Gerda Engelbracht
Medizinverbrechen
an Bremer Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus
Gerda Engelbracht
Am Beispiel der Hansestadt Bremen beleuchtet dieser Band, wie Minderjährige zum Opfer von Medizinverbrechen wurden. Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass über 30 Bremer Kinder in der „Kinderfachabteilung“ der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt den Tod fanden. Die Autorin zeichnet ein detailliertes Bild des organisatorischen Ablaufs mit allen daran beteiligten Behörden, Institutionen und Personen. In Kurzbiografien rekonstruiert sie die Lebensspuren der getöteten Jungen und Mädchen. Ihre Interviews mit Angehörigen zeigen, wie die tabuisierte Vergangenheit bis heute wirkt.
Medizinverbrechen an Bremer Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus
Zwischen 1934 und Kriegsende wurden in den Grenzen des Deutschen Reiches etwa 400.000 Menschen zwangsweise sterilisiert, zwischen 1939 und 1945 mehr als 200.000 ermordet. Unter ihnen waren viele tausend Kinder und Jugendliche.
ISBN 978 – 3 – 86321 –182 – 0
Mabuse-Verlag
Mabuse-Verlag
Die Autorin: Gerda Engelbracht, geb. 1955, studierte Volkskunde, Ethnologie und Publizistik in GÜttingen. Sie lebt als freiberufliche Kulturwissenschaftlerin in Bremen und realisiert Forschungsprojekte, Publikationen und Ausstellungen zur Institutionengeschichte sowie zu psychiatrie-, medizin- und sozialgeschichtlichen Themen. www.kulturkonzepte-bremen.de Die Ausstellung: Das Buch erscheint ergänzend zu einer gleichnamigen Ausstellung, die, als Wanderausstellung konzipiert, die zentralen Aspekte der Medizinverbrechen an Bremer Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus zeigt. Ergänzt durch Dokumente, Objekte und Filme macht sie anschaulich, wie das Netzwerk der erbbiologischen Auslese von der Erfassung bis zur Vernichtung der Kinder und Jugendlichen funktionierte. In mehreren Kurzbiographien werden die jungen Opfer vorgestellt. www.kulturambulanz.de
Gerda Engelbracht
Medizinverbrechen an Bremer Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de. Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de.
© 2014 Mabuse-Verlag GmbH
Kasseler Straße 1 a 60486 Frankfurt am Main Tel.: 0 69-70 79 96-13 Fax: 0 69-70 41 52 verlag@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de www.facebook.com/mabuseverlag Satz: Tischewski & Tischewski, Marburg Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main Umschlagfoto: Krankenhaus-Museum Bremen Druck: Faber, Mandelbachtal ISBN: 978-3-86321-182-0 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten
Inhalt Grußwort . ........................................................................................................................................................................................... 7 Vorwort ................................................................................................................................................................................................. 8 Einleitung ....................................................................................................................................................................................... 11 Dank . .................................................................................................................................................................................. 13 Die Verhütung der „Lebensunwerten“ ........................................................................................................ 15 Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses . .................................. 17 Kinder und Jugendliche als Opfer der Zwangssterilisation .................... 21 Franz A.: „Ich werde mich […] ertränken, […] ich will der irdischen Sache entgehen.“ . .............................................. 26 Meldung und Sterilisierung von Kindern aus Bremen .................. 30 Die Vernichtung der „Lebensunwerten“ .................................................................................................... 41 Verlegungen in den Tod ........................................................................................................................... 44 Das Haus Reddersen . .................................................................................................................... 52 Auflösung und Verlegung der „Haus-Reddersen-Kinder“ in die Bremer Nervenklinik .................................................................................. 53 Waldheim & Haus in der Sonne, Cluvenhagen ..................................... 56 Die Unterrichts- und Pflegeanstalt Gertrudenheim .......................... 58 Rotenburger Anstalten der Inneren Mission ............................................... 62 Jugendliche PatientInnen der Bremer Nervenklinik . ....................... 64 Kinder und Jugendliche als Opfer in der „Kinderfachabteilung“ Lüneburg ............................................................................................... 66 Kooperationen: Das Bremer Gesundheitsamt, die Kinderklinik und der „Reichsausschuß“ .................................................. 71 „Die Einweisung kann jederzeit erfolgen.“ – Der Weg in die „Kinderfachabteilung“ ................................................................. 84 Die „Kinderfachabteilung“ Lüneburg – „Man hat uns […] gesagt, es sei ein höherer Befehl.“ ...................... 90 Das Schicksal der Bremer Kinder in der Lüneburger „Kinderfachabteilung“ ........................................................ 95 Exkurs: Versuchskinder auf Bestellung ............................................... 100 Zwischen Hoffen und Verdrängen – die Rolle der Eltern ........................................................................................................................ 104 Die Opfer – Lebensspuren und Erinnerungen ....................................... 112
Hans Walter Küchelmann: „Traudi war in unserer Familie immer gegenwärtig.“ .................................................................................................... 117 Katja von Ahn: „[…] Günters kurzem Leben […] eine Würdigung […] geben.“ ............................................................................ 130 Friedrich Buhlrich: „Heute sind Hans, Erika und Margret Teil meiner Familie.“ .................................................................................................... 140
Anhang ......................................................................................................................................................................................... 145 Anmerkungen ..................................................................................................................................................... 145 Abkürzungen ....................................................................................................................................................... 166 Archive . ........................................................................................................................................................................ 166 Literatur ...................................................................................................................................................................... 167 Personenregister ............................................................................................................................................... 175 Bildnachweis . ....................................................................................................................................................... 178
Grußwort Es waren des Denkens und Fühlens fähige Menschen, die die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten in Gang setzten – Menschen, die das Vernichtungssystem im teuflischen Sinne perfektionierten. Das Programm war in der Sprache des Unmenschen abgefasst: Es ging um die „Entlastung der deutschen Volksgemeinschaft von Kranken und Behinderten“, um die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Zwischen 1939 und 1945 fielen mehr als 200 000 Deutsche, darunter mindestens 10 000 Kinder und Jugendliche, einem Mordprogramm zum Opfer, das den Namen „Euthanasie“ trug, griechisch euthanasia. Klingt eigentlich eher harmlos, übersetzt „leichter Tod“. Die Nazis selbst sprachen von „Aktion Gnadentod“ – welch unglaublicher Zynismus. Beim Aussortieren der Patienten wurde der vermeintliche „Wert“ des Menschen zum Hauptkriterium. Deutschlandweit existierten mehr als 30 „Kinderfachabteilungen“ in Kliniken und Anstalten. Ihre Hauptaufgabe: das planmäßige Töten von jungen Menschen, die der NS-Ideologie nicht entsprachen, als „nicht heilbar“, „bildungs- und arbeitsunfähig“ galten. Täter waren Ärzte, die sich eigentlich dazu verpflichtet hatten, ihren Patienten keinen Schaden zuzufügen. Aber auch Hebammen und manchmal sogar Eltern spielten eine unrühmliche Rolle, indem sie die NS-Gesundheitsämter mit Informationen über vermeintlich auffällige Kinder versorgten. Das vorliegende Buch empfinde ich als besonders wertvoll, weil es Licht in ein dunkles Kapitel der Medizingeschichte in Bremen und umzu bringt. Mehr noch, weil sich die Autorin mit Wärme und Empathie der Opfer annimmt, ihnen ihre Persönlichkeit und Würde zurückgibt. Auch nach der Nazi-Zeit herrschten, was die Grausamkeiten im nationalsozialistischen Alltag anbelangt, über Jahrzehnte Schweigen und Verdrängen. Jetzt ist es höchste Zeit, die „Euthanasie“-Opfer und ihre Schicksale zum öffentlichen Interesse zu machen. In der Auseinandersetzung mit grundlegenden ethisch-moralischen Fragen in der Medizin heute und zukünftig sind sie Mahnung und Verpflichtung zugleich. Die „Euthanasie“-Opfer gehören ins Zentrum des Gedenkens und Erinnerns. Die Publikation von Gerda Engelbracht leistet dazu einen herausragenden Beitrag. Christian Weber Präsident der Bremischen Bürgerschaft 7
Vorwort Der Walter-Flex-Weg 16 lag auf meinem Schulweg in Flensburg. Viele Jahre später erfuhr ich im Rahmen meiner Arbeit im Bremer Krankenhaus-Museum, dass unter dieser Adresse bis 1959 Prof. Werner Heyde, einer der führenden Organisatoren der „Euthanasie“-Verbrechen im Nationalsozialismus unbehelligt unter dem falschen Namen Dr. Fritz Sawade gewohnt hatte.1 Plötzlich war mein altes Unbehagen präsenter als je zuvor. Schon als Schüler hatten mich die Protokolle des Nürnberger Ärzteprozesses zutiefst beunruhigt. Das sollten Ärzte getan haben? Inzwischen habe ich einige Opfer der Medizinverbrechen persönlich kennen gelernt. Auf Veranstaltungen des Krankenhaus-Museums erzählte Elvira Manthey, wie sie vor der Gaskammer in Brandenburg umkehren durfte, Paul Brune, wie er als kleiner Junge – als Arbeitskraft missbraucht – getötete Kinder von der Kinderstation transportieren musste und Dorothea Buck, wie sie als 19-Jährige nach Bethel kam und dort zwangssterilisiert wurde. Immer waren Wut und Scham, als minderwertig abgestempelt worden zu sein, die Triebkräfte für Anerkennung und Rehabilitation. Die Drei gehören zu den Wenigen, die ihr Schweigen brachen und in die Öffentlichkeit gingen, die Bücher und Theaterstücke schrieben, über deren Leben Filme gedreht wurden. „Ich habe mir den Zorn von der Seele getippt“, erzählte mir Dorothea Buck in der Rückschau. Dicke Ordner sind gefüllt mit ihren unzähligen Anträgen und Petitionen, mit denen sie versuchte, der Verzweiflung und Ohnmacht etwas entgegen zu setzen. Bis heute ringen Zwangssterilisierte, „Euthanasie“-Geschädigte und deren Familien um eine Anerkennung als Verfolgte und die Gleichstellung mit anderen Opfergruppen. Gerda Engelbracht ist von Beginn an eng mit der Geschichte des Krankenhaus-Museums verbunden. Ihre fundierten wissenschaftlichen Arbeiten bilden die Grundlage vieler Ausstellungen und Veranstaltungen. Nach ihren Publikationen über die Geschichte der Bremer Nervenklinik („Der Tödliche Schatten der Psychiatrie“und „Von der Nervenklinik zum Zentralkrankenhaus Bremen-Ost“) und das Haus Reddersen legt die Kulturwissenschaftlerin nun eine weitere wichtige psychiatrie- und medizinhistorische Regionalstudie vor. „Medizinverbrechen an Bremer Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus“ ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die große Resonanz, welche die 2010 eröffnete Wanderausstellung „entwertet – ausgegrenzt – getötet“ in der Öffentlichkeit hervorgerufen hat. Erstmals wurden die Verbrechen an Bremer Kindern und Jugendli8
chen in der NS-Zeit thematisiert. Rathaus, Gesundheitsamt, Stadtbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek und Bremische Bürgerschaft sind zentrale öffentliche Orte, an denen die Schau bisher zu sehen war. Die Autorin macht in ihrer Studie nachvollziehbar, wie perfekt das Räderwerk der „Auslese“ in der Hansestadt funktionierte. Sie belegt eindrucksvoll, wie routiniert die Psychiater, Richter, Kinderärzte, Pflegekräfte und Angestellten von Jugendhilfeinstitutionen, Ämtern und Verwaltungen vorgingen, wenn sie schon Kinder zum Wohle der Volksgesundheit sterilisieren ließen. Dass es sich dabei keineswegs um harmlose Eingriffe handelte, unterstrich Dorothea Buck in ihrer Biografie: „Ich fühlte mich nicht mehr als volle Frau.“ „Unfruchtbar gemacht wegen geistiger Minderwertigkeit! Keine Kinder haben können! Nicht heiraten dürfen! Überhaupt keinen sozialen Beruf erlernen und ausüben dürfen! Was blieb mir da noch?“2 Darüber hinaus schenkt die Autorin den Angehörigen Gehör, die bewusst getäuscht wurden. Deren Familiengeschichten erzählen von der Ahnungslosigkeit, dem Misstrauen und in manchen Fällen von dem elterlichen Einverständnis. Mehr als Zahlen es können beeindrucken die im Buch dargestellten Lebensspuren der Kinder und Jugendlichen. Auf die Opfer trifft zu, was schon 1965 Gerhardt Schmidt geschrieben hatte: „Die Kinder waren Marionetten. Ferne Spielleiter hielten sie an Fäden, um über kurz oder lang beinahe alle aus dem schwebenden Gleichgewicht des Wartens und Beobachtetwerdens in die Versenkung fallen zu lassen.“3 Die „Spielleiter“ waren, um im Bild zu bleiben, ärztliche Gutachter wie Werner Heyde. Mediziner wie er entschieden vom Schreibtisch aus über Tod oder Leben. Primo Levi, ein jüdischer Häftling im Konzentrationslager Auschwitz, beschrieb den eigenartigen kühlen Blick der selektierenden „Herrenmenschen“, der „wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde: ‚Dieses Dingsda vor mir gehört einer Species an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.‘“� Es bleibt die Erkenntnis, dass die rassistische Logik Heydes und seiner vielen Helfer über die Verwertbarkeit eines Menschen einer nüchternen Zweckrationalität gehorchte. Wenn man die Zahl der Opfer betrachtet, ging die biomedizinische Vision der Nazi-Ärzte, „nutzloses Leben auszumerzen“, voll auf. Dass wir auch heute schneller als uns lieb ist, gedanklich auf die schiefe Ebene einer schönen neuen Welt der Gesunden und Fitten geraten können, von der man durch Krankheit, Gebrechlichkeit 9
und Hilfsbedürftigkeit allzu schnell abzurutschen droht, ist so normal wie beängstigend. Uns darüber immer wieder klar zu werden, auch dazu lädt dieses Buch den Leser ein. Für die finanzielle Unterstützung der Publikation danken wir dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Landesverband Bremen, dem Beirat Osterholz, dem Vorstand und den Mitgliedern des Freundesvereins Klinikum Bremen-Ost e.V., der Stiftung die schwelle Beiträge zum Frieden, der Gesundheit Nord gGmbH, dem Klinikum Bremen-Ost, dem Kulturverein Haus im Park e.V. und zahlreichen Einzelspendern. Achim Tischer Leiter der KulturAmbulanz Bremen
10
Einleitung Zwischen 1934 und 1945 wurden in den Grenzen des Deutschen Reiches etwa 400 000 Menschen zwangsweise unfruchtbar gemacht. Mehr als 200 000 fielen während des Zweiten Weltkriegs dem nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programm zum Opfer. Sie wurden in Gaskammern ermordet, starben durch überdosierte Medikamente, durch Nahrungsentzug oder durch Vernachlässigung. Nach heutigem Kenntnisstand zählten zu den Opfern der verschiedenen Tötungsaktionen mehr als 10 000 Kinder und Jugendliche im Alter von wenigen Monaten bis zum vollendeten 20. Lebensjahr. Es waren Minderjährige, die als störend, behindert oder lebensunwert angesehen wurden. Ihnen allen war das Recht auf Leben abgesprochen worden. Die Geschichte der Psychiatrieverbrechen an Erwachsenen während der Zeit des Nationalsozialismus ist sowohl bundesweit als auch für Bremen gut erforscht und dokumentiert. Anders stellt sich die Situation beim Blick auf die Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen dar. Bis heute gibt es auf Grund der disparaten Quellenlage keine wissenschaftliche Gesamtschau. Regionalstudien wie diese machen es möglich, das Wissen über die Strukturen und Abläufe zu erweitern und Antworten auf offene Fragen zu finden. Nur in der Gesamtschau lässt sich der umfassende Zugriff auf die Minderjährigen belegen, die „allein aufgrund ihres Seins und nicht etwa aufgrund ihres Handelns Opfer von Tötungsmaßnahmen wurden“.1 Der Aufbau der vorliegenden Publikation folgt den Etappen der nationalsozialistischen Medizinverbrechen, die mit der Verhütung der vermeintlich Lebensunwerten begann und in ihrer systematischen Vernichtung eskalierte. Im ersten Hauptkapitel geht es um die Frage, wie die Forderungen der nationalsozialistischen Rassenhygiene in Bremen umgesetzt wurden und wie das Bremer Netzwerk der Auslese arbeitete, das in Schulen, Einrichtungen der Jugendhilfe, in Gesundheitsämtern und psychiatrischen Anstalten darüber wachte, dass das „erbbiologische Sieb“ perfekt funktionierte. Stichprobenartig wird dabei untersucht, wie viele und welche Minderjährige vom Erbgesundheitsverfahren erfasst wurden. Der Fokus ist auf die jüngsten Betroffenen gerichtet. 75 Mädchen und Jungen im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren wurden vor das Bremer Erbgesundheitsgericht zitiert, weil sie dem Bild des nationalsozialistischen Menschenideals nicht entsprachen. 11
Exemplarische Biografien lassen erahnen, was es bedeutete, als „erbkrank“ zu gelten und belegen, dass sich Leid nicht an Zahlen messen lässt und „jede einzelne ungewollte Sterilisation […] als Unrecht gelten“ muss.2 Im zweiten Hauptkapitel steht die Frage im Mittelpunkt, auf welchem Wege Kinder und Jugendliche aus Bremen in den Strudel der Medizinverbrechen gerieten. Als besonders lebensbedrohlich erwies sich die Auflösung traditioneller Behinderteneinrichtungen in Bremen (Haus Reddersen) und im angrenzenden Niedersachsen (Gertrudenheim Oldenburg, Rotenburger Anstalten). Nachdem man den unterstützungs- und hilfebedürftigen Kindern und Jugendlichen den Raum zum Leben genommen hatte, wurden sie, einer seelenlose Verfügungsmasse gleich, von einer Einrichtung in die andere transportiert. Eine Odyssee, die oft mit dem erzwungenen oder in Kauf genommenen Tod endete und einmal mehr bestätigt, dass der Aufenthalt in einer Heil- und Pflegeanstalt während der NS-Zeit jederzeit lebensbedrohlich war. Nachdem seit Ende 1941 die alteingesessenen Einrichtungen, in denen Bremer Kinder und Jugendliche mit Behinderung bisher einen Ort zum Leben gefunden hatten, weitestgehend aufgelöst worden waren, führte deren Weg nun fast zwangsläufig in eine „Kinderfachabteilung“. Die „Kinderfachabteilung“ in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg war Teil eines reichsweiten Netzes, das von den Akteuren der Berliner „Euthanasie“Zentrale in Kooperation mit Politikern und Medizinern vor Ort zur unauffälligen „Beseitigung“ von Kindern mit Behinderung geschaffen worden war. Erst 2010 und damit 65 Jahre nach Kriegsende wurde bekannt, dass 31 Kinder und Jugendliche aus Bremen im Alter zwischen einem und sechzehn Jahren hier gestorben waren.3 Durch die Auswertung aller erhalten gebliebenen Akten war es nun erstmals möglich, Antworten auf die Fragen zu finden, wie dieses dunkle Kapitel der nationalsozialistischen Medizinverbrechen in Bremen umgesetzt wurde und welche Akteure daran beteiligt waren. Darüber hinaus kann nachgezeichnet werden, auf welchem Weg die Kinder in die „Kinderfachabteilung“ gelangten, was sie dort erwartete und welche Rolle die Eltern einnahmen. Das abschließende Kapitel widmet sich den Lebensspuren jedes einzelnen Kindes, das in Lüneburg den Tod fand. Die Kurzbiografien der Mädchen und Jungen werden ergänzt durch Interviews mit Angehörigen, die sich an die Schwester, den Bruder oder den Onkel erinnern. Ihre Berichte sind wertvolle Ergänzungen und geben einen authentischen Eindruck davon, wie mit dem Thema in den Familien umgegangen wurde und welche Auswirkungen die Vergangenheit bis heute hat. 12
Es ist ein wichtiges Anliegen dieser Publikation, an alle Kinder und Jugendlichen, die entwertet, ausgegrenzt und schließlich getötet wurden, zu erinnern. Dazu gehört auch die öffentliche Nennung ihrer vollständigen Namen. Denn nur so ist es möglich, die Opfer, die nach 1945 weitgehend unsichtbar blieben, aus dem Schatten des Vergessens heraus- und in die Gesellschaft zurückzuholen. In Anlehnung an das hebräische Gedicht „Jeder Mensch hat einen Namen“ lautet ein zentrales Plädoyer von Angehörigen und WissenschaftlerInnen: „Jedes Opfer hat ein Recht darauf erkannt und benannt zu werden.“4 Dank Mein Dank gilt der KulturAmbulanz am Klinikum Bremen-Ost, insbesondere dem Kulturverein Haus im Park e.V., der die Realisierung dieser wichtigen Forschungsarbeit finanziell und ideell unterstützt hat. Für die sorgfältige und kritische Lektüre des Manuskripts und die konstruktiven inhaltlichen Diskussionen danke ich Andrea Hauser und Achim Tischer. Ohne die freundliche Unterstützung vieler Archivmitarbeiterinnen und Archivmitarbeiter wäre eine solche Arbeit unmöglich gewesen. Auch ihnen gebührt mein Dank; insbesondere gilt das für die MitarbeiterInnen aus dem Staatsarchiv Bremen sowie dem Hauptstaatsarchiv Hannover. Mein größter Dank gilt den Angehörigen für ihr Vertrauen, ihre Offenheit und ihre Bereitschaft, über die nicht selten schmerzhaften Erinnerungen zu berichten. Die von ihnen zur Verfügung gestellten persönliche Dokumente und Fotografien ermöglichen es in besonderer Weise, die Opfer der Anonymität zu entreißen und die Einzigartigkeit ihrer Lebensspuren sichtbar zu machen.
13
Gerda Engelbracht
Medizinverbrechen
an Bremer Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus
Gerda Engelbracht
Am Beispiel der Hansestadt Bremen beleuchtet dieser Band, wie Minderjährige zum Opfer von Medizinverbrechen wurden. Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass über 30 Bremer Kinder in der „Kinderfachabteilung“ der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt den Tod fanden. Die Autorin zeichnet ein detailliertes Bild des organisatorischen Ablaufs mit allen daran beteiligten Behörden, Institutionen und Personen. In Kurzbiografien rekonstruiert sie die Lebensspuren der getöteten Jungen und Mädchen. Ihre Interviews mit Angehörigen zeigen, wie die tabuisierte Vergangenheit bis heute wirkt.
Medizinverbrechen an Bremer Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus
Zwischen 1934 und Kriegsende wurden in den Grenzen des Deutschen Reiches etwa 400.000 Menschen zwangsweise sterilisiert, zwischen 1939 und 1945 mehr als 200.000 ermordet. Unter ihnen waren viele tausend Kinder und Jugendliche.
ISBN 978 – 3 – 86321 –182 – 0
Mabuse-Verlag
Mabuse-Verlag