Sylvelyn Hähner-Rombach, geb. 1959, ist wissenschaftliche Mitarbei-
terin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart.
Sylvelyn Hähner-Rombach
„Das ist jetzt das erste Mal, dass ich darüber rede …“ Zur Heimgeschichte der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus und der Haus am Berg gGmbH 1945-1970
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
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Inhalt Zum Geleit
. .......................................................................................................................... 9
Vorwort der Autorin und Danksagung
1. Einführung
...........................................................14
. .........................................................................................................17
1.1 Auftrag, Erkenntnisinteresse und Fragestellungen .............................17 1.2 Vorgehen und Auswahl der Einrichtungen ...........................................19 1.3 Quellen ....................................................................................................................21 1.4 Stand der Forschung zur Heimerziehung und Heimunterbringung in der Nachkriegszeit . ..........................................24 1.5 Aufbau der Arbeit ...............................................................................................26 1.6 Begrifflichkeiten ..................................................................................................27
2. Ausgangslage und Entwicklungslinien
...........................................29
2.1 Aus- und Nachwirkung von Nationalsozialismus und Krieg .......29 2.2 Nachkriegsjahre im Reutlinger Raum ......................................................32 2.2.1 Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidung . ....................................32 2.2.2 Wohnraum- und Flüchtlingsproblem ......................................................32 2.2.3 Wirtschaftsentwicklung . .................................................................................33 2.3 Entwicklungslinien ............................................................................................34 2.3.1 Ideelle Grundlagen: Das Erbe Gustav Werners ...................................35 2.3.2 Materielle Grundlagen: Dezentrale Struktur, Bauten, Landwirtschaft und Finanzen .....................................................36 2.3.3 Führung . .................................................................................................................36 2.3.4 Personal ...................................................................................................................38 3. Rahmenbedingungen der Arbeit der Gustav Werner Stiftung und der Haus am Berg gGmbH ................................................................................39
3.1 Rechtliche Grundlagen ....................................................................................39 3.1.1 Organisation der öffentlichen Erziehung und Heimunterbringung in Württemberg ......................................................39
3.1.2 Gesetzliche Grundlagen und Arten der Unterbringung . ................40 3.1.3 Staatliche Kontrolle der Einrichtungen ...................................................43 3.1.4 Vorgaben für Züchtigungen und Strafen . ..............................................45 3.1.5 Kontaktverbote ....................................................................................................49 3.1.6 Arrest, Essensentzug und andere Strafen ................................................49 3.1.7 Arbeitspflicht ........................................................................................................49 3.1.8 Unrecht . ..................................................................................................................50 3.2 Gesellschaftliche Einflüsse . ............................................................................52 3.2.1 Erziehungsideale und Wertevorstellungen .............................................52 3.2.2 Wahrnehmung und Stellenwert der Heimunterbringung und der Heimerziehung ..................................................................................54 3.3 Finanzierung der Heimerziehung ...............................................................55 3.3.1 Entwicklung des Pflegesatzwesens . ............................................................55 3.3.2 Eigenanteile der Finanzierung der Gustav Werner Stiftung . ........58 3.3.3 Andere Finanzquellen . .....................................................................................60 3.4. Pädagogik ...............................................................................................................61 3.4.1 Entwicklungslinien der Heim-Pädagogik in der Nachkriegszeit ........................................................................................61 3.4.2 Unterbringungs- und Erziehungskonzepte in den Einrichtungen der Gustav Werner Stiftung und Haus am Berg gGmbH . ........................................................................65 3.5 Innere Strukturen der Gustav Werner Stiftung und Haus am Berg gGmbH ...................................................................................70 3.5.1 Personal ...................................................................................................................70 3.5.2 Strukturen ..............................................................................................................84 3.5.3 Innovationen . .......................................................................................................85 3.5.4 Traditionen ............................................................................................................91 3.5.5 Finanzen ..................................................................................................................95 3.6 Sonstige Einflüsse ...............................................................................................98 3.6.1 Landesverband der Inneren Mission in Württemberg .....................98 3.6.2 Evangelische Heimerzieherschule Reutlingen ................................... 104 3.6.3 Mitgliedschaften in Organisationen der Heimerziehung ............ 113
4. Die untersuchten Einrichtungen
....................................................... 119
4.1 Loßburg-Rodt ................................................................................................... 119 4.2 Altes Kinderhaus, Oberlin-Heim und Oberlin-Schule ................ 141 4.3 Buttenhausen ..................................................................................................... 155 5. Leben im Heim aus der Sicht ehemaliger Heimkinder ........................................................................... 174
5.1 Loßburg-Rodt ................................................................................................... 174 5.2 Oberlin-Heim und Oberlin-Schule . ...................................................... 221 5.3 Buttenhausen ..................................................................................................... 249 5.4 Zusammenfassende Bemerkungen . ........................................................ 262
6. Leben und Arbeiten in den Einrichtungen aus Sicht der Mitarbeitenden .............................................................. 267
6.1 Loßburg-Rodt ................................................................................................... 267 6.2 Altes Kinderhaus und Oberlin-Heim .................................................... 279 6.2.1 Altes Kinderhaus .............................................................................................. 279 6.2.2 Oberlin-Heim ................................................................................................... 286 6.3 Buttenhausen ..................................................................................................... 294 6.4 Zusammenfassende Bemerkungen . ........................................................ 308 7. Aus den Akten gewonnene Hinweise auf Problemfälle ........................................................................................... 311
7.1 Gewalt, körperliche Züchtigung, Strafen ............................................ 311 7.1.1 Von Seiten der Mitarbeiter ......................................................................... 311 7.1.2 Innerhalb der Betreuten ............................................................................... 317 7.2 Demütigende Strafen . ................................................................................... 318 7.3 Sexueller Missbrauch ..................................................................................... 319 7.3.1 Sexueller Missbrauch durch Angestellte ............................................... 319 7.3.2 Sexuelle Handlungen zwischen Betreuten .......................................... 323 7.4 Andere Problemanzeigen ............................................................................. 329 7.5 Zusammenfassende Bemerkungen . ........................................................ 335
8. Entwicklung Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre ........................................................................ 336
8.1 Frühe Reformversuche innerhalb der Diakonie ............................... 336 8.2 Heimkampagnen ............................................................................................. 337 8.3 Erste Veränderungen aus der Innen-Sicht ........................................... 339 8.4 Bestandsaufnahme und konkrete Forderungen: Das Wildbader Memorandum . ................................................................ 340 8.5 Auswirkungen in der Praxis am Beispiel Loßburg .......................... 346
9. Schluss
................................................................................................................ 353
9.1 Fazit ........................................................................................................................ 353 9.2 Vergleich . ............................................................................................................. 364 9.3 Ausblick ................................................................................................................ 370 10. Nachwort der Projektgruppe 11. Bibliographie
............................................................... 374
.................................................................................................. 380
11.1 Archivalische Quellen . .................................................................................. 380 11.2 Gedruckte Quellen ......................................................................................... 381 11.3 Forschungsliteratur ......................................................................................... 382 12. Anmerkungen
. ............................................................................................... 387
Zum Geleit Vor mehr als 175 Jahren, 1837, hat der evangelische Vikar Gustav Werner durch die Gründung einer Kinderrettungsanstalt für Waisen den Grundstein für unsere Stiftung gelegt. Aus diesen Anfängen und dem Zusammenschluss der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus und der Stiftung Haus am Berg im Jahre 2004 zur heutigen BruderhausDiakonie ist ein sehr differenzierter diakonischer Träger der Altenhilfe, Behindertenhilfe, Sozialpsychiatrie und Jugendhilfe mit Sitz in Reutlingen entstanden. Heute betreibt die BruderhausDiakonie Dienste und Einrichtungen in 15 Stadt- und Landkreisen in Baden-Württemberg. Vor dem Hintergrund der Medien-Berichte über Missstände in der Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre in der Bundesrepublik beschwerten sich in den letzten Jahren auch einzelne ehemalige Heimkinder der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus und von Haus am Berg über ihre damalige Lebenssituation in unseren Heimen. Sie berichteten von körperlichen und psychischen Gewalterfahrungen, Demütigungen und in zwei Fällen von sexuellem Missbrauch. Der Vorstand der BruderhausDiakonie hat im Jahr 2010 eine Projektgruppe eingesetzt und eine unabhängige Historikerin – Frau Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach – beauftragt, die damalige Lebens- und Arbeitssituation in unseren Heimen zu dokumentieren und diesen Teil unserer Geschichte aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei sollten auch einzelne Schicksale entsprechend gewürdigt werden. Von einer vollständigen Dokumentation unserer Heime wurde Abstand genommen zugunsten einer detaillierten Untersuchung der Einrichtungen, zu denen Beschwerden der ehemaligen Kinder und Jugendlichen vorlagen. Dabei wurden bei der Auswahl auch Hinweise aus der Mitarbeiterschaft berücksichtigt. Neben der Akten-Recherche in Eigen- und Fremdarchiven wurden 45 Zeitzeugen aus dem Kreis der ehemaligen Heimkinder sowie ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befragt. 9
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Die Berichte und Interviews spiegeln ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Erfahrungen, machen besonders aber auch deutlich, dass Kinder und Jugendliche leider auch in unseren Heimen in den 1950er und 1960er Jahren teilweise sehr leidvolle Erfahrungen machen mussten, die sie oftmals bis zum heutigen Tag schwer belasten und unter denen sie psychisch und emotional leiden. Vorstand und Mitarbeiterschaft der BruderhausDiakonie bedauern diese Vorkommnisse und leidvollen Erfahrungen der ehemaligen Kinder und Jugendlichen in unseren Heimen zutiefst und bitten alle Betroffenen hierfür um Entschuldigung. Hilfebedürftige Kinder und Jugendliche kamen aus schwierigen Situationen in unsere Heime und fanden hier häufig nicht die Zuwendung und emotionale Sicherheit, die sie für ihre Entwicklung dringend benötigt hätten. Stattdessen waren sie vollkommen abhängig von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zum Teil diese Abhängigkeit ausnutzten. Statt Vertrauen und emotionale Stabilität wurde den Kindern und Jugendlichen nicht selten Willkür und Machtmissbrauch entgegengebracht. Statt Hilfen und Unterstützung für ihre persönliche Entwicklung bestimmten oftmals Disziplinierung und emotionale Deprivation ihre Lebenswirklichkeit. Deutlich wird in der Untersuchung und der hier vorgelegten Ver öffentlichung, dass es in den Vorgängereinrichtungen der heutigen BruderhausDiakonie wohl kein durchgängiges Prinzip von Gewalt, Demütigung und Missbrauch gab. Eher muss den früheren Verantwortlichen der Vorwurf der Duldung und der Missachtung gemacht werden, denn es gab schon damals Berichte, die Überforderung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Vorfälle von Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen und völlig unzureichende Rahmenbedingungen aufgrund der prekären öffentlichen Refinanzierung der Erziehungsarbeit schilderten. Dies fordert uns für die Zukunft heraus, gute Rahmenbedingungen für unsere Arbeit sicherzustellen. Hierzu gehören unternehmensweite Standards und Rahmenkonzepte zur Gewaltprävention in allen unseren Hilfefeldern und Einrichtungen sowie regelmäßige Angebote der Supervision und Reflektion der konkreten Arbeitssituation für Mitar10
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beiterinnen und Mitarbeiter. Verträgliche Arbeitsbedingungen, ein hoher Qualifikationsstandard, stabile und gereifte Persönlichkeiten sowie regelmäßige Reflektion der eigenen Arbeitssituation und der pädagogischen/pflegerischen Praxis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind die besten Voraussetzungen, um das Risiko von Gewalterfahrungen, Demütigungen und inadäquaten Betreuungssituationen für die Zukunft zu minimieren. Nicht zuletzt sind an dieser Stelle auch gestärkte Selbstbestimmungs- und Partizipationsrechte der Hilfeempfänger zu nennen, verbunden mit transparenten und niederschwelligen internen und externen Beschwerdemöglichkeiten. Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung ist aber auch ein gewisser Zusammenhang zwischen repressiver Praxis und den gesellschaftlichen Wertsetzungen, der Sozialisation der Täter und den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Heimerziehung. Ohne die Gewalt- und Missbrauchserfahrungen beschönigen und die Täter entlasten zu wollen, muss festgestellt werden, dass auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Wertevorstellungen einen erheblichen Einfluss auf die Lebenswirklichkeit in den Heimen hatten und auch heute haben. Ermutigend ist, aus den Berichten aber auch zu ersehen, dass schon früh auch reformorientierte Kräfte in den Einrichtungen auf Veränderungen hinwirkten. Die bekannt gewordenen Gewalterfahrungen sind in der BruderhausDiakonie weiterhin Einzelfälle; deren Anzahl ist jedoch mit Sicherheit deutlich größer als die Anzahl der bisher formal vorliegenden sechs Beschwerden: Über das Aktenstudium und die Zeitzeugen-Interviews wurden wir auf weitere Fälle von Gewalt in unseren Einrichtungen aufmerksam. Die BruderhausDiakonie hat zur Bearbeitung der Beschwerden von ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern und zu deren Begleitung und Unterstützung einen zentralen Ansprechpartner benannt. Hier erhalten die Betroffenen – wenn gewünscht – einen Gesprächsrahmen über die Erfahrungen ihres zurückliegenden Heimaufenthaltes, Einsicht in ihre eventuell noch vorhandenen Fallakten sowie individuelle Beratung, Begleitung und Unterstützung für mögliche Anträge an den seit Anfang 2012 auf 11
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Bundesebene eingerichteten Fonds Heimerziehung. Der Breite und Vielfalt damaliger Erfahrungen entsprechend, melden sich bei der zentralen Ansprechstelle und in den Einrichtungen immer wieder auch ehemalige Kinder und Jugendliche, denen es ein persönliches Anliegen ist, uns über ihre positiven Erfahrungen in unseren damaligen Heimen zu berichten. Mein Dank im Zusammenhang der vorliegenden Dokumentation und Aufarbeitung gilt an erster Stelle den ehemaligen Kindern und Jugendlichen für ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft, sich der Aktualisierung oftmals schmerzlicher Erinnerungen zu stellen und uns über ihre Erfahrungen zu berichten. Des Weiteren gilt mein Dank den Mitgliedern der Projektgruppe unter Leitung und Koordination von Herrn Rainer Kluza, die sich mit großem Sachverstand und hohem persönlichem Engagement, verbunden mit Sorgfalt und Leidenschaft der Aufarbeitung der Einzelschicksale und dieses Teils unserer Geschichte angenommen haben. Zur Projektgruppe gehörten neben Herrn Kluza die Leitungen der Geschäftsfelder, Dr. Susanna Schagerl (Jugendhilfe), Wolfgang Welte (Behindertenhilfe), Georg Schulte-Kemna (Sozialpsychiatrie), die Dienststellenleitungen Edwin Benner (Loßburg), Cäcilia Lutz (Reutlingen), Karl-Heinz Mangold* und Dirk Otto (Buttenhausen), Martin Enz (Theologie und Ethik), Dr. Gerold Renner (Leitender Arzt), Sabine Steininger und Martin Schwilk (Kommunikation), Anna Pytlik (Archivarin). Mein besonderer Dank aber gilt allen Zeitzeugen, ob ehemalige Heimkinder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder ehemalige Leitungsverantwortliche, für ihre Bereitschaft zum Interview und für die Erlaubnis zur Wiedergabe in dieser Veröffentlichung. Nicht zuletzt gilt mein großer Dank Frau Dr. Hähner-Rombach für ihre fachkompetente und engagierte Recherche, ihre zu jeder Zeit sichergestellte Unabhängigkeit und Neutralität in der Bewertung der Untersuchungsergebnisse sowie für die Erstellung dieses detaillierten und sehr informativen Buchmanuskripts. * Leider durfte Karl-Heinz Mangold den Abschluss dieses ihm sehr wichtigen Projektes nicht mehr miterleben; er erlag am 25. September 2012 den Folgen einer schweren Erkrankung.
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Zum Geleit
Ich wünsche dieser Veröffentlichung eine breite Öffentlichkeit und hoffe auf eine weiterhin rege Diskussion über Gewalt und Missbrauch von hilfebedürftigen und unserer Fürsorge anvertrauten Kindern und Jugendlichen im geschichtlichen Kontext – aber auch heute – in unserer Gesellschaft. Möge diese Veröffentlichung mit dazu beitragen, dass wir aus diesen Erkenntnissen lernen und für die Zukunft besser gewährleisten, dass derartige Ereignisse und Erfahrungen nicht mehr das Leben von Kindern und Jugendlichen belasten. Günter Braun – Vorstand –
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Vorwort und Danksagung Die BruderhausDiakonie Reutlingen beschloss im Februar 2009, als die öffentlichen Diskussionen zum Umgang mit Heimkindern in den 1950er und 1960er Jahren zunahmen, sich mit der Geschichte ihrer Heimerziehung in der Nachkriegszeit bis Ende der 1960er Jahre auseinanderzusetzen und mit der Untersuchung einen Historiker oder eine Historikerin zu beauftragen. Damit entsprach sie auch einer Anregung des „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“1. Zwischen November 2008 und 2010 meldeten sich fünf ehemalige Heimkinder früherer Einrichtungen der heutigen BruderhausDiakonie, um ihre Beschwerden über die damaligen Verhältnisse vorzubringen. Das verstärkte das Bedürfnis und die Notwendigkeit, mehr über diesen Teil der eigenen Geschichte zu erfahren. Damit stellte sich die BruderhausDiakonie in die Reihe der Träger, die zur Aufarbeitung und Auseinandersetzung eines mitunter sehr dunklen Kapitels ihrer Vergangenheit bereit sind und dies auch öffentlich machen. Das verdient großen Respekt, zumal in einer Zeit, in der die Medien dazu tendieren, verkaufsträchtige Schlagzeilen zu produzieren und darüber nicht selten die Bereitschaft der Träger, sich zu ihrer Vergangenheit zu bekennen, aus dem Blickfeld zu verlieren. Dennoch haben diejenigen Institutionen, die sich zur Veröffentlichung der Geschichte ihrer Heime entschlossen hatten, wie z. B. Bethel, in der öffentlichen Wahrnehmung an Glaubwürdigkeit gewonnen. Im Mai 2009 hat sich der damalige Präsident des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Klaus-Dieter Kottnik, im Namen des Diakonischen Werkes für die Misshandlung von Heimkindern in den 1950er bis 1970er Jahren entschuldigt. Im September 2011 baten die Evangelische Kirche Deutschland und das Diakonische Werk die ehemaligen Heimkinder, die in Einrichtungen der Kirche Gewalt erfahren hatten, um Verzeihung. Trotz des öffentlichen Bekenntnisses von Schuld durch die Dachverbände ist es wichtig, dass die einzelnen Träger Verantwortung auch für diesen Teil ihrer Geschichte übernehmen und daraus Konsequenzen für heutiges und zukünftiges Handeln ziehen. 14
Vorwort und Danksagung
Die BruderhausDiakonie hat parallel zur historischen Untersuchung ein hilfefeldübergreifendes Rahmenkonzept zur Gewaltprävention in Auftrag gegeben, dessen Ergebnisse im Juli 2012 erschienen sind.2 Der inzwischen eingesetzte Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1945 bis 1975“ soll materielle Hilfen bei der Bewältigung von Folgen der Heimerziehung bieten. Er ersetzt jedoch nicht die Bereitschaft der Träger, geschehenes Unrecht nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sich diesem auch zu stellen. Das ist eine wesentliche Forderung der betroffenen ehemaligen Heimkinder, deren Ansprüche nicht allein durch materielle Hilfen befriedigt werden können. In den Interviews mit ihnen hat sich gezeigt, dass das öffentliche Eingeständnis des Trägers, unrecht gehandelt zu haben, sehr wichtig ist. Die vorliegende Arbeit steht für dieses Eingeständnis und die Anerkennung des individuellen Schicksals der damals betreuten Menschen; sie will zugleich versuchen, zu erklären, wie es zu diesem Unrecht kommen konnte. Schon vor der Auftragserteilung wurde innerhalb der BruderhausDiakonie eine Projektgruppe unter der Leitung von Rainer Kluza gebildet, die die Entwicklung der Projektkonzeption u. a. mit Hans-Walter Schmuhl diskutiert und das Projekt hinsichtlich möglicher Interviewpartner und -partnerinnen vorbereitet sowie in der Folge konstruktiv begleitet hat. Dies schloss auch die kritische Lektüre des Manuskripts und daraus hervorgegangene Überarbeitungsvorschläge ein, die in ausgesprochen angenehmen und produktiven Arbeitssitzungen diskutiert wurden. Dafür sei den Mitgliedern dieser Gruppe Edwin Benner, Martin Enz, Cäcilia Lutz, Karl-Heinz Mangold, der leider verstorben ist, Dierk Otto, Anna Pytlik, Gerold Renner, Susanna Schagerl, Georg Schulte-Kemna, Martin Schwilk, Sabine Steininger und Wolfgang Welte ganz herzlich gedankt. Von der engen Zusammenarbeit mit Rainer Kluza habe ich sehr profitiert. Er hat mir eine Fülle wertvoller Anregungen gegeben, die das Projekt in vielfacher Weise befördert haben. Dafür bin ich ihm besonders dankbar. Anna Pytlik war als Archivarin der BruderhausDiakonie immer bereit, meine 15
Vorwort und Danksagung
vielfältigen Aktenwünsche zu erfüllen, wofür ihr ebenfalls besonderer Dank gebührt. Der Vorstand der BruderhausDiakonie zeigte großes Interesse am Fortgang des Projekts, auch dafür möchte ich mich bedanken. Daneben habe ich große Unterstützung erfahren durch Diplomarchivar Michael Bing vom Landeskirchlichen Archiv Stuttgart und Pfarrer Albrecht Daiss vom Diakonischen Werk Württemberg. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BruderhausDiakonie, die sich bereit gefunden hatten, Interviews mit ehemaligen Betreuten und Angestellten zu führen, und diejenigen, die die beschwerliche Arbeit der Transkription dieser Befragungen übernommen haben, verdienen ganz große Anerkennung. Der größte Dank gebührt aber jenen, die sich bereit erklärt hatten, über ihre Erlebnisse und Erfahrungen als Betreute und als Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu sprechen. Vor allem bei den ehemaligen Heimkindern konnten dadurch auch Erinnerungen geweckt werden, die belastend und schmerzhaft waren. Dass sie dies nicht davon abgehalten hat, ihre Erfahrungen sehr differenziert zu schildern und trotz ihrer berechtigten Kritik an dem Umgang mit ihnen versucht haben, die damaligen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, verdient besonderen Respekt. Ohne ihre Beiträge wäre die vorliegende Arbeit Stückwerk geblieben. Denn Verwaltungsakten erzählen sehr wenig vom Alltag in den Einrichtungen, und sie geben nur selten Zeugnis von fragwürdigen Praktiken oder problematischen Bedingungen, aber auch von Freude und Dankbarkeit.
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