Unterstützte Selbsthilfegruppen von Menschen mit Demenz – Michaela Kaplaneck

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20.12.2011

18:31 Uhr

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Selbsthilfegruppen unterstützen die Betroffenen, sich aus der Isolation zu befreien, ein Forum für die eigenen Themen zu finden und auf sich aufmerksam zu machen – auch bei Menschen mit Demenz kann das gelingen. Dieses Praxisbuch erläutert, warum Selbsthilfegruppen von Menschen mit Demenz so wichtig sind, zeigt ganz konkret , wie sie sich initiieren lassen, und stellt Ansätze für die Gruppenarbeit vor. Im Mittelpunkt steht das Konzept der Unterstützten Selbsthilfe: Die Betroffenen bestimmen selbst über Gesprächsthemen und Aktivitäten, berufliche und ehrenamtliche HelferInnen haben unterstützende und moderierende Funktion. Das Buch richtet sich an alle, die mehr über die Potenziale der Selbsthilfe von Menschen mit Demenz erfahren oder eine Unterstützte Selbsthilfegruppe

Unterstützte Selbsthilfegruppen von Menschen mit Demenz

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Michaela Kaplaneck

Anregungen für die Praxis

Michaela Kaplaneck

aufbauen und begleiten möchten.

Mabuse-Verlag ISBN 978-3-86321-021-2

Unterstützte Selbsthilfegruppen von Menschen mit Demenz Mabuse-Verlag


Michaela Kaplaneck, Jahrgang 1970, war zehn Jahre als Kranken-

schwester tätig, bevor sie Soziale Arbeit in Kiel studierte. Seit 2007 beschäftigt sie sich theoretisch und praktisch mit der Lebenssituation von Menschen mit beginnender Demenz sowie mit der Frage, wie die Soziale Arbeit hier unterstützen könnte. Sie ist Mitbegründerin der Arbeitsgemeinschaft Unterstützte Selbsthilfe (www.agush.de) und hat bereits mehrere Selbsthilfegruppen für Menschen mit beginnender Demenz initiiert und begleitet. Die praktisch gesammelten Erfahrungen gibt sie in Seminaren an interessierte Fachkräfte weiter. Seit 2010 lebt sie mit ihrer Familie in Göttingen.


Michaela Kaplaneck

Unterst端tzte Selbsthilfegruppen von Menschen mit Demenz Anregungen f端r die Praxis

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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Inhalt Selbsthilfe? Es geht! – Vorwort des Herausgebers............................... 9

Hinführung 1. Was soll ich denn da?........................................................................ 15 2. Perspektivwechsel – Gleich mehrfach bitte!................................... 16 Das Recht auf eine eigene Perspektive.............................................. 17 Hearing the voice................................................................................ 18 Ich spreche für mich selbst................................................................. 19 Die zivilgesellschaftliche Perspektive.................................................. 19 UN-Behindertenrechtskonvention....................................................... 20 Exkurs: Demenz und Soziale Arbeit..................................................... 22 3. Die Zielgruppe – Zur Situation von Menschen mit beginnender Demenz....................26 Begriffe können Unterschiedliches meinen..........................................27 Wer ist gemeint?....................................................................................28 Situationsbeschreibung..........................................................................29 Vor der Diagnose....................................................................................29 Die Diagnosestellung.............................................................................30 Nach der Diagnose.................................................................................34 Junge Betroffene...................................................................................37 Fehlende Bilder und Rollenangebote.....................................................37 4. Unterschiedliche Gruppenangebote – Vielfalt ist gut!....................38 Betreuungsgruppen für die „Fitteren“..................................................39 Verhaltenstherapeutische Frühintervention..........................................39 Sozialtherapeutische Tandemgruppen...................................................40 Psychoedukative Seminarangebote......................................................40

Unterstützte Selbsthilfe 5. Unterstützte Selbsthilfe – Das Konzept..............................................49 Selbsthilfepotenzial................................................................................49


Inhalt

Selbsthilfe ist keine Fremdhilfe.............................................................50 Die Gruppe ist ein geschützter Raum...................................................51 Die Betroffenen sind die Bestimmer.....................................................52 Es geht um Selbsthilfe – mit Unterstützung.........................................52 Nicht-Betroffene sind Dienstleister und Assistenz...............................53 In der Gruppe sind nur Betroffene.........................................................54 Die Teilnahme ist immer freiwillig.........................................................55 6. Spannungsfelder..................................................................................55 Spannungsfeld A: Zugang zur Gruppe...................................................55 Spannungsfeld B: Die Veränderung anerkennen..................................60 Spannungsfeld C: Sprache und Sprechen.............................................64 Spannungsfeld D: Grenzen der Gruppe.................................................67 Spannungsfeld E: Die Angehörigen.......................................................68 Spannungsfeld F: Zwischen Selbstbestimmung und Überforderung.... 77 Spannungsfeld G: Zwischen Selbstbestimmung und Support.............83

Handeln 7. Anregungen und Erfahrungen: Nun loslegen!.................................89 Worauf es im Vorfeld ankommt.............................................................89 Sich orientieren in der Angebotslandschaft..........................................91 Teilnehmerinnen gewinnen....................................................................92 Wenn potenzielle Teilnehmerinnen gefunden sind...............................93 Die ersten Gruppentreffen.....................................................................96 Aufgaben der Moderatorinnen...............................................................98 Welche Möglichkeiten der Finanzierung gibt es?.................................98 8. Wünsche und Forderungen von Menschen mit Demenz..............101

Service 9. Adressen und Links............................................................................105 10. Literatur und DVDs.............................................................................107




Selbsthilfe? Es geht! Vorwort des Herausgebers

Die beste Stelle, eine helfende Hand zu finden, ist am Ende des eigenen Arms. Graffiti

„Selbsthilfe? Wie soll das denn bei Demenzkranken gehen? Die sind doch gar nicht krankheitseinsichtig.“ Nicht von einer Person, die man als unwissenden Laien abtun könnte, sondern von der Fachkraft eines großen sozialen Trägers kam diese Reaktion. Sie galt der Nachfrage beziehungsweise dem Angebot einer engagierten Sozialarbeiterin, unter dem Dach eben dieses Trägers eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Demenz zu initiieren. Das ist erst kürzlich geschehen. Und es ist beileibe kein Einzelfall! Das Thema Demenz erfreut sich bereits seit längerer Zeit zunehmender Aufmerksamkeit. Das kann nur begrüßt werden. Doch sind es bisher immer noch vorwiegend berufliche Experten, die aus ihrer so genannten professionellen Perspektive schauen, diskutieren und ihre Ideen über das Leben mit Demenz entwickeln. Hauptsächlich darüber, wie man Ihrer Meinung nach mit demenziell veränderten Menschen umgehen, sie behandeln, pflegen, beschäftigen oder gar „versorgen“ soll. Betroffene mischen sich ein

Wo bleiben eigentlich die Experten aus eigenem Erleben, die Demenzbetroffenen, bei all dem? Diese Frage hat sich die Demenz Support Stuttgart gGmbH vor einigen Jahren gestellt und damit begonnen, eine Antwort zu suchen. Diese fiel erst einmal sehr ernüchternd aus: eigentlich nirgendwo! Jedenfalls nicht als handelnde, selbstbestimmte und ernstgenommene Subjekte, sondern fast ausschließlich als Objekte professionellen Denkens, Ausprobierens und Handelns. Das soll sich ändern, haben wir uns damals vorgenommen. Und wir haben angefangen, etwas zu tun. Andere sind gefolgt. Einige Meilenstei9


Selbsthilfe? Es geht! – Vorwort des Herausgebers

ne auf diesem Weg, an dessen Anfang wir immer noch stehen, der aber zu beschreiten begonnen wurde: Man kann heute gelegentlich Menschen mit Demenz mit ihren Meinungen und Sichtweisen in den öffentlichen Medien – in Zeitungen, in Rundfunksendungen oder auch schon einmal im Fernsehen – erleben. In einem sich an alle Gruppen der Gesellschaft richtenden Magazin – demenz. DAS MAGAZIN – haben Demenzbetroffene ein Forum der Selbstartikulation gefunden. In großen und kleinen Veranstaltungen vor Ort haben Menschen mit Demenz begonnen, sich zu äußern. Mittlerweile gibt es mehrere Forschungsprojekte, in denen die Perspektive von Betroffenen im Mittelpunkt steht. Es gibt nun auch im deutschsprachigen Raum die ersten Bücher, die von Demenzbetroffenen im Rahmen „unterstützten Schreibens“ verfasst wurden. In München wurde eine Demenzbetroffene in den Vorstand der lokalen Alzheimer Gesellschaft gewählt. Die Demenz Support Stuttgart gGmbH wird von einem Beraterkreis begleitet, der ausschließlich aus Menschen mit Demenz besteht. All das war vor recht kurzer Zeit noch undenkbar. Selbsthilfe – ein Thema gerät ins Rampenlicht

Als wir seinerzeit Gesprächspartner für das Buch „Ich spreche für mich selbst“ suchten, fanden wir diese in den wenigen Selbsthilfegruppen, die es für Menschen mit Demenz gab und gibt. Alle berichteten von der besonderen Bedeutung, die diese Gruppen für sie in dem Bemühen spielten, sich mit der Lebenssituation Demenz auseinanderzusetzen und neue Lebensperspektiven zu entwickeln. Nur: Es gab solche Gruppen offensichtlich kaum irgendwo! Die wenigen Gruppen, in denen wir zu Gast waren, wussten in der Regel nicht voneinander. Eine Nachfrage bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft ergab: Auch hier war nicht mehr bekannt, als das Wenige, das wir wussten. Eine Internetrecherche zu den Stichworten Selbsthilfe und Demenz verhieß mehr Erfolg: Die Liste mit den Suchergebnissen konnte 10


Selbsthilfe? Es geht! – Vorwort des Herausgebers

sich sehen lassen. Jedoch: Bei näherem Hinschauen sahen wir vor allem Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige. – Doch wo waren die Betroffenen? Pionierarbeit

Bei unserer Recherche nach Selbsthilfegruppen fanden wir zum einen recht wenige Gruppen in Deutschland und zum anderen sehr unterschiedliche Konzepte vor. Es gab einzelne Personen, die sich sehr stark für die Selbsthilfe von Menschen mit Demenz engagierten und dabei Pionierarbeit im Stillen leisteten. Als eine dieser Personen lernten wir Michaela Kaplaneck kennen. In ihrer und in der Arbeit weiterer Menschen konnten wir einen konzeptionellen – und gelebten! – Ansatz erkennen, den wir später gemeinsam als Unterstützte Selbsthilfe bezeichnen sollten. Wir freuen uns, dass Michaela Kaplaneck bereit war, auf dem Hintergrund ihrer fachlichen Kompetenz und ihres großen Erfahrungsschatzes mit Selbsthilfegruppen dieses Praxisbuch zu schreiben. Darin sind auch die Diskussionen von Gruppenmitgliedern und Moderatorinnen weiterer Gruppen eingeflossen, die auf Einladung der Demenz Support Stuttgart gGmbH und mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung in zwei Workshops weiter an dem Konzept der Unterstützten Selbsthilfe gearbeitet haben. Das Buch soll noch mehr Menschen in unserem Land motivieren und ermutigen, Unterstützte Selbsthilfe-Gruppen zu initiieren und zu begleiten. Lassen Sie sich anregen!

Demenz Support Stuttgart gGmbH im November 2011

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Hinf端hrung



1. Was soll ich denn da? So war das also! Keine fünf Wochen war es her, als Herr L. ein neues Leben begonnen hatte. Dieses neue Leben begann mit einem einzigen Satz seines Arztes: „Sie haben eine Demenz!“ Insgeheim hatte er so etwas schon geahnt und doch traf es ihn in diesem Moment hart – und auch seine Frau. Oft hatte Herr L. den Eindruck, dass es ihr deutlich schwerer fiel, die neue Situation zu akzeptieren – viel schwerer als ihm selbst. Nicht, dass er die Diagnose einfach weggesteckt hätte. Aber er war Realist genug, um zu wissen, dass man versuchen muss, mit Dingen zu leben, die man nicht ändern kann. Verdrängen oder die zunehmenden Schwierigkeiten im Alltag gar leugnen – das war seine Sache nicht. Seit ihm die Diagnose eröffnet worden war, hatte sich viel verändert. Wenn er aus dem Haus gehen wollte, setzte seine Frau sofort eine sorgenvolle Miene auf und bot sich an, ihn zu begleiten. Es war nicht einfach für ihn, ihr gut gemeintes Ansinnen abzuwehren. Seit zwanzig Jahren waren ihm seine täglichen Runden durch den Stadtpark heilig. Noch nie hatte ihn jemand dabei begleitet. Auch seine beiden erwachsenen Kinder verhielten sich bei ihren Besuchen ihm gegenüber anders: „Bleib sitzen, Papa, ich kann doch in den Keller gehen!“. Neulich, er wollte zum Supermarkt gehen und dort etwas für einen gemütlichen Samstagabend einkaufen, musste er sich richtig ärgern. „Das mach ich lieber“, hatte ihm die Tochter zugerufen und war auch schon gleich mit dem Auto losgefahren. Und bildete er sich das nur ein oder schauten ihn die Nachbarn nicht auch merkwürdig an, wenn er sie auf der Straße traf? Musste das alles so ein? Wie gerne hätte sich Herr L. einmal darüber mit anderen Menschen unterhalten, die das aus eigener Erfahrung kannten. Aber er kannte keine. 15


Hinführung

Zum Gespräch mit der Sozialarbeiterin der Alzheimerberatungsstelle war er alleine gegangen. Es war nicht einfach gewesen, seine Frau davon zu überzeugen, dass sie nicht dabei sein zu brauchte. Nur widerwillig hatte sie es schließlich akzeptiert. „Nachher vergisst du alles, was sie dir sagt und ich muss trotzdem noch einmal da hin“, war ihr Argument gewesen. Die Sozialarbeiterin hatte durchaus Verständnis dafür, dass er alleine in ihre Sprechstunde kam. „Lassen Sie uns einmal überlegen“, meinte sie, als er seinen Wunsch vorgebracht hatte, einmal Kontakt zu Gleichbetroffenen aufzunehmen. „Im Bürgerzentrum trifft sich jeden Montag eine Demenzbetreuungsgruppe“, bot sie schließlich an. Herr L. wollte mehr darüber wissen. Die Auskunft der Sozialarbeiterin, dass dort Demenzbetroffene unter Anleitung einer Altenpflegerin gemeinsam singen, Geschichten hören oder Biografiealben basteln würden, befriedigte ihn aber ganz und gar nicht. Was, bitte schön, sollte er dort? „Gibt es denn nicht so etwas wie eine Selbsthilfegruppe?“, fragte er schließlich. Sein Nachbar war seinerzeit in einer Selbsthilfegruppe für Menschen nach einem Schlaganfall gewesen. Vielleicht gab es ja auch so etwas für Menschen mit einer Demenzdiagnose. Selbsthilfegruppen gab es laut Auskunft der Sozialarbeiterin sogar mehrere in der Stadt – aber das waren alles Gruppen für pflegende Angehörige und nicht für Betroffene. „Tut mir leid“, schloss sie, „da kann ich Ihnen leider nicht helfen.“ Als er zu Hause die Tür aufschloss, kam ihm seine Frau aufgeregt entgegen. „Gott sei Dank bist du wieder da. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. War’s denn erfolgreich?“, fragte sie. „Ja, ja“, murmelte Herr L. leise. Er wollte jetzt erst einmal alleine sein.

2. Perspektivwechsel – Gleich mehrfach bitte! In den vergangenen 20 Jahren ist es in unserem Land gelungen, ein differenziertes Angebot an Hilfen1 für Angehörige von Menschen mit De16


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