Pflegende in Entscheidungsprozessen zur PEG-Sonde bei Demenz – Margit Haas

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Die Autorin Margit Haas, Pflegewissenschaftlerin (MScN), Diplom-Pflegep채dagogin und Krankenschwester, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pflegewissenschaftlichen Fakult채t der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar.


Margit Haas

Pflegende in Entscheidungsprozessen zur PEG-Sonde bei Demenz Eine Analyse von Settings und Rollen

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de. Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de.

Diese Dissertation wurde im Sommersemester 2013 in der Pflegewis- senschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar unter dem Titel „Die Rollen der Pflegenden in verschiedenen Settings bei Entscheidungen über eine PEG-Ernährung von Menschen mit fortgeschrittener Demenz“ angenommen.

© 2014 Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1 a 60486 Frankfurt am Main Tel.: 069 – 70 79 96-13 Fax: 069 – 70 41 52 verlag@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main Umschlagfoto: © Kerstin Waurick/istockphoto.com Druck: Faber, Mandelbachtal ISBN: 978-3-86321-159-2 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten


Inhalt Vorwort ........................................................................................................... 8 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................. 10 Einleitung ...................................................................................................... 11 1.

Stand der Forschung ......................................................................... 16

1.1

Theoretischer Hintergrund zu Entscheidung, Entscheidungstheorien und Entscheidungsmodellen........................ 16

1.1.1

Historische Entwicklung des Begriffs „Entscheidung“ .................... 17

1.1.2

Bedeutungswandel von „Entscheidung“ durch Entscheidungstheorien ...................................................................... 18

1.1.3

Anspruch auf eine individuelle Entscheidung .................................. 19

1.1.4

Entscheidungstheorien und Entscheidungsmodelle.......................... 21

1.1.4.1 Rational Choice-Theorien – Das medizinische Terrain ................... 22 1.1.4.2 Ansätze des Shared Decision Making und Modellcharakter ............ 23 1.1.5

Entscheidungen unter Ungewissheit ................................................. 26

1.1.6

Zusammenfassung ............................................................................ 28

1.2

Theoretischer Hintergrund zu Demenz und PEG ............................. 29

1.2.1

Entdeckung der Alzheimer Demenz ................................................. 30

1.2.2

Prävalenz der Demenz und Mortalität .............................................. 31

1.2.3

Diagnostik der Demenz .................................................................... 32

1.2.4

Störungen der Nahrungsaufnahme bei fortgeschrittener Demenz.... 33

1.2.5

Willensäußerungen bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz.... 34

1.2.6

Künstliche Ernährung und PEG........................................................ 35

1.2.6.1 Entwicklung und Einsatz einer PEG................................................. 36 1.2.6.2 Medizinische Indikationen zur PEG ................................................. 37 1.2.6.3 Rechtliche und ethische Aspekte zur PEG ....................................... 40 1.2.7

Zusammenfassung ............................................................................ 41


1.3

Forschungsstand zu Rollen der Pflegenden in Entscheidungsfindungsprozessen zur PEG-Ernährung bei Menschen mit Demenz ..................................................................... 42

1.3.1

Suchstrategie und Einschlusskriterien .............................................. 42

1.3.2

Suchergebnisse.................................................................................. 43

1.3.3

Ergebnisse aus den Studien............................................................... 44

1.3.4

Forschungsstand und Erkenntnisgewinn .......................................... 48

2.

Empirischer Teil................................................................................ 50

2.1

Entwicklung der Forschungsfrage .................................................... 50

2.2

Entwicklung des Forschungsdesigns ................................................ 52

2.2.1

Grundannahmen und Kennzeichen qualitativer Forschung ............. 53

2.2.2

Auswahl der Methoden ..................................................................... 54

2.2.2.1 Experteninterview ............................................................................. 55 2.2.2.2 Grounded Theory Methodologie ...................................................... 55 2.2.2.3 QUAGOL – Leitfaden zur qualitativen Datenanalyse ..................... 58 2.3

Forschungsethische Überlegungen ................................................... 59

2.4

Vorbereitung der Datenerhebung ..................................................... 61

2.4.1

Entwicklung des Interviewleitfadens ................................................ 61

2.4.2

Auswahl der Einrichtungen und der Probanden ............................... 63

2.5

Durchführung der Datenerhebung .................................................... 66

2.6

Durchführung der Datenanalyse ....................................................... 68

2.7

Zusammenfassung ............................................................................ 70

3.

Darstellung der Ergebnisse ............................................................... 71

3.1

Pflegende und Patienten: Beziehungen entstehen ............................ 72

3.2

Pflegerisches Handlungsfeld: Ernährung sichern ............................. 76

3.3

Deutung des Nicht-Essens: Es muss etwas geschehen ..................... 80

3.3.1

Pflegerische Sicht auf PEG und Demenz ......................................... 81

3.3.2

Nicht-Essen als mutmaßliche Willensbekundung einschätzen ........ 84

3.4

Kommunikation in den Settings ....................................................... 85


3.4.1

Kommunikation im Krankenhaus ..................................................... 86

3.4.2

Kommunikation in den Altenheimen................................................ 88

3.4.3

Kommunikation im häuslichen Bereich ........................................... 89

3.5

Entscheidung und Entscheider .......................................................... 90

3.5.1

Patienten als Entscheider .................................................................. 91

3.5.2

Angehörige als Entscheider .............................................................. 93

3.5.3

Ärzte als Entscheider ........................................................................ 97

3.5.4

Pflegende als Entscheider ................................................................. 99

3.6

Pflegende bewerten die Entscheidungen ........................................ 106

3.7

Nach der Entscheidung ................................................................... 109

3.8

Pflegerische Rollen ......................................................................... 112

3.8.1

Experten .......................................................................................... 113

3.8.2

Vermittler ........................................................................................ 114

3.8.3

Begleiter .......................................................................................... 115

3.8.4

Advokaten ....................................................................................... 116

3.9

Setting und pflegerisches Handeln in Entscheidungsfindungsprozessen ................................................... 118

3.9.1

Gemeinsamkeiten des pflegerischen Handelns in den verschiedenen Settings .................................................................... 118

3.9.2

Unterschiede des pflegerischen Handelns in den verschiedenen Settings ............................................................................................ 119

4.

Diskussion ....................................................................................... 121

4.1

Diskussion der Ergebnisse .............................................................. 121

4.2

Reflexion zur Studie ....................................................................... 128

5.

Zusammenfassung .......................................................................... 132

6.

Ausblick .......................................................................................... 133

Literatur ....................................................................................................... 135 Persönliches Nachwort ................................................................................ 147


Vorwort Ethische Fragen im Gesundheitswesen - in Bezug auf Geburt und Gesundheit wie auch Krankheit und Sterben - haben in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Sie stehen nicht nur in Zusammenhang mit einer ständigen Erweiterung von Eingriffsmöglichkeiten auf vielen Feldern der Medizin und der damit verbundenen Zunahme der Zahl chronisch kranker, hochaltriger und verwirrter Menschen, sondern auch mit dem Umbau des Sozialstaates hin zu einer Ökonomisierung des Sozialen sowie einem Verlust von Vertrauen in Medizin und einer „guten“ Versorgung für alle. Losgelöst von technischen Formen des Antwortgebens auf Konflikte in der alltäglichen Praxis von Medizin und Pflege bedarf es eines wachen Blickes für die Nöte von Patienten und ihren Angehörigen, die sich einer Kalkulierbarkeit und rationalen Beteiligungsmodellen entziehen. Während es inzwischen eine Reihe von Untersuchungen und Veröffentlichungen im Bereich der Medizinethik wie auch der klinischen Ethik gibt, in denen die ärztliche Perspektive in den Fokus genommen wird, ist die pflegerische Perspektive im deutschsprachigen Raum bisher kaum vertreten. Dabei haben die Pflegenden nicht nur in den meisten Praxisbereichen mehr Kontakt zu Patienten als die behandelnden Ärzte, sondern neben dem mitverantwortlichen auch einen eigenständigen Verantwortungsbereich. Inwiefern nehmen sie ihre Verantwortung wahr, wenn es beispielsweise um (sogenannte) ethische Entscheidungsfindungsprozesse am Ende des Lebens geht? Die anspruchsvolle Arbeit von Margit Haas ist im Feld der klinischen Ethik angesiedelt und ins pflegerische Terrain vorgedrungen. Es geht um konfliktreiche Fragen der Ernährung am Lebensende einer äußerst verletzlichen Patientengruppe. Es geht um Menschen mit der medizinischen Diagnose Demenz im fortgeschrittenen Stadium, die entweder in häuslicher Umgebung, im Krankenhaus oder im Pflegeheim von anderen abhängig geworden sind. Die Autorin widmet sich der pflegerischen Perspektive in Situationen, wenn klar wird, dass diese Patienten nicht mehr essen und trinken wollen oder können. Damit kommt es zum Wegfallen der originär pflegerischen Aufgabe Mahlzeiten patientenorientiert anzureichen. Allgemein werden diese Situationen im Fachdiskurs als (ethische) Entscheidungsfindungsprozesse

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über eine PEG gerahmt, das heißt es geht um einen endoskopisch angelegten künstlichen Zugang (perkutanen) von außen zum Magen eines verwirrten alten Menschen. Aus pflegerischer Sicht geht es, so zeigt es die Untersuchung von Frau Haas, um die achtsame Begleitung des Veränderungsprozesses, der von Ungewissheit und Emotionen gekennzeichnet ist und auch die Angehörigen betrifft. Aus dem Interviewmaterial hat Frau Haas als treffende Beschreibung für die unsichtbaren Tätigkeiten der Pflegenden das Zitat „ ... den Weg bahnen“ hervorgehoben. Pflegende äußerten in den Interviews von Frau Haas Zufriedenheit mit dem Verlauf des Entscheidungsfindungsprozesses zur künstlichen Ernährung, wenn der Entschluss sich mit den Wünschen des Patienten (insofern artikulierbar) deckte und wenn alle Beteiligten in einem Klima, gekennzeichnet von Offenheit und Respekt, miteinander sprachen. Aus den Interviews im Altenheim sticht hervor, dass die Pflegenden - im Vergleich zu den anderen Settings Krankenhaus und Pflegeheim - den Zeitpunkt und den Inhalt von Informationen bestimmen. Im „arztfreien Raum“ obliege es ihren Einschätzungen und ihrem Verantwortungsbereich, so Frau Haas, wann sie welche Daten an den betreuenden Hausarzt übermittelten. Im häuslichen Bereich sind die „Pflegenden Gast in den Familien, wo sie zu festgelegten Zeiten die Familien bei der Versorgung der Patienten unterstützen“. Als Merkmal geriatrischer Stationen in den Kliniken hebt Frau Haas hervor, dass die Pflegenden als anerkannte Mitglieder multiprofessioneller Teams in Entscheidungsfindungsprozesse eingebunden sind während dies für Abteilungen in denen Ärzte die Entscheidungsfindungsprozesse steuerten und dominierten, nicht unbedingt gelte. Diese sorgfältige empirische Forschungsarbeit mit relevanten Ergebnissen für weitere Untersuchungen sowie für eine theoretische Auseinandersetzung sei allen Interessierten, vor allem aber Tätigen in Wissenschaft und Praxis der Pflege, Medizin und Seelsorge, wärmstens zur Lektüre empfohlen. Vallendar, September 2013 Helen Kohlen

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Abkürzungsverzeichnis Aufl.

Auflage

BMI

Body Mass Index

CINAHL

Cumulative Index to Nursing & Allied Health Literature

CIS

Conceptual Interview Scheme

DEGAM

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin

DGEM

Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin

DGG

Deutsche Gesellschaft für Geriatrie

DNQP

Deutschen Netzwerk für Qualitätssicherung in der Pflege

Dr. rer. cur.

Doctor rerum curae

DSM-IV

Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition

et al.

et alii (Maskulinum), et aliae (Femininum)

Hg.

Herausgeber

MMST

Mini-Mental State Test

PEG

Perkutane endoskopische Gastrostomie

PubMed

Public MedLine

QUAGOL

Qualitative Analysis Guide of Leuven

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Einleitung

Einleitung Pflegeperson, Krankenhaus: „Das ist so unsere Aufgabe, die Patienten zu pflegen, mit allem, was dazu gehört. Und dazu gehören auch die Angehörigen. Die sind manchmal mindestens genauso am Ende. Ja, ich denke, das ist auch unsere Aufgabe, für die da zu sein, dass die das aushalten können und nicht denken, sie hätten mit ihrer Entscheidung einen Fehler gemacht.“ (P5, 145-151) Pflegeperson, häusliche Pflege: „Aber wenn man jemanden hat, der einen Weg aufzeigt und einem zeigt, wie man den zu gehen hat oder gehen kann, eine Möglichkeit aufzeigt. Und dann wird das wie so ein Strohhalm.“ (P14, 458-460)

Problembestimmung und Forschungsfrage Welche Aufgaben erfüllen Pflegende1 in Entscheidungsfindungsprozessen? Was tun sie? Welche Verantwortung übernehmen sie? Wie begründen sie ihr Handeln? Wer und was beeinflusst ihr Tun? Welche Rollen sind in ihrem Handeln erkennbar? Diese Fragen standen am Anfang eines sich über mehrere Jahre entwickelnden Forschungsvorhabens, das mit der vorliegenden Arbeit zu einem vorläufigen Ende kommt. Mit den oben aufgeführten Zitaten geben die interviewten Pflegenden erste Einblicke in ihre Sichtweisen und in ihr professionelles Handeln in Entscheidungssituationen. Die Schilderungen lassen erahnen, wie schwierig eine Entscheidungsfindung für die Betroffenen sein kann und welche Dimensionen das pflegerische Handeln umfasst. Ich möchte an dieser Stelle meinen persönlichen Bezug zur Thematik und die Intention zu dieser Studie erläutern. Seit vier Jahrzehnten bin ich in der Pflege tätig. Die 1980er Jahre erlebte ich auf Intensivstationen als eine medizintechnisch dominierte Zeit, in der die Ärzte Therapieentscheidungen trafen. Zehn Jahre später und mit Distanz zum Praxisfeld beobachtete ich einen sich allmählich vollziehenden Wandel. Hochtechnisierte Medizin und paternalistische Entscheidungen verloren in der Gunst der zunehmend aufgeklärteren Patienten, die ihr Selbstbestimmungsrecht geltend machten. Der 1

Pflegende beziehungsweise Pflegepersonen stehen in dieser Arbeit für beruflich Pflegende mit einer staatlich anerkannten pflegerischen Ausbildung und/oder einem pflegerischen Studium, die Menschen mit fortgeschrittener Demenz in ihren beruflichen Tätigkeitsfeldern in Krankenhäusern, Altenheimen und in häuslichen Bereichen versorgen.

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