Felix Leps - Zange am Hirn

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Zunächst sind es kleine Gewohnheiten, die sich in Felix Leps‘ Leben einschleichen und bestimmte Rituale von ihm einfordern: Kaffeepulver, das aus der Maschine zurück in den Aufbewahrungsbehälter muss, Essensreste, die im Kühlschrank auf einem Extrateller aufzuheben sind. Nach und nach gerät jedoch sein ganzer Tagesablauf zu einem einziges Zwangsritual.

Felix Leps

Zange am Hirn

Felix Leps schildert seine Zwangserkrankung äußerst eindringlich: von den ersten unauffälligen Symptomen, deren allmählicher Ausbreitung, bis die Zwänge in fast allen Lebensbereichen überhandnehmen. Die Kontrolle über sich und seinen Alltag erlangt er erst nach mehreren Anläufen in einer Therapie zurück.

Zange am Hirn Felix Leps

Dieser Erfahrungsbericht beschreibt die Symptome der Zwangserkrankung und vermittelt, wie wichtig es ist, sich Hilfe zu suchen. Er soll Betroffenen Mut machen und zeigen, wie notwendig das Zusammenspiel unterschiedlicher methodischer Ansätze ist, um eine Heilung zu bewirken.

Geschichte einer Zwangserkrankung

www.mabuse-verlag.de

ISBN 978-3-86321-144-8

Mabuse-Verlag


Felix Leps (Pseudonym) wurde 1960 in ZĂźrich geboren und studierte Germanistik und Geschichte. Er arbeitet heute fĂźr eine wissenschaftliche Institution.


Felix Leps

Zange am Hirn Geschichte einer Zwangserkrankung

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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Inhalt

Geleitwort 7 Vorwort 11 Der Schlächter

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Ohne Hintertürchen

19

How long, great Pumpkin, how long?

27

Die Abschottung vom wirklichen Leben

37

Falsche Alternativen

43

Bei null anfangen

53

Den Faden wieder aufnehmen

71

Das Alphabet der Gefühle lernen

77

Familienpuzzle 85 Rituale schleichen sich ein

95

Die Farben des Alltags

101

Die gefütterte Wut

109

Angriff auf die Zwänge I

115

Lesen mit der Brechstange

123

Die Zwänge greifen auf die Arbeit über

131

Die magische Fünf

137


Fressattacken 141 Angriff auf die Zwänge II

145

Eine offene Stelle in meinem Innern

151

Ein Tag im Zwangslabyrinth

159

Die Eskalation der Zwänge

171

Angriff auf die Zwänge III

179

Der Aufbruch

185

Epilog 199 Nachwort 201


Geleitwort Es kann hier nicht darum gehen, die langjährige Therapie eines psychisch schwer leidenden Menschen durch Quer- und Längsschnitte in eine Übersichtlichkeit zu rücken, der nichts als meine Einseitigkeit eignen würde. Kein Leser wird sich der Öde, der Beunruhigung, ja, der Angst, entziehen können, die sich bei der Lektüre dieses Buches einstellt: Ich als behandelnder Psychotherapeut am allerwenigsten. Nicht nur begegne ich meinem Mitmenschen Felix Leps auf neue Weise, sondern darüber hinaus auch mir selbst in teils unvertrauten Widerspiegelungen. Wenn Leben auf dunkle Weise bedroht ist, und das war es bei Felix Leps immer und immer wieder, regt sich reflexartig die Frage nach dem Warum, dem Wozu. Die Angst, die uns angesichts eines unerklärlichen Geschehens befällt, ist kaum zu ertragen. Ihr gesellt sich die Sehnsucht bei nach Eindeutigkeit, einem Lebensentwurf, einer Diagnose meinetwegen. Felix Leps’ Alltag war zeitweise randvoll von Ansprüchen, Erwartungen, von Gestalten und Gefühlen, die sich in der Begegnung mit der Außenwelt nur sehr schwer wiederzuerkennen vermochten. Es war dies ein unerbittliches Geschehen, das sich wie jenseits seiner Person vollzog. Zähl-, Ordnungs- und Waschzwänge trieben ihn tags wie nachts vor sich her. Eigenaktivität beschränkte sich auf blindes Ausführen des ihm Auferlegten. Für mich, den Therapeuten, ein Sammelsurium von Absurditäten, für Felix Leps nicht minder. Sein zunehmendes Gefühl des Irrewerdens spiegelte sich bisweilen im stummen Kopfschütteln ungebetener Zuschauer auf der Straße, wenn sie ihn dabei ertappten, wie er vor einem nur für ihn sichtbaren Hindernis auf dem Gehsteig auswich, Auf- und Abgeh-Rituale vollzog und dabei ins Schwitzen kam. Alle Konzentration darauf gerichtet, streng festgelegte Bewegungsabläufe nie ein- oder abbrechen zu lassen. Schlich sich auch nur die geringste Abweichung ein, hatte alles von vorne zu 7


Geleitwort

beginnen. Und dies auf die Gefahr hin, dass die zur Verfügung stehende Zeit und Kraft nicht mehr ausreichen könnten. Dann wäre unausweichlich eine Katastrophe eingetreten. Welche? Die Katastrophe schlechthin: unvorhersehbar, in keinerlei Weise kontrollierbar. Wie sich erst später herausstellte, war dies die Zeit, während der Felix Leps sein Zwangs-Tun in der Therapie möglichst verschwieg. Teils wohl, weil es sich dem zwischenmenschlich Mitteilbaren entzog, teils weil er es – durch das Aussprechen des Unsäglichen – mit der Angst zu tun bekam, ganz und gar verrückt beziehungsweise therapieresistent zu sein. Das Ringen mit den Zwängen hatte ihn an den Rand der Erschöpfung gebracht. Das Einzige, was uns bis dahin noch verbunden hatte, die Sprache, versiegte. Langsam erst und nach gezielter Befragung wurde ich gewahr, wie unabsehbar sein Leiden war. Damit wurde auch klar: Hier war dringend eine ärztliche Intervention vonnöten. Die Medikation zeigte Wirkung. Durch die von nun an mitbehandelnde Psychiaterin wurde die Dualität des therapeutischen Geschehens aufgebrochen. Die neu entstandene Dreiecksbeziehung war anfangs keine leichte. Desto bereichernder wirkte dann das Sicheinpendeln einer – wie ich meine – für alle Beteiligten effizienten und nahezu herzlichen Zusammenarbeit. Es begann eine Zeit des Aufbruchs, während der sich die Schubkraft der Zwänge verminderte. Zunehmend gelang es Felix Leps, das Ihn-Überkommende durch sein vom Medikament und der Therapie gestütztes Ich niederzuhalten. Eine Gegenbewegung, die der gemeinhin lebensabtötenden Zwangsstörung endlich standzuhalten vermochte. Die erdrückende Wucht des Ich-Fremden schwächte sich ab. Das Verbalisieren von innerem Erleben, von Begleitgefühlen, des Durch- und Ineinanders von Gedanken war indessen kaum möglich. Schweigen. Und immer wieder Schweigen. Bis das Unerwartete eintrat: Felix Leps, der mit Zeichnen angeblich nichts am Hut hatte, begann sich auf das Malen einzulassen. Eines um das andere förderte er Bilder zutage, die für sich selber sprachen. Wortreiche Erklärungen fühlten sich daneben schal an. Es entstand eine Suk8


Geleitwort

zession von Seelenlandschaften, die allein schon durch die Tatsache, dass sie sich aufs Papier bringen ließen, ein Gefühl der Befreiung aufkommen weckten. Bilder, vor denen wir anfangs stumm saßen. Das Wort floss nur zögerlich wieder ins Miteinander ein. Zu dieser Zeit begann Felix Leps auch seine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Schubweise las er mir die Texte vor. Im Schreiben wie im Malen offenbarte sich mit geradezu erschreckender Deutlichkeit ein Phänomen, das ich nur beiläufig zur Kenntnis genommen hatte: Felix Leps war mit einem fotografisch-akribischen Gedächtnis ausgestattet, das scheinbar nichts, aber auch gar nichts auszumustern imstande war. Am ehesten fiel mir das bei Dialogverläufen auf, die sich zwischen uns ereignet hatten, und die nun, nach Jahren, immer noch keines Jotas verlustig gegangen waren. Nirgends eine Spur von verblasster Erinnerung oder verdrängter Traumata. Alles lag offen da: Gleichzeitig und gleichwertig nebeneinander, egal ob trivial oder katastrophal, ob heutig, gestrig oder fernabliegend. Erinnertes klumpte zeitweilig, vermischte sich mit Gegenwartsbildern und entwickelte eine Sogwirkung, die Felix mit sich fortzureißen drohte. Vergangenes verschmolz mit Jetzigem und schlug, sich zusammenballend, mit der Wucht eines Meteoriten in ihn ein. Ich erinnere mich, ja, aber meine Erinnerung ist anders beschaffen als die seine, lückendurchsät, von Verdrängungs- und Abspaltungsschranken durchsetzt, ich erinnere mich noch heute an das für ihn wie für mich beinahe traumatische Erleben, als er einmal eine Therapiestunde vergaß. Was in einer – sagen wir mal – Durchschnittstherapie Anlass zu Spekulationen geben kann über subtile Widerstände und sich abzeichnende Übertragungsmuster, führte bei uns synchron erst zu einem erschrockenen Innewerden, hinterher aber zu einem erlösten Lachen: Verdrängung, die viel geziehene, als neue Errungenschaft! Und, wer weiß, als Anzeichen einer mählichen Ich-Erstarkung. Das gesprochene Wort war mittlerweile wieder aufgekommen und einte sich mit dem schriftlichen, dem bildnerischen Ausdruck. Darü9


Geleitwort

ber hinaus: Träume, bisweilen sehr lange. Von Felix teils als angenehme Begleiter erlebt, teils als aufwühlendes Nachtgeschehen. So oder so wirkten sie, gemessen am oft qualvollen Tagesablauf, geradezu harmlos. Träume, die primär nicht Erstarrung zum Ausdruck brachten, sondern Fluss. Ich habe die Endfassung der vorliegenden Aufzeichnungen mit zunehmender Erschütterung gelesen: Im Nachhinein tritt mit unverhüllter Brutalität zutage, was Felix Leps im Mithinein oft zu verheimlichen suchte. Eines leisen Einwandes kann ich mich indessen nicht erwehren. Mir scheint, dass Wichtiges zu kurz kommt in dieser Niederschrift: Der enorme Durchhaltewille von Felix Leps, seine Kompetenz im Berufsalltag, seine bildnerische Ausdrucksfähigkeit, seine menschliche Ausstrahlung schließlich. Und wenn er mich, den Therapeuten, im Vorspann seines Buches als Lebenslehrer bezeichnet, nehme ich das gerne zur Kenntnis – allerdings mit dem Wunsch, dass er akzeptieren kann, mir in mancher Situation auch einer gewesen zu sein. P. R.

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Vorwort Im Zentrum des nachstehenden Berichts steht die Beschreibung einer Zwangsstörung vom unauffälligen Sicheinschleichen der ersten Symptome, deren allmählichen Ausbreitung bis zum Überhandnehmen der Zwangsrituale in fast allen Lebensbereichen und zur raschen, erstaunlichen Besserung unter medikamentöser Behandlung. Diese Zwangsstörung war ein Abschnitt in einer viel länger dauernden Krankheitsgeschichte, die vor sechzehn Jahren nach einem Autounfall begann, der mich auf einmal mit der Realität konfrontierte und gleichzeitig meine ganze unverarbeitete Kindheitsgeschichte offen legte, sodass ich zusammen mit einer Therapeutin, später einem Therapeuten in jahrelanger Arbeit die damals aufgeworfenen Gefühle und Gedanken ordnen und ihnen einen Platz in meinem Leben zuweisen musste. So wie ich rückblickend zur Auffassung neige, dass der Ausbruch der Krankheit vor sechzehn Jahren auch ein Ausbruch aus einer zwei Jahrzehnte währenden kranken Situation war und damit der Beginn eines Weges in die Gesundheit, so frage ich mich, ob der Ausbruch der Zwangssymptome im Laufe der Therapie nicht eigentlich einen Fortschritt anzeigte, als Ausdruck davon, dass die eigentliche Problematik – die Auseinandersetzung mit meinem Gewissen – in den Griff genommen wurde. Ich kann die unermessliche Freude und Erleichterung nicht leugnen, die mich erfasste, als ich erste Wirkungen des Medikaments zu spüren begann. Festzustellen, wie die oft stundenlangen Rituale kürzer wurden und am Ende eines nach dem anderen ganz wegblieb, wie die zuvor annähernd verlorene Fähigkeit zu lesen wieder zurückkehrte und ebenso diejenige, auf der Straße geradeaus zu gehen, empfand ich als Rückkehr eines verloren geglaubten Lebens. Das Lebensfundament allerdings wurde in der jahrelangen psychoanalytischen Therapie gelegt.

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Vorwort

Eine kurze Verhaltenstherapie war ein gutes Mittel, um ganz gezielt einzelne Zwänge anzugehen und zu beseitigen. Wenn Leser und Leserinnen, die an derselben Krankheit leiden, wie sie in diesem Bericht beschrieben ist, sich in einzelnen Abschnitten wiedererkennen können und sehen, dass sie nicht allein sind mit dieser anstrengenden und zermürbenden Störung, dann hat für mich dieses Buch seinen Zweck erfüllt. Vielleicht kann es auch eine Anregung sein, Hilfe zu suchen. Es bleibt mir, all jenen zu danken, die mir geholfen haben, von der Zwangskrankheit wieder gesund zu werden, ganz besonders Frau Professor Dr. med. Brigitte Woggon, der Verhaltenstherapeutin Frau Charlotte Vogt und meinem Therapeuten, Lebenslehrer und Begleiter P. R. Felix Leps

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Der Schlächter Am 7. November 1984 stand ich abends – ich hatte tagsüber in der Bibliothek gearbeitet und war eben in meine Wohnung zurückgekehrt – unter der Dusche und besprühte mich mit kaltem Wasser. Ich hatte mir dies seit einigen Tagen zur Pflicht gemacht. Das kalte Wasser sollte mich bei Konzentration halten und verhindern, dass ich in einen Ruhezustand versank. Davon hatte ich in meinem bisherigen Leben genug gehabt. Ich war allen wirklichen Schwierigkeiten ausgewichen, hatte mich um alles Schmerzhafte gedrückt. So hatte ich mich durchs Leben geschummelt. Doch damit sollte es nun ein Ende haben. Jetzt sollte es kein angenehmes Sichausruhen mehr geben. Dieses Gefühl, sich jederzeit zurücklehnen zu können, musste ausgetrieben werden. Also duschte ich mich morgens und abends nach der Arbeit mit kaltem Wasser, abends auch zweimal, wenn das unzulässige Gefühl noch einmal festzustellen war. Wie jedes Mal bedachte ich mich auch jetzt mit heftigen Beschimpfungen. Ich nannte mich einen Schweinehund, der sich immer gedrückt habe. Ich befahl mir in einem Ton, der keine Widerrede zuließ, dass es damit nun ein Ende habe, dass es nun vorwärts gehen müsse. Sobald sanftere Gefühle aufkommen wollten, begann ich meine innerliche Tirade mit erhöhter Schärfe. So hatte ich es während mehrerer Tage getan und mich damit, wie ich es empfand, bei der Stange gehalten. Nun aber meldete sich eine zweite Stimme in mir. Es war die Stimme eines Kindes, das wimmerte und mich immer wieder um Erbarmen und Schonung anflehte. Ich war irritiert, sah mich auf einmal mit den Augen des Kindes und erblickte unverhofft das Bild eines japanischen Bauern vor mir, das ich vor einigen Tagen im Kunsthaus gesehen hatte und das mir seither nicht aus dem Sinn gehen wollte. Der Bauer hatte seinen rechten Arm erhoben, in der Hand hielt er eine Machete. Die angespannten Gesichtszüge des Mannes hatten mich erschreckt. Das Bild 13


Der Schlächter

zeigte den Mann in dem Augenblick, in dem er einem Tier den Kopf abschlagen wollte. Ich sah den Mann vor mir, dann fühlte ich ihn in mir. Der Schlächter, das war ich. Mir wurde schwindlig. Langsam verließ ich die Dusche und zog mich an. Mit kleinen Schritten tastete ich mich zum Bett und legte mich hin. Ich fühlte mich schwach, ich hatte Angst. Ich verstand nicht, was mit mir geschehen war, und befürchtete, dass der Schwindel anhalten und ein Zeichen für eine ernsthafte Erkrankung sein könnte. War er gar der Vorbote eines Herzinfarkts? Dieses Mal wollte ich etwas tun, das Geschehene nicht einfach vorüberziehen lassen, sondern handeln. Ich stand auf, trat ins Treppenhaus und stieg hinauf ins obere Stockwerk, zu einer Wohnung, wo, wie ich wusste, ein Mann meines Alters wohnte. Ich klingelte und erklärte der jungen Frau, die die Tür öffnete, dass es mir nicht gut gehe. Schwindel und Übelkeit bedrängten mich und ob sie in etwa einer halben Stunde nach mir schauen könne. Auf ihr diesbezügliches Versprechen hin ging ich zurück in meine Wohnung und rief den ärztlichen Notfalldienst an. Von dort wurde ich mit einer Arztpraxis verbunden, wo man mir anbot, dass ich unverzüglich kommen könne. Als die Nachbarin klingelte, konnte ich ihr sagen, dass ich in guten Händen sei. Im Taxi, von dem ich mich zur Arztpraxis fahren ließ, zitterte ich und blickte starr geradeaus. Weil mir wieder übel wurde, öffnete ich das Fenster. »Es geht mir nicht gut«, sagte ich, als ich beim Arzt im Sprechzimmer saß. »Ihnen geht es hundsmiserabel«, entgegnete der Arzt, das sehe man, und er forderte mich auf zu erzählen. Anstatt dem nachzukommen, brach ich in Tränen aus. Es dauerte eine Zeit, bis ich mich beruhigt hatte und wieder sprechen konnte. Vom Antreiben sprach ich, von dem Kaltwasserduschen, dem Schwindel, der Angst vor einem Herzinfarkt. Ob es die Liebe sei, fragte der Arzt, beim Herzen sei es meistens die Liebe. 14


Der Schlächter

Ja, von einer Freundin hätte ich mich kürzlich getrennt, auch die Wohnung gewechselt, nun lebte ich zum ersten Mal allein. Der Autounfall im Frühling, ein Schleudertrauma, nun die Abschlussarbeit, immer habe ich mich hängen lassen. Jetzt wolle ich dranbleiben. Und von den Eltern wolle ich mich lösen. Alles in meinem Leben habe ich bisher für sie getan, die Schule, das Studium. Wirklich alles? Nein, der frühere Deutschlehrer sei auch wichtig, einiges habe ich auch für ihn getan. Lehrer hatte ich wegen ihm werden wollen. Aber das wolle ich nicht mehr. Wovon solle ich Schülern erzählen? Was könne ich sie lehren, wo ich doch selbst noch gar nichts erlebt habe? Überhaupt hätte ich herausgefunden, dass die Wissenschaft ein Trugschluss sei. Der Arzt forderte mich auf, mich auf die Liege zu legen. Von neuem kamen Tränen. Ich solle einmal die Hand auf den Bauch legen, so. Der Puls war normal, der Blutdruck war es und die Geräusche des Herzschlags ebenso. »Was spüren Sie jetzt?«, fragte der Arzt. »Trauer. Nur Trauer.« »Wissen Sie, warum?« »Nein, ich weiß es nicht.« »Das müssen Sie herausfinden. Vielleicht können wir morgen ausführlicher besprechen, wie.« Am Ende der Konsultation erhielt ich eine einzelne, kleine Tablette für den Fall, dass es mir in der Nacht noch einmal schlechter gehen würde. Ich sollte sie als Talisman mitnehmen. Der Arzt gab mir eine einzelne Tablette, nicht etwa eine Packung. Ich war überzeugt davon, dass er befürchtete, ich könne mich mit einer ganzen Packung umzubringen versuchen. Und ich war zufrieden, dass er mir zutraute, dies wirklich zu tun. Als wir uns am darauf folgenden Tag wiedersahen, sprachen wir darüber, wie es nun mit mir weitergehen solle. Ich sah vor mir einen Weg, auf dem ich versuchen musste, das Gleichgewicht zu halten zwischen 15


Der Schlächter

den beiden extremen Polen in mir, dem selbstzufriedenen Zurücklehnen und dem erbarmungslosen, gewalttätigen Antreiben. Das sei eine schwierige Gratwanderung, die ich vor mir habe, meinte der Arzt, ob ich denke, dass ich sie allein wagen oder eine Begleitung dafür suchen wolle. Darüber hatte ich den Rest der Nacht nachgedacht und wusste auch schon die Antwort: Ich wollte eine Psychotherapie beginnen. Nach dem Besuch beim Arzt war mir klar geworden: Etwas war mit mir geschehen. Es hatte sich mit dem Schlächter etwas bemerkbar gemacht, von dem ich nicht wusste, was es war. Ich hatte etwas erlebt, tatsächlich erlebt. Ich hatte gehandelt, hatte den Notfalldienst angerufen, und ich war nicht wenig stolz darauf, denn ich hatte gezeigt, dass ich von mir aus etwas unternehmen konnte, wenn die Umstände es erforderten. Ich war überzeugt, bei dem Vorfall an meine Essenz gestoßen zu sein. Was geschehen war, machte mich aus, so wie ich wirklich war. Ich wusste, dass dieser Vorfall zusammenhing mit Gefühlen, die sich nach einem Autounfall vor einem halben Jahr zum ersten Mal gemeldet hatten. Damals hatten sie eine stark euphorische Färbung gehabt. Nun waren sie ins Bedrohliche umgeschlagen, und ich wollte wissen, was es war, das mich so umgeworfen hatte. Zwar fürchtete ich mich vor dem Moment, in dem das Etwas zurückkommen und mich überrumpeln könnte – vielleicht war der Schlächter stärker als ich, aber so ohne weiteres zur Tagesordnung überzugehen, davor fürchtete ich mich auch. Ich wollte den Kontakt zu dem, was mein wirkliches Wesen war, auf keinen Fall verlieren, jetzt, wo ich endlich gespürt hatte, was ich, wie ich glaubte, all die Jahre über mit meinen verschiedenen Süchten zugedeckt hatte: dem Onanieren, den Beziehungen zu Frauen, dem Essen von Schokolade, dem Hören der immer gleichen Musik. Dieses Mal wollte ich nicht weglaufen. Ich wollte zu diesem Punkt mit dem Schlächter zurückkehren, wollte es aber nicht alleine tun, sondern in Begleitung eines Therapeuten. 16


Der Schlächter

Mir war klar, dass dies weder ein einfaches noch ein ungefährliches Unterfangen war. Mehrmals empfand ich starke Angst in meiner Wohnung, weil ich das Gefühl hatte, dass der Schlächter sich ankündigte. Am bedrohlichsten war es in der Küche, wenn ich auf das im Brotkorb liegende Brotmesser sah. Mein Blick wurde wie selbstverständlich davon angezogen, ein Drang erfasste mich, nach dem Messer zu greifen und mir damit die Pulsadern aufzuschneiden. Würden sich dann nicht alle Rätsel lösen, die über mich gekommen waren? Glücklicherweise kam es nie dazu, dass ich das Brotmesser tatsächlich in die Hand nahm. Ich verstaute es schließlich in einer Schublade und schnitt das Brot fortan mit einem gewöhnlichen Messer.

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