Als junge Ärztin erlebt sie immer wieder solche Momente: erschütternde Begegnungen mit Todkranken, lehrreiche Rückschläge und euphorisierende Therapieerfolge.
Olga Kogan
Ihre Erzählungen sind persönlich, mitreißend und gefühlvoll.
Diagnose: Empathie
Ärztinnen und Ärzte müssen adäquat handeln und neutral beobachten – egal, wie belastend eine Situation ist. Olga Kogan wagt es, Situationen zu schildern, die die Emotionen herausfordern.
Olga Kogan
Diagnose: Empathie Aus dem Alltag einer jungen Ärztin Mabuse-Verlag
www.mabuse-verlag.de
ISBN 978-3-86321-231-5
Die Autorin Dr. med. Olga Kogan arbeitet heute als Ärztin in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universitätsklinik der RWTH Aachen. Seit 2009 erscheinen ihre Erfahrungsberichte in der Zeitschrift „Dr. med. Mabuse“. www.olgakogan.de Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich. (ISBN 978-3-86321-244-5)
Olga Kogan
Diagnose: Empathie Aus dem Alltag einer jungen Ă„rztin
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
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Inhalt
Zimmer 19 ............................................................................................................. 7 Ein Idol . ................................................................................................................. 17 Erste Schritte .................................................................................................... 23 In der Psychiatrie .......................................................................................... 35 Michael ................................................................................................................... 43 Zweierlei Tod .................................................................................................... 51 Mach doch was anderes! ....................................................................... 61 Glossar
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Zimmer 19
Wer mag schon am Samstag um sechs Uhr morgens arbeiten? Etwas unwillig verließ ich den Aufzug, trat auf den stillen Gang und lenkte meine Schritte Richtung Schwesternzimmer. Da zog plötzlich Zimmer 19 meine Aufmerksamkeit auf sich – beide Signallampen leuchteten, für die Schwestern- wie für die Arztvisite. Ich zögerte für einen Moment. Ein unangenehmes, bitteres Gefühl, eine Vorahnung, breitete sich in meiner Magengegend aus. So früh konnte noch keine Visite stattfinden. Mir blieb jedoch keine Zeit, um weitere Überlegungen anzustellen, die Schwestern zählten jede Minute, die die Praktikantin auf sich warten ließ. Zuspätkommen war tabu. Ich verschwand rasch im Bad, kleidete mich um und betrat zwei Minuten später das Schwesternzimmer. Dienstübergabe: zwei Schwestern und der Nachtdienst. Alles wie immer, kein Wort über irgendwelche besonderen Vorfälle, eine einzige Informationsflut: Der Patient war unauffällig und hat geschlafen … Der Patient hat aufgefiebert … 20 Tropfen Novalgin … Morgen Entlassung. Ich hörte nur mit einem Ohr zu. In Gedanken war ich noch bei Zimmer 19. Es war also niemand dort. Warum leuchteten dann die Signallampen? Ich traute mich nicht zu fragen, denn erstens mochten die 7
Schwestern keine Unterbrechungen und zweitens wollte ich die Antwort nicht hören. Ich kannte sie bereits. Zimmer 19 – Patient mit Colon-CA, Lebermetastasen. Zimmer 19 – Patient häufig desorientiert, verwirrt, kann Diagnose nicht verarbeiten, Verdacht auf Hirnmetastasen. Der Doktor weigert sich zu operieren, wegen Angst vor Herzversagen. Die Ehefrau besteht darauf. Der Doktor ordnet Spontan-OP an, gibt an, die Lebermetastasen mit neuesten Lasertechniken ohne Probleme entfernen zu können. Der Patient versorgt sich selbst. Zimmer 19 – OP, Intensivstation, der Bauch wurde geöffnet und wieder zugenäht, inoperabel. Der Patient kam zu spät, er sagte, er hätte keine Zeit gehabt, um sich untersuchen zu lassen. Keine Zeit für seine Gesundheit? Keine Zeit fürs Leben? Zimmer 19 – Patient auffällig gelb, nicht ansprechbar, Atemnot, Herzversagen. Im Schwesternzimmer flüsterte man, es sei besser, wenn es endlich „vorbei“ wäre, er hätte sich genug gequält. Man beschuldigte im Stillen den voreiligen Arzt – er hatte eine erfolgreiche OP versprochen, er trug die Verantwortung. Am Tag zuvor hatte sich die Schwester noch Gedanken gemacht, ob man ein neues Stammblatt anfertigen sollte, ob sich das noch lohne. Das alles ging mir durch den Kopf und es war klar, was passiert war. Ich hatte den Patienten in den 8
letzten Tagen nur kurz gesehen. Ich hatte das Zimmer gemieden, denn schon die wenigen Male hatten gereicht – die dunkelgelbe Haut, die gelben Augäpfel, der weit aufgerissene Mund, der pfeifende Atem, die Bewusstlosigkeit. Jedes Mal etwas schlimmer, etwas weiter weg, in riesigen Schritten einem letzten Ziel entgegen. Doch bis jetzt hatte ich mir nicht vorstellen können, dass es wirklich passieren würde, denn in meiner Welt gab es noch keinen Platz für den Tod, zumindest nicht für den von Leuten, die ich kannte. „Ich werde sie mitnehmen. Oder … nein, lieber doch nicht. Es ist nichts für sie“, meinte die Nachtschwester. Ich saß etwas abseits an der Wand und hatte von diesen Worten aufgeschreckt den Kopf gehoben, die Augen geweitet. Eine der beiden anderen Schwestern schaute mich an, ihre Gedanken standen ihr ins Gesicht geschrieben: „Was für ein Kind! Zuerst kippt sie bei der OP um und schiebt alles darauf, dass sie unter der Maske nicht atmen könne, und nun hat sie schon wieder Angst. Wie will die überhaupt Medizin studieren?“ „Klar nimmst du die mit“, sagte sie dann allerdings laut zu ihrer Kollegin gewandt, noch nicht einmal bemüht, ihrer Stimme einen neutralen Ton zu geben. „Sie ist 20 und in einem halben Jahr wird sie die eh aufschnippeln.“ Die Nachtschwester schien nicht ganz überzeugt und verließ zögernd das Zimmer. 9
„Ist Herr B. verstorben?“, fragte ich schließlich mit leiser Stimme. Die Schwester sah mir direkt in die Augen. „Ja“, antwortete sie mit Nachdruck. Sie war der Auffassung, dass ich das Leben kennenlernen musste und es falsch wäre, mich mit Samthandschuhen anzufassen. In ihrer Wahrnehmung war ich ein ver störtes Kind, dessen Blick bei der Todesnachricht tief wurde und traurig. Ich tat ihr leid. Ich blinzelte vor Anspannung und schaute zu Boden. Ob zu hören war, wie laut ich schluckte? Noch war die Schwester nicht bereit nachzugeben „Du gehst gleich mit, ihn ins Kühlfach bringen“, sagte sie bestimmt. „Mhhh …“, murmelte ich, bemüht um einen gefassten Eindruck. Die Anordnung, eine Leiche ins Kühlfach zu bringen, eine Leiche überhaupt zu sehen, verursachte mir Gän sehaut. Alles in mir sträubte sich dagegen, mein junges Herz hüpfte vor Lust am Leben und aus Angst vor dem unmittelbaren Ende. Ich hatte meinen ganzen Mut zusammengenommen, um die Frage zu stellen, ob Herr B. verstorben sei, und dabei versucht, möglichst gelassen zu klingen. Die Reaktion der Schwester war hart. Warum war sie so zu mir, warum nahm sie keine Rücksicht? Anscheinend machte es ihr Spaß, mich zu schikanieren. Sie wusste wohl zu genau, wie schwer es mir fiel. Wollte die Schwester mir beweisen, dass mein Berufswunsch zu hoch gegriffen war, nichts für mein schwaches Nervensystem? 10
Ich ließ mich jedoch nicht beirren, ich wusste, was ich wollte und dass ich stark war und all das schaffen würde, was ich mir vorgenommen hatte. Ich wich dem Blick der Schwester aus, ich wollte nicht, dass sie meine Tränen sah. Auch als die Anordnung kam, den Toten ins Kühlfach zu bringen, wollte ich ihr den Triumph nicht gönnen und gab mich folgsam, obwohl alles in mir schrie: „Nein, geh doch allein! Ich will nicht!“ Einige Stunden vergingen, bevor die Schwester mich wieder zu sich rief. Ich hatte schon gehofft, die Anordnung vom Morgen hätte sich mittlerweile erledigt. Die Zeit war schnell vergangen während der Arbeit, aber jedes Mal, wenn ich an Zimmer 19 vorbei kam und die roten Lichter sah, trübte sich meine Stimmung. Etwas zog mich in das Zimmer, doch der Teil, der sich weigerte, dort hineinzugehen, blieb stärker. Nun rief die Schwester mich zu sich und fragte, zu meiner Überraschung sehr freundlich: „Warst du schon in dem Zimmer?“ Beschämt senkte ich den Blick und verneinte mit einem stummen Kopfschütteln. „Hast du schon mal einen Toten gesehen?“, fragte die Schwester vorsichtig weiter. Ich antwortete erneut mit einem Kopfschütteln. „Möchtest du hingehen und schauen? Du musst nicht, nur wenn du es dir zutraust. Ich komme auch mit. Danach kannst du mir sagen, ob du ihn mit wegbringen willst.“ Langsam hob ich den Blick und schaute der Schwester in die Augen. Die Sanftheit ihrer Stimme und ihre fast 11
mütterliche Fürsorge nahmen mir etwas von meiner Verzagtheit und Angst – als ob ich überhaupt eine Wahl gehabt hätte. „Ja, ich möchte gerne hineingehen. Ich denke, es ist gut für mich, wenn ich es versuche, ich muss mich schließlich daran gewöhnen“, antwortete ich. Ich war mir meiner Sache sicher. Die Schwester nickte zustim mend und ging mir voraus. Ich folgte ihr zögernd und wunderte mich, dass ihr Verhalten so umgeschlagen hatte. Dann blieben wir vor dem Zimmer stehen, die Schwester drehte sich zu mir um, sah mich prüfend an und öffnete behutsam die Tür. Sie trat zuerst ein und stellte sich dann etwas abseits, mir das Zimmer überlassend, wohl auch ahnend, dass ich allein, aber doch nicht ganz allein sein wollte mit dem Toten. So verharrte sie zwischen Bett und Tür, während ihr Blick nur kurz den im Bett liegenden Mann streifte. Dann konzentrierte sie sich auf mich. Langsam schritt ich auf das Bett zu. Die Schwester konnte sicher den Schock erkennen, die sich in meinem Gesicht abzeichnende Trauer, das überwältigende Mit leid, das ich empfand. Ich hob die Hände wie zum Gebet gefaltet, meine Augen füllten sich mit Tränen, ich konnte sie nicht von dem Toten abwenden, stu dierte jedes Detail seines Gesichts. Ich spürte, dass auch die erfahrene Schwester die Situation bedrückte, dass es jedem geschah, der dem Tod begegnete. Sie war 12
jedoch nicht so schockiert wie ich, denn sie hatte den Tod schon oft gesehen und wusste, dass man sich nicht wegen jedes Patienten zerreißen konnte. Ich musste das noch lernen. Jeder musste da allein durch, deshalb hielt die Schwester sich zurück. Sie sah, wie ich mit mir kämpfte und hätte sicher gern etwas Aufbauendes gesagt, wusste aber, dass dies jetzt nicht angebracht war. Sie erlaubte sich auch nicht zu fragen, was mir gerade durch den Kopf ging, auch dies wäre zu privat gewesen. Als die Schwester merkte, dass ich mich entspannte, sprach sie mich vorsichtig an, sie wollte mir für meinen späteren Berufsweg noch etwas mitgeben: „Dieser hier sieht sehr friedlich aus, er ist gut gestorben. Das ist aber eher selten der Fall, meistens sehen sie ganz anders aus.“ Ich nickte zum Zeichen, dass ich sie verstanden hatte. Die Schwester schwieg sogleich wieder, keinesfalls wollte sie mir jetzt zu viel zumuten. Sie beobachtete mich und meine zarte Natur, dachte vielleicht darüber nach, wie viel von mir noch gebrochen werden müsste, bis ich als Ärztin mit gesundem Menschenverstand würde handeln können. Würde ich es überhaupt schaffen? Ich war ja noch so jung, in mancher Hinsicht kindlich, aber um Ernst haftigkeit bemüht. Ich wusste, dass ich viel tragen konnte, auch wenn der Weg sicherlich noch lang war. Jedenfalls hoffte ich für mich, dass ich nicht so 13
gleichgültig werden würde wie viele Ärzte, die ich beobachtet hatte. Ich wollte stets bis zum Letzten etwas tun und auch für die Kollegen da sein. Ich war überrascht vom Anblick des Toten, denn er war schön anzusehen. Seine Züge waren entspannt, ruhig, glücklich, als sei er einfach hinübergeglitten in einen gesunden, tiefen Schlaf. Es war nichts mehr von den alten Qualen zu sehen, nur die gelbe Hautfarbe zeugte noch von seiner Krankheit, ansonsten hätte man denken können, er sei genesen. Ich schaute ihn an und wartete unbewusst auf einen Atemzug, darauf dass er die Augen öffnen, lächeln und „Guten Morgen!“ sagen würde, doch nichts dergleichen geschah. Ich erinnerte mich genau, wie er war, als er noch lebte, und versuchte mir nun vorzustellen, wo er sein könnte. Ich hätte ihn gern an der Schulter berührt, um ihn zu wecken. Das Gefühl der Ohnmacht trieb mir erneut Tränen in die Augen und verursachte Schmerzen in der Brust. Ich war nicht in der Lage, auch nur ein Wort hervorzubringen, selbst flüstern schien hier unmöglich. Ich war froh, die Schwester in der Nähe zu haben, obwohl diese mich auch am Weinen hinderte. Dennoch war ich dankbar für ihre Unterstützung. Meine Abneigung gegen sie war plötzlich verschwunden. Wenn sie doch immer so zugänglich wäre und sich ihre sarkastischen und verletzenden Kommentare verkneifen könnte, ging es mir durch den Kopf. 14
Mein Blick ruhte immer noch auf dem Mann im Bett, doch dann machte sich meine Fantasie selbstständig. Ich stellte mir vor, wie meine Angehörigen und irgendwann ich selbst so daliegen würden. Entsetzen, der Schmerz, das Gefühl der Ohnmacht wuchsen ins Unermessliche. Warum musste es den Tod geben, warum musste alles zu Ende gehen? Zum Beispiel dieser Mann – es hatte ihn gegeben und nun nicht mehr, er war einfach von uns gegangen. Wohin? Mit einem Atemzug das Leben ausgehaucht, die Seele entflogen. Vielleicht atmete gerade irgendwo ein Kind zum ersten Mal ein und mit diesem Atemzug auch die Seele, vielleicht diese Seele? Alles drehte sich, das Leben ein Kreis. Warum? Ich erhielt keine Antwort. „Traust du es dir zu, ihn mit wegzubringen?“, fragte plötzlich die Schwester, immer noch Distanz wahrend. „Ja, ich denke schon“, flüsterte ich zurück, den Toten nicht aus den Augen lassend. „Gut.“ Ich spürte, dass ich im Ansehen der Schwester gestiegen und sie mit mir zufrieden war. Mutprobe bestanden. „Es könnte sein, dass er noch ein letztes Mal aus atmet, wenn er auf die Seite gedreht wird. Es ist ein komisches Gefühl, also nicht erschrecken“, bemerkte die Schwester und sah mich mitfühlend an. Dann zog sie die Decke über den Kopf der Leiche. Wie hart das war. Ich wollte aufschreien: „Nicht! Er wird doch nicht atmen können!“, verstand aber im gleichen Augenblick, wie absurd das war. 15
Langsam schoben wir das Bett durch die Gänge, streiften spezielle Kleidung über, dann wurde ein Kühl fach für uns aufgeschlossen, der Tote wurde auf die Seite gedreht – nein, er atmete nicht mehr aus – und dort hineingeschoben, zu dem anderen vermummten, toten Körper, der dort schon lag. Es war für mich sehr befremdlich, einen Menschen ins Kühlfach zu legen, irgendwie entehrend. Schließlich gingen wir zurück auf die Station. Ich fühlte mich ausgelaugt und leer wie schon lange nicht mehr, ein wandelnder Schatten. Das dringende Bedürfnis nach Sonne. In der Küche trat ich ans geöffnete Fenster und atmete tief ein, genoss die Sonnenstrahlen auf der Haut. Wie wunderschön das war und wie die Vögel sangen … „Geht es?“, fragte vorsichtig die Schwester. „Ja“, antwortete ich mit neuer Leichtigkeit. „Ja.“ Ich war ja noch da und meine Familie auch und was das Wunder barste daran war – wir waren zusammen auf dieser wunderschönen Welt, wir lebten! Was blieb da noch? Zu Gott beten, dass er sich der Seele des Verstorbenen annehmen möge.
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