Demenz und Atmosphäre – Jan Sonntag

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Der Autor Jan Sonntag, Dr. sc. mus., ist Diplom-Musik­ therapeut (FH) DMtG, Heilpraktiker für Psylehrer BDY/EYU. Er chotherapie und Yoga­ arbeitet als Therapeut, Forscher, Berater, Dozent und Autor seit 1999 schwerpunktmäßig im Bereich Demenz. Neben der musiktherapeutischen Tätigkeit in mehreren Hamburger Pflegeeinrichtungen hält er Vorträge und leitet Seminare, berät und begleitet deutschlandweit Wohn- und Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Demenz, darunter ausgewiesene Vorbildeinrichtungen. Jan Sonntag lehrt an Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen, ist Mitglied der Deutschen Experten­ gruppe Dementenbetreuung (DED), Mitautor des Grundlagenwerks „Musik – Demenz – Begegnung. Musiktherapie für Menschen mit Demenz“ und Redakteur der Musiktherapeutischen Umschau. Gemeinsam mit seiner Frau führt er die Praxis „Alte Wache“ in H ­ amburg.


Jan Sonntag

Demenz und Atmosph채re Musiktherapie als 채sthetische Arbeit

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de. Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de.

Diese Arbeit wurde im April 2013 von der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Institut für Musiktherapie, als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades des Doctor scientiae musicae angenommen.

© 2013 Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1 a 60486 Frankfurt am Main Tel.: 069 – 70 79 96-13 Fax: 069 – 70 41 52 verlag@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de Satz: Björn Bordon/MetaLexis, Niedernhausen Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main Umschlagfoto: © Michael Hagedorn, Hamburg Druck: Faber, Mandelbachtal ISBN: 978-3-86321-153-0 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten


Inhalt Prolog 11 1 Einf체hrung

13

1.1 Problemstellung im Hinblick auf Demenz

13

1.2 Problemstellung im Hinblick auf Musiktherapie

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1.3 Praxiskontext und Fragestellung

19

1.4 Wissenschaftlicher Zugang

20

1.5 Theoretische Perspektive

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1.6 Zielsetzung

23

2 Institutioneller Kontext

27

2.1 Die Besondere Station채re Dementenbetreuung

28

2.1.1 Klientel und Finanzierung 2.1.2 Personalausstattung 2.1.3 Inhaltliche Konzepte 2.1.3.1 Domus-Prinzip 2.1.3.2 Milieutherapie

30 31 32 32 34

2.2 Das Hamburger Modell der Musiktherapie

36

2.2.1 2.2.2

37 40

Organisatorische Aspekte Musiktherapeutisches Aufgabenspektrum

2.3 Aktuellere Entwicklungen

3 Forschungsprozess

41

45

3.1 Materialbildung in reflektierter therapeutischer Praxis

46

3.1.1 3.1.2

47 48

Sedimentieren von Erfahrungswissen Erfahrungswissen im Dialog

3.2 Gegenstandsangemessenheit in der Forschung

50

3.2.1 3.2.2

52 54

Zum Verh채ltnis von Kunst und Wissenschaft Zum Verh채ltnis von Therapie und Wissenschaft


3.2.3 3.2.4 3.2.5

Nichtrationale Anteile am Erkenntnisprozess Rezeptivität und Durchlässigkeit Konzentration und Diffusion

55 57 58

3.3 Disziplinierte Subjektivität

59

3.4 Theorie als Sehhilfe und Forschungsziel

61

3.5 Methodische Schritte

63

3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5

64 68 70 73 75

Schritt I: auswählen Schritt II: aufbereiten Schritt III: sortieren Schritt IV: verdichten Die Spirale der Erkenntnis

3.6 Darstellungsform der Forschungsarbeit

76

4 Interdisziplinärer Theoriehintergrund

81

4.1 Flankierende Wissensgebiete

83

4.1.1 Ökologie 4.1.2 Spiritualität 4.1.3 Ästhetik 4.1.4 Anthropologie 4.1.5 Psychologie 4.1.6 Systemtheorie 4.1.7 Kunst

83 85 89 91 93 97 99

4.2 Die Theorie von Atmosphären

101

4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.3.3 4.2.3.4 4.2.3.5 4.2.4 4.2.4.1 4.2.4.2 4.2.4.3

103 105 107 108 109 111 112 113 114 115 119 124

Die zentrale Kategorie in ihrer begrifflichen Umgebung Einführung in die Theorie von Atmosphären Die Atmosphärentheorie von Gernot Böhme Ästhetik als Grundbedürfnis Leiblichkeit und sinnliches Spüren Die Ekstasen der Dinge Atmosphäre als Zwischenphänomen Passiv und Aktiv Erweiterte Atmosphärentheorie Grenzen als Schwellenräume Der Stellenwert des Kognitiven Performanz und Zwischenleiblichkeit


5 Atmosphäre als Verstehenszugang

131

5.1 Atmosphären im Leben und Erleben Demenzbetroffener

131

5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6

132 134 139 143 151 155

Vermutetes Erleben Traumwelten Leben im Augenblick Musikalisierung der Sprache Sinn für Sinnliches Die wachsende Bedeutung von Atmosphären

5.2 Musik als Atmosphäre

157

5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7

159 161 162 165 170 172 175

Musik als Raumkunst Der erlebte Raum Sinnlichkeit wecken Atmosphären in zeitgenössischer Musik Das Verhältnis von Klang und Atmosphäre Das Hören als solches Das Handeln als solches

5.3 Therapeutische Atmosphären

177

5.3.1 Atmosphäre als Behandlungsfokus 178 5.3.2 Maligne Atmosphären 182 187 5.3.3 Therapeutische Atmosphären 188 5.3.4 Kernfunktionen Therapeutischer Atmosphären 5.3.4.1 Zur-Welt-Kommen 190 192 5.3.4.2 In-der-Welt-Sein 195 5.3.4.3 Aus-der-Welt-Gehen 5.3.5 Merkmale Therapeutischer Atmosphären 198 201 5.3.5.1 Therapeutische Atmosphären sind ummantelnd 5.3.5.2 Therapeutische Atmosphären bergen Unverstandenes und Angedeutetes 203 204 5.3.5.3 Therapeutische Atmosphären sind dezent 5.3.5.4 Therapeutische Atmosphären ermöglichen gemeinsames Anwesendsein 206 5.3.5.5 Therapeutische Atmosphären sind einladend 208 211 5.3.5.6 Therapeutische Atmosphären sind verbindend 212 5.3.5.7 Therapeutische Atmosphären sind freundlich 5.3.5.8 Therapeutische Atmosphären sind ausgleichend 213 5.3.5.9 Therapeutische Atmosphären sind entlastend 215


6 Atmosphäre als handlungsleitendes Konzept

219

6.1 Personenbezogenes Handeln

219

6.1.1 Offenes Setting: der Handlungsrahmen 6.1.1.1 Die Nische als Ort des Wohlbefindens 6.1.1.2 Der atmosphärische Raum 6.1.1.3 Formen der Partizipation im offenen Setting 6.1.2 Haltungen: der Handlungsgrund 6.1.2.1 Gelassenheit 6.1.2.2 Sorge 6.1.2.3 Rezeptivität 6.1.3 Prinzipien: die Handlungsrichtlinien 6.1.3.1 Beiläufigkeit 6.1.3.2 Milieusensibilität 6.1.3.3 Bedürfnisorientierung 6.1.3.4 Situativität 6.1.3.5 Intermedialität 6.1.3.6 Inklusion 6.1.3.7 Begleitung 6.1.3.8 Langsamkeit 6.1.3.9 Passung 6.1.3.10 Unabgeschlossenheit 6.1.4 Methoden: die Handlungsweisen 6.1.4.1 Einstimmen 6.1.4.2 Abwarten 6.1.4.3 Wahrnehmen 6.1.4.4 Ummanteln 6.1.4.5 Einmischen 6.1.4.6 Aufgreifen 6.1.4.7 Verstärken 6.1.4.8 Unterhalten

222 223 227 228 235 236 239 241 244 244 246 247 248 250 252 255 256 258 259 261 263 264 266 268 269 271 273 275

6.2 Milieubezogenes Handeln

276

6.2.1 6.2.1.1 6.2.1.2 6.2.1.3 6.2.1.4 6.2.2 6.2.2.1

277 277 280 283 286 288 289

Konzeptionelle Grundlagen Das auditive Milieu in Hörweite der Musiktherapie Die Komposition auditiver Milieus Das Problem mangelnder Wohnlichkeit Die besondere Situation Demenzbetroffener Handlungsleitende Einflussgrößen Quantität


6.2.2.2 Qualit채t 6.2.2.3 Akustik 6.2.2.4 Pragmatik 6.2.2.5 Musik

7 Zusammenfassung und Ausblick

293 295 296 298

305

Epilog 309 Literaturverzeichnis 311 Verzeichnis der Anmutungszitate

331

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

334

Danksagung 335


Prolog Dieses Buch beinhaltet im Wesentlichen eine therapeutische Konzeption aus der Praxis für die Praxis und beschreibt, wie sie entstanden ist. Es wurzelt im Erfahrungsfeld der Musiktherapie, ist aber in weit umfänglicherem Maße der Entwicklung der Begleitung demenzbetroffener Menschen verpflichtet. Sein Ziel ist es, ein besonderes Gepräge musiktherapeutischer Arbeit theoretisch zu begründen und handlungspraktisch zu entwickeln. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Erlebnisdimension von Atmosphären, in der Unbehagen und Wohlbefinden gefühlsbezogen wahrgenommen werden und die wortlos Auskunft gibt auf die Frage, wie man sich befindet, dort, wo man sich befindet. Im Lichte von Atmosphären erscheinen tiefliegende Beziehungen zwischen Demenz und Musik, die eine ästhetische Ausrichtung therapeutischer Begleitung nahelegen. Wie Atmosphären therapeutisch gestaltet werden können, ist die Kernfrage, der dieses Buch nachgeht. Mit den Worten der demenzbetroffenen Pflegeheimbewohnerin Frau R., die sie im Duktus tiefer Überzeugung am Ende einer musiktherapeutischen Begegnung an mich richtete, möchte ich auf die fundamentalen anthropologischen und ästhetischen Implikationen von Atmosphären aufmerksam machen: Ich mag es, wenn Dinge auf Schönheit gegründet sind, wenn sie zueinander passen und zu den Menschen passen. Das kann man aber nicht heranziehen, das muss man finden. Und manchmal findet es sich, und dann löst es sich wieder auf. Ob das stimmt, was ich sage, weiß ich nicht. Aber ich hoffe es. (FV 01.06.2006) Frau R. ist 92 Jahre alt, Familienmutter und Schneiderin im Ruhestand. Ihre medizinische Diagnose: mittelgradige Demenz, vermutlich vom Alzheimertyp. Trotz gravierender Verstandeseinbußen hat sie sich ihren Sinn für Ästhetisches bewahrt und – bei aller Unsicherheit – die Fähigkeit, davon zu erzählen. Die meisten Personen, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, können das nicht, jedenfalls nicht in Worten. Gleichwohl bleibt ihnen ein Gespür für das, „was zusammenpasst und was zu den Menschen passt“, vermutlich bis zum Tode erhalten. Dieses Passen als eine erlebbare Übereinstimmung von

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Prolog

Dingen und Menschen lässt sich gewiss nicht verlässlich herstellen: „Manchmal findet es sich, und dann löst es sich wieder auf.“ Aber wenn es einmal gefunden ist, dann führt das zum Erleben von Schönheit. Die Kunst spielt auf der Suche nach Schönheit eine Schlüsselrolle. Durch sie und in ihr können Atmosphären tief empfundener und gemeinschaftlich geteilter Übereinstimmung wahrgenommen und gestaltet werden.

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1 Einführung In Analogie zur musikalischen Exposition folgt in diesem Kapitel die Einführung in die zentralen Motive und Themen dieser Forschungsarbeit. Zunächst skizzenhaft angedeutet, werden sie im Laufe der Arbeit an Prägnanz gewinnen und gleichzeitig facettenartig aufgefächert. Erste Einblicke gelten dem Praxiskontext, der wissenschaftlichen Position sowie der theoretischen Perspektive der Untersuchung. Des Weiteren werde ich die Gemengelage beschreiben, in der die Untersuchung hinsichtlich Demenz und Musiktherapie stattfand, ihre Fragestellung formulieren sowie ihre Zielsetzung erläutern.

1.1 Problemstellung im Hinblick auf Demenz In den vergangenen Jahren hat sich das öffentliche und fachliche Bild des Phänomens Demenz vielschichtig geformt. Es wird vor dem Hintergrund medizinischer, pflegerischer, ethischer, soziologischer, psychologischer, ökonomischer, demographischer und therapeutischer Fragestellungen diskutiert. Dieser Facettenreichtum macht hinsichtlich der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung sprachliche Differenzierungen notwendig. Wähle ich Demenz als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung, so gelingt dies, indem ich das Phänomen mit der empirischen Ausgangsbasis der Untersuchung in Beziehung setze. Mein Erfahrungshintergrund speist sich aus langjähriger, intensiver Auseinandersetzung mit dem Erscheinungsbild Demenz im Rahmen praktischer, forschender und lehrender Tätigkeit als Musiktherapeut in interdisziplinären Zusammenhängen. Insbesondere trugen zahllose musiktherapeutische Begegnungen und Beobachtungen des Lebens schwer demenzbetroffener Menschen in Pflegeheimen zu meinem Verständnis von Demenz bei. Sicher kann dem Phänomen nicht mit einem Verstehenszugang begegnet werden, genauso wenig wie die individuellen Erfahrungen mit Demenz nicht dazu geeignet sind, eine Theorie zu bestätigen. An sich gibt es nur den Einzelfall und selbst, wenn in einer Arbeit wie der vorliegenden Verallgemeinerungen nicht nur unumgänglich, sondern gefordert sind, so sind sie doch anzweifelbar und sollen es auch bleiben.

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1 Einführung

Im achtjährigen Entstehungszeitraum dieser Arbeit entwickelten zwei meiner nahen Angehörigen und einige nähere oder entferntere Bekannte Demenzen unterschiedlicher Formen und Ausprägungen. Damit liegt der Grad meiner demenziellen „Betroffenheit“ etwa im gesamtgesellschaftlichen Mittel. Das hohe Aufkommen demenzieller Erscheinungen in den alternden Bevölkerungen der Industriestaaten wird in den meisten wissenschaftlichen Studien als Begründung für die Notwendigkeit extensiven Forschens mit beeindruckenden Zahlen belegt. Gleichzeitig wird in der öffentlichen Meinung das beunruhigende Bild einer Gesellschaft gezeichnet, deren Mitglieder am Ende ihres Lebens das einbüßen, was seit der Aufklärung als conditio humana schlechthin gilt: ihren Verstand. Für den westlich sozialisierten Menschen scheint eine besondere Gefahr von dem Verlust des Denkvermögens und des Gedächtnisses auszugehen, da er seine Vorstellung vom Menschsein entscheidend an diese Kompetenzen gebunden hat. Moderne Gesellschaften bauen auf ein möglichst optimales Funktionieren dieser Kompetenzen auf, so dass jede Form kognitiver Einschränkung als existentielle Bedrohung erlebt werden muss. Die große Aufmerksamkeit, die dem Phänomen Demenz in den vergangenen Jahren zuteilwurde, erhält ihren Antrieb aus dieser Überbewertung des Kognitiven und reduziert damit das Menschsein auf ein intaktes Gehirn. Die aus diesem Hintergrund erwachsene Defizitperspektive auf Demenz und die damit verbundene Geringschätzung des Leibes als verkörperte Persönlichkeit wirkten nicht selten demotivierend auf den Entstehungsprozess dieser Arbeit. Jeder Versuch eines Perspektivwechsels, der die Ressourcen demenzieller Daseinsformen in den Blick rückt, scheint einem Tabubruch gleichzukommen: Demenz gilt als eine schreckliche Krankheit. Gleichzeitig machen die dieser Arbeit zugrundeliegenden musiktherapeutischen Erfahrungen ein Umdenken geradezu notwendig, da sie Demenz in einem anderen, nicht selten positiven Licht erscheinen lassen. Persönliche und berufliche Erlebnisse mit vielen alternden Menschen, deren Kognitivität sich zwar verändert hat, deren subjektives Wohlbefinden unter bestimmten Bedingungen jedoch ausgesprochen hoch sein konnte, wirkten immer wieder als Antrieb zur Weiterarbeit an dieser Untersuchung. Dass intakte Kognitivität nicht conditio sine qua non für Lebensqualität ist, zeigt etwa folgende Situation: Eine vormals kühl und distanziert wirkende, in ihrer Verwandtschaft auch wegen ihrer

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1.1  Problemstellung im Hinblick auf Demenz

Humorlosigkeit wenig beliebte pensionierte Studienrätin entschließt sich – mittlerweile fortgeschritten dement – auf einer großen Familienfeier dazu, mit allen Gästen zu singen, und erzeugt dadurch starke zwischenmenschliche Wärme und Nähe. Anschließend fordert sie, die sich in ihrem Leben niemals erlaubt hätte, in der Öffentlichkeit Gefühle zu zeigen, ihren Ehemann auf: „Schatz, nun gib mir doch mal einen Kuss!“ Diesen genießend setzt sie hinzu: „Oh, das ist schön. Das machen wir jetzt immer!“ Auf die Frage nach dem Anlass des Festes antwortet sie lachend: „Das kann ich dir leider nicht sagen. Mein Gehirn hat Urlaub.“ Mit dem Versuch, defizitorientierte Auffassungen von Demenz zu überwinden und alternative Perspektiven auf das Phänomen zu entwickeln, stehe ich nicht allein. Stimmen namhafter Wissenschaftler befragen das Phänomen vor kulturellem, zivilgesellschaftlichem, psychosomatischem und ethischem Hintergrund. So beruft sich Fuchs (2010) auf leibphilosophische Theoreme in dem Versuch, das Personsein demenzbetroffener Menschen nicht auf intakte kognitive Funktionen zu reduzieren. Wißmann & Gronemeyer (2008) betrachten Demenz als Gegenbild einer modernen Leistungsgesellschaft, deren Hyperkognitivität all jene, die „nicht mehr mitkommen“, ins Abseits drängt. Whitehouse (2009) entlarvt den „Mythos Alzheimer“ als Motor eines gigantischen Wirtschaftsunternehmens und plädiert dafür, kognitive Einschränkungen alter Menschen nicht länger als Krankheit zu bezeichnen. Wetzstein (2005) zeigt Perspektiven einer integrativen Ethik auf, die das Phänomen Demenz als Beziehungsgeschehen beschreibt und damit in die Mitte der Gesellschaft rückt. Und viel früher bereits begann der personenzentrierte Ansatz Kitwoods (1997) beispielgebend für die Entwicklung einer neuen Kultur im Umgang mit Demenz zu wirken. Ich gehe davon aus, dass auch künftig in alternden Gesellschaften eine Gruppe von Menschen am Ende ihres Lebens nicht zuletzt aufgrund von geistiger Verwirrung und kognitiver Einschränkung abhängig sein wird von der Begleitung helfender Menschen. Auf die Erfahrungswelt stationärer Altenpflege bezogen, verstehe ich Demenz in dieser Arbeit als eine unter bestimmten Bedingungen unabwendbare Daseinsform des Alters. Dabei gilt es freilich zu berücksichtigen, dass ein nicht unerheblicher Anteil demenzieller Veränderungen reversibel ist, etwa solche, die auf Depression oder Delir zurückzuführen sind. Anstelle einer Pathologisierung der Demenz tritt ihre Anerkennung

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1 Einführung

als Teil des Lebens und als eine Möglichkeit, das Alter O narrt mich nicht! zu leben und zu erleben. Im Ich bin ein schwacher, kindischer, alter Mann, Sinne der flehentlichen BitAchtzig und drüber, keine Stunde mehr te des Königs Lear (AZ 1)1, Noch weniger; und grad heraus gesagt, Ich fürchte fast, ich bin nicht recht bei Sinnen. aufgrund seiner VerstanMich dünkt, ich kenn Euch, deseinbußen nicht ausgekenn auch diesen Mann, lacht zu werden, soll dieser Doch zweifel ich noch, denn ich begreif es nicht, Standpunkt dazu beitragen, An welchem Ort ich bin; all mein Verstand Menschen mit Demenz in Entsinnt sich dieser Kleider nicht, noch weiß ich, Wo ich die Nacht schlief. Lacht nicht über mich (…). ihrem Dasein und Erleben ernst- und anzunehmen. AZ 1: William Shakespeare Mich bewegt die Frage, was eine Gesellschaft lernen kann, wenn sie sich dem Primat des Verstandes kritisch gegenüberstellt und diejenigen Mitbürger, die schwach, hilfeabhängig und kognitiv beeinträchtigt sind, wieder in ihre Mitte holt. In dieser Arbeit bin ich darum bemüht, stigmatisierende und pathologisierende Darstellungen und Ausdrucksweisen zu vermeiden. In allgemeinen Zusammenhängen spreche ich deshalb von „Menschen mit Demenz“ oder „demenzbetroffenen Menschen“ und nicht etwa von „Demenzkranken“. Damit schließe ich mich der gebräuchlichen Sprachregelung im Kontext psychologischer, humanistischer und soziologischer Konzepte an, die auf die anthropologische Dimension des Menschseins verweist. Im speziellen Kontext der Pflege in stationären Einrichtungen verwende ich die Bezeichnung „Bewohner2“. In der Thematisierung konkreter Personen benutze ich aus Datenschutzgründen den Anfangsbuchstaben des Nachnamens.

1  Literarische Zitate dieser Art und Darstellung nenne ich Anmutungszitate (AZ). Sie dienen in dieser Arbeit dazu, die Ausführungen atmosphärisch zu kommentieren. Die Funktionen, Kodierungen und Formatierungen aller zur Verwendung kommenden Textsorten erläutere ich in Kapitel 3.6 zur Frage der gegenstandsangemessenen Darstellungsform. 2  Zugunsten der Lesbarkeit gebrauche ich die männliche Schreibweise, auch wenn beide Geschlechter gemeint sind.

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