Verkommt Pflege zur bloßen Aneinanderreihung von Verrichtungen, kann sie die Menschen im Pflegeprozess beschämen.
Katharina Gröning
In der Überarbeitung ihres Standardwerkes untersucht Katharina Gröning die Pflege besonders hochaltriger und verletzlicher Menschen. Sie beleuchtet dabei den biografischen Hintergrund der Pflegenden und der Gepflegten.
Grenzsituationen in der Pflege alter Menschen
Katharina Gröning
6., umfassend überarbeitete Auflage
Entweihung und Scham
Eine einzigartige Betrachtung der kulturellen, entwicklungspsychologischen und institutionellen Aspekte von Entweihung und Scham in der Pflege.
Entweihung und Scham
www.mabuse-verlag.de
ISBN 978-3-86321-187-5
Mabuse-Verlag
Die Autorin Katharina Gröning, Dr. phil., geb 1957, Professorin für Pädagogische Beratung an der Universität Bielefeld. Arbeitet seit 1989 als Supervisorin, Organisationsberaterin und Dozentin im Bereich Pflege- und Gesundheits- berufe. Arbeitsschwerpunkte sind Fragen und Probleme der Qualität sozial- arbeiterischen und pflegerischen Handelns. Zahlreiche Publikationen zu Fragen der Supervision und Organisationsentwicklung.
Katharina GrĂśning
Entweihung und Scham Grenzsituationen in der Pflege alter Menschen 6., umfassend Ăźberarbeitete Auflage
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhaltsverzeichnis Vorwort zur sechsten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1
Pflege, Entweihung und Scham – ein Problemaufriss . . . . . . . . . 13 1.1 Pflege und Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2 Rollenspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.3 Zugang und erkenntnisleitendes Interesse. . . . . . . . . . . . . . 19 1.4 Zur Struktur des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.5 Zur Methode und praktischen Verwendung des Buches. . . . . . 25
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Über den Zeitantagonismus – institutionelle Beschleunigung, lebensweltliche Verlangsamung und die Zeitkonflikte der Pflegenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1 Soziale Beschleunigung und das Paradoxon der Zeit. . . . . . . . 28 2.2 Zeit und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.3 Lebenszeit und Lebenssinn (auch in den Berufen des Gesundheitswesens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.3.1 Der Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .34 2.3.2 Die Pflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .35 2.4 Krankheit, Hochaltrigkeit und Zeiterleben . . . . . . . . . . . . . 36 2.5 Die Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.6 Keine Zeit – zum Zusammenhang von Zeitnot und Scham in den Pflegeberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.7 Zeitnot, soziale Ungleichheit und Berufskrise . . . . . . . . . . . 42 2.7.1 Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45 2.7.2 Information, Organisation und Abläufe . . . . . . . . . . . .45 2.8 Zeit und Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
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Empirische Hochaltrigkeit, gesellschaftliche Verjüngung des Alters und die Entwicklungsaufgaben am Lebensende . . . . . . . . 49 3.1 Die gesellschaftliche Verjüngung des Alters als historischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.2 Die wissenschaftliche Verjüngung des Alters als Beitrag der Gerontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.3 Die Entwicklungsaufgaben der Generationen. . . . 3.3.1 Generativität und Integrität . . . . . . . . . . 3.3.2 Alt werden aus psychoanalytischer Sicht . . . 3.3.3 Alt werden und Integrität . . . . . . . . . . . 3.3.4 Die filiale Reife. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Anerkennung und Wiedergutmachung: intergenerationale Entwicklungsaufgaben . . 3.3.6 Sorge für die alten Eltern und Geschlechtergerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7 Die Töchter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alter und Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.1 Das Phänomen der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.2 Körperscham bei Georg Simmel, Max Scheler und Leon Wurmser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.3 Entwicklungspsychologische Bezüge zur Verbindung von mangelnder Körperbeherrschung mit Scham . . . . . . . . . . . . 84 4.4 Verleiblichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.5 Die Kastrationsscham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.6 Soziale Scham. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.6.1 Soziale Scham im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .92 4.7 Die seelische Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.7.1 Über den Takt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .96 4.7.2 Beispiele von Seelenscham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .97
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Über die Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5.1 Der Lebensimpuls der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5.2 Pflege als Arbeit, die Würde schafft. . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5.3 Zukunft der Sorge und Zukunft der Pflege – Martha Nussbaums philosophischer Entwurf zur Fürsorge und seine Bedeutung für eine Theorie der Pflege . . . . . . . . . . . . 110 5.4 Vom allgemeinen Nutzen der Pflege und von der Gewalt . . . . . 111 5.4.1 Die Ritualisierung des Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . 112
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Dimensionen von Gewalt und Verrohung . . . . . . . . . . . . . . 117 6.1 Gewalt und die institutionelle Umwandlung von Menschen in Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6.2 Der Zusammenhang von Entehrung, Scham und Gewalt . . . . . 122 6.3 Schamregressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 6.4 Scham und Schamdynamiken in klinischen Institutionen . . . . 127 6.5 Die Inkorporation von Scham und Aggression. Ein Zivildienstleistender berichtet über seine Arbeit in einem ambulanten Pflegedienst und löst eine bundesweite Debatte aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Über die Scham der Pflegenden und die Pflege als verachtete Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Entweihung und Selbstentweihung . . . . . . . . . . 6.5.3 Seelenscham und Selbsthass . . . . . . . . . . . . . . 6.5.4 Entweihende Pflege und beabsichtigte Gewalt . . . . 6.5.5 Die Fortsetzung der Erniedrigung . . . . . . . . . .
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Schweigen und Rauchen – die Angst und die Geschlechterdimension in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 7.1 Über den Zusammenhang von Zigarette und Pflege als Liebestätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
7.1.1 Warum Pflegende rauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 7.2 Über das Stummsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 7.3 Über das Gefressenwerden in der sozialen Dienstleistungsarbeit . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Über die Angst. . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Angst in der Generationenbeziehung . 7.3.3 Angst und klinische Institution . . . .
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7.4 Institutionelle Spaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 7.4.1 Dienstbotenkultur oder die verlassene weibliche und grandiose männliche Seite der Organisationen . . . . . . . 161 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Vorwort zur zweiten Auflage Dass es überhaupt eine zweite Auflage dieses Buches gibt, ist Kolleginnen und Kollegen aus der Pflegewissenschaft zu verdanken, die mir versicherten, dass SchülerInnen und Studierende noch heute durch das Buch viel über Pflegebeziehungen gelernt hätten, insbesondere jene Pflegebeziehungen, wie sie im Zusammenhang mit der Pflege von hochaltrigen und demenzerkrankten Personen vorkommen. Vor allem junge Pflegekräfte hätten so einen tieferen, sich selbst reflektierenden Einblick in die Pflegebeziehungen erhalten. Die kurzen Gespräche, meist am Rand von Tagungen, zeigten gleichzeitig an vielen Stellen auf, dass das Buch in einer Reihe von wichtigen Punkten veraltet und zu überarbeiten ist. Nicht nur empirisch, auch theoretisch hat sich vieles in der Pflege und ihrer Wissenschaft sowie deren Bezugsdisziplinen verändert und weiterentwickelt, und ich möchte heute weniger eine triebtheoretische als eine bindungstheoretische und objektbeziehungstheoretische Arbeit zum Unbewussten der Pflegebeziehung und ihren Schamdimensionen vorlegen. Dies betrifft vor allem den psychoanalytischen Teil des Buches. Gleichzeitig ist es sinnvoll, heute das Thema Hochaltrigkeit und Demenz im Zusammenhang mit Scham und Entweihung soziologisch zu vertiefen. Heute sind ca. 1,2 Millionen Menschen von 2,2 Millionen Pflegebedürftigen demenzkrank. Das ist die Mehrheit der Pflegebedürftigen. Neben der Schamdynamik ist damit die Bindungsdynamik bedeutsam geworden, die heute einen wichtigeren Teil der Pflegebeziehungen besser zu erklären vermag als die triebtheoretische Deutung der Pflegebeziehungen, das heißt zum Beispiel die Betonung auf den Aspekt der Macht. Erkenntnisse in der Körpersoziologie standen ebenfalls in den 1990er Jahren noch nicht so zur Verfügung wie heute. Und auch die wichtige Theorie der sozialen Beschleunigung von Hartmut Rosa (2005) drängt sich für die Erklärung von Konflikten im Gesundheitswesen und in der Pflege geradezu auf. Rosas Theorie der sozialen und kulturellen Codierung von Zeit, das unterschiedliche lebensweltliche Zeiterleben von Menschen mit Demenz oder hochaltrigen und sterbenden Personen im Gegensatz zu den meist unter Zeitdruck arbeitenden Pflegenden und denjenigen, die die Zeit in der Pflege planen, steuern, rationalisieren, verweist auf die Neugestaltung des äußeren Rahmens der Pflege und erklärt
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Vorwort zur zweiten Auflage
eine ganze Reihe von Konflikten im Alltag. Dieser äußere Zeitdruck und Systemdruck hat sich in den letzten fünfzehn Jahren sehr verschärft. Als ich in den 1990er Jahren an der ersten Auflage des Buches gearbeitet habe, habe ich vor allem die inneren Fluchten, das Aus-der-Beziehung-Gehen, weil man sich für die Bewohner schämt, in den Mittelpunkt gestellt. Dass Pflegende sich für die Arbeit, die sie verrichteten, schämten, weil sie selbst verinnerlicht hatten, dass es etwas Niedriges ist, sich um die Körper alter Menschen zu kümmern, dass man für diese Arbeit wenig Wertschätzung erfährt und die gesellschaftliche Bewertung des „Pfannenschwingens“ oder des „Ärscheputzens“, wie die Chiffre für die gesellschaftliche Abwertung der Pflege zeigt, gering ausfällt, war mir in den Supervisionen mit Pflegeteams immer wieder aufgefallen. Dieser Schamkonflikt in der Berufsrolle führte nach meiner Beobachtung dazu, dass Pflegende das, was sie für alte, kranke und behinderte Menschen taten, nicht ausdrücken konnten. Der Pflege, vor allem der Grundpflege, fehlte eine Sprache. Die Scham, die aus der Zuweisung in eine gesellschaftlich wenig anerkannte Arbeit entstand, machte die Pflegenden sprachlos. Dieses Problem der Sprachlosigkeit, vor allem im Zusammenhang mit der Wertschätzung für die Grundpflege, war der Anlass des Buches und ist für mich immer noch ein zentrales Thema, auch wenn ich keine Pflegewissenschaftlerin bin. In der Supervision schlug sich die Schamdynamik vor allem als Übertragung auf mich nieder. Die Pflegeteams, die ich supervidierte, fantasierten mich im Gegensatz zu ihnen selbst als hochstehend, ähnlich wie die fordernden Angehörigen, die Leitungen, die Seelsorger und weitere Berufsgruppen, die von den Pflegenden eine Mischung aus bescheidener, pragmatischer Tüchtigkeit und selbstausbeutender Aufopferung für den Beruf zu erwarten schienen. An diesen Grenzen, quasi zwischen einem traditionellen geschlechtlichen und bescheidenen Habitus und der Berufsrolle entzündeten sich eine ganze Reihe von Konflikten. Meine Supervisandinnen achteten sehr auf ihr Ehrgefühl, die Grenzen ihrer Rolle, die Gerechtigkeit von Geben und Nehmen und legten viel Wert auf eine kompetente Darstellung ihrer Person. Das machte die Supervision manchmal schwer, denn die Angst vor Reflexion und dass diese aufdecken könnte, dass man als Pflegende verletzlich, fehlerhaft und nicht frei von Problemen und Grenzen arbeitet, erschwerte die Supervision. Wenn ich jedoch Kontakt bekam, ging es wiederum sehr häufig um die eigene Ehre, die von Angehörigen, den Vorgesetzten und manchmal auch den
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Vorwort zur zweiten Auflage
Bewohnern gekränkt worden war. Die Pflegekräfte fühlten sich häufig entweiht und entehrt, in ihrem Personsein nicht respektiert und geachtet, sondern als Dienstboten missbraucht. Ihre Tugenden, so wie sie sie sahen, wie Fleiß, Belastbarkeit, Tüchtigkeit, Sorgefähigkeit und mehr wurden in ihrer Wahrnehmung nicht gesehen und anerkannt. Jede kleine Verschnaufpause schien dem Verdacht des Nichtstuns ausgesetzt. Qualifikation, Profession, System- und Prozesskompetenz, Qualität waren die Eigenschaften, die viel mehr wert schienen als ihre auf den Alltag und seine Gestaltung bezogenen Fähigkeiten. „Wie kann ich mich im Pflegeberuf vor den Entehrungen schützen, was bin ich schuldig für diesen Lohn?“ – waren immer wieder Themen der Gerechtigkeit im Arbeitsverhältnis. Dies hat sich bis heute nicht verändert, sondern verschärft. Die Frage des Wertes der Pflege und der Zunahme von Scham und Entweihung sind nun Anlass, das Buch noch einmal zu überarbeiten und anzupassen. Bielefeld, im April 2014 Katharina Gröning
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1 Pflege, Entweihung und Scham – ein Problemaufriss Gegenstand dieses Buches sind Grenzsituationen in der Pflege hochaltriger und vor allem demenzkranker Menschen. Diese betreffen den Bereich der stationären Versorgung in Altenpflegeheimen, das Krankenhaus als auch die Pflege in den ambulanten Diensten. Auch für die Betreuung und Sorge durch Angehörige ist die Schamdimension von großer Bedeutung. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der verstehenden Beschreibung der Interaktionen während und rund um die Pflege und auf dem sich entwickelnden Zyklus von Gefühlen zwischen dem pflegebedürftigen alten Menschen und seinem Helfer oder Angehörigen. Was erleben die Pflegepersonen, Pflegekräfte, Angehörige? Was erleben die Pflegebedürftigen und die (demenzkranken) pflegebedürftigen Menschen? Ich gehe davon aus, dass der erlebte und viel beschriebene Stress in der Pflege eine Regressionsdimension hat. Durch die Veröffentlichung des Körperlichen ist Pflege eine tendenziell beängstigende, weil verletzungsoffene und beschämende Situation. Neben den praktischen Pflegetätigkeiten ist der Pflegende also darauf angewiesen, die Emotionen des Pflegebedürftigen, die bei der Pflege entstehen, zu halten. Dies geschieht üblicherweise durch Rituale der Anerkennung während der Pflegehandlungen. Unterbleiben diese Rituale der Anerkennung, aus welchen Gründen auch immer, bauen sich um die veröffentlichte Körperlichkeit Fantasien auf. Der Blick der Pflegerin oder des Pflegers wird dann zu etwas Bedrohlichem, Beängstigendem und Beschämenden. Es entstehen Abwehrformen, die in die beschriebenen Regressionen münden können und manchmal so eskalieren, dass die Pflege abgebrochen werden muss oder nicht möglich ist. Pflegekompetenz ist deshalb nicht nur die Anwendung des Pflegeprozessmodells, sondern auch die Fähigkeit mit dieser Entweihungs- und Schamdynamik, die die Pflege automatisch begleitet, umzugehen. Weiterhin werden institutionelle Hintergründe und institutionalisierte Gefühle ausgeleuchtet, besonders die enorme Beschleunigung und Ökonomisierung der Pflege, die einen verstehenden und achtsamen Umgang mit den pflegebedürftigen Personen, überhaupt das Erkennen und angemessene Deuten von Pflegesituationen zunehmend gefährdet und zu einer Sprachlosigkeit und Ratlosigkeit in Bezug auf den eigenen Berufsalltag führt. Zu dis-
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1 Pflege, Entweihung und Scham – ein Problemaufriss
kutieren ist auch die Durchsetzung der Konsumphilosophie in der Pflege, die wichtige Anliegen und Konzepte wie die gemeinsame Sorge mit Angehörigen erschwert. Arbeiten am Ende des Lebens verlangt von allen, die für alte Menschen Verantwortung tragen, die Reflexion und die Erarbeitung einer palliativen Haltung. Diese steht sowohl der alten Abschiebe- und Verlassenheitsdynamik, die die Anstalt prägt, wie auch der neuen manisch anmutenden Konsumphilosophie in der Altenpflege entgegen.
1.1 Pflege und Würde Sozial- und entwicklungstheoretisch nehme ich einen engen und unmittelbaren Zusammenhang von Pflege und menschlicher Würde zum Ausgangspunkt meiner gesamten Argumentation. Es ist meiner wissenschaftlichen Lehrmeinung nach die Pflege, die menschliche Würde schafft, während umgekehrt die Nícht-Pflege und die Verweigerung von Pflege zu einem Zustand der Würdelosigkeit führt. Letzteres ist die Psychodynamik der Anstalt, des Lagers oder anderer Institutionen, die von Verrohung, Scham und Entweihung geprägt sind. Mit Bruno Bettelheim (1990), Ernst Federn (1989), Emmi Pikler (vgl. Tardos 1981), den Bindungstheoretikern John Bowlby (2008) und Donald Winnicott (1958/1969) versuche ich, diesen engen Zusammenhang von Pflege und Würde zu begründen. Vor allem Bruno Bettelheim und Ernst Federn haben nach ihren Erfahrungen im Konzentrationslager das Extreme der Zerstörung eines Lagers in der vollständigen Abwesenheit jeglicher Pflege begründet. Die Psychologie eines Lagers ist faktisch das Gegenteil von Pflege – die Nicht-Pflege. Eine ähnliche Position wird auch im Umfeld der Kinderärztin Emmi Pikler und dem von ihr gegründeten Kinderheim Lóczy in Ungarn vertreten, wobei Pikler vor allem die Pflege der ihr anvertrauten Heimkinder in den Mittelpunkt ihrer Theorie seelischer Entwicklung gestellt hat. Wie man einen hilflosen Menschen hält, ihm zu essen gibt, ihn berührt, mit ihm spricht, wie man sein Gesicht, seine Stimme und seine Hände benutzt, um ihm bei der Ausbildung einer „psychischen Haut“ zu helfen, ist von Pikler und ihren Nachfolgerinnen detailliert beschrieben worden und begründet heute zunehmend einen eigenen Ansatz in der Pflege und Erziehung von kleinen Kindern. Piklers Ansatz, verlassenen Kindern durch eine spiegelnde und mimetische
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1.1 Pflege und Würde
(sich ähnlich machende) Pflege ins Leben zu helfen, ist faktisch eine praktische Ausführung der Objektbeziehungs- und Bindungstheorien, wie sie von den Psychoanalytikern John Bowlby und Donald Winnicott in einem ähnlichen Zeitraum entwickelt worden sind. Mimetisch sein, also sich ähnlich machen ist seit Siegfried Bernfeld auch eine basale pädagogische Kunst (vgl. Hörster 1992, S. 143ff.). Seit kurzer Zeit wird nun dieses objektbeziehungstheoretische Wissen von der Pflegewissenschaft und der Medizin rezipiert. Vor allem die Arbeiten von Wilhelm Stuhlmann (2004) übertragen das bindungstheoretische Konzept auf die Pflege demenzkranker Menschen und schließen an psychoanalytische Ansätze, so wie sie auch von Radebold (1986) oder Kipp (1995) vertreten werden, an. Erich Böhm (2005) oder auch Corry Bosch (1999) mit ihrer Arbeit zur Vertrautheit schließen pflegewissenschaftlich an bindungstheoretische Erkenntnisse an. Umgekehrt löst der kranke und pflegedürftige Körper durch seine Verletzlichkeit eine besondere Körperscham und damit verbunden häufig auch Aggression aus. Schamtheoretisch hat dies mit dem Hervortreten der Naturhaftigkeit, des Kreatürlichen eines Menschen zu tun. Während aus der Perspektive der Scham der gepflegte Körper etwas Unnahbares hat, etwas, was zu Achtung und Takt führt, ist der naturhafte Körper quasi Fleisch und damit der Souveränität und der Fähigkeit, Macht auszuüben, entgegengesetzt. Der naturhafte, nicht gepflegte Körper ist deshalb verletzungsoffen, hilflos und gleichzeitig in seiner Naturhaftigkeit möglicherweise hässlich bis hin zu abstoßend. Dieser Zusammenhang von Pflege, Körperscham und Kreatürlichkeit des Menschen ist Gegenstand der alten schamtheoretischen Arbeiten von Georg Simmel (1901) und Max Scheler (1957). Diese Schamdimension über den kreatürlichen, ggf. unsauberen Körper ist möglicherweise der wichtigste unbewusste Grund dafür, dass die Pflege als niedrige Arbeit bewertet wird. Sie arbeitet ja quasi mit dieser Kreatürlichkeit. Sie verwandelt die Kreatürlichkeit in Gesellschaftlichkeit, den Naturkörper in einen Gesellschaftskörper. Damit stellt die Pflege die Sphäre der Unnahbarkeit und Heiligkeit der Person (Goffman) jeden Tag her. So teilt die Pflege quasi das Geheimnis um den kreatürlichen Körper. Sie weiß um die Dinge und Zeichen, für die man sich schämt, wenn man ungepflegt in den Spiegel schaut oder anderen gegenübertreten muss. Wenn ich davon spreche, dass die Pflege Würde schafft, ist diese Dimension gemeint. Es kommt jedoch zusätzlich die positiv spiegelnde und
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1 Pflege, Entweihung und Scham – ein Problemaufriss
haltende Dimension hinzu. Menschliches Selbstbewusstsein hängt eng mit der Erfahrung des Gespiegeltwerdens und Gehaltenwerdens zusammen. Dies ist eine Leistung der Pflege, die vor allem in der Grundpflege zu verorten ist. In diesem Zusammenhang ist es mir ein wichtiges Anliegen, die Wurzeln des Verständnisses von Pflege als niedriger und verachteter Arbeit, also die gesellschaftliche Bewertung, die den Zusammenhang von Würde und Pflege verdeckt, freizulegen. Ich führe dieses Verständnis historisch auf einen Arbeitsbegriff zurück, dessen Wurzeln in der Antike liegen und der von einer Schichtung der gesellschaftlichen Arbeit ausgeht. Niedrige oder auch bescheidene Arbeit bis hin zur verachteten Arbeit ist dort jene Arbeit gewesen, die die Sklaven und Unfreien in den antiken Gesellschaften verrichtet haben. Die Verbindung von Pflege mit Schmutz, Scham und Verachtung hat hier ihre historischen Wurzeln. Dieser antike Arbeitsbegriff ist jedoch heute kaum noch zu legitimieren, spielt jedoch in der Bewertung von pflegerischer Arbeit immer noch eine wichtige Rolle. Angelika Zegelin hat die Dimensionen der Abwertung der Pflege anhand von Überschriften aus Zeitungen aufgelistet. „Hartz IV: Blätter fegen und Alte pflegen. „Schulverlierer“ in die Altenpflege! „Pflegerinnen aus Osteuropa gefragt“ „Prostituierte in Pflege umgeschult“ „Pflege: Ehrenamtliche sorgen für Menschlichkeit“ Diese Ausschnitte, die Zegelin 2007 für eine Bewertung der geschäftlichen Pflegearbeit sammelte, zeigen die enge Verbindung von Bescheidenheit und Verachtung, die den Pflegeberufen heute anhängt (vgl. Zegelin 2014). Die Dimensionen der Deprofessionalisierung zeigen sich hier deutlich und zerstören das Bewusstsein darüber, dass Pflege und menschliche Würde eine wichtige Einheit bilden. Betrachtet man die Dualität von Pflege und Würde einerseits und Pflege und Naturhaftigkeit andererseits, so erklärt sich die große Bedeutung des gesellschaftlichen Ansehens der Pflege in einer Epoche des demografischen Wandels in Europa, in der immer mehr Menschen Pflege existenziell benötigen. Pflege und Sorge haben in der Gegenwart, anstatt ihre Wertschätzung zu steigern, durch eine Reihe von Gesetzen, gesellschaftlichen Entwürfen und Maßnahmen eher eine Entwertung erfahren. Da ist zum einen das Pflegever-
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1.2 Rollenspannungen
sicherungsgesetz mit dem Prinzip eines rein verrichtungsorientierten Pflegebegriffs, zum anderen die Entwicklung der Arbeitspolitik, wie sie z. B. in der bayerisch-sächsischen Zukunftskommission in den 1990er Jahren (vgl. Frankfurter Rundschau 2.12.1997) oder in der Agenda 2010 vollzogen wurde. Pflege wurde noch mehr bescheiden gemacht, abgewertet, versachlicht, monetarisiert und beschleunigt. Entsprechend sind die Rollenspannungen bei den professionell Pflegenden, aber auch die Konflikte in Familien gewachsen. Zu pflegen bedeutet heute das Risiko der gesellschaftlichen Desintegration zu tragen, da Pflege und Sorge auch in der Familie zwar gesellschaftlich gewünscht, aber kaum gesellschaftlich geschätzt sind. Sorge und Pflege, und damit letztlich auch eine generative Logik, stehen dem Entwurf einer unternehmerischen Wissensgesellschaft, die z. B. die oben erwähnte bayerisch-sächsische Zukunftskommission in den 1990er Jahren zum Leitbild erklärte, deutlich entgegen. Und Gesellschaft und Politik verändern wenig, um die Belange von Pflegebedürftigen und ihren Familien sowie der Angehörigen von Pflegeberufen besser zu schützen. Die gesellschaftliche Desintegration von Sorge und Pflege allgemein bewirkt selbstverständlich vor allem bei denjenigen, die professionell pflegen, Rollenspannungen und Berufskrisen, wobei diese nicht nur in der aktuellen gesellschaftlichen Situation, sondern auch kulturell begründet sind.
1.2 Rollenspannungen Die Rollenspannungen in der Pflege beziehen sich kulturell und in relativer Unabhängigkeit von der jeweiligen Pflegepolitik zunächst auf Schuldgefühle, weil wir den kranken, schwachen und sterbenden Menschen aufgrund ihrer Menschenwürde Zuwendung schulden, für die wir zudem Geld bekommen (Rudnitzki 1991/1995), aber auch Scham durch die Konfrontation mit der Naturhaftigkeit und den unreinen Teilen des Körpers sind von Bedeutung. Hieraus entstehen schon Reaktionen der Abwehr wie Aggression, Verzweiflung und Aphasie (Stummsein/Sprachverlust). Pflegepolitisch hoch bedeutsam und stark gesellschaftlich abhängig ist demgegenüber eine soziale Dimension des Berufes, denn auch die Deprofessionalisierung der Pflege ist mit Scham verbunden. Diese Scham, die entsteht, wenn menschliche Arbeit gesellschaftlich abgewertet wird, ist jedoch eine andere, als jene Scham, die
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1 Pflege, Entweihung und Scham – ein Problemaufriss
von der Öffentlichkeit des Naturkörpers während der Pflegesituation und der körperlichen Hilflosigkeit herrührt. Es entsteht auf diese Weise, wie ich schon in der ersten Auflage des Buches zu zeigen versucht habe, ein Schamzyklus von sozialer Scham durch die Wahrnehmung der eigenen sozialen Deklassierung bei den Pflegenden und jener Scham, die von der pflegebedürftigen Person kommt. Dieser Schamzyklus ist gefährlich, weil er Verrohung und Gewalt begünstigt. Anerkennung der Pflege hingegen als basales menschliches Tun hilft den Pflegenden bei der Verarbeitung ihrer Gefühle in der Pflege, wenn sie mit dem Naturkörper in unmittelbarer Berührung sind. Die gegenwärtige gesellschaftliche Deutung von Pflege als Arbeit der „Niedrigstehenden“ (Neckel 1991), der „Dienstboten“ und der „bescheidenen Berufe“ führt wiederum dazu, dass Pflegende die soziale Deklassierung und Prekarisierung ihrer Tätigkeit zunehmend inkorporieren und das Berufsfeld verlassen oder andere, eben instrumentelle und aggressive Abwehrmechanismen entwickeln. Unter Inkorporation wird wissenschaftlich eine Art der seelischen Einverleibung verstanden, eine unbewusste und unfreiwillige und trotzdem wirkungsmächtige Verinnerlichung z. B. der sozialen Erniedrigung. Inkorporationen werden sowohl soziologisch, hier von Bourdieu (1997b), beschrieben als auch von der Psychoanalyse, die allerdings mehr von Identifizierung mit dem Aggressor (Anna Freud) spricht. Gefühle in der Pflege haben viel mit diesen Inkorporationen zu tun. Diese, d. h. die innere Realität der Pflegenden, werden im vorliegenden Buch beschrieben, gedeutet und interpretiert. Theoretische Folien sind dabei sozial- und kulturwissenschaftliche und psychoanalytische Ansätze. Mit Lorenzer (2006) gehe ich davon aus, dass Szenen in der Pflege einen Blick auf die Gesamtkonstellation eines Konfliktes wie einer Institution freigeben. Aus diesem Grund habe ich immer wieder Szenen und Beispiele in den Text einfließen lassen. Erkenntnissen der Institutionsanalyse und der Gruppenanalyse (Foulkes 1992) zufolge bilden die Institution und die innere Realität ihrer Mitglieder, also der Pflegenden, der Pflegebedürftigen und der Umwelt Figurationen (vgl. Bartels 1995). Sie haben einen Gestaltcharakter und prägen die Organisationskultur. Dies beginnt schon bei der Architektur einer Organisation, geht über den Habitus der dort Beschäftigten und die Rituale ihres Handelns bis hin zu den Ängsten und Gefühlen, die in einer Organisation gemeinsam abgewehrt werden müssen. Methodisch folgt das Buch diesem gestalttheoretischen Ansatz.
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1.3 Zugang und erkenntnisleitendes Interesse
Am 14. August 2013 widmete die Süddeutsche Zeitung auf Seite drei dem Thema der zunehmenden Instrumentalität, Ökonomisierung und Beschleunigung in deutschen Krankenhäusern einen großen Beitrag. Noch problematischer als diese Dimensionen der Organisationskultur erscheint jedoch bei der Lektüre des Beitrags die Verrohung sowohl der Ärzteschaft als auch des Pflegepersonals. Verbale Aggression, Entwertung und Beleidigung, vor allem aber die Unfähigkeit zur Empathie, was bedeutet, die Patientensituation völlig zu verkennen, wird in der Süddeutschen Zeitung zum Thema gemacht und steht eindrucksvoll der Imagekampagne „Wir arbeiten für Ihr Leben gern“ der Ärztevereinigung gegenüber. Dass und wie die Buchstabierung der Pflege und Sorge als funktionale und ausschließlich auf ökonomischen Gewinn gerichtete Interaktion zur Verrohung führt, ist das zentrale Argument des Buches. Es will den theoretischen Irrtum aufzeigen, der der Konzeption von Pflege als versachlichtem und ökonomisiertem Handlungstypus oder als niedrige Arbeit von neuen Dienstboten zugrunde liegt. Dieses Buch ist aus der Praxisberatung entstanden, d. h. durch den Problemdruck, so wie er sich in der Praxis zeigt und dort gefühlt wird. Es hat entsprechend einen berufspolitischen und programmatischen Anspruch und will ein Bewusstsein für die Abwertung der Arbeit, aber auch für die sozialen Konflikte in der Pflege wecken.
1.3 Zugang und erkenntnisleitendes Interesse Als ich Ende der 1980er Jahre mein erstes Seminar mit dem damaligen, heute merkwürdigen Titel „Umgang mit Verwirrten“ leitete, wurde mir im Laufe der Fallbesprechungen die Bedeutung der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie, später der Bindungstheorie für die Pflege, vor allem hochaltriger, von ihren Bezugspersonen abhängiger oder demenzerkrankter Menschen bewusst. Besonders die Unterscheidung von Lenkung oder Führung des Menschen mit Demenz und dem in der bindungstheoretisch beeinflussten Psychoanalyse entwickelten Begriff des „Holding“, des Haltens (Winnicott) und der Konzeption der „sicheren Basis“ (Bowlby 2008) drängte sich auf. In der gerontopsychiatrischen Pflege war es in den 1990er Jahren – und ist es teilweise bis heute – unumstritten, dass Menschen mit Demenz gelenkt und geführt werden müssen. Sie galten und gelten vielfach als Gefahr für sich und andere. Im
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Anspruch der Gesellschaft, Menschen mit Demenz zu normalisieren, kommen auf die Institution und die dort tätigen Beschäftigten eine Reihe von Paradoxien zu. Dies beginnt schon beim Pflegebegriff, der sich nicht daran orientiert, in welchen Situationen sich pflegebedürftige Menschen befinden, welchen Hilfebedarf sie haben, sondern daran, was sie nicht mehr ausführen können. Die Normalisierung durch die Institution geht weiter über die Konzeption der Beziehungsgestaltung, denn eigentlich müssten die Pflegenden die ihnen anvertrauten Menschen verstehen können, d. h., sie müssten dafür die professionellen Kompetenzen haben, sie müssten schließlich die Zeit haben, um in die Situation des Pflegebedürftigen einzutauchen und personenzentriert zu arbeiten. Das Buch kann sich nur auf die professionellen Kompetenzen beziehen. Die Kunst mit hochaltrigen, pflegebedürftigen und demenzkranken Menschen in Beziehung zu treten, für sie einen haltenden Rahmen abzugeben und eine sichere Basis, ist ein pflegewissenschaftlich offenes Projekt, wird aber zunehmend von Pflegeexperten vertreten (Stuhlmann 2004, Koch-Straube 1997). Diese PflegewissenschaftlerInnen sehen in der Pflege nicht nur ein evidenzbasiertes naturwissenschaftlich begründetes, sondern ein hermeneutisches Handeln. Dieser Pflegebegriff wird hier zugrunde gelegt. In Seminaren und Fachberatungen wurde ich weiterhin aufmerksam auf die hohe Bedeutung, die die Angst und die Unsicherheit in der Interaktion zwischen Pflegebedürftigen, zumeist demenzerkrankten alten Menschen und ihren Helfern spielt. Meine Erfahrungen verdichteten sich, dass die Symptome der Demenz und ihre Inhalte die Pflegenden ängstigten. Die Inhalte passten weder in das Menschenbild, welches vor allem Pflegende in die Beratungen mitbrachten, noch in das herrschende Pflegeverständnis und vor allem nicht in die Ordnung der Institution. Die Inhalte der Demenzen passen auch nicht in das Pflegeverständnis und in das Menschenbild, welches sich in der Gesellschaft durchgesetzt hat. Implizit wird hier sowohl von Rationalität (der vernünftige Mensch) als auch von Moral (der schuldige Mensch) ausgegangen. Pflegebedürftige Menschen, vor allem Menschen mit Demenz entsprechen aber weder dem Ideal souveräner Seniorität, noch sind sie in der Lage zu moralischem Handeln. Die modernen Heimkonzepte legen dies jedoch zugrunde und machen so den Menschen mit Demenz zum institutionellen Sonderfall. Die institutionellen Leitbilder prägen Haltung und Bewusstseinshorizonte der Pflegenden und führen dazu, die Inhalte der Demenzen, aber auch Sper-
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1.4 Zur Struktur des Buches
rigkeiten alter Menschen quasi zu „exkommunizieren“. Das demente Alter wird deshalb fremd. Für das Verhalten der Bewohner und Patienten steht kaum Sprache zur Verfügung, sodass die erste Aufgabe in der Supervision und Fachberatung darin besteht, das von den Pflegenden Gefühlte und Erlebte besprechbar zu machen. Hilfreich ist ein radikales Verstehen, auch bedrohlicher und dämonisch erscheinender bzw. befremdlicher Inhalte in der Beziehung zwischen Patienten und Helfern. Auf der Suche nach verstehenden Ansätzen in der Gerontologie stieß ich bald auf die Arbeiten von Hartmut Radebold (1986), Johannes Kipp (1995) und Christel Schachtner (1981) sowie auf gruppendynamische und soziologische Ansätze. Letztere wurden bedeutsam, als ich neben dem Phänomen der Angst in der Arbeit mit alten Menschen auf Schamphänomene stieß. Der Schamaffekt und das Schamgefühl erscheinen mir heute, neben dem Angstphänomen und den durch Verlust hervorgerufenen Trauerphänomenen, sowohl zu den bedeutsamsten Gefühlen des Alters als auch zu den bedeutsamsten Gefühlen in der Pflege zu gehören. Für mich vollzieht sich der Prozess des Alterns immer mehr im Dreieck von Verlust, Angst und Schamerfahrungen. Mein Eindruck ist, dass Pflegebedürftigkeit, chronische Krankheit und insbesondere Demenz diese Trias verdichten. Scham in Bezug auf die Menschen mit Demenz habe ich vor allem sehr stark bei Angehörigen und Pflegenden, also im Netzwerk Erkrankter vorgefunden.
1.4 Zur Struktur des Buches Das zweite Kapitel befasst sich mit dem neuen Thema des Zeitantagonismus in der Pflege. Die Pflege hat eine geradezu atemberaubende Umdeutung erfahren. Sie ist heute nicht nur bescheiden, sondern deutlich beschleunigt worden. Keine Zeit zu haben, stellt deshalb ein ganz eigenes Problem dar und wird zum Merkmal bescheidener Arbeit. Verlust und Scham als entwicklungspsychologisch bedeutsame Einflussfaktoren sind das Thema des dritten Kapitels. Hier werden sowohl die Theorie der Entwicklungsaufgaben im Lebenslauf als auch die klinische Theorie der Verluste, wie Radebold (1986) sie formuliert hat, dargestellt. Das Phänomen der Scham ist Gegenstand des vierten Kapitels. Dieses Kapitel differenziert die Körperscham oder auch Leibesscham, die soziale Scham
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und die Seelenscham in Anlehnung an klassische und moderne Schamtheorien und überträgt diese Systematik auf die Situation in der Pflege. Zunächst einmal jedoch wird Scham psychologisch und als menschliches Grundgefühl erklärt. Dass Schamaffekte nicht vor Pflegenden haltmachen, ist mir durch die heftige Wut aufgefallen, mit der Pflegende diese in Supervisionen und Fortbildungen loslassen, wenn sie von Vorfällen und Situationen, vom Alltag in der Pflege berichten. Entsprechend wird Takt und die Ritualisierung der Pflege als Perspektive zur Schamminderung eingeführt. Das Kapitel fünf nimmt das Thema der Pflege als menschliches Tun sozialphilosophisch auf. Die Argumentation folgt dem engen Zusammenhang von Pflege und Würde und damit dem Wert der Pflege als Arbeit. Es ist Zeit, Pflege wissenschaftlich und grundsätzlich in ihrem Beitrag zu dem, was das Menschsein ausmacht, zu diskutieren. Gleichzeitig ist Pflege als Arbeit im Oikos, also als Arbeit der Niedrigstehenden besonders verkannt. Dieser Zusammenhang fördert die Aggression, als Fortsetzung der Scham, die im Kapitel sechs besonders diskutiert wird. Mit diesem Thema befassen sich auch die Abschnitte, die über den Zusammenhang von Angst und pflegerischer Interaktion berichten und ein Abschnitt über die Arbeit eines Zivildienstleistenden aus den 1990er Jahren. Ich habe überlegt, ob ich die Schilderung von Jochen Temsch wegen ihres Alters im Buch belasse, finde jedoch, dass sich hier der Zusammenhang von Scham und Entehrung so gut aufzeigen lässt, dass man die Entwicklung von der Entehrung und Scham über die Verrohung und Gewalt in der Pflege sehr gut nachvollziehen kann. Einen wichtigen soziologischen Begriff für Vorfälle und Geheimnisse in der Pflege fand ich bei Goffman (1973, 1984), der von „Entweihungen“ spricht. Entweihungen, das sind ritualisierte, aber auch unbeabsichtigte Zerstörungen der Ehre und Würde in der Regel mittels Gewalt, Verachtung oder mittels Schmutz oder Verweigerung von Pflege. Diese Entweihungen finden nach Goffman häufig in Institutionen mit Anstaltscharakter statt. Es ist einfacher Menschen zu bestrafen, zu kontrollieren und zu überwachen, wenn man vorher jene Unnahbarkeit zerstört hat, die aus der menschlichen Ehre und Würde stammt. Umgekehrt hat Goffman beobachtet, dass die so Entehrten die empfangenen Entehrungen übertrieben zurückgeben, in dem sie ihre schmutzigen oder entehrten Körper anderen aufdrängen, vor allem jenen, die sie überwachen sollen. Der schmutzige Körper ist, wenn er sich aufdrängt, ein wichtiges Machtmittel vor allem jener, die über wenig Macht verfügen. Dies ist die
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1.4 Zur Struktur des Buches
Dynamik der Anstalt. In den Kontexten der Pflege sind die Entweihungen im Gegensatz zum Gefängnis meist unbeabsichtigt. Sie treffen aber das sowieso niedrige Selbstwertgefühl der Pflegenden. Die Bedeutung des Schamgefühls, aber auch der Angst bei Pflegenden angesichts der von den Pflegebedürftigen empfangenen Entweihungen – sei es nun beabsichtigt oder unbeabsichtigt – ist mir in meiner Arbeit an unterschiedlichen Stellen aufgefallen. Entweihungen unterliegen dem professionellen Geheimnis. Pflegende sprechen nur in sehr geschütztem Rahmen von ihren Gefühlen, die sie haben, wenn sie Kot zwischen Heizungsrippen hervorholen, aus Steckdosen kratzen oder ihn als „Praline“ geschenkt bekommen oder wenn sie bespuckt werden, gebissen oder geschlagen. Die mit dem Schmutz und der Entehrung verbundene Scham macht stumm, und erst die Auflösung des Schamgefühls z. B. in der Supervision ermöglicht jenen Prozess von Ratlosigkeit, Unverständnis, Wut, Verzweiflung und Ärger zu überwinden. Diese Gefühle können dann, in der Regel durch die Anerkennung in der Gruppe und im Team, in Gefühle der Duldung, des Hinnehmens und Aushaltens, manchmal auch des Mitgefühls, des Tröstens, des Haltens und schließlich der Empathie mit einem Patienten oder Bewohner übersetzt werden können. Wo dies nicht gelingt, wo auf die kommunikative Verarbeitung der Schamsituationen verzichtet wird, weil es Zeit und Geld kostet, entstehen Sprachlosigkeit und Zorn. Unverarbeitete Gefühle der Pflegenden können in dauernde Abgrenzung und radikale Kontrolle der Patienten, Bewohner und Angehörigen münden. Dabei interessant ist das Zusammenwirken von Strukturen der Altenhilfe mit Berufskulturen und der inneren Realität der Pflegenden. So kann ein Kreislauf oder eine Figuration von institutioneller Ökonomisierung nach dem Motto „Uns interessiert nur der Erlös“ entstehen, mit Ideologien und Denkweisen äußerster pflegerischer Verrichtungsorientierung (Pflege im Minutentakt) und Pathologisierung der Bewohner oder Patienten (klinischer Blick) sowie schließlich auf der inneren Ebene unverarbeiteter Gefühle durch Scham- und Entehrungserfahrungen, seien diese nun beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Finden wir diese Figuration vor, sprechen wir von einer strukturellen Verrohung. Die psychologische Tradition der beruflichen Reflexion in der Pflege (Supervision, Fachberatung) verortet die Ursache und den Hintergrund von Gefühlen in der Pflege in der Regel in der Lebensgeschichte und im Triebschicksal der einzelnen Pflegenden. Helfersyndrom oder Burn-out-Syndrom
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stellen individuelle Verarbeitungsmodi und individuelle Psychodynamiken der Pflegenden in den Vordergrund. Obwohl die Bedeutung dieser Ansätze nicht geschmälert werden soll, muss das Erkenntnisinteresse darüber hinausweisen, denn es ist schlecht möglich und wenig wünschenswert, die gesamte Berufsgruppe zu verdächtigen, ohne die institutionellen Strukturen und Ideologien zu berücksichtigen, die durch berufliche Sozialisation eine eigene Wirkungsmächtigkeit erfahren. Von Interesse ist der Zusammenhang von Institution und Gefühl, von institutionalisierten Gefühlen. Mit dieser Fragestellung befasst sich ein weiteres Kapitel. Auf der Basis der soziologischen Theorie von Norbert Elias (1976) wird der Zusammenhang von Institution und Gefühl erarbeitet. Institution wird dabei als Figur bzw. Figuration analysiert. Leitend sind hier sowohl psychoanalytische Erkenntnisse über die Institution als Ganzes, also nicht nur einzelne Menschen in Institutionen, sondern auch, in Anlehnung an die Theorie der Gruppenanalyse, ihre Instanzenhaftigkeit. Ähnlich wie Eltern nicht nur Personen für das Kind sind, sondern Instanzen, so sind auch Institutionen Instanzen für ihre Mitglieder. Angeregt durch die Überlegungen Woosters (1994) habe ich versucht, pflegerische und medizinische Institutionen als in der Gefahr der Spaltung stehend, zu verstehen. Auf der einen Seite findet sich fast manische Größe, meist im männlichen Teil der Institution bei Managern, Geschäftsführungen und Vorständen, und es findet sich ein depressiver Teil, meist da, wo Frauen arbeiten. Die Spaltung vollzieht sich zwischen den erfolgreichen Modernisierern, Fortschrittsproduzenten und Problemlösern, die öffentlich bewundert werden, und den Personen, die den „stillen Dienst“ verrichten, deren Arbeit im Verborgenen geschieht und, deren Beiträge und Produktivität gesellschaftlich unbewusst bleiben oder entwertet werden. Aus dieser Figuration und Analyse des depressiven Teiles klinischer Institutionen, die alte Menschen versorgen, den ich in Anlehnung an Woosters Kulturkritik (1994) als „verlassene Mutter“ bezeichnet habe, ergeben sich Hinweise auf Gefühlsmuster und Regressionskulturen im Altenheim. Während gegenwärtig eine Lösung dieses Problems darin gesehen wird, aus den alten Menschen Kunden zu machen und Pflegende aufzufordern, ihre Bewohner und Patienten einfach als autonome Marktsubjekte zu begreifen, also zu narzisstischer Größe einzuladen, glaube ich an eine andere Perspektive. Diese liegt darin, den Sisyphoscharakter der Arbeit mit hochaltrigen Menschen,
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demenzerkrankten und sterbenden Personen anzuerkennen und Hilfestellung dabei zu leisten, „wenn der Stein den Berg immer wieder hinunterrollt“. Pflege, insbesondere die Pflege alter, multimorbider und demenzkranker Menschen, möchte ich in dem Feld der Zivilisationsarbeit, der Frauenarbeit und der Sisyphosarbeit zuordnen, auch wenn letzterer Begriff wenig wissenschaftsfähig erscheint. Er beschreibt die mühevolle pflegerische Arbeit sehr angemessen. Aus systemtheoretischer Sicht hat Thomas Klatetzki (1993) eine Dissertation verfasst, die die Spaltungen in Organisationen, im Prinzip so, wie Wooster sie psychoanalytisch beschrieben hat, noch einmal systemtheoretisch mit einem Risiko des Auseinanderbrechens von Zentrum und Peripherie in Organisationen begreift.
1.5 Zur Methode und praktischen Verwendung des Buches Die Arbeit versteht sich in erster Linie als theoretische Reflexion und Interpretation von Fallbeispielen und Feldwissen, die im Laufe mehrerer Jahre gesammelt wurden. Sie ist erkundend, vorwissenschaftlich, wenn man eine empirisch-analytische Forschungslogik zugrunde legt und interpretativ. Wissenschaftlich sind die theoretischen Entwürfe, deren empirische Gültigkeit und Evidenz jedoch nicht geprüft, sondern als gegeben vorausgesetzt wird. Hervorzuheben ist Arbeit mit Beispielen. Es wurden solche Beispiele verwendet, die typisch sind für die Konfiguration von Konflikten und für Konstellationen in der Pflege heute. In der Regel werden diese Beispiele im Kontext des supervisorischen Verstehens interpretiert, wobei es unumgänglich ist, die Theorien und Verständnisse ausführlich vorzustellen. Das Buch soll als Beitrag zur Qualitätssicherung in der Altenarbeit und Pflege aus einer feldtheoretischen und supervisorischen Sicht verstanden werden. Es wendet sich also nicht ausschließlich an Pflegende, sondern auch an SozialarbeiterInnen, SeelsorgerInnen und nicht zuletzt an SupervisorInnen. Insbesondere bei einem ethisch begründeten Pflegeverständnis, das den Patienten weniger als Empfänger pflegerischer Leistungen, denn als Person ansieht, spielen Gefühle in der Pflege eine zentrale Rolle. In diesem Rahmen werden Kompetenzen notwendig, die über handwerkliche und fachliche Qualifikationen hinausgehen. Pflegequalität ist hier vielfach Pflegekunst. Nicht
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mehr ein Subjekt-Objekt-Arrangement mit dem Ziel der Herbeiführung eines wie auch immer begründeten Idealzustandes beim anderen ist bedeutsam; es geht auch nicht darum, Patienten und Bewohner effektiv umzumodellieren. Pflege auf der Basis eines ethisch begründeten Verständnisses besteht in erster Linie in der humanen und reziproken Gestaltung einer Beziehung. Sie ist Subjekt-Subjekt-Interaktion, Ich-Du-Beziehung (Buber (1923/1979). Gefühle in der Pflege wie Angst, Scham, aber auch Wut, Aggression, Verzweiflung werden in diesem Verständnis nicht mehr als ein bedauernswerter Unfall oder peinlicher Irrtum einer ansonsten professionell kontrollierten Beziehung begriffen. Sie sind Wegweiser und Arbeitsmittel. Allerdings möchte ich die Kommunikation von Gefühlen nicht verstanden wissen als Aufforderung zur umstandslosen Authentizität, wie ich sie immer wieder antreffe. Die umstandslose Kommunikation von Gefühlen wie Ekel, Aggression, Unlust etc. dient eher der Beschämung der Patienten/Bewohner und hebt den SubjektObjekt-Charakter der Beziehung nicht auf. Die Kommunikation von Gefühlen in der Pflege bedarf der Kultivierung. Dazu bedarf es der Entwicklung von Formen der Qualitätssicherung, die über eine bürokratische Kontrolle hinausgehen. Eine Basis hierfür sind Institutionen der Selbstreflexionen und Selbstkontrolle wie die kollegiale Beratung, interne Qualitätszirkel, Supervision, berufs- und institutionsübergreifende Kooperationsformen, Bildung etc. Für diese Fragestellungen und Probleme soll das Buch eine Hilfestellung sein. Entsprechend der Theorie der Fallsupervision folgt das Buch dem gestalttheoretischen Ansatz (Rosenthal 1995). Dieser Ansatz entstammt der Phänomenologie (Husserl 1936) und will in drei Dimensionen verstehen: logisches, psychologisches und szenisches Verstehen. In der Fallsupervision ist das Verstehen auf sinnhafte Phänomene bezogen und will Bedeutungen mit Hilfe von Gruppenreflexionen erschließen. Erzählungen in Supervisionsprozessen sind einerseits flüchtige Erscheinungen, sie folgen dem Noema, d. h., sie sind selten wiederholbar und gelten zunächst nur für die Situation, in der sie erzählt wurden. Was eine Gruppe in einer Supervisionssitzung für sich an Sinnstrukturen erarbeitet, kann nur mit dem Mittel der Empathie aufgeschrieben und wiedergegeben werden. Der hinter einer Erzählung liegende Sinn wird empathisch erschlossen, weniger analysiert oder als Ding an sich, als einfache Tatsache verstanden. Fallsupervision ist damit ein Möglichkeitsraum, in dem eine Erfahrung im Hinblick auf ihren tieferen Sinn erschlossen wird.
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