Nele im Nebel – Ortrud Beckmann

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Ortrud Beckmann arbeitet bei der PFIFF gGmbH im Bereich Paten­ schaften für Kinder psychisch kranker ­Eltern. Sie ist Kinder- und Jugend­ lichentherapeutin (HPG) und hat in Hamburg das Auryn-Projekt für Kinder psychisch kranker Eltern auf­ gebaut und geleitet. Die dort gesammelten Erfahrungen sind in den Roman eingeflossen.


Ortrud Beckmann

Nele im Nebel Ein Jugendroman

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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VI So geht es nicht weiter Am nächsten Morgen saß Nele ein wenig benommen und verschämt am Frühstückstisch. Draußen war der Nebel vom Meer zurückgekehrt. Friedel fragte sie: »Wollen wir gleich zu den Pferden raus oder lieber noch ein bisschen abwarten, bis sich der Nebel lichtet?« Nele hatte es nicht sehr eilig. Sie fühlte sich matt und wollte in Ruhe die Katzen füttern. Gestern war so viel geschehen. Nele brauchte Zeit und sie war es gewohnt, viel allein zu sein und nachzudenken. Jemand hatte im Heizungsraum ein dickes Kissen auf den Boden gelegt. Nele setzte sich auf das Kissen und freute sich, aber irgendetwas in ihr sträubte sich gleichzeitig gegen diese freundliche Geste. Sie empfand das als Einschleimen. Oder war sie es einfach nicht gewohnt, dass jemand für sie sorgte? Obwohl es angenehm war, fühlte sie sich zum Kleinkind herabgesetzt. Sie war nicht mehr so klein! Nachdem Klabauter ein wenig gespielt hatte, rollte er sich auf Neles Schoß zusammen und schnurrte mit Hingabe. Zora kauerte in einiger Entfernung und kniff freundlich die Augen zusammen. Hier bei den Katzen fühlte sie sich wohl, vor denen brauchte sie sich nicht zu schämen. Dennoch war ihr das Ereignis der letzten Nacht entsetzlich peinlich. Sie

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hatte das Gefühl, sich langsam zum Kleinkind zurückzuentwickeln! Als sie wieder ins Haus kam, saßen Onkel Leo und Tante Friedel noch am Frühstückstisch. Sie winkten Nele heran: »Wir müssen mit dir über die Schule reden. Frau Nickels vom Jugendamt und dein Betreuer aus der Wohngruppe sind der Meinung, dass du so bald wie möglich wieder zur Schule gehen solltest. Wir haben mit dem Leiter des Gymnasiums am Hafen gesprochen und er wird dich gern in die siebte Klasse aufnehmen. Wir sind aber nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Vielleicht solltest du erst einmal in Ruhe ankommen und vor allem muss Werner einverstanden sein.« Nele traf der Schlag. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, dass sie hier zur Schule gehen sollte. Dass es hier überhaupt eine Schule gab! Ohnmächtige Wut stieg in ihr auf. »Ihr entscheidet alles mal eben so über meinen Kopf hinweg!«, schrie sie. »Ich will hier nicht zur Schule gehen, auf dieser verdammten Insel. Ihr denkt wohl, ihr könnt einfach bestimmen, dass ich hier wohnen soll. Ich will das alles nicht!« Sie rannte nach oben, wusste nicht, was sie machen sollte. Sie musste raus! Sie stürmte wieder nach unten an Leo und Friedel vorbei, zog sich Jacke, Stiefel und alles an und rannte nach draußen – nicht ohne die Tür fest ins Schloss zu knallen. Durch den Nebel hindurch stolperte sie den Weg zum Strand hinunter. Dabei murmelte sie halblaut vor sich hin: »Jetzt wollen die mich hier schon einschulen, das können die doch nicht machen! Ich gehöre zu Mama! Die können

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doch nicht einfach so entscheiden, nur weil die keine Kinder haben. Was bilden die sich eigentlich alle ein. Keiner weiß, was mit Mama ist, keiner kümmert sich um Mama.« Tränen schossen ihr aus den Augen und liefen ihr erst heiß und dann eiskalt die Wangen herunter. »Ich kann das doch nicht alles allein schaffen«, jammerte sie laut vor sich hin. Wütend und verzweifelt kämpfte sie sich zwischen den Eisstücken hindurch, die von der letzten Flut am Strand zurückgelassen worden waren. »Was soll ich nur tun?«, hämmerte es in ihrem Kopf. Sie lief und lief und je länger sie lief, umso ruhiger wurde es in ihr. Sie musste sich auf das Laufen konzentrieren. Irgendwann – sie wusste nicht, wie lange sie gelaufen war – blieb sie stehen, schaute sich um und lauschte. Eisschollen, ein wenig Schnee und gefrorener Sand. Der Rest verschwand im Nebel. Irgendwo weit draußen musste das Wasser sein. Hören konnte sie es nicht. Es war sehr still. Eine einzelne Möwe kreischte verloren. Ein paar Krähen hüpften nicht weit von ihr herum. Sie hoben sich schwarz und krächzend von der weißen Stille ab. Nele fühlte sich so unendlich allein. Auf einmal wusste sie, was sie machen wollte. Es war, als würden die Wolken in ihrem Kopf aufreißen und ein Stück Himmel freigeben: Sie wollte reden! Mit Leo und Friedel! Sie wollte, sie musste ihnen alles sagen! Alles! Bisher hatte sie immer alles für sich behalten, weil Mama nicht wollte, dass sie mit irgendjemandem redete. Mama war mit allen zerstritten. Aber jetzt war

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Mama schon so lange weg und hatte sie ganz alleingelassen. Da musste sie doch etwas tun. Und was sollte sie denn sonst machen? Immerhin waren sie Onkel und Tante und mit denen zu reden war immer noch besser als mit dem Jugendamt oder einem Erzieher. Die verstanden sowieso nur die Hälfte und helfen konnten die auch nicht wirklich. Oder sie entschieden etwas, das man gar nicht wollte, und fragten nicht einmal. Nele drehte sich um, auch weil sie fürchtete, sich im Nebel zu verlaufen. Besser war es wohl, zurückzugehen. Vor ihr, in einiger Entfernung, stand eine kleine schwarze Gestalt. Sie stand einfach so da und bewegte sich lange nicht. Nele kniff die Augen zusammen und versuchte, die Gestalt zu erkennen. Sie hatte das Gefühl, die Gestalt würde versuchen, auch sie zu erkennen. Dann schoss es ihr plötzlich durch den Kopf: Was wäre, wenn das Mama wäre, die nach ihr Ausschau hielt, die sie suchte? Nele setzte sich in Bewegung, sie musste sich vergewissern. Ja, vielleicht war Mama hergekommen, um sie zu holen. Nele rannte schneller, rutschte und stolperte. Die rundliche Gestalt hatte Mamas Größe, hatte ihre Statur. Sie bewegte sich wie Mama. Die Gestalt in der Ferne hatte sich nun auch in Bewegung gesetzt. Nele musste sie unbedingt erreichen. Sie begann zu keuchen. Die schwarze Gestalt ging unbeirrt weiter, immer weiter. So sehr sich Nele auch mühte, der Abstand zwischen ihnen wurde nicht geringer.

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Nele schnappte nach Luft, sie musste immer wieder anhalten. Ein Ring hatte sich um ihre Brust gelegt. Sie rang nach Luft und kramte in ihren Taschen. Na klar, sie hatte das Spray vergessen! Sie konnte kaum noch weitergehen. Die schwarze Gestalt wurde kleiner statt größer. Nele wollte schreien: Mama, warte auf mich! Sie brachte nur ein Röcheln zustande. Höchstens ein, zwei Schritte schaffte sie noch, bis sie auf einer Eisscholle niedersank und laut röchelnd und pfeifend nach Luft rang. Verzweifelt schaute sie der schwarzen Gestalt nach, die immer kleiner wurde und schließlich in der Ferne verschwand. Nele stemmte sich hoch und suchte weiter nach ihr. Keuchend versuchte sie, den Nebel zu durchdringen, bis es vor ihren Augen zu flimmern begann. Nele hatte kaum noch die Kraft, etwas zu erkennen. Kam da ein Reiter auf sie zu? Oder war das ein Trugbild? Sie war so sehr mit dem lebensnotwendigen Atmen beschäftigt, dass ihr Gehirn alle anderen Wahrnehmungen abschaltete. Aber es war tatsächlich so, da kam ein Reiter, eine Reiterin, auf sie zugezuckelt. Das Pferd bewegte sich flink und lief geschickt zwischen den Eisschollen hindurch. Dennoch dauerte es eine halbe Ewigkeit, ehe Friedel bei Nele ankam. Mit einem Satz sprang sie vom Pferd, war bei Nele und hielt ihr das Spray vor den Mund. Nele sog das Medikament ein, aber ihr Atem war so blockiert, dass kaum etwas in der Lunge ankam. »Setz dich auf das Pferd«, sagte Friedel bestimmt. »Ich hebe dich hinauf, du musst nur den Fuß in den Steigbügel stellen.« Nele

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saß gekrümmt auf dem Sattel. Sie krallte ihre Finger in die dichte Mähne und stützte sich auf dem Pferdehals ab. Friedel holte ihr Handy aus der Tasche. »Leo, ruf Werner! Ja, ein Anfall. Und komm uns entgegen, ja, am Strand nach Westen.« Nele wusste später nicht mehr, wie sie ins Haus gelangt war. Als sie zu sich kam, lag sie auf der Couch und Dr. Wallat gab ihr bedächtig eine Spritze. Bald löste sich der Krampf in ihrer Brust. »Wird besser, hm? Na, nächste Woche kommst du noch einmal zu mir und dann machen wir zusammen einen richtigen Plan, hm?« – Nele nickte matt. Leo brachte ihn zur Tür und bedankte sich mehrmals. Sie murmelten noch ein wenig. Friedel saß neben Nele und schaute sie lange ernst an. Neles Atem war wieder lang und gleichmäßig. Dann lächelte sie: »Herzlichen Glückwunsch, das war deine erste Reitstunde unter erschwerten Bedingungen. Ich glaube, du bist ein Naturtalent!« Ein ganz kleines bisschen Glück blitzte in Neles Augen auf. Leo setzte sich zu ihnen. Nele erinnerte sich an ihren Entschluss, von nun an über alles reden zu wollen: »Ich habe Mama gesehen!« Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen. Friedel und Leo tauschten einen langen ernsten Blick, dann tupfte Friedel ihr sanft die Tränen ab. »Weine nur, Nele-Maus, dein Kummer ist so groß, weine nur! Wir sind bei dir!« Nele weinte so lange, bis es in ihr ruhiger wurde. Leo und Friedel saßen bei ihr und hörten ihrem Schluchzen zu. Sie hörten die Verzweiflung, die Ohnmacht und die große Trauer.

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In Leo reifte ein Entschluss: »Ich werde mich auf die Suche machen! Ich werde deine Mama suchen, Nele. Du weißt, was das bedeutet?« – »Wir können sie finden oder ... oder wir kriegen raus, dass ... dass etwas Schlimmes passiert ist?« – »Genau. Nele, bist du bereit dazu?« – »Ich weiß nicht«, zögerte Nele. »Darüber hat bisher noch nie jemand mit mir gesprochen. Oma wollte nicht wissen, was passiert ist. Ich glaube, sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben müssen.« »Wir reden später noch einmal darüber«, schlug Onkel Leo vor. Nele sank in die Kissen zurück. Onkel Leo setzte sich an seinen Schreibtisch. Er hatte leise Musik angestellt und Friedel hantierte in der Küche. Nele war fest und tief eingeschlafen. Ein lang gestrecktes, kräftiges »Haallllooooo« weckte sie auf. Noch ehe sie begreifen konnte, woher das kam, folgte ein zweistimmiges »Schschsch, sie schläft!« Danach wurde am Esstisch zu dritt weitergeflüstert. Nele wurde neugierig und rekelte sich auf dem Sofa. Bald näherten sich schwere Schritte. Nele blickte in ein freundliches Gesicht über einem enormen Bauch. Friedel stand untergehakt neben dem Mann: »Nele, das ist unser Freund Frantisek. Du erinnerst dich, er hat Clemens wieder auf die Beine gestellt.« – »Clemens hat sich vor Schreck lieber selbst auf die Beine gestellt, als er Frantisek mit seinen Messern und Nadeln kommen sah«, frotzelte Leo im Hintergrund, während er den Tisch deckte. »Haallllooo, Nele!« Frantisek zog sie einfach vom Sofa hoch und küsste sie rechts und links und rechts. »Ich freue mich sooo sehrrre, dass ich dich

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endlich sehe!« Nele war völlig überrumpelt. Normalerweise wehrte sie sich und ließ niemanden nah an sich herankommen. Aber Frantisek war so herzlich und mitreißend, dass sie gar nicht auf die Idee kam. Er legte einen Arm um ihre Schulter und setzte sich mit ihr zusammen wieder auf das Sofa. »Na, erzähl mal, wie geht es dir auf der Insel bei unserem großen Dichter und der kleinen wundervollen Künstlerin?« – »Guuut«, sagte Nele etwas schüchtern und möglichst cool. Leo rief zum Essen und Frantisek zögerte nicht lange. Am Tisch sog er den Duft des Essens ein, kniff die Augen zusammen und erklärte strahlend: »Wundervoll!« Es gab Rindergulasch mit Kartoffelpüree und Salat. Frantisek nahm sich nur wenig, aß voller Genuss und wiederholte mehrmals: »Wundervoll, wundervoll!« Nele staunte. Noch nie hatte sie jemanden gesehen, dem das Essen so viel Spaß machte und der so fröhlich war. Durch seine bloße Anwesenheit hatte sich die Zimmertemperatur um einige Grade erwärmt. Leo und Friedel lachten und scherzten mit Frantisek wie mit einem uralten Freund. Wenn er lachte, warf er seine braune Dirigentenmähne nach hinten. »Ihr müsst morgen unbedingt zu uns kommen, wir haben Neuigkeiten!«, erklärte er und zu Nele gewandt: »Sag mal Nele, wie bewegst du dich auf der Insel? Mit dem Fahrrad? Ist vielleicht gar nicht so gut, mit deinem Asthma und wenn der Wind so stark ist … Ich habe ein altes Mofa, das ist sehr praktisch und ist ganz hübsch rosa.« Neles Augen mussten wohl

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die Größe von Tellern angenommen haben, als Leo bremsend eingriff: »Frantisek, Nele ist erst 13!« – »Ach ja? Ja, ja, ich weiß, ich bin in Deutschland, aber vielleicht muss jemand mit K und K reden.« K und K, so erklärte Leo, das waren Karl und Kurt, die beiden Inselpolizisten. Friedel schob den Rest des Essens zu Frantisek, der beglückt zulangte, und wechselte das Thema: »Einer der Brüder von Klabauter wohnt bei Frantisek und Inga, da können wir ihn nächsten Sonntag besuchen.« Ja, das wollte Nele. Die Erwachsenen machten Kaffee und Kakao für Nele. Dann wickelte Frantisek sie wieder in die Decke. Von ihm ließ sie es sich gefallen. Es war seltsam, aber Frantisek konnte offenbar nicht nur Pferdebeine heilen, sondern auch Menschenseelen. Sie legte sich wieder auf die Couch, alle setzten sich zu ihr. Während sie sich unterhielten, schloss Nele die Augen und ein seltsames, fast vergessenes Gefühl durchströmte sie: Sie war nicht mehr allein, nicht mehr für alles verantwortlich und nicht für jede Lösung zuständig. Ja, sie war bereit, sie wollte wissen, was mit Mama war! Onkel Leo sollte sie suchen, selbst wenn sie dann mit Gewissheit erführe, dass sie nicht wiederkam. Sie wollte endlich den Nebel aus ihrem Kopf bekommen. Sie wollte klar sehen und nicht immer mit dem Denken aufhören, wenn die schwarzen Gedanken auftauchten. Es war, als würden ihre Gedanken von schwarzen Löchern aufgesogen. Dann wurde sie ganz schlapp und müde. Sie musste sich ablenken,

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mit Fernsehen oder PC-Spielen, bis sie alles vergessen hatte und es wieder nebelig grau in ihr war. Beim Abendessen teilte Nele ihren Entschluss mit. Sie bat Onkel Leo, sich auf die Suche nach ihrer Mutter, seiner Schwester zu machen. »Danke für dein Vertrauen«, sagte Leo und sah sie lange ernst an. Friedel legte ihre Hand auf Neles und drückte sie fest: »Du bist sehr mutig!«

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