der Sicht des Patienten selbst. Gerade Auffälligkeiten hinsichtlich dieses zuletzt genannten Gesichtspunktes waren es, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der heutigen Betheler Psychiatrie7 dazu bewegten, sich an die Universität Bielefeld mit dem Angebot eines Forschungsprojektes zu richten. Basis dieser Forschungen sollten Akten von psychisch erkrankten Frauen sein, die in Bethel in den Jahren von 1898–1945 stationär betreut worden waren. Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass sich das Angebot an die Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaften richtete. Auf den zweiten Blick gilt es jedoch zu bedenken, dass sich das Interesse an einer Zusammenarbeit aus der Beobachtung herleitete, dass den Äußerungen von Patientinnen in den Betheler Krankenakten in den verschiedensten Kontexten eine größere Beachtung geschenkt wurde, ohne dass man sich institutionell in der Lage sah, diese Auffälligkeit konkreter zu beschreiben. Unter dieser Maßgabe und Zielrichtung bot es sich in der Tat an, methodisch auf das Beschreibungs- und Analyse7

Die entscheidenden Anregungen zur Durchführung eines Dissertationsprojektes entstammten einem Arbeitskreis des Fachbereiches Psychiatrie der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel um Renate Schernus und Christian Zechert. Dieser Arbeitskreis diente in der Anfangsphase insbesondere der psychiatrisch-fachlichen Begleitung des Dissertationsvorhabens, das die v. Bodelschwingschen Stiftungen dankenswerterweise mit einem Stipendium unterstützten.

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werkzeug der Sprachwissenschaften zurückzugreifen und es historisch zu fundieren. Dies macht in der methodologischen Vorgehensweise eine klare Abgrenzung der fachspezifischen Methoden erforderlich.8 Offenkundig war das eingangs von Ackerknecht und seinen Gefolgsleuten geforderte Interesse an einer behavioristischen Herangehensweise an Krankenakten zum Erkenntnisgewinn über die klinische Alltagspraxis bei allen Beteiligten aus Bethel und der Universität Bielefeld uneingeschränkt vorhanden. Die zuvor getroffenen Bemerkungen über die Unstrukturiertheit von Krankenakten und ihre hohe Heterogenität treffen jedoch auch auf diesen Untersuchungsgegenstand in vollem Umfang zu und erschwerten erheblich die Strukturierung und Klassifizierung und damit insgesamt die Möglichkeiten, zu systematischen, verallgemeinernden Auswertungen zu gelangen. Für Krankenakten ist es von konstitutiver Bedeutung, dass die Personen, derentwegen sie angelegt wurden, auch als krank und somit behandlungsbedürftig erkennbar werden und bleiben. Dies ist bei rein somatischen Krankheitsbildern jedenfalls in der westlichen Medizin durch ihre Kataloge von Merkmalen verhältnismäßig leicht festlegbar. Anders sieht es bei Personen aus, die als „betreut” erfasst werden. In deren Krankenakten werden ihre psychischen Erkrankungen in der untersuchten Epoche i.d.R. nicht an objektiv messbaren Indikatoren festgemacht. Es ist also für diesen speziellen Typ von Krankenakten von großer Wichtigkeit, dass zunächst bei der Aufnahme der Person, der Anamnese, eine eindeutige kategoriale Zuordnung als psychisch kranke Person stattfindet und anschließend diese Kategorie auch regelmäßig bestätigt und somit wach gehalten wird. Als Ergebnis der Voranalysen, die die anfängliche Vermutung einer zentralen Rolle von Patientinnenäußerungen bestätigten, ergibt sich folgende These: In Ermangelung normativer Kriterien muss mit anderen, mutmaßlich sprachlichen Verfahren, die soziale Kategorisierung als Kranke oder Patien8

Vgl. hierzu Kapitel 3

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Einleitung

tin erfolgen, denn gerade durch das Gespräch mit der und über die Patientin können Informationen erhoben werden, die einen Einblick in die jeweilige psychische Disposition erlauben können. Nach dem im späteren Methodenkapitel präsentierten Modell der sozialen Kategorisierung von Hausendorf sind insbesondere drei Fragestellungen bei der Analyse leitend: (1) Durch welche sprachlichen Verfahren findet eine kategoriale Zuordnung statt? (2) Welche spezifischen Eigenschaften werden den Mitgliedern dieser Kategorie mit welchen Verfahren durch die jeweiligen Verfasser oder Interaktionspartner zugeordnet? (3) Welche Einstellungen und Bewertungen werden durch die jeweiligen Verfasser oder Interaktionspartner auf welche Weise den Mitgliedern dieser Kategorie gegenüber zum Ausdruck gebracht? Maßgeblich ist bei der Untersuchung vor allem die erste Frage, denn eine kategoriale Zuordnung ist die notwendige Voraussetzung, um die (fakultativen) Aufgaben erfüllen zu können, d.h. um kategorientypische Eigenschaften zuzuschreiben oder Bewertungen gegenüber den Betroffenen zum Ausdruck zu bringen. Deshalb stehen zu Beginn der Arbeit Beobachtungen zu sprachlichen Verfahren zur kategorialen Zuordnung im Mittelpunkt, wie sie sich im Rahmen der Voranalysen abgezeichnet haben, wie etwa die Darstellung eines biographischen Bruchs im Rahmen der Erstanamnese, die Verwendung krankheitsbezogener Kategorienbezeichnungen oder interaktive Aushandlungsprozesse im Rahmen der Kategorienzuweisungen. Aus der breiten Palette sprachlicher kategorialer Zuordnungsmöglichkeiten hat sich die Untersuchung der Darstellung von kategoriengebundenen

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Aktivitäten9 als besonders aufschlussreich erwiesen. Wenn ein irrationales, nicht nachvollziehbares, schlichtweg „verrücktes” Handeln einer Person beschrieben wird, so wird sie allein schon durch dieses Darstellungsverfahren einer Kategorie zugeordnet, die man im allgemeinen Verständnis mit diesen Handlungen verbindet, also als verrückt oder behandlungsbedürftig, folglich als ein Mitglied der Kategorie Kranke/Patientin. Es bedarf dann nicht notwendigerweise einer zusätzlichen expliziten Benennung etwa durch einen Kategoriennamen (Die Patientin). Im untersuchten Krankenaktenbestand lässt sich eine Vielzahl von Darstellungen auffinden, die das Handeln von Patientinnen zum Gegenstand haben, die ihr Abweichen von der Norm, ihre Verrücktheit illustrieren, wie etwa das Zerschlagen einer Fensterscheibe mit einem Toilettendeckel, das Beschmieren von Wänden mit Speichel, das Ausräumen des Kleiderschranks, ununterbrochenes Hämmern gegen die Tür oder gewaltsames Vorgehen gegen Schwestern oder Mitpatientinnen. Wie bereits erwähnt hat es bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel einen nicht näher präzisierbaren, ersten Lektüreeindruck bei den Krankenakten gegeben, wonach die Sprache der Patientinnen in ihnen eine auffällige Rolle spielt. Und tatsächlich hat sich dieser Ersteindruck im Laufe der Analysearbeit bestätigt und dazu geführt, dass ein Hauptaugenmerk der Untersuchungen auf der kategorialen Zuordnung durch einen bestimmten Typ kategoriengebundenen Handelns liegt, nämlich dem kommunikativen Handeln der Patientinnen. 10 Den kommunikativen Aktivitäten der Patientinnen wird über den gesamten Untersuchungszeitraum und auch überindividuell eine hohe Aufmerksamkeit geschenkt – graduell variierend je nach persönlichen Formulie9

Der Begriff category bound activities geht auf den amerikanischen Forscher Harvey Sacks zurück und wird in Kapitel 3 näher erläutert. 10 Für erste Untersuchungsergebnisse vgl. Tsapos (2002).

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Einleitung

rungsfähigkeiten und -neigungen der Verfasserinnen und Verfasser. Dabei lassen sich im Grundsatz zwei kommunikative Handlungsebenen für die Analyse unterscheiden: (1) Darstellungen des kommunikativen Verhaltens der Patientinnen im Allgemeinen, (2) Darstellungen ihres sprachlichen Handelns im Speziellen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die vorliegende Arbeit untersuchen wird, wie im Krankenaktenbestand des Hauses Mahanaim die kategoriale Zuordnung der Frauen zur Kategorie Kranke/Patientin erfolgt oder – anders ausgedrückt – durch welche sprachlichen Verfahren aus Frauen dann in den Akten und auch in der alltäglichen Wahrnehmung Patientinnen werden. Die Analyse soll abschließend schwerpunktmäßig zur Beantwortung von folgender Fragestellung beitragen: Wie wird das kommunikative Handeln der Patientinnen (als eine spezielle Form kategoriengebundener Aktivitäten) dargestellt und wie trägt die Darstellung dieser Handlungen im Modell der „Sozialen Kategorisierung“ dann dazu bei, dass die betreffenden Personen der Kategorie Kranke/Patientin zugeordnet werden und anschließend diese kategoriale Zuordnung beständig wach gehalten und bestätigt wird?

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