Sabine Weißflog
Wissen, Wahrheit und Macht im Diskurs der Psychiatriepflege Die Debatte über Pflegeplanung in „Psych.Pflege Heute“ 1995–2011
Mabuse-Verlag
Die Autorin Sabine Weißflog studierte Pflegemanagement an der Hamburger Fern-Hochschule und Pflegewissenschaften an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Sie arbeitet als Pflegewissenschaftlerin für die Psychiatrischen Dienste Thurgau in Münsterlingen und als Dozentin im Rahmen des Bachelorstudiums Pflege in der Schweiz. Darüber hinaus engagiert sich die Autorin in den deutschen und schweizerischen Fachgesellschaften für Psychiatrische Pflege sowie in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).
Sabine Weißflog
Wissen, Wahrheit und Macht im Diskurs der Psychiatriepflege Die Debatte über Pflegeplanung in „Psych.Pflege Heute“ 1995–2011
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de. Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de. Diese Dissertation wurde an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar unter dem Titel „Wissen, Wahrheit und Macht in der deutschen Psychiatriepflege. Zum Diskurs über Pflegeplanung in ‚Psych. Pflege Heute‘ 1995 bis 2011“ angenommen. © 2014 Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1 a 60486 Frankfurt am Main Tel.: 069 – 70 79 96-13 Fax: 069 – 70 41 52 verlag@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main Umschlagfoto: privat Druck: Faber, Mandelbachtal ISBN: 978-3-86321-166-0 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten
„Alles in allem geht es darum, den Fall einer Gesellschaft zu prüfen, die seit mehr als einem Jahrhundert lautstark ihre Heuchlerei geißelt, redselig von ihrem eigenen Schweigen spricht und leidenschaftlich und detailliert beschreibt, was sie nicht sagt, die genau die Mächte denunziert, die sie ausübt, und sich von den Grenzen zu befreien verspricht, denen sie ihr Funktionieren verdankt.“
Michel Foucault
Inhalt ABBILDUNGSVERZEICHNIS
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TABELLENVERZEICHNIS
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DANKSAGUNG
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VORWORT
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ZUSAMMENFASSUNG
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SUMMARY
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EINLEITUNG
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Problemstellung Fragestellung Theoretischer Rahmen Aufbau der Arbeit
1. WISSENSSOZIOLOGISCHE VERANKERUNG DER ARBEIT: RAHMEN, LITERATUR, ZUGANG
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1.1 Die Archäologie des Wissens nach Foucault 1.2 Methodischer Ansatz: Kritische Diskursanalyse 1.3 State of the Art 1.4 Methodologie der Kritischen Diskursanalyse
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2. DISKURSSTRANG: VERORTUNG
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2.1 Diskursebene und TeilͲSektor 2.2 Diskursposition
3. MATERIALAUFBEREITUNGEN DES GESAMTEN DISKURSSTRANGS PSYCH. PFLEGE HEUTE 3.1 Darstellung der Diskursebene 3.2 Diskurs Pflegeplanung: Dossier
4. STRUKTURANALYSE DISKURS PFLEGEPLANUNG, REFERENZRAHMEN 4.1 Sozialpolitik 4.2 Enthospitalisierung
86 94
95 96 124
138 138 145
4.3 Standardisierung als Qualitätsnachweis 4.4 Kostenträger 4.5 Rechtsnormen 4.6 Medizin 4.7 Emanzipation 4.8 Zusammenfassung und Ausblick
5. FEINANALYSE: UNTERSUCHUNG DER SPRACHLICHEN MITTEL 5.1 Kontext 5.2 Textdarstellung 5.3 SprachlichͲrhetorische Mittel
6. MACHTANALYSE 6.1 Dominanz über die „Patienten“ 6.2 Die Dominanz der Medizin über die Pflege 6.3 Die Dominanz der Pflege im Medizinsystem
146 150 153 160 161 165
168 169 170 172
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7. INTERPRETATIONEN DES DISKURSSTRANGS PFLEGEPLANUNG – GESAMTANALYSE
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ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT
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LITERATUR
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ANHANG
I
Vorwort In den letzten zehn Jahren hat in Deutschland die psychiatrische Pflege zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. Dies zeigt sich beispielsweise an der Zunahme eines pflegerischen Fachdiskurses und der Einrichtung von spezialisierten Studiengängen. Frau Weißflog gehört zu den deutschen ExpertInnen der psychiatrischen Pflege, die sich kritisch-politisch positionieren. Ihre besondere Gabe ist es, theoretische wie auch praxisrelevante Fragestellungen konstruktiv miteinander zu verknüpfen. Dies hat sie im vorliegenden Werk unter Beweis gestellt. Frau Weißflog betritt mit ihrer Dissertation „Wissen, Wahrheit und Macht im Diskurs der Psychiatriepflege – Die Debatte über Pflegeplanung in „Psych. Pflege Heute“ 1995 bis 2011“, die dieser Monographie zugrunde liegt, in mehrfacher Hinsicht Neuland. Sie wendet sich der psychiatrischen Pflege auf der Basis von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen in internationaler Perspektive zu, indem sie vor allem die pflegerelevanten Befunde aus einem langjährigen kanadischen Forschungsprogramm für ihr Untersuchungsfeld fruchtbar macht. Theoretisch fundiert Frau Weißflog ihre Arbeit in den Werken von Michel Foucault zum Thema Macht, Wissen und Wahrheit und eröffnet sich einen kritischen Blick auf die Entwicklungsdimensionen der psychiatrischen Pflege. Sie deckt auf, dass bisherige Annahmen in Bezug auf Aufgaben und Funktionen in der psychiatrischen Pflege grundsätzlich in Frage zu stellen sind, um einem emanzipatorischen Entwicklungsziel gerecht werden zu können. Methodisch gelingt es der Autorin, die für ihr Untersuchungsfeld passenden Elemente aus der „Werkzeugkiste“ Foucaults heraus zu präparieren und schließlich ein Instrument zu erarbeiten, das zur Diskursanalyse der psychiatrischen Pflegeplanung tauglich ist. Innerhalb von 17 Jahrgängen identifiziert Frau Weißflog das Auf- und Abtauchen bestimmter Themenbereiche in der Fachzeitschrift Psych. Pflege Heute. Sie systematisiert den jeweiligen Fokus und deckt die politischen, juristischen sowie ökonomischen Zusammenhänge auf. Brüche und Kontinuitäten einer (Nicht-) Thematisierung treten hervor. Zu den Schwerpunkten einer Thematisierung gehören Fragen zur Pflegequalität sowie Auseinandersetzungen mit Pflegemodellen und Pflege-
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theorien. Sporadisch werden auch explizit ethische Aspekte diskutiert. Das Thema Qualitätsmanagement ist eine Debatte, die über 16 Jahrgänge in der Fachzeitschrift geführt wird. Schließlich legt die Analyse offen, dass das Thema Pflegequalität gegenüber allen anderen Themen dominiert. Sabine Weißflog resümiert: „… angesichts des festgestellten Defizits in der Entwicklung von Pflegequalität (in der Praxis), benötigt die Pflege nun eine grundsätzliche Reform. Diesen Reformgedanken fördert die Psych. Pflege Heute unter dem Label der Emanzipation ...“ (Seite 132-133). „Emanzipation“ gilt somit als Leitidee für Entwicklungen im psychiatrischen Feld. Aus der Analyse von Frau Weißflog lässt sich folgern, dass zwar „Emanzipation“ als Reformziel für die psychiatrische Pflege formuliert, jedoch auf eine Reflexion der Ideengeschichte verzichtet wird. Auch eine Identifikation von emanzipatorischen Ansätzen für das Feld der psychiatrischen Pflege bleibt aus. In Bezug auf die Pflegeplanung verläuft „Emanzipation“ in eine Richtung, nämlich in die Einführung von standardisierten Modellen. Eine rationalisierte Form von Pflegeplanung wird als Errungenschaft für eine Weiterentwicklung in der Psychiatrie gesehen und das damit verbundene Wissen als ein Anspruch für Expertise erhoben. Auf der Basis ihrer Untersuchungsergebnisse empfiehlt die Autorin einen grundsätzlich kritischen Blick auf die Form der Produktion von neuem Wissen für die psychiatrische Pflegepraxis. Schließlich gehe es in der Entwicklung um eine Wissensform, die von ökonomischem Kalkül sowie Elementen der Überwachung gekennzeichnet sei und deren Emanzipationspotential es anzuzweifeln gelte. Diese anregende Forschungsarbeit mit relevanten Erkenntnissen für die Weiterentwicklung im psychiatrischen Feld der Pflege sei allen Interessierten empfohlen, insbesondere den Tätigen in Wissenschaft und Praxis der Pflege und Medizin. Helen Kohlen Vallendar, März 2014
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Zusammenfassung Hintergrund: Die Deutsche Psychiatriepflege ist in ständiger Veränderung. Noch in den 1970er Jahren war eine eigenständige pflegerische Dokumentation nicht notwendig. Mit der juristischen Verankerung des Pflegeplans müssen Pflegende die psychiatrische Krankenpflege dokumentieren. Den Pflegeplan, als einen bewusst reflektierten schriftlichen Problemlöse- und Beziehungsprozess, stellen Pflegende nach anfänglicher Euphorie in Frage und die Fachliteratur zeigt Schwierigkeiten in der Anwendung auf. Gleichzeitig beschreiben Artikel die Umsetzungshindernisse als ein Problem der Pflegenden und definieren die Gestaltung des Pflegeplans. Die Studie möchte am Beispiel der Pflegeplanung analysieren, wie das Wissen produziert und die diskursive Praxis, bestehend aus Sprache und Denken, die Wahrheit und die Machtkonstellationen gebildet haben. Die vorliegende qualitative Arbeit geht daher der Frage nach: Wie wurde das Wissen der psychiatrisch Pflegenden konstituiert? Während Pflegewissenschaftler aus Kanada schon seit Jahren untersuchen, wie Wissen in der Psychiatriepflege entsteht und verbreitet wird und welche Folgen das diskursiv produzierte Wissen auf die Wahrheit und die Machtkonstellationen hat, ist der Bereich der deutschen psychiatrischen Pflege bisher wenig reflektiert worden. Dies erscheint dringend notwendig, weil das Wissen und die Machtverhältnisse Auswirkungen auf die Subjekte und das Personen-Pflege-Geschehen haben. Methode: Die qualitative Studie untersucht mit Hilfe der Wissenssoziologie, wie sie Michel Foucault vertritt (Genealogie und Machtanalytik), den Diskurs Pflegeplanung in der deutschen Psychiatriepflege über die Jahre 1995 bis 2011. Die methodologische Basis bildet die Kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger. Das Untersuchungsmaterial umfasst Pflegetexte aus der Fachzeitschrift Psych. Pflege Heute. Diese Diskursebene und der Teil-Sektor wurden durch eine schriftliche Befragung zur Nutzung fachbezogener Informationsquellen ermittelt.
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Ergebnis: Im Diskurs Pflegeplanung der Psych. Pflege Heute wird zwischen der Standardisierung und der individuellen Pflege debattiert. Dieser diskursive Streit zeigt Kämpfe gegen die Kategorisierung der Individuen auf Grund der Verallgemeinerung menschlicher Phänomene in der geplanten Pflege auf. Dominante Diskurse bestimmen das Pflegewissen, welches für wahr gehalten wird, und psychiatrisch Pflegende sind von der gesellschaftlichen Dominanz abhängig. Gleichzeitig reproduzieren Pflegende die gesellschaftliche Vorherrschaft. Aus der bestehenden Hierarchisierung der Wissensgebiete Medizin und Pflege entsteht ein paternalistisches Machtverhältnis. Fazit: Während psychiatrisch Pflegende eine Wirksamkeit beim Menschen erreichen möchten, weil sie mit den Pflegeinterventionen an die Erfahrungen der Menschen anknüpfen, erfahren sie Selbstwirksamkeit. Die psychiatrische Pflege ist demzufolge ein ständiger Prozess der Auseinandersetzung mit dem anderen und mit sich selbst. Dieses pflegerische Motiv steht im Widerspruch zur einer ausschließlich standardisiert dokumentierten psychiatrischen Krankenpflege. Mit dem Bewusstsein, wie das Wissen diskursiv konstituiert wird und welche Machtkonstellationen die Wissensproduktion begleiten, können Pflegefachpersonen die Pflegeplanung als Chance sehen, die ihre beruflichen Beweggründe stützt, weil sie mit Hilfe des Pflegeplans pflegerische Interventionen auch auf der Basis Evidenz schriftlich begründen können, indem sie die Erfahrung der Menschen und deren Ziele wortwörtlich aufschreiben, Interventionen ableiten und auf diese Weise die Wirksamkeit der Pflegemaßnahmen begründen. Pflegefachpersonen sollten kritisch mit „neuem“ Wissen umgehen und nicht leichtgläubig Dinge übernehmen, womit sie in der Folge ihre beruflichen Motive demontieren. Es braucht Untersuchungen, auf Grund derer Pflegende ein Bewusstsein für das diskursiv produzierte Wissen und das Machtnetz entwickeln, in welches sie eingebunden sind und welches sie auch mittragen.
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Summary Background: German psychiatric care is changing constantly. As recently as in the 1970s, independent nursing documentation had not been required. Since the nursing plan has been put into law, nurses need to document psychiatric nursing care. After initial euphoria, the nursing plan, understood as a consciously reflected problem-solving and relationship process in written form, is challenged by nurses, and literature reveals difficulties of practical implementation. Concurrently, articles are defining the nursing plan’s structuring, characterizing obstacles of implementation as being the nurses’ problem. Using care planning for illustration, this study wants to analyze how knowledge is produced, and how discourse practice, composed of language and thought, has shaped truth and constellations of power. The qualitative work in hand therefore addresses the following question: How has psychiatric nurses’ knowledge been constituted? While Canadian nursing theorists have been studying the emergence of knowledge in psychiatric care, its distribution, and the discursively produced knowledge’s consequences for truth and constellations of power for years, the domain of German psychiatric care, however, has only been sparsely addressed. As the knowledge of constellations of power does have impacts on the subjects and the people-care-occurrences, this is desperately needed. Approach: By means of the sociology of knowledge, as represented by Michel Foucault (genealogy and analytics of power), this qualitative study analyzes the German psychiatric care’s discourse on care planning from 1995 to 2011. The methodological basis is formed by Critical Discourse Analysis according to Siegfried Jäger. Substance for examination covers articles on the subject of care published in the journal Psych. Pflege Heute. This level of discourse as well as the subsector were determined through a paper-and-pencil survey on the usage of specialized sources of information.
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Results: Care planning discourse represented by Psych. Pflege Heute debates standardization versus individual care. This dispute illustrates the struggle against the categorization of individuals based on a generalization of human phenomena in planned care. Knowledge of care, which is assumed to be true, is defined by dominant discourse, and psychiatric nurses depend on societal dominance. Simultaneously, nurses reproduce societal dominance. From hierarchization of the knowledge domains of medicine and care, a paternalistic balance of power is formed. Conclusion: Psychiatric nurses´ nursing interventions are built on people’s experiences; as nurses strive to achieve efficacy in humans, they experience self-efficacy. Therefore, psychiatric care constitutes a continuous process of engagement with the other and the self. This nursing motif conflicts with an exclusively standardized documentation of psychiatric care. Being aware how knowledge is being discursively constituted and which constellations of power are accompanying the production of knowledge, nursing experts can perceive care planning as a chance supporting their professional motives: by recording people’s experiences word for word, deriving interventions, and thus establishing measures of care’s efficacy, they are, with the help of the nursing plan, able to give good reasons in writing for nursing interventions also on the basis of evidence. Nursing experts should be handling “new” knowledge critically, not gullibly adopting things, damaging their professional motives as a result. Surveys are essential on which nurses start developing awareness for that discursively produced knowledge as well as for the network of power that they are involved in, and that they are supporting.
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Einleitung Die psychiatrische Pflege in Deutschland ist in ständiger Veränderung. In den 1970er Jahren erhielten psychiatrisch Pflegende die Rolle der Betreuer und Beschützer zugewiesen. Sie sorgten für Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit. Unterstützten Kranke bei der Lebensbewältigung im Rahmen des Alltagslebens auf der Station und da die Patienten jederzeit beobachtet und überwacht werden sollten, begleiteten sie die Patienten auch in die Arbeitstherapie. Die pflegerischen Beobachtungen waren für die medizinische Dokumentation und die Behandlung der Kranken sehr wichtig, weshalb Pflegende angehalten waren, täglich Rückmeldung zu geben. Eine eigenständige pflegerische Dokumentation war nicht als notwendig erachtet worden oder gewünscht. Die Dienst- und Hausordnung, welche von den Ärzten erstellt wurde, regelte und kontrollierte das „Zusammenleben“ und medizinische Lehrbücher über psychiatrische Erkrankungen dienten als Fachwissensinput. Die ersten Fachweiterbildungen, am Ende der 1970er Jahre, wurden von Ärzten konzipiert und sind bis heute klinikorientiert ausgerichtet. Im Jahr 2011 startete der erste Studiengang Psychiatrische Pflege und Psychische Gesundheit an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld-Bethel und im März 2012 schrieb die Katholische Hochschule Mainz eine Stiftungsprofessur mit dem Schwerpunkt Psychiatrie aus. Die Professorinnen und Professoren sind Pflegende, welche pflegewissenschaftliches Wissen, unter anderem gestützt auf Assessments – wie die Pflegeplanung – vermitteln und wodurch Studierende in die Lage versetzt werden, pflegerisches Handeln und das Pflegeprozessgeschehen begründen zu können. Im pflegewissenschaftlichen Diskurs wird der Pflegeprozess als ein systematisch-technischer Ablauf zur Problemlösung oder als ein Beziehungsprozess diskutiert. Der Pflegeplan strukturiert das Prozessgeschehen oder dient als Hilfsmittel, um das Ergebnis des Personen-Pflege-Geschehens messen zu können. Die verschiedenen Begriffsauslegungen gehen auf die unterschiedlichen pflegetheoretischen Ansätze aus den 1960er und 1970er Jahren zurück und der Pflegeprozess, wie auch der Pflegeplan stehen in Abhängigkeit zum Pflegemodell, auf welchem das Personen-Pflege-Geschehen theoretisch gestützt ist.
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Bei meinen Recherchen zum Thema Pflegeentwicklung fiel mir zufällig ein Buch aus dem Jahr 1992 in die Hände, welches bereits in der 3. Auflage erschienen ist und die sogenannten „Idealpatienten“ sowie „schwierigen Patienten“ beschreibt (vgl. Geisler 1992). Nun gibt es, so glaube ich jedenfalls, keine Zufälle. Da ich bereits 21 Jahre als Pflegefachperson in der Psychiatrie tätig bin, ist mir diese Kategorisierung1 sehr wohl bekannt. Die „Idealpatienten“ passen sich den arbeitsspezifischen und auch persönlichen Bedürfnissen und Vorgaben des Personals, der Institution an und sei es unter Aufgabe ihrer eigenen Person, verzichten auf alle störenden Bedürfnisse, bringen dem Personal Vertrauen entgegen und sind für jede Zuwendung dankbar. Wenn sie gefragt werden antworten sie ehrlich, sagen selbst aber nichts, wenn sie nicht gefragt werden. Die „schwierigen Patienten“ fragen viel, sie passen sich nicht an, lehnen gut gemeinte Unterstützungsvorschläge ab, hinterfragen die Behandlung und sind kritisch, auch gegenüber den Pflegefachpersonen. Weil sie den Eindruck der Undankbarkeit erwecken, werden sie vom Behandlungsteam oft als uneinsichtig und misstrauisch bezeichnet und weil sie schlecht zu motivieren sind, erhalten sie das Label „non-compliant“. In weiteren Recherchen zu dieser Thematik stellte ich fest, dass es sehr viel Literatur zu „herausforderndem Verhalten“ gibt, wodurch bei mir der Eindruck entstand, dass es immer mehr „schwierige Patienten“ geben muss. Hat deshalb das Bundesministerium für Gesundheit im Jahr 2006 eine Rahmenempfehlung zum Umgang mit dem herausfordernden Verhalten bei Menschen mit Demenz2 in Auftrag gegeben? Es ist, als ob der Umgang mit Menschen, welche Unterstützungsvorschläge ablehnen, uneinsichtig und misstrauisch und schlecht zu motivieren sind, schwierig zu sein scheint. Ist die Betreuung der „schwierigen Patienten“ ein Problem für die Pflegenden, weshalb Pflegefachpersonen eine Empfehlung zum Umgang mit Menschen brauchen? Oder kann es sein, dass Menschen, die sich nicht den Bedürfnissen der Institution anpassen (also auch in keine Kategorie passen) nur
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Unter dem Begriff Kategorisierung versteht Foucault eine den Individuen zugewiesene Individualität, die sie selbst als Identität akzeptieren und an welcher sie von anderen auch erkannt werden (vgl. Foucault 2005). Dieser Begriff wird in der vorliegenden Arbeit im Foucaultschen Sinne verwendet. 2 Vgl. Bartholomeyczik et al. 2006.
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deshalb als schwierig bezeichnet werden, weil sie nicht in die empfohlenen Assessements passen und deshalb „schwierig“ und mit einer erhöhten Personalressource zu kontrollieren und zu überwachen sind? Denn die „Idealpatienten“, passen sich den arbeitsspezifischen Bedürfnissen des Personals an, sie sind berechenbar, ihr Verhalten kann standardisiert und daraufhin auch mit knappen Ressourcen beobachtet werden – um das konforme versus nonkonforme zu unterscheiden. Die Mitwirkung in der Behandlung ist aus Sicht der „Idealpatienten“ daher eine eher empfangende, passive Beteiligung. Dieser Passivität entgegentretend wird seit der Psychiatrie-Enquete im Feld der psychiatrischen Versorgung die Mitbestimmung, Mitwirkung der Betroffenen diskutiert. Die Pflegeziele werden gemeinsam zwischen den Betroffenen und den Pflegefachpersonen, auf Grund der Erfahrungen der Menschen, ihrem Erleben und ausgerichtet an ihren Ressourcen, Bedürfnissen sowie Problemen festlegt.
Problemstellung Das Bildungsangebot für psychiatrisch Pflegende ist über die zurückliegenden Jahre breiter geworden. Neben Weiterbildungsangeboten informieren Fachzeitschriften, wie die Psych. Pflege Heute, die Zeitschrift für Pflegewissenschaft und psychische Gesundheit oder die Zeitschrift pflegen: psychosozial zu fachbezogenen Inhalten. Arbeiteten Pflegende in den 1970er Jahren ausschließlich nach ärztlichen Anordnungen und auf Grund von medizinischem Wissen, welches überwiegend durch Ärzte er- und vermittelt wurde, lernen Pflegefachpersonen heute aus pflegewissenschaftlicher Sicht auch, mit menschlichen Bedürfnissen und Reaktionen als Folge der Gesundheitsprobleme systematisch geplant, standardisiert und das Patientenverhalten kategorisierend umzugehen. Die Menschen werden nicht mehr ausschließlich aus dem Blick des Krankheitsmodells, sondern vor allem auch aus Sicht des Gesundheitsansatzes wahrgenommen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Studie und die geführten Interviews zum Thema Rationierung in der psychiatrischen Pflege: Ergebnisse einer qualitativen Pilotstudie, welche ich gemeinsam mit Kommilitoninnen im Rahmen des Masterstudiengangs im Jahr 2009 durchführte. Mit dieser Untersuchung konnten wir aufzeigen, dass Pflegende ihre Tätigkeiten auf Grund geringer Personalressourcen rationieren müssen. Die höchste Pri-
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orität in einer Situation der Rationierung haben ärztliche Anordnungen, weil diese mit rechtlichen Konsequenzen verbunden sind (vgl. Weißflog et al. 2010). Aber ebenso wichtig ist es Pflegenden, den Menschen ihre individuelle Zuwendung zu zeigen, wie folgender Interviewausschnitt zeigt: „… ich möchte doch jedem Menschen das Gefühl geben, dass man ihn gehört hat und seine Probleme … ergreift oder darauf eingeht, … Also einfach die Achtung vor dem Menschen ...“ (Gesundheits- und Krankenpfleger D)3.
Und auf die Frage: „Gibt es noch was Allgemeines, was Sie mir mitteilen möchten, Ergänzungen, Erläuterungen?“ antwortete der Gesundheits- und Krankenpfleger: „… Pflegeplanung, … verkommt für mich in der Realität, ... zu einer zusätzlichen Arbeit, … Ich habe ... Kollegen gehabt, die konnten … Pflegeplanungen schreiben …, aber gearbeitet haben sie nicht danach. … und ich kenn‘ Kollegen, die haben noch nie eine Pflegeplanung geschrieben, die arbeiten aber sehr gut … vielleicht gibt‘s irgendwann eine neue Idee, außer ne Pflegeplanung, weil genau das, … sind diese ganzen Versuche, immer wieder die Organisation in den Griff zu bekommen … es gibt auf jeder Station wo ich arbeite Pflegeplanungen, aber es hat alles noch nicht so gefruchtet“ (Interview Gesundheits- und Krankenpfleger D)4.
Auch in Zeiten der Personalknappheit ist es dem Gesundheits- und Krankenpfleger wichtig, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie gehört werden. Das Assessment Pflegeplanung, als eine weitere psychiatrische Tätigkeit, bezeichnet er als eine zusätzliche Arbeit und auch als einen Versuch, Organisatorisches in den Griff zu bekommen. Mit dieser Aussage verdeutlicht er, dass die Psychiatrie ein Feld ist, wo die Pflege nicht nur auf ein Handwerk reduziert werden kann und bestätigt gleichzeitig meine beruflichen Erfahrungen. Pflegefachpersonen arbeiten im Fachgebiet Psychiatrie, weil sie sich mit den menschlichen Erfahrungen und Bedürfnissen im Zusammenhang mit den individuellen Lebensereignissen befassen möchten. Damit stützen sie ihre Motive auf den theoretischen Ansatz des Beziehungsprozesses. Mit der Entscheidung des individuellen Personen-PflegeGeschehens sprechen sie für die Mitbestimmung der Menschen und ein Handeln auf Grund der individuellen Erfahrungen des Individuums und 3 4
Transkript siehe Anhang 1 Seite VI. Transkript siehe Anhang 1 Seite IX.
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demzufolge auch gegen ein Denken in Kategorien und gegen eine Pflege als Handwerk. Gleichzeitig werden Menschen nach wie vor von psychiatrisch Pflegenden in „ideal“ und „schwierig“ kategorisiert und dieses Normative im Pflegeprozess mit Hilfe der Assessments standardisiert, was dem pflegetheoretischen Ansatz der Ergebnismessung folgt. So können Pflegende im Fachgebiet Psychiatrie nicht als homogen interessierte Gruppe wahrgenommen werden. Im Diskurs der psychiatrischen Pflege gibt es Befürworter der standardisierten Assessmentverwendung und Opponenten einer kategorisierenden Kontrollierbarkeit, die befürchten, dass auf Grund einer ausschließlichen Kategorisierung der Menschen die Kontrolle und Überwachung der Pflegenden und des Personen-Pflege-Geschehens, welches in den 1970er Jahren vornehmlich von Ärzten organisiert wurde, auf Grund der Assessments noch ökonomischer sichergestellt werden kann, weil es weniger Personalressourcen benötigt. Auch wenn psychiatrisch Pflegende ihre Tätigkeit darin sehen, auf der Beziehungsbasis mit den Menschen zusammen Strategien zu entwickeln, damit diese trotz ihrer Einschränkungen den Alltagstätigkeiten nachgehen können, arbeiten sie mit Assessments – wie der Pflegeplanung. Denn auf Grund der juristischen Verankerung muss die Pflegeplanung umgesetzt werden. Die Begründung, warum die Pflegepraxis auf die Pflegeplanung angewiesen ist, scheint aus psychiatrisch-pflegerischer Sicht ungenügend nachvollziehbar zu sein, weshalb der zitierte Gesundheits- und Krankenpfleger das Assessment Pflegeplanung als zusätzliche Arbeit erlebt. Bei diesem Gedankengang bleibend möchte ich den Blick etwas weiten und an das aktuelle Gesetzgebungsverfahren im Deutschen Bundestag zu den Patientenrechten – der allgemein nachvollziehbaren ärztlichen Dokumentation – erinnern. Diese politische Initiative, ausgelöst durch das Motiv der Fürsorge, soll die Patienten gegen Behandlungsschäden schützen. Die Patienten erfahren eine Beweiserleichterung bei Streitigkeiten, indem die Patientenakte zum wichtigsten Dokument werden soll (vgl. Bundesministerium der Justiz 2012). Zu diesem Zweck muss die juristische Belastbarkeit der Dokumentation deutlich verstärkt werden. Dieses Diktum kann eine reziproke Wirkung erfahren. Denn die verstärkte Dynamik in Richtung Absicherung kann die Standardisierung, Kategorisierung und folgend auch die Deindividualisierung im Behandlungsplanungsprozess von der gewünschten
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Behandlungs-wirklichkeit psychiatrisch Pflegender – dem Beziehungsprozess im Personen-Pflege-Geschehen – weiter entfremden. Auch im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen zu Dokumentationsverfahren ist der schriftlich festgehaltene Pflegeplan aus pflegewissenschaftlicher Sicht ein gutes Beispiel, um die diskursive Entwicklung des Wissens in der psychiatrischen Pflege aufzuzeigen. Meine These: Die Pflegeplanung ist ein Gegenstand der psychiatrischen Pflege, welcher juristisch verankert und zugleich praxisorientiert ist und aus diesem Grund die Verschränkungen zwischen der Theorie und der Praxis beispielhaft beschrieben werden kann. Vor allem auch um ein Bewusstsein für die diskursive Praktiken zu entwickeln und um aufzuzeigen, wie mit Hilfe der dokumentierten Kategorisierung und Standardisierung der Menschen die psychiatrisch Pflegenden und das Personen-Pflege-Geschehen noch ökonomischer kontrolliert und überwacht werden können. Den in dieser Arbeit aufgezeigten diskursiven Streit finden wir – und das sei an dieser Stelle durchaus erwähnt – in vielen Wissensfeldern wieder. Ich erinnere an die aktuellen Diskurse im Bereich der Palliativpflege sowie der Intensivpflege und Transplantationsmedizin zur Hirntoddebatte (vgl. Hahne 2012). Auseinandersetzungen um den Berufsstand finden wir bei den Physiotherapeuten oder im Diskurs der medizinischen Psychotherapeuten, Psychologen und Psychotherapeuten (vgl. Bertram 2012). Erwähnen möchte ich auch noch einen Gedanken, der innerhalb des Pflegediskurses als Berufsstandesdiskussion geführt wird. Unter anderem ist es die Debatte zum neuen Pflegeberufsgesetz zur beruflichen Pflegeausbildung und der darin enthaltenen Verkürzung des Psychiatrieeinsatzes während der praktischen Ausbildung, welche durch eine politische Initiative ausgelöst wurde und von psychiatrischen Fachverbänden heftig kritisiert wird (vgl. Theune et al. 20125).
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Positionspapier der Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege (BAPP), Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger Psychiatrischer Krankenhäuser (BAG), Bundesdirektorenkonferenz (BDK) Verband leitender Ärztinnen und Ärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, Bundesfachvereinigungen leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie (BFLK), Deutsche Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP), Deutsche Fachgesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheil-
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Fast zeitgleich findet eine Diskussion um die Zugangsvoraussetzungen zur Krankenpflegeausbildung statt. War es in Deutschland die Auseinandersetzung um den Hauptschulabschluss als Zugangsvoraussetzung zur Krankenpflegeausbildung, geht jetzt die aktuelle Diskussion durch einen von der EU Kommission vorgeschlagenen Entwurf zur Änderung der Richtlinien weiter (vgl. Europäische Kommission: Vertretung in Deutschland 2012). Der Vorschlag des Hauptschulabschlusses wurde im Pflegediskurs heftig kritisiert. Die neue EU-Richtlinie (Europäische Union) führt nun die 12jährige Allgemeinbildung als Zulassungsvoraussetzung für eine Ausbildung zur Krankenpflege an (vgl. Karaba 2011). Diese Richtlinie wird von den Akteuren der deutschen Pflegewissenschaft sehr begrüßt (vgl. Weidner et al. 20126). Von Seiten einiger deutscher Politiker wird dieser Reformvorschlag vehement abgelehnt, wie die Zeitschrift DIE WELT berichtet (vgl. DIE WELT 2011). Diese Streitgespräche weisen auf diskursive Auseinandersetzungen um zugewiesene Charakterisierungen hin. Die Verkürzung des Praxiseinsatzes in der Psychiatrie während der Ausbildung zum Beispiel, könnte Auswirkungen auf die Identität der Berufsgruppe haben, wodurch Pflegefachpersonen die Pflege als bloßes Handwerk betrachten und auf Grund dieser zugewiesenen und akzeptierten Identität von anderen beurteilt werden. Denn bei einer verkürzten Einsatzzeit kann die Bildung eigener fachbezogener Berufsmerkmale eingeschränkt werden, wobei gleichzeitig einer weiteren Normierung Vorschub geleistet wird. Auch wenn ich mich in meinen Argumentationslinien ausschließlich mit dem Arbeitsfeld der Psychiatrie auseinandersetze, möchte ich mit diesen Hinweisen bemerken, dass der Fokus deutlich weiter ist. Um meine These prüfen zu können, möchte ich mit Hilfe der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit den Wissensbestands und die Entwicklung des Wissens im Diskurs der Psychiatrischen Pflege rekonstruieren.
kunde (DGPPN) und Referat Psychiatrische Pflege der Deutsche Fachgesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). 6 Antwort des Deutschen Instituts für anwandte Pflegeforschung e.V. (dip), Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft e.V. (DGP), Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) und Dekankonferenz Pflegewissenschaft.
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Fragestellung Die zentrale Frage der Arbeit lautet daher: Wie wurde das Wissen der psychiatrisch Pflegenden konstituiert? Um die Konstituierung des Wissens zur Pflegeplanung beschreiben zu können, werden in der vorliegenden Arbeit die diskursiven Prozesse am Beispiel dieses Assessments analysiert. Die weiteren Fragen an die Arbeit sind deshalb: Wie ist der Stand der Pflegewissenschaft zum vorliegenden Untersuchungsthema? Was kann im Zusammenhang mit Wissensentwicklung am Beispiel Pflegeplanung in der deutschen Psychiatriepflege aufgezeigt werden? Wie sind die Machtverhältnisse im Diskurs Pflegeplanung? Wo geht es hin mit der psychiatrischen Pflege in Deutschland?
Theoretischer Rahmen Um zu erkennen, was das Bestimmende im Feld der psychiatrischen Pflege ist, wird der Diskurs kritisch und anhand von Texten, aus Sicht der Pflegewissenschaft und mit Hilfe der Wissenssoziologie, wie sie Michel Foucault7 vertritt, untersucht. Da das Wissen innerhalb einer Gruppe von Menschen, also innerhalb der Gesellschaft formuliert und gebraucht wird, spiegelt es die Sozialität von menschlichem Handeln wieder und ist ein zentrales Grundprinzip des Sozialen, was auf Grund der Kultur und im Zusammenspiel mit der jeweiligen Zeitepoche, in welcher es entsteht, für wahr gehalten wird. Die Entstehung des Wissens im Diskurs Pflegeplanung der psychiatrischen Pflege ist daher immer an den gesellschaftlichen Kontext geknüpft und deshalb bietet sich auch die Erforschung des Wissens im Feld der psychiatrischen Pflege mit Hilfe des wissenssoziologischen Blicks, wie ihn Michel Foucault eingenommen hat, an. Foucault hat die Entwicklung des Wissens der Psychiatrie und damit die diskursive Produktion des Wissens anhand von Texten kritisch
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Foucault 1977: 16. Französischer Historiker, Philosoph, Psychologe und Soziologe des 20. Jahrhunderts, Begründer der kritischen Diskursanalyse
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analysiert und aufgezeigt, welche spezifischen Wissensformen sie hervorgebracht hat. Seine Analysen, in historisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen, beginnen in der Frühzeit der Psychiatrie und enden in der modernen Psychiatrie, über die Antipsychiatrie bis zur Gegenwart. Mein Umgang mit der Wissenssoziologie ist die Nutzung dieses Forschungsansatzes, um das Feld der psychiatrischen Pflege in Deutschland zu untersuchen. Mir geht es darum, mit Hilfe der kritischen Diskursanalyse das Feld zu erschließen und die Entstehung, Verbreitung und Bewahrung von Wissen im Diskurs Pflegeplanung der psychiatrischen Pflege zu analysieren. Da es in der psychiatrischen Versorgung schon immer üblich war, dass die Akteure kritisch mit dem Thema Psychiatrie umgegangen sind, ist der gewählte Forschungsansatz nichts Ungewöhnliches.
Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit ist über drei Ebenen aufgebaut. Da die Pflegewissenschaft eine Praxiswissenschaft ist, wird die Pflegepraxis auf der obersten Ebene angesiedelt. Um das Wissen zur Pflegeplanung rekonstruieren zu können, wird auf die Analytik von Michel Foucault zurückgegriffen, welche die mittlere Ebene einnimmt und am Beispiel der Pflegeplanung wird die diskursive Entwicklung des Wissens in der psychiatrischen Pflege analysiert. Alle drei Ebenen sind durch den pflegewissenschaftlichen Blick miteinander verbunden. Die zu untersuchende Diskursebene wurde nach einer Befragung zur Informationsnutzung ermittelt. Die Arbeit beginnt im ersten Kapitel sehr ausführlich mit der systematischen Aufbereitung der Werke von Foucault, welche den theoretischen Rahmen für die vorliegende Untersuchung bilden. Die detaillierte Aufbereitung ist deshalb so wichtig, weil Foucault seine Begriffsdefinitionen nicht immer eindeutig festgelegt hat und demzufolge seine Ausführungen nicht starr und unbeweglich sind. Anschließend wird innerhalb der Literaturrecherche der Frage nachgegangen: Was wird in der Literatur zum vorliegenden Untersuchungsthema diskutiert? Weil Pflegewissenschaftler aus Kanada schon seit Jahren mit der kritischen Diskursanalyse nach Foucault arbeiten, sollen diese Studien rezipiert werden, damit die psychiatrische Pflege in Deutschland nicht die gleichen Fehler machen muss wie die Pflegenden in Kanada. Weil Foucault sei-
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ne Analyseschritte nicht klar offengelegt hat und im Gefolge des Foucaultschen Denkens Siegfried Jäger8 Vorschläge für eine kritische Diskursanalyse erarbeitete, wählte ich diese Methodologie zum Analysevorgehen aus. Die Erarbeitung der kritischen Diskursanalyse nach Jäger beschließt das erste Kapitel. Im zweiten Kapitel wird die theoretische Methode nach Jäger zur Untersuchung des Feldes der psychiatrischen Pflege in Deutschland umgesetzt und im ersten Schritt der Diskursstrang Pflegeplanung verortet. Um die zu untersuchende Diskursebene begründet auszuwählen, befragte ich Pflegefachpersonen zur Informationsnutzung an 18 psychiatrischen Kliniken in Deutschland. Die Pflegenden sprachen mehrheitlich für die Fachzeitschrift Psych. Pflege Heute, weswegen Artikel dieser Zeitschrift diskursanalytisch untersucht werden. Die Fragestellung der Arbeit wurde folgend erweitert: Welchen Beitrag zur Konstituierung des Wissens Pflegeplanung leistet die Fachzeitschrift Psych. Pflege Heute? Wie sind die Machtverhältnisse im Diskurs Pflegeplanung in der Psych. Pflege Heute? Im dritten Kapitel werde ich nach einer ersten Sichtung des Untersuchungsmaterials, die Artikel überblickartig vorstellen. Dem folgt die Analyse der Texte aus 17 Jahrgängen Psych. Pflege Heute und die Materialaufbereitung des Diskurses Pflegeplanung. Zur Begründung der psychiatrischen Pflege, vorliegend am Beispiel Pflegeplanung, ist der in den Artikeln herangezogene Bezugsrahmen ausschlaggebend. Deshalb werde ich die Aufsätze des Diskurses Pflegeplanung hinsichtlich ihrer Referenzrahmen analysieren. Die empirische Auseinandersetzung im vierten Kapitel knüpft an die explizierten Referenzrahmen der Aufsätze, welche hingegen der aufgestellten Behauptung nicht begründen können, warum die Pflegeplanung als Praxisinstrument pflegerische Arbeit unterstützt – an. Da kein Referenzrahmen beschreibt, warum Pflegende die Planung aus pflegerischer Sicht benötigen, möchte ich mit Hilfe der extra- und intradiskursiven Analysen die Abhängigkeit und diskursive Effekte offen legen, welche zu diesem Wissen geführt haben. Deshalb werde ich extradiskursiv die Formationen untersuchen, welche in den Texten als Begründungsrahmen für die Pflegeplanung herangezo-
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Deutscher Sprachwissenschaftler.
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gen wurden. Mit Hilfe der intradiskursiven Analyse werde ich die Untersuchung innerhalb der Formation psychiatrische Pflege anschließen. Während die Artikel in der Psych. Pflege Heute beschreiben, dass die standardisierte Pflegeplanung ein Mittel ist, um den Beziehungsprozess des Patienten-Pflege-Geschehens zu strukturieren und das Wahre in messbaren Pflegergebnissen begründen, erfüllt die Pflegeplanung – auf Grund des diskursiv situierten Wissens – eine dreifache Funktion. Die psychiatrische Pflege wird fach- und sachkundig geplant, wie im Krankenpflegegesetz vorgegeben. Das Personen-Pflege-Geschehen ist auf Grund der Kategorisierung des Menschen besser zu beobachten und zu kontrollieren und durch die Standardisierung der menschlichen Phänomene kann zudem auch die Kontrolle und Überwachung der Pflegenden und der zu Pflegenden ökonomischer werden. Diesem Zwischenergebnis möchte ich mit Hilfe der Feinanalyse eines Artikels aus dem Diskurs Pflegeplanung nachgehen. In Anbetracht der ermittelten Referenzrahmen zur Begründung der Pflegeplanung und den in diesem Zusammenhang stehenden Einflussfaktoren auf die Konstituierung des Wissens Pflegender, interessiert mich dabei vor allem die Argumentationslinie des Autors. Deshalb bildet die Analyse der sprachlichrhetorischen Mittel das Zentrum des fünften Kapitels. Die Feinanalyse bestätigt bisherige Ergebnisse und zeigt zudem auf, dass auf Grund der Pflegeplanung und der damit angestrebten Öffnung eines eigenen, von der Medizin unabhängigen Handlungsraums, der Emanzipationswille der psychiatrischen Pflege das paternalistische Machtverhältnis zwischen der Medizin und der Pflege verfestigt. In der Folge kann dieses Machtverhältnis das Personen-Pflege-Geschehen zwischen den Subjekten beeinflussen, weshalb ich mit Hilfe der Machtanalytik nach Foucault das Spiel der Abhängigkeiten innerhalb des sechsten Kapitels untersuchen und beschreiben werde. Die Analyse des gesamten Diskursstrangs beinhaltet das siebente und abschließende Kapitel. In Konsequenz der vorangegangenen Auseinandersetzungen geht es dabei nicht darum, an bereits explizierte Erkenntnisse anzuknüpfen, das heißt, diskursiv produziertes Wissen zu reproduzieren und weiter zu transportieren. Die abschließende genealogische Analyse rekonstruiert zusammenfassend das Wissen, die Wahrheit und die Macht im Diskurs Pfle-
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geplanung der Psych. Pflege Heute und beschreibt im Kern die Debatte zwischen der Standardisierung und der individuellen psychiatrischen Pflege. Um dem methodischen Anspruch folgen zu können werde ich innerhalb der gesamten Arbeit, soweit wie möglich, aus Originalquellen zitieren und an Stellen, welche ich hinsichtlich der Nachvollziehbarkeit als besonders wichtig empfinde, auf direkte Zitate zurückgreifen, die ich dann auch ausführlicher abbilden werde.
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Das Buch zeichnet die Debatte über Pflegeplanung in der psychiatrischen Pflege in Deutschland nach. Zu diesem Zweck unternimmt die Autorin eine diskursanalytische Untersuchung der Fachzeitschrift „Psych.Pflege Heute“ (Jahrgänge 1995–2011). Das eröffnet einen kritischen Blick auf die diskursive Praxis und Konstruktion von Wissen und macht eine Analyse der Verhältnisse zwischen Wissen, Wahrheit und Macht möglich. Damit leistet die Autorin einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Pflegewissenschaft im Allgemeinen, insbesondere aber zur berufspolitischen Auseinandersetzung innerhalb des Fachs.
www.mabuse-verlag.de
ISBN 978-3-86321-166-0