Die Autorin Gabriele Weglage, geboren 1965, ist Diplom-Medizinpädagogin sowie Gesundheits- und Krankenpflegerin mit Fachweiterbildung Intensivpflege. Promotionsstudium an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Geschäftsführerin der Akademie St. Franziskus, Katholische Bildungsstätte im Sozial- und Gesundheitswesen GmbH, Lingen (Ems).
Gabriele Weglage
Leben auf Zeit Anpassungsstrategien palliativ betreuter Menschen
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.
Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de.
© 2014 Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1 a 60486 Frankfurt am Main Tel.: 069 – 70 79 96-13 Fax: 069 – 70 41 52 verlag@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de
Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main Umschlagfoto © Design Pics/images.de Druck: Faber, Mandelbachtal ISBN: 978-3-86321-209-4 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................. 8 Danksagung ......................................................................................... 10 Zusammenfassung ............................................................................... 11 Einleitung ............................................................................................ 13 1 Theoretische Grundlagen ................................................................. 17 1.1 Literaturrecherche .................................................................... 17 1.2 Palliative Care – eine begriffliche und konzeptionelle Annäherung ............................................................................. 23 1.2.1 Differenzierungen im Palliative Care-Konzept ................... 26 1.2.2 Zentrale Kategorien der Palliative Care.............................. 30 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.2.4
Strukturen und Bedingungen ....................................... 30 Zielgruppe .................................................................... 32 Aufgaben und Prozesse der Palliative Care................. 33 Merkmale, Prinzipien und Ziele .................................. 35
1.2.3 Stationäre Palliative Care-Settings ..................................... 38 1.3 Theoretische Ansätze zur letzten Lebensphase ....................... 41 1.4 Ergebnisse der theoretischen Betrachtung ............................... 48 2 Methodologisches und methodisches Vorgehen............................. 51 2.1 Methodologische Überlegungen .............................................. 51 2.2 Grounded Theory-Methodologie (GTM)................................. 53 2.3 Erhebungsmethoden ................................................................. 56 2.3.1 Feldforschung und teilnehmende Beobachtung.................. 57 2.3.2 Besonderheiten des Interviewtyps ...................................... 61 2.4 Ethische Überlegungen ............................................................ 68 2.5 Erhebungsprozess .................................................................... 72 2.5.1 Vorstellung des Forschungsfeldes ...................................... 72 2.5.1.1 2.5.1.2 2.5.1.3 2.5.1.4
Palliativstationen A und B ........................................... 75 Palliativstation C .......................................................... 77 Annäherung.................................................................. 79 Anpassung.................................................................... 80
5
2.5.1.5 Dilemmata und Einsichten........................................... 83 2.5.2 Sampling ............................................................................. 87 2.5.3 Datenerhebung .................................................................... 90 2.5.4 Memos ................................................................................. 95 2.5.5 Datenauswertung................................................................. 96 2.5.6 Selbst- und Fremdreflexion als methodische Absicherung ...................................................................... 106 3 Ergebnisdarstellung ....................................................................... 107 3.1 Kontextuelle Faktoren und Bedingungen .............................. 109 3.1.1 Laufende Anpassung: Immer wieder neu klären .............. 110 3.1.2 Zuversichtliche Erwartung: Zu Kräften kommen wollen .. 114 3.1.3 Alleinsein: Auf sich zurückgeworfen sein ......................... 121 3.1.4 Bedrängnis: Leben auf Zeit ............................................... 129 3.1.5 Verletzlichkeit: Die Nerven liegen blank ......................... 132 3.1.6 Verfall: Leidvolle Zeiten ertragen .................................... 139 3.2 Handlungs- und Interaktionsstrategien .................................. 147 3.2.1 Priorisieren: Sich auf das Wesentliche besinnen .............. 148 3.2.2 Selbstvergewisserung: Genau beobachten ....................... 155 3.2.3 Selbstbeherrschung: Stärke zeigen.................................... 160 3.2.4 Sinn-Orientierung: Etwas für die Seele tun ...................... 166 3.2.5 Lebensschau: Sich auf dem Lebensstrahl zurück und vor bewegen............................................................................. 176 3.3 Konsequenzen ........................................................................ 182 3.3.1 Selbstbestimmtheit: Erstarkt sein ..................................... 182 3.3.2 Verbundenheit: In Beziehung sein .................................... 191 3.3.3 Rückzug aus Beziehungen: Für sich sein ......................... 193 3.3.4 Zufriedenheit: Sich im Lot fühlen ..................................... 195 3.4 Zentrales Phänomen: KONZENTRIERUNG auf die Gestaltung der verbleibenden Lebenszeit ............................. 198 4 Reflexion und Ausblick ................................................................ 205 4.1 Methodische Reflexion der Untersuchung ............................ 205
6
4.1.1 Transparenz des Untersuchungsvorgehens ....................... 206 4.1.2 Reflektierte Subjektivität und Offenheit ........................... 208 4.1.3 Empirische Verankerung der Theoriebildung .................. 212 4.1.4 Angemessenheit des Untersuchungsvorgehens ................ 213 4.2 Reflexion der Untersuchungsergebnisse ................................ 215 4.2.1 Leben in palliativer Situation ............................................ 215 4.2.2 Strukturelle Konsequenzen für das Leben auf Palliativstationen ............................................................... 220 4.2.3 Individuelle Betreuung im multiprofessionellen Team erleben – Erzählen als Betreuungskonzept ....................... 222 4.3 Ausblick ................................................................................. 230 Literaturverzeichnis .......................................................................... 235 Anlagen Vorstellung der Patientinnen und Patienten.................................. 254 Gesprächsbeispiele ........................................................................ 258 Beispiel einer Gesprächskodierung in MAXQdA® ...................... 276 Überblick: Kodes, Kategorien und Sentenzen .............................. 277 Übersicht über relevante und sensibilisierende Studien und wissenschaftliche Arbeiten ................................................... 286 Tabellen Tabelle 1: Ausgewählte Textsegmente und zugeordnete Kodes der Kategorie Sich auf dem Lebensstrahl zurück und vor bewegen.....98 Tabelle 2: Eigenschaften und dimensionale Ausprägungen der Kategorie Sich auf dem Lebensstrahl zurück und vor bewegen.....99 Tabelle 3: Grafische Darstellung der Ergebnisse.........................107
7
Vorwort Die Pflege und Versorgung von Menschen, die aufgrund schwerer Erkrankung in absehbarer Zeit sterben werden, ist traditionelles Element des professionellen Selbstverständnisses im Gesundheitswesen (vgl. Ewers 2011, S. 561). Meine langjährigen Erfahrungen im Kontakt mit schwer- und schwerstkranken Menschen machte ich Ende der Achtziger- und in den Neunzigerjahren auf Intensivstationen. Hier konnte ich ein großes Verständnis für die Situation sterbenskranker Menschen entwickeln. Zum damaligen Zeitpunkt war der Begriff »Palliative Care« noch weitgehend unbekannt. Die dahinterstehende Philosophie fand meines Erachtens ihre Entsprechung in der praktischen Arbeit. In sogenannten »hoffnungslosen Situationen«, wenn die medizintherapeutischen Möglichkeiten erschöpft waren, erfolgte eine Anpassung der Ziele und Versorgungsangebote in Orientierung an den (mutmaßlichen) Vorstellungen und Wünschen der Patientinnen und Patienten und an ethischen Werten. Letztlich entwickelte sich mein pflegewissenschaftliches Interesse aus meiner Arbeit als Diplom-Medizinpädagogin. Im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit als Dozentin für Kommunikation und Gesprächsführung erfolgte eine intensive Auseinandersetzung mit der Idee der Palliative Care und dem damit verbundenen Anspruch, das professionelle Handeln an den individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen und somit am individuellen Erleben der Kranken auszurichten. Ziel der Kommunikationsseminare der Weiterbildung zur Palliative Care-Fachkraft ist unter anderem die Kompetenz, sich der Wirklichkeit des Kranken anzunähern und auf dieser Grundlage verstehende Gespräche zu führen. Mit der Intention, den Prozess der Kompetenzentwicklung adäquat fördern zu können – auch wegen der als unzureichend und eng empfundenen curricularen Vorgaben – begann eine inhaltliche und didaktisch-methodische Überarbeitung unter Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse der Palliative Care. Die mittels szenischer Darstellungen nachgestellten Interaktionen mit palliativ betreuten Kranken verdeutlichten mir immer wieder, wie fremd die subjektive Erlebens- und Erfahrungswelt der Patientinnen und Patienten für
8
Nichtbetroffene ist. In allen Kommunikationsseminaren wurde festgestellt, dass ein Nachempfinden des Erlebens der Situation und ein Hineinversetzen in die Lage eines letal kranken Menschen nur begrenzt möglich sind. Die Erlebniswelt unheilbar demenzkranker Menschen bildete die Grundlage des von der Robert Bosch Stiftung geförderten Qualifizierungsprogrammes Palliative Praxis – Ein Curriculum zur Begleitung alter Menschen am Ende des Lebens, an dessen Entwicklung ich als Mitglied der Expertengruppe mitgewirkt habe. Vor einigen Jahren begleitete ich die Implementierung einer Palliativstation in ein Krankenhaus der Allgemeinversorgung in Niedersachsen, welche auf der Basis des Gutachtens zur Palliativversorgung erfolgte. Hierbei arbeitete ich vorrangig in Arbeitsgruppen mit dem Fokus auf qualitative Aspekte der Versorgungsform. Wiederum wurde mir deutlich, dass die Perspektive der Betroffenen weitgehend unbekannt ist und daher wenig berücksichtigt wird (vgl. Buser et al. 2004, S. 175). Während einer Jubiläumsfeier einer Palliativeinrichtung referierte eine Palliativmedizinerin über ihre Begegnungen mit unheilbar kranken Menschen im Kontext von Palliative Care. Ohne die üblichen Axiome zu bemühen, stellte sie ihre tägliche Arbeit dar – seither beschäftigen mich Fragen des Erlebens dieser existenziell bedrohlichen Situation und des Beitrages der Palliative Care. In der vorliegenden Untersuchung wird auf die Perspektive von Palliativpatientinnen und Palliativpatienten im klinisch-stationären Setting fokussiert. Mein Anliegen ist es, das Erleben, die Erfahrungen, die Verhaltensweisen und die Bedürfnisse von Menschen in der Phase der Palliativbetreuung zu explorieren. Um einen Zugang zum Erleben zu bekommen, wurde ein qualitatives Design gewählt. Im Mittelpunkt stehen die Erzählungen und Aussagen der angesprochenen Personen.
9
Danksagung Mein aufrichtiger Dank gilt allen, die mich während der Zeit des Forschens und Schreibens begleitet und unterstützt haben. Mit der Fertigstellung dieser Arbeit geht für mich eine intensive und lehrreiche Lebensphase zu Ende. Herrn Professor Dr. Frank Weidner, Dekan der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar, danke ich für die sehr engagierte Betreuung meiner Dissertation und für zahlreiche konstruktive Anregungen im Rahmen der Kolloquien. Ebenfalls bedanke ich mich bei Frau Professor Dr. Alexandra Manzei als Zweitgutachterin. Den Kommilitoninnen und Kommilitonen des Doktorandenkolloquiums verdanke ich wertvolle Anregungen, Denkanstöße und Ermutigungen. Für die fachliche Unterstützung danke ich Dr. Elisabeth Bürger, Stefan Böck, Wolfgang Blum, Sergio Chow, Angelika Suiver, Robin Ullrich, Prof. Dr. Martin Moers und Schwester Anna-Luisa Kotz. Mein Dank gilt auch den Verantwortlichen der Einrichtungen für das mir und meiner Arbeit entgegengebrachte Vertrauen. Allen Mitgliedern der therapeutischen Teams der drei Palliativstationen möchte ich für den konstruktiven Austausch, die Vermittlung von Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern und die Einblicke, die sie mir als teilnehmende Beobachterin gewährt haben, danken, besonders für die Rückmeldungen, die sie mir bis weit nach der Feldforschungsphase zukommen ließen. Mit großer Dankbarkeit und Respekt erinnere ich mich an die Begegnung mit den Patientinnen und Patienten im Rahmen der persönlichen Gespräche – sie sind unvergessen.
10
Zusammenfassung Die Ausgangsfrage der vorliegenden Untersuchung fokussiert auf das Erleben palliativ betreuter Menschen. Das Ziel der Arbeit war es, theoretische Erkenntnisse zu gewinnen und einen Beitrag zur konzeptionellen Entfaltung der Palliative Care zu leisten. 23 rekonstruierte Erzählungen und zahlreiche im Rahmen von teilnehmenden Beobachtungen erfasste Aussagen von palliativstationär betreuten Kranken mit einer absehbaren Lebenszeit wurden in Anlehnung an das Verfahren der Grounded Theory ausgewertet. Im Mittelpunkt des entwickelten Konzeptes steht die Konzentrierung auf die Gestaltung der verbleibenden Lebenszeit – ein in allen Erzählungen durchgängig subjektiv bedeutsames Phänomen. Entsprechend der Vorgehensweise der Grounded Theory wurden in das Konzept Bedingungen, Handlungen und Strategien sowie Konsequenzen aus den Handlungs- und Interaktionsstrategien integriert. Konzentrierung wird sowohl als passiver als auch aktiver Prozess konzeptualisiert, der sich auf alle Lebens- und Erlebensbereiche bezieht, das heißt sowohl auf körperlich-leibliche als auch auf emotionale, soziale, spirituelle und lebensgeschichtliche Aspekte. Die zunehmende Verdichtung beziehungsweise Konzentrierung des Lebens und Erlebens im Kontext einer palliativen Lebenssituation aufgrund einer unheilbaren Erkrankung und einem absehbaren Lebensende wird von den sich wechselseitig beeinflussenden Kategorien Laufende Anpassung, Zuversichtliche Erwartung, Alleinsein, Bedrängnis, Verletzlichkeit und Verfall getragen. Den aus der Konzentrierung resultierenden Anforderungen begegnen die Kranken mit unterschiedlichen, sich teilweise ergänzenden Handlungen und Strategien, die auf die Nutzung und Gestaltung der verbleibenden Lebenszeit sowie auf die Umsetzung der Vorhaben im Sinne einer Optimierung der Daseinssituation sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht abzielen. Zu diesem Zweck nutzen und aktivieren Palliativpatientinnen und Palliativpatienten die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen (Ressourcenallokation). Konzentrierung als aktives Geschehen wird von den entwickelten Kategorien
11
Priorisieren (sich auf das Wesentliche besinnen), Selbstvergewisserung (genau beobachten), Selbstbeherrschung (Stärke zeigen), Sinn-Orientierung (etwas für die Seele tun) und Lebensschau (Sich auf dem Lebensstrahl zurück und vor bewegen) getragen. Im Zeitverlauf der palliativen Situation nimmt die Konzentrierung beständig zu – das Spektrum der Betroffenen verengt sich. Aus den eingesetzten Anpassungsstrategien resultieren Konsequenzen, die als Selbstbestimmtheit, Verbundenheit und Zufriedenheit konzeptualisiert wurden. Die Konsequenzen wirken ihrerseits auf die kontextuellen und intervenierenden Bedingungen und Strategien zurück, was wiederum auf den prozessualen Charakter verweist. Das in dieser Arbeit entwickelte »Konzept der Konzentrierung« legt vor dem Hintergrund einer erlebten Verdichtung des Lebens den Prozess der Anpassung dar. Es zeigt das Zusammenspiel verschiedener Erlebensdimensionen, Umgangsweisen und Zieldimensionen unheilbar kranker und palliativ betreuter Menschen. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung tragen zu einer Annäherung an das Erleben palliativstationär betreuter Kranker bei. Anhand des Konzeptes und der entwickelten Kategorien können bestehende Konzepte und die derzeitige Praxis der Palliative Care reflektiert und (noch weiter) individualisiert werden.
12
Einleitung Die demografische Entwicklung bei gleichzeitigem Anstieg der Krebserkrankungsraten der Bevölkerung gelten als ursächlich für die steigende Zahl der Menschen, die an einer die verbleibende Lebenszeit limitierenden Erkrankung leiden (vgl. Hintzpeter et al. 2011, S. 9). Im Zusammenhang mit der Betreuung und Pflege von schwer- und schwerstkranken Menschen sprach man in Deutschland bis vor wenigen Jahren von Sterbebegleitung; heute wird diese als ein Teilaspekt palliativer Betreuung und Versorgung verstanden und mit Palliative Care bezeichnet. Bewegungen, die das Motiv der Sterbebegleitung zu ihrem Ziel haben, werden gemäß Jordan mit den Begriffen »Palliativmedizin, Palliative (Terminal) Care und Hospiz« (Jordan 2006, S. 4) in Verbindung gebracht. Palliative Care hat sich international als Versorgungskonzept für die Betreuung von lebensbedrohlich erkrankten und sterbenden Menschen etabliert.1 Somit macht die Sterbebegleitung einen Aspekt der palliativen Betreuung und Versorgung aus. Gegenwärtig gibt es jedoch wenig Klarheit darüber, was überdies unter Palliative Care zu verstehen ist oder verstanden wird. Wie wird Palliative Care erlebt? Wann beginnt Palliative Care für den Kranken? Was bedeutet die palliative Situation für den Kranken? Es stellt sich die Frage nach (den) kennzeichnenden Eigenschaften und bedeutungsvollen Prozessen in palliativen Situationen aus der Sicht der Betroffenen. Welche Erfahrungen machen Betroffene? Wie erleben sie die palliative Situation? Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, dieses Forschungsdesiderat zu schließen. Entsprechend kommen in dieser Untersuchung die Adressaten von Palliative Care, die Empfänger klinisch-stationärer palliativer Betreuung, zu Wort. Analysiert werden ihre Wahrnehmung, ihr Erleben und ihr
1
Bericht »Palliative Care in the European Union«; Ergebnisse einer Studie im Auftrag des Europäischen Parlaments; veröffentlicht 2008; Online verfügbar unter http:// www. Europarl.europa.eu/committees/en/studiesdownload.html?languageDocument=EN&file= 21421; zuletzt geprüft am 12.04.2012.
13
Verhalten im Sinne von Art und Weise des Umgangs. Ziel ist es, ein Verständnis für die Situation und das Erleben von unheilbar kranken Menschen mit palliativem Unterstützungs- und Versorgungsbedarf zu entwickeln und im Sinne der Grounded Theory-Methodologie theoriebildend zu erfassen. Vor Beginn der Feldforschung versuchte die Autorin, vor dem Hintergrund ihres umfangreichen Kontextwissens ihre persönlichen Annahmen über das Erleben von Palliativpatientinnen und Palliativpatienten zu identifizieren. Auslösend war in mancher Hinsicht die Aussage eines Palliativmediziners während der Präsentation des Forschungsvorhabens, dass »man darüber inzwischen alles wisse«. Gegen eine Überprüfung »dieses in der medizinischen Fachwelt hinlänglich bekannten Wissens« durch Befragung der dazu »noch fähigen Patientinnen und Patienten« hatten weder der Palliativmediziner noch die Betriebsleitung etwas einzuwenden. Die Aussage des Mediziners beschäftigte die Forscherin und führte zu dem nachfolgend in Auszügen dargestellten Eintrag in das während des gesamten Forschungsprozesses als Memosammlung geführte Forschungstagebuch: Wie erleben unheilbare und schwerkranke Menschen ihre Situation? Wie empfinden sie die palliative Phase, die Zeit auf der Palliativstation? Was nehme ich an und warum? Ich erinnere mich an viele Begegnungen mit sterbenskranken Menschen in verschiedenen Settings, verfüge über reichlich Erfahrungswissen. Die Begleitung von Schwerkranken ist eine anspruchsvolle Aufgabe, m. E. eine originär pflegerische Aufgabe. [...] Die Vulnerabilität der Patienten ist mir sehr bewusst. Mit zunehmendem Alter, sicher auch aufgrund der Erfahrungen als Angehörige, beschäftigt mich die Betroffenenperspektive verstärkt. Als Pflegende weiß ich nur zu gut um die eigene potenzielle Betroffenheit. Mit meiner eigenen Sterblichkeit habe ich mich immer wieder auseinandergesetzt. Selbst war ich allerdings noch nicht von schwerer Krankheit betroffen. [...] In Bezug auf den klinischen Kontext (Palliativstationen) assoziiere ich Palliative Care vor allem mit onkologischen Krankheiten. Im beruflichen Alltag treffe ich täglich und überall auf schwerkranke, dem Grunde nach palliative Menschen. [...] Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Patienten mit einer Karzinomerkrankung irgendwann palliativ werden. [...] Ehemalige Mitpatienten, Mitglieder der Familie oder Nachbarn und Freunde mit einer vergleichbaren Erkrankung sind gegebenenfalls schon (leidvoll?, schnell?, friedlich?) gestorben. Das ist meiner Erfahrung nach ein großes Thema – Ängste. Onkologische Patienten wissen, wie es ist, krank zu sein, kennen verschiedene, vielleicht jede Facette von »sich elend fühlen«, haben viel
14
mitgemacht. Diese Annahme teile ich mit dem Palliativmediziner. Wie er, gehe auch ich davon aus, dass es »eine schlimme Sache ist, sich mit dem baldigen Ableben auseinanderzusetzen, diese Tatsache zu akzeptieren«. Die Unausweichlichkeit steht ebenfalls außer Frage. [...] Es mag ebenfalls zutreffen was der Mediziner zum derzeitigen Wissensstand äußerte: »Über das Sterben gibt es viel, über den Tod wenig – (denn:) Tote kann man nicht mehr fragen.« Aber wissen wir wirklich schon »alles« – genug? Den Umgang von schwerkranken, mit ihrem eigenen Sterben konfrontierten Patienten mit dieser Situation empfand ich immer sehr unterschiedlich, eben individuell – von gelassen bis panisch, humorig bis sarkastisch, u.a.m.. Da ist unterschiedliches Erleben zu vermuten; Schnittmengen sind anzunehmen. [...] Das Thema Glaube spielt eine große Rolle. Hoffnung ist ein wichtiges Gefühl und Thema im Kontext schwerer Krankheit. Das weiß ich aus Erfahrung und aus der Fachliteratur. [...] Patienten fürchten unterschiedliche Symptome, vor allem aber Schmerzen. Diese erträglich zu halten, ist allen (Patienten, Angehörigen, Ärzten und Pflegenden) wichtig. Schmerzfrei sterben habe ich als ein zentrales Anliegen beziehungsweise qualvolles Sterben als geäußerte Ängste der Patientinnen und Patienten im Sinn. Ich vermute, dass das die zentralen Themen der Patienten sind. Palliativstationen halten ein spezielles Angebot vor, auch hinsichtlich der Kontrolle von Symptomen. Die psycho-soziale Betreuung hat einen hohen Stellenwert. Es geht um Lebensqualität, darum, den Tagen mehr Leben zu geben. Ich gehe davon aus, dass die Patienten von diesem erweiterten Angebot profitieren. Die Palliative-Care Mitarbeiter wirken diesbezüglich immer sehr überzeugt. [...] An diese Einleitung schließen sich vier Kapitel an. Im ersten Kapitel Theoretische Grundlagen werden zunächst die Ergebnisse der Literaturanalyse vorgestellt. Es zeigt sich, dass aus der Betroffenenperspektive kaum Forschungsarbeiten vorliegen. Die sich anschließenden Abschnitte verfolgen das Ziel einer Annäherung an den Begriff »Palliative Care« und die damit verbundenen Konzepte. In der Annahme, dass die Konzepte an den Bedürfnissen und Bedarfen der Betroffenen orientiert sind und Rückschlüsse sowie Ableitungen hinsichtlich des Erlebens ermöglichen, diente diese Auseinandersetzung der Erhöhung der theoretischen Sensibilität. Nach einem geschichtlichen Abriss über die Entwicklung der Palliative Care und der Darstellung verschiedener Auslegungen werden zentrale Konzeptelemente des komplexen Ansatzes beleuchtet. Daran schließt sich die Vorstellung stationär-palliativer Versorgungssettings an. Das Kapitel endet mit im Verlauf der
15
Untersuchung als bedeutsam erwiesenen, einbezogenen Konzepten und Theorien zur letzten Lebensphase. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem methodologischen und methodischen Vorgehen dieser Untersuchung. Vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses der Arbeit und des Forschungsstandes leitet sich ein qualitatives Vorgehen ab. Den Ausführungen zur Grounded TheoryMethodologie folgen die Vorstellung der Erhebungsmethoden, zum einen der teilnehmenden Beobachtung und zum anderen der persönlichen (narrativen) Gespräche als Forschungsmethode einschließlich der Besonderheiten dieses Interviewtyps. Ethische Aspekte zur Durchführung der Untersuchung mit letal kranken Menschen gehen der Darlegung des konkreten Vorgehens voraus. Beschrieben werden danach das Untersuchungsfeld, drei Palliativstationen, der Feldzugang und die Stichprobenauswahl sowie der Prozess der Datenerhebung und Datenauswertung. Die Ergebnisse werden im dritten Kapitel im Kodierparadigma nach Strauss und Corbin (1996) vorgestellt. Die im Zuge der Datenanalyse gebildeten Kategorien werden ausführlich erläutert und durch Erzählzitate illustriert. Im abschließenden vierten Kapitel erfolgt die Reflexion des methodischen Vorgehens und der Ergebnisse der empirischen Untersuchung sowie der daraus resultierenden Implikationen im Hinblick auf die konzeptionelle Weiterentwicklung palliativer Praxis. Der Ausblick gibt Anregungen für zukünftige Forschungsschwerpunkte im Kontext palliativer Lebenssituationen. Der Anhang enthält drei Beispielerzählungen.
16
Palliative Pflege ist angesichts der gestiegenen Zahl von Krebs-Neuerkrankungen, einer älter werdenden Gesellschaft, aber auch aufgrund der sich ständig erweiternden therapeutischen Möglichkeiten ein aktuelles und herausforderndes Thema. Für diese qualitative Studie befragte die Autorin PalliativpatientInnen, wie sie ihre Situation wahrnehmen, was sie bewegt, welche Sicht- und Umgangsweisen sowie Bedürfnisse sie haben.
www.mabuse-verlag.de
ISBN 978-3-86321-209-4
Gabriele Weglage Leben auf Zeit
Die Arbeit erweitert die theoretische Basis der Pflege. Die gewählte Erhebungsmethode ermöglicht neue Einsichten zur Versorgung von Menschen in der letzten Lebensphase. Das von der Autorin entwickelte Konzept hilft Personen, die mit der Betreuung Schwerstkranker beauftragt sind, die Lebensäußerungen dieser Menschen besser zu verstehen und eine bedarfsgerechte Begleitung anzubieten.
Gabriele Weglage
Leben auf Zeit
Anpassungsstrategien palliativ betreuter Menschen
Mabuse-Verlag