Lena Heyelmann
Nach dem Pege-Studium in die Altenpege? Die Erwartungen der Arbeitgeber
Mabuse-Verlag
Die Autorin Lena Heyelmann ist seit 2014 als Referentin im Fachbereich Pflege für den Bachelorstudiengang „Pflege dual“ und den Masterstudiengang „Pflegewissenschaft – Innovative Versorgungskonzepte“ an der Katholischen Stiftungsfachhochschule in München zuständig.
Lena Heyelmann
Nach dem Pflege-Studium in die Altenpflege? Die Erwartungen der Arbeitgeber
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
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Inhalt Vorwort Constanze Giese
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Vorwort Michael Bossle
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1. Über die Arbeit
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2. Der Altenpflegesektor in Deutschland
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2.1 Beschäftige im Teilarbeitsmarkt Altenpflege 2.2 Finanzierung und Regulierung 2.2.1 Stationäre Pflegeeinrichtungen 2.2.2 Ambulante Pflegedienste 2.3 (Erwartete) Personalsituation 2.3.1 Personalakquirierungsprobleme 2.3.2 Problembehebungsversuche auf politischer Ebene 2.3.3 Zukunftsszenarien
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3. Pflege(aus)bildungen
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3.1 Die traditionellen Ausbildungsgänge zur Pflegefachperson 3.2 Die Akademisierung der Pflege 3.2.1 Akademische Pflegeerstausbildungsangebote 3.2.2 Vorgeschlagene Einmündungsgebiete
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4. Untersuchungsdesign
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4.1 4.2 4.3 4.4
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Sample: Auswahl und Beschreibung Methodik der Datenerhebung Interviewleitfaden Auswertungsstrategie
5. Perspektiven von und auf Pflege-dual-Absolventen in der Altenpflege
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5.1 „Der Ist-Stand ist schon relativ angespannt“ 5.1.1 „Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen“ 5.1.2 „Des is halt das Problem“
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5.1.3 „Es ist in der Altenpflege folgendermaßen“ 5.2 „Wenn ich an die Zukunft denke“ 5.2.1 „Nee, ich glaub, dass sie fallen wird“ 5.2.2 „Grundsätzlich gehe ich davon aus, (...) dass da alles dabei sein wird“ 5.3 „Da ist der wesentliche Unterschied meines Erachtens“ 5.3.1 „Bei den Absolventen eines dualen Studiengangs versprech’ ich mir Größeres (...)“ 5.3.2 „Ich erhoffe mir zwei Effekte“ 5.4 „Was ich denke, was sie werden, oder wo ich sie sehe?“ 5.4.1 „Aber die Befürchtung, es geht an uns vorbei als Altenpflegeträger“ 5.4.2 „Da wäre natürlich gut, (...) Pflege-dual-Studenten zum Beispiel dafür zu gewinnen“ 5.4.3 „Da wird es Schwierigkeiten geben“
111 113 113
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6. Resümee
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6.1 Ertrag der empirischen Ergebnisse 6.2 Berufspolitische Einordnung der Ergebnisse und weiterer Forschungsbedarf
133
Literatur
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Anhang
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114 116 116 118 121 122
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Pflegebedürftige in Deutschland; Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung
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Abb. 2: Pflegebedürftige nach Ort der Versorgung 1999 und 2011
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Abb. 3: Anteil von dreijährig ausgebildeten Pflegefachpersonen in ambulanten Pflegediensten und Pflegeheimen. Vergleich zwischen 1999 und 2011
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Abb. 4: Verlauf der Akademisierung in der Pflege
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Abb. 5: Geografische Verteilung dualer Studiengänge in Deutschland 2005
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Abb. 6: Geografische Verteilung dualer Studiengänge in Deutschland 2010
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Abb. 7: Geografische Verteilung dualer Studiengänge in Deutschland 2015
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Abb. 8: Verteilung der innerhalb der Pflegestudiengänge erwerbbaren Berufsexamina
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Constanze Giese
Vorwort „Was sie werden, oder wo ich sie sehe?“ lautete der Titel der Masterarbeit von Lena Heyelmann, die den Kern dieser Veröffentlichung darstellt. Das Ankerzitat aus einem Interview verweist schon auf eine Diskrepanz, welche sich durch die Arbeit durchzieht – genauso wie die Pflegepraxis. Es ist eine Diskrepanz der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung in der Pflege, die sich auf verschiedenen Ebenen manifestiert: • als Diskrepanz zwischen dem Bedarf an professioneller Pflege und dem Angebot an Arbeitskräften auf dem Pflegearbeitsmarkt hinsichtlich verfügbarer Qualifikationen und Kompetenzen. (1) • als Diskrepanz zwischen Bedarf und Akzeptanz der zunehmenden Heterogenität der Qualifikationen im Kontext einer sich verändernden Versorgungsrealität, insbesondere hinsichtlich neuer, höherer Bildungsabschlüsse und zunehmend komplexer Pflegesituationen. (2) • als Diskrepanz zwischen der (mangelnden) Attraktivität des Arbeitsfeldes und den antizipierten Ansprüchen der Absolventen von Pflegestudiengängen. (3) • und zum Teil immer noch als Diskrepanz zwischen einem überholten aber noch verbreiteten verrichtungsorientierten Pflegeverständnis und einem auf Fallverstehen, kritischem Denken und wissenschaftlicher Expertise beruhenden holistischem Verständnis von Pflege als Care-Profession mit gesellschaftlichem Mandat. (4) Die vorliegende Arbeit deckt Widersprüche auf und rekonstruiert ihre Ursachen in der schwierigen Situation der Pflegepersonalverantwortlichen, in dem sie diese selbst zu Wort kommen lässt. Dabei durchziehen auch die Standpunkte, die Heyelmann in den Experteninterviews erheben kann, vielfältige Diskrepanzen, bei übereinstimmender Situationsanalyse: konsensual und durch nahezu alle Befragten konstatiert wird eine Überregulierung der
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Constanze Giese
stationären Altenpflege durch Gesetze, Vorschriften und Kontrollbehörden sowie eine eklatante Personalnot. Fast ebenso übereinstimmend werden keine bis geringe (finanzielle) Spielräume als ein Haupthindernis dafür benannt, die Qualifikationen am Arbeitsmarkt zu bekommen und zu halten, die gebraucht werden. Vielleicht ist hier die offensichtlichste Diskrepanz erst auf den zweiten Blick zu entdecken, die viele Fragen an die Pflege und ihr Selbstbild exemplarisch aufwirft: Es können zum Teil umfängliche Ressourcen für eine aufwändige Personalanwerbung bis nach Fernost aufgebracht werden, Ressourcen für die adäquate Entlohnung der übersichtlichen Anzahl inländischer Pflegeakademiker werden jedoch überwiegend nicht identifiziert. Interessant wäre eine Analyse der Hintergründe dieser Situation, spiegelt sie doch die Widersprüchlichkeit der Forderungen an den Pflegearbeitsmarkt aber auch an seine potentiellen Mitarbeiter wieder, die das Agieren der Träger und der Politik immer noch prägen. Interessant sind hier im Rahmen von Heyelmanns Arbeit die sich nebenbei offenbarenden Einblicke in Hintergründe der Problematik „Personalgewinnung“ in den Einschätzungen und Bewertungen der Pflegearbeit durch Pflegemanager. Sie äußern sich unter anderem in: (1) der Diskrepanz zwischen dem Bedarf an hochqualifizierten Pflegefachkräften in den Einrichtungen und dem am Arbeitsmarkt verfügbaren Angebot an Fach- und Hilfskräften. Bezüglich der Qualifikationen und Kompetenzen der Pflegefachkräfte und der Auszubildenden wird eine Diskrepanz beschrieben zwischen dem, was an Qualifikation und Kompetenzen verfügbar ist und dem, was gebraucht wird. Dabei wird die bekannte Mangelsituation bestätigt, die sowohl ausreichend qualifizierte Fachkräfte als auch ausbildungsfähige Bewerber und Bewerberinnen betrifft. Angesichts der Zunahme komplexer Pflegesituationen wird konstatiert, dass neben dem herrschenden Fachkräftemangel auch die Nachwuchsgewinnung auf qualitativer und quantitativer Ebene bei weitem nicht ausreicht. Dennoch wird diesem Mangel nicht konsequent durch die Erschließung weiterer ausbildungsfähiger Personenkreise von potentiellen Nachwuchskräften im Inland begegnet, wie sie die Pflege dual Studierenden, bzw. im Vorfeld die Absolventen mit höherem Schulabschluss darstellen. Die Zurückhaltung gegenüber Personen mit höherem Bildungsniveau bzw. mit akademischem Abschluss lässt sich
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Vorwort
aus Sicht der Personalverantwortlichen offensichtlich mit den folgenden zwei Aspekten begründen: (2) der Diskrepanz zwischen dem vorhandenen Bedarf an verschiedenen Bildungs- und Ausbildungsniveaus in der Pflege und der noch fehlenden Akzeptanz der Konsequenzen dieser Heterogenität in den Pflegeteams. Durch veränderte und erkennbar unterschiedliche Aufgabenteilung und -beschreibung, Verantwortung und Bezahlung entstehende Unterschiede zwischen den Mitarbeiterinnen im Pflegedienst werden in den Interviews als konfliktträchtig antizipiert. Dass neue und höher akademisch gebildete Pflegepersonen benötigt werden, wird in Deutschland seit der 1992 erschienenen Denkschrift „Pflege braucht Eliten“ der Robert Bosch Stiftung zunehmend verstanden und umgesetzt, die Empfehlungen des Wissenschaftsrates1 aus dem Jahr 2012 nennen als Zielmarge eine Akademisierungsquote von 10-20%. Dennoch wird in der Praxis bis heute mit mangelnder Akzeptanz und Ressentiments gegenüber akademisch gebildeten Pflegefachkräften in den Teams gerechnet. Es wird zwar einerseits durch Pflegende mit Hochschulabschluss eine Aufwertung des Berufsbildes und des Images der Pflegeberufe erwartet, doch bestehen zugleich weiterhin Zweifel an dem Nutzen des zusätzlichen wissenschaftlichen Pflegewissens für die Versorgungspraxis. Diese Zweifel werden zum Teil von den befragten Pflegemanagern selbst geäußert, es wird aber auch eine mangelnde Akzeptanz der Hochschulabsolventen in den Teams befürchtet. Eine breite Wertschätzung von wissenschaftlich fundiertem Pflegewissen in der Praxis lässt sich somit noch nicht erkennen. Es lässt sich vermuten dass hier, wie auch bei der Etablierung der Pflegestudiengänge für das Management und die Pädagogik zugleich eine Infragestellung der herkömmlichen Ausbildung befürchtet oder von den Betroffenen selbst wahrgenommen wird. Dennoch verweisen die Befragten auf die Notwendigkeit Konzepte für qualifikationsgemischte Teams („Skillmix“) zu entwickeln. Dass diese großteils noch nicht in Angriff genommen wurden, könnte auch mit den fehlenden Ressourcen zur
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Wissenschaftsrat, Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen, Berlin, 13.7.2012
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Constanze Giese
adäquaten Ausstattung und Finanzierung der dann beschriebenen Stellenprofile zusammenhängen. Diese Lücke führt direkt zu: (3) der Diskrepanz zwischen der (mangelnden) Attraktivität des Arbeitsfeldes und den angenommenen Ansprüchen der Absolventen von Pflegestudiengängen. Die Interviewpartner gehen verschiedentlich davon aus, dass die Stellen, die sie anbieten können oder auch gleich ihr gesamtes Arbeitsfeld nicht attraktiv genug sind für die Ansprüche der Hochschulabsolventen. Interessant ist hier die Auffassung, dass Aufgaben, die weniger direkten Patientenkontakt beinhalten als grundsätzlich attraktiver (und anspruchsvoller!) eingeschätzt werden als die körpernahe Dienstleitung der sogenannten direkten Pflege. Letztere wird als weniger prestigeträchtig, weniger anspruchsvoll und weniger attraktiv wahrgenommen. Vielleicht liegen hier die Krux und der Schlüssel zur scheinbar unauflösbaren Problematik der schillernden Wertschätzungsdiskurse in der Pflege: Es gelingt offensichtlich einfach und schon innerhalb der Berufsgruppe nicht, die körperliche Seite der Pflege, die Sorge für den bedürftigen Leib des Menschen, der den Kern der Pflege ausmacht, so wertzuschätzen wie weniger körpernahe Interventionen seien es Beratung, Organisation oder Management der Versorgung. Diesen Punkt näher und kritisch zu beleuchten und seine Ursachen zu verstehen könnte ein Meilenstein zur Weiterentwicklung einer professionellen Identität der Pflege sein. Damit könnte die Pflege als Profession dazu beitragen, die von ihr selbst mit verursachte Widersprüchlichkeit in der Einschätzung und Bewertung von Fürsorgearbeit in der Gesellschaft zu überwinden. Dazu gehört insbesondere auch: (4) Die Überwindung eines noch immer verbreiteten verrichtungsorientierten Pflegeverständnis zugunsten eines auf Fallverstehen, kritischem Denken und wissenschaftlicher Expertise beruhendem holistischen Verständnis von Pflege als Care-Profession mit gesellschaftlichem Mandat. Ein solches Pflegeverständnis und die offensive Annahme dieses gesellschaftlichen Mandats, würden die Bedeutung und den Nutzen der akademischen Pflegebildung unmittelbar evident werden lassen.
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Vorwort
Die Absolventen der ausbildungsintegrierenden Pflegestudiengänge stehen damit vor einer nicht einfachen Aufgabe. Jede und jeder Einzelne von ihnen steht unter dem täglichen Beweiszwang zu zeigen, dass sie keine überheblichen akademisch gebildeten Besserwisser sind, die zwar theoriestark, aber wenig praxistauglich sind. Dabei laufen sie Gefahr, sich in einer auf Funktionieren und Verrichtungsorientierung ausgerichteten Praxis zu verschleißen ohne die dringend benötigte und von beiden Seiten bestätigte Reflexionskompetenz fruchtbar werden lassen zu können. Das wäre schade und würde die Akademisierung in der Tat bald nutzlos erscheinen lassen. Eine sinnlose Konkurrenz um die bessere „Praxistauglichkeit“ zwischen dreijährig beruflich ausgebildeten Pflegepersonen und Absolventen der Studiengänge wäre auch nicht im Sinn der Pflegebedürftigen, die dringend Pflegende brauchen, die fachlich versiert, reflektiert und mit dem nötigen kritischen Verständnis für ihre Rolle ausgestattet sind. Zuversichtlich stimmt hier die Sensibilität der befragten Pflegemanager für die Notwendigkeit Teambildungsprozesse bei neu und anders zusammengesetzten, qualifikationsgemischten Teams sorgfältig vorzubereiten und zu begleiten. Dass die Forderung, qualifiziertes Personal im Feld zu halten ganz besonders für die hochqualifizierten, akademisch gebildeten Pflegefachkräfte gilt, ist unmittelbar evident. Dass diese Forderung oft noch schwer umsetzbar scheint ist eine Facette des noch weiten Weges der Pflege hin zu einer wirklichen Careprofession mit einem entsprechenden Selbstbewusstsein und Verständnis für den eigenen gesellschaftlichen Auftrag. Prof. Dr. Constanze Giese Dekanin am Fachbereich Pflege Katholische Stiftungsfachhochschule München
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Michael Bossle
Vorwort Mehr Geld, mehr Selbstverwaltung! Der Versuch einer kulturellen (Selbst-)Deutung der Pflege(nden)? Bezugnehmend auf die Ergebnisse, die Lena Heyelmann in ihrer Arbeit zeigt, ist die oben stehende Aussage nur eine von vielen. Sie soll hier exemplarisch aufgenommen werden und verdeutlichen, dass sie stellvertretend für weitere Forderungen und Wünsche im System stehen kann. Die Konzepte, die sich konkret hinter dieser Aussage (Mehr Geld, mehr Selbstverwaltung, S.109) verbergen, möchte ich folgendermaßen deuten: einerseits besteht bei einem Teil der Befragten der Wunsch nach der monetären Höherschätzung des Geleisteten. Andererseits wird auch der Wunsch laut, dass sich dieser Wert ebenso im Sinne einer zunehmenden Verantwortungsübertragung, eines Zutrauens und nicht eines Misstrauens gegenüber diesen Akteuren ausdrückt. Es soll mehr Deregulierung statt zunehmender Reglements geben. Gleichzeitig werden in den Befunden der Arbeit auch immer wieder Zweifel laut. Diese werden bezüglich der Einsatzgebiete, der Bezahlung der Absolventen oder hinsichtlich von Vermutungen, dass das Gros der akademisierten Absolventen in die Kliniken abwandern würde (Kap. 5.4.1), formuliert. Ambivalenz und Zweifel der Befragten bilden sich wiederholt und schwarz auf weiß in diesem Buch ab. Ich möchte im Folgenden gerne darauf hinweisen, dass neben dem zurecht geäußerten Wunsch (mehr Geld = fairere Umverteilung im System), das Thema der (Selbst)Wertschätzung ein entscheidendes für die Pflege der Gegenwart und Zukunft ist und sein wird. Ich möchte sogar so weit gehen, dass ohne eine selbstkritische und –reflexive Betrachtung dieses Themas die geforderte Selbstverwaltung der Pflege von den Akteuren selbst in Frage gestellt wird. Es liegt in der Natur der Sache, dass Selbstbewertung oder -entwertung bei den handelnden Protagonisten beginnt.
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Michael Bossle
Welche Bedeutung hat das Thema ‚Wertschätzung’ für die Akteure der Altenhilfe? Das Konzept der Demütigung wurde hinlänglich als ein nachweisbares Phänomen für Menschen, die in der ambulanten Pflege tätig sind, herausgearbeitet (Adam-Paffrath 2014). Dass Handlungsspielräume für Pflegende, gute theoretische Ausbildung und die gute Leitung sowie Aufstiegsmöglichkeiten (vgl. „Negatives Image des Berufes“, Kap. 5.1.2) wesentliche protektive Faktoren vor Burn-Out sind, ist ebenfalls seit gut 20 Jahren bekannt (Vgl. u.a. Kellner 2011). Es stellt sich nun die Frage, warum trotz dieser Befunde die beschriebenen Zustände sowie die Rahmenbedingungen („Regulationstiefe des Sektors“, Kap. 5.1.2) noch immer als derart wirkmächtig, kaum veränderbar und als Unterdrückungsmechanismen akzeptiert werden. Voraussetzung für diese Frage wäre die Annahme, dass der Mensch Zustände, die für ihn nicht tragbar sind, verändern möchte. Will der Mensch dies nun auch in der Altenhilfe? Dazu führe ich nun eine kulturphilosophische Aussage von Ernst Cassirer2 an: Cassirer stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten dem Menschen an sich gegeben sind, um die Welt zu verstehen. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht allein das auf Vernunft hin ausgerichtete Sinnverstehen, sondern vielmehr der „Horizont an Möglichkeiten, wie Welt zu erfassen und zu verstehen ist“ zur Geltung kommen muss. Laut Cassirer wird damit „die Kritik der Vernunft, zur Kritik der Kultur“ (Cassirer in Witsch 2008: 24). Ich bin der Meinung, dass sich mittels dieses Gedankens wichtige Verbindungslinien zum Thema ‚Wertschätzung’ und Pflege entwickeln lassen. Lena Heyelmann arbeitet in „Nach dem Pflege2
Ernst Cassirer (1874–1945): einer der angesehensten deutschen Philosophen vor dem 2. Weltkrieg. Hinter seiner Philosophie der symbolischen Formen (Symbole) verbirgt sich der systematische Entwurf zu einer Kulturphilosophie (...) Das Orientierungsvermögen des Menschen ist an Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge gebunden. Die Produktion von Bedeutung und der Umgang mit solchen Bedeutungssystemen ist das, was Cassirer Kultur nennt. Diesem sehr weit gefassten Begriff von Kultur entspricht ein ebenso weites Verständnis der Kulturphilosophie. Ihr Gegenstand ist der Gesamtbereich menschlicher Wirklichkeitsdeutung, zu dem auch die Naturwissenschaften als spezifische Weisen des Weltverstehens gehören. Cassirer sieht seine Aufgabe als Kulturphilosoph darin, all »die verschiedenen Grundformen des Verstehens der Welt gegeneinander abzugrenzen und in ihrer eigentümlichen geistigen Form zu erfassen« (Vgl. Tesak in: http://www.philosophie-woerterbuch.de).
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Vorwort
Studium in die Altenpflege?“ besonders die Widersprüchlichkeiten der Altenhilfe und deren leitenden Protagonisten heraus, die in diesem Fall durch die anstehende Irritation des Systems, der Akademisierung der Altenpflege, auftreten. Ich möchte diese Argumentation keineswegs als Wertung, Vorwurf oder zu einer Stilisierung der Kompetenzlosigkeit der Handelnden auflaufen lassen. Nein. Ich möchte vielmehr gerne darauf hinweisen, dass in der Bearbeitung des Widerspruchs, gerade aus kulturphilosophischer Sicht, ein Ansatzpunkt steckt, der sich in einer zeitgemäßen Bildung für die Menschen im Pflegesystem ausdrücken muss. Eine solche Bildung trägt zur oben genannten (Selbst)Wertschätzung bei. Sie stiftet Sinn und damit berufliche Identität. Sie formt damit auch Kultur und kulturelle Identitäten. Somit wird der Widerspruch zur Chance. Die voran gegangene Argumentation lässt diesbezüglich auf eine immanente Insuffizienz des deutschen Pflegebildungssystems schließen. Meine Antwort lautet hierzu laut und reflexartig: JA! Warum? Der gewählte Terminus Insuffizienz ist an dieser Stelle eigentlich zu schwach. Er suggeriert, dass es so etwas wie den kulturellen und pädagogischen Umgang mit Widersprüchlichkeit in Ansätzen gibt oder schon einmal gegeben hat. Ich behaupte, dass wir erst dort stehen, wo es darum gehen muss auf diese – eigentlich als Leerstelle zu bezeichnende – Problematik aufmerksam zu machen, und dafür zu sensibilisieren. Hilde Steppe hat dies bereits mit dem Entwurf einer sogenannten „widerständigen Berufstauglichkeit“ vor gut 25 Jahren an anderer Stelle getan (Steppe 2003). Ob sie jedoch jemals verstanden wurde, darf bezweifelt werden, denn auch eine aktuelle Untersuchung aus Hessen zeigt, dass die entscheidend prägende und als professionell verstandene Identität (noch immer) zuvorderst aus der einer beruflichen Tradition rührt (vgl. Gerlach 2013). Deswegen will ich sogleich wieder zurück zu Ernst Cassirer eilen, um mit diesem angesprochenen Phänomen umzugehen. Er beschreibt das Verhältnis von Selbst und Welt als „die Pluralität von Kultur, die Ausdruck der symbolischen Formen und der in ihnen angelegten Polaritäten zwischen Rezeption (Tradition) und Kreativität (Innovation) vermittels der symbolischen Form Mensch ist“ (Witsch 2008: 28). Es ist nicht das eine Konzept, das richtig ist und das andere, das es abzulehnen gilt, sondern es ist die Herstellung einer Einheit „durch den Zusam-
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Michael Bossle
menhang der jeweiligen Duale (Tradition und Innovation, Anm. MB) einer wechselseitigen Verweisung“ (Witsch 2008: ebda). Hier wird offensichtlich: das, was in Heyelmanns Arbeit zu Tage tritt, ist von enormer kultureller Bedeutung. Es zeigt zudem, dass das Dickicht an Unterschieden, der Ambivalenzen und Unsicherheiten von den Beteiligten zumeist aus der gewohnten kulturellen Logik der Tradition beleuchtet und gedeutet wird. Ob die Interviewpartner dabei selbst in einer anderen (akademischen) Mentalität beruflich sozialisiert wurden, spielt dabei keine Rolle. Hinweise finden sich in der Argumentation an mehreren Stellen, die die Akteure buchstäblich an die Grenze der traditionellen Denkart kommen lassen („Des is halt das Problem“, Kap. 5.1.2), „Neben Atomkraftwerken sind wahrscheinlich Pflegeheime die strengst überwachten Einrichtungen“ (S. 107). Wirkmächtig wird demzufolge die (tradierte) berufliche Handlungspraxis. „Nach dem Pflege-Studium in die Altenpflege?“ lässt sich als Illustration einer sich im Wandel befindlichen Pflegewelt lesen und betrachten. Am Beispiel des Inkrafttretens einer potentiell neuen Kultur werden Auseinandersetzungen mit dem Fremden offenkundig. Man versucht das Neue in das Gewohnte zu integrieren. Dass dabei das Gewohnte ebenso einer Innovation bedarf, wird zwar gesehen, jedoch gleichzeitig angezweifelt, ob das Gewohnte denn überhaupt innovierungsfähig sei. Der Begriff ‚Zweifel’ scheint den Akteuren förmlich eingeschrieben. Symbolisieren lässt sich dies für die deutsche Pflege (dazu rechne ich auch die konkret bayerische Situation, die Lena Heyelmann in ihren Interviews untersucht hat) wohl nahezu perfekt am Symbol der „Not“. Sie taucht auf allen Ebenen des Pflegeberufes auf: bei den Betroffenen, bei den Pflegenden, bei den (politisch) Verantwortlichen. Der tagtäglichen Bedrohung und Not der (potentiell) pflegebedürftigen Menschen steht bei den professionell Tätigen ebenso eine Not gegenüber: der Mangel an Zeit, der Mangel an Personal, die Angst seine Arbeit nicht zu schaffen, die Forderungen der Ökonomie nicht zu erfüllen und so weiter. Das durch diese Symbolisierung internalisierte kulturelle Dogma der deutschen Pflege mag sich ablesen lassen an den Konzepten der Genügsamkeit, der Demut (vgl. Demütigung, Adam-Paffrath 2014), der Selbstlosigkeit (vgl. Kellner 2011) und unzähli-
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Vorwort
gen weiteren Fähigkeiten der Pflegenden über ihre Grenzen zu gehen‚ ‘kreativ’ zu sein und aus dem Mangel eine Tugend zu machen. Wenn ‚Not’ als symbolische Form Geltung besitzt, weil sich darin die Kultur der deutschen Pflege repräsentieren lässt, dann muss eine solche kulturelle Analyse folgerichtig auch als Anlass zur Kritik und zur Veränderung des deutschen Pflegebildungssystems gesehen werden. Hier beziehe ich sowohl die akademische als auch die berufliche Bildung mit ein. Wenn beispielsweise sogenannte Kompetenzen, deren Entwicklungen und deren Bewertungen sich ausschließlich an tradierten kulturellen Maßgaben des Systems anlegen lassen, wie Fachlichkeit durch Suggestion von Eindeutigkeit, Professionalität durch Distanzierung vom Menschen, Kreativität durch Spielarten der Not, Disziplin durch Disziplinierung der Akteure, dann stehen diese dialogisch nicht zu einem in der Kultur der Innovation geborenen Verständnis, wie Fachlichkeit durch Betonung von Vielfalt, Professionalität durch leiborientierte Zugänge zum Menschen, Kreativität durch Entwicklung ästhetischer Denkräume, Disziplin durch Konturierung des Gegenstandes und einer Identität von Pflege. Die Ausrichtung des beruflichen Bildungssystems an den institutionellen Zwecken der jeweilig angeschlossenen Kliniken und Heimen ist dabei nicht weg zu diskutieren. Andererseits sehen sich auch akademische Bildungseinrichtungen mit Zweckgebundenheiten und tradierten Mustern konfrontiert (z. B. Kompetenzorientierung bei gleichzeitiger Verschulung). Hierzu lässt sich dringender Forschungs- und Lehrbedarf als auch politischer Handlungsbedarf identifizieren. Dies wäre folglich auch eine konkrete Konsequenz aus „Nach dem Pflege-Studium in die Altenpflege?“, die für das System bedeutsamen und wirkmächtigen kulturellen Selbstformungsprozesse auch für die Bildungseinrichtungen zu entschlüsseln. Wohlwissend und gleichzeitig einschränkend muss angemerkt werden, dass das Pflegebildungssystem selbst Teil einer Kultur und damit Teil von spezifischen Selbstbildern ist. Dies sollte als Anerkennung einer kulturellen Lernaufgabe verstanden werden und darf keinesfalls das Bildungssystem der Pflege aus der Pflicht nehmen. Lena Heyelmanns Werk ist ein wichtiger Beitrag zur Darstellung des Umgangs mit Veränderung in der Pflege. Der hervorragende theoretische Teil
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Michael Bossle
transportiert in der Deskription, dass auch die Kultur der Akademisierung von Pflege unterschiedliche und disparate Züge trägt. Der empirische Teil eröffnet viele Räume zum Nachdenken. Die Ergebnisse verwundern auf den ersten Blick nicht. Durch den qualitativen Zugang der Interviews stößt man als Leser häufig an eine Grenze. Die Grenzen in der Sprache der Interviewpartner beschreiben, dass es etwas gibt, über das es sich lohnt weiter nachzuforschen. Ich komme abschließend zurück zu meiner eingangs gewagten These: wenn die symbolische Form der Pflege die ‚Not’ ist, können dann die „Betroffenen“ überhaupt über Selbstachtung, Selbstbewertung oder -entwertung reflektieren? Wenn sich die deutsche Pflege von Notstand zu Notstand entwickelt, kann eine solche Berufsgruppe sich überhaupt selbst verwalten? Und falls ja, kann es mehr sein als die Verwaltung des Mangels? Ich möchte eine Antwort wagen: ein Schlüssel kann der Umgang mit der eigenen Kultur der Pflege(nden) sein. Vorher muss allerdings nachgefragt werden: Haben „die“ Pflegenden überhaupt eine Kultur der Pflege kennen gelernt und wenn ja, welche? Lernen zukünftig Pflegende eine kennen und wenn ja, wie symbolisiert sich diese? Gerlach (2013) zeigte, dass dies bislang (noch) keine eigene, im Sinne einer selbstentwickelten Identität stiftenden, pflegewissenschaftlichen Kultur sein konnte (und das trotz 20-jähriger Tradition akademischer Pflegebildung in Hessen). Ich sehe darin letzten Endes ein wesentliches Problem, das in der Debatte nicht auftaucht: wenn sich Menschen in einer akademischen Kultur entfalten, symbolische Formen und Ordnungen generieren und damit eine Sicht zur Welt entwickeln, dann geht laut Cassirer eine bestimmte „Form damit einher um Wirklichkeit zu objektivieren“ (Cassirer in Witsch 2008: 25). Diesen Unterschied in den Sichtweisen auf die Dinge gilt es anzuerkennen. Nicht nur von denjenigen, die neu hinzukommen, sondern auch von denjenigen, die bereits erfahren und sich langjährig im Feld aufhalten. Umgekehrt sollte von den neu Hinzugekommenen eine Toleranz gegenüber den tradierten Mustern erkennbar sein. Die Kunst wird sein eine „Willkommenskultur“ zu entwickeln. Dass hier Einfallsreichtum im Feld möglich ist, zeigt die Integration ausländischer Mitarbeiter in der Pflege. Somit wird das Neue, das Andere, das Fremde zum Potential. Die Pflege hat hier erstmals die Chance eine Kultur, einen eigenen kulturel-
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Vorwort
len unverwechselbaren Stil zu entwickeln. Es kann eine Kultur des Miteinanders sein, ob akademisch oder beruflich gebildet. Es gibt hier dringenden Nachholbedarf, die Arbeit von Lena Heyelmann unterstreicht dies. Das Buch ist ein wichtiger Meilenstein zum Thema Akademisierung der Altenpflege. Ich wünsche ihm eine breite Leserschaft unter allen kulturellen Gruppierungen der Pflege! Ich ende mit einem Zitat Ernst Cassirers: „Vielfalt und Disparatheit bedeutet nicht Zwietracht und Disharmonie. All diese Funktionen ergänzen und vervollständigen einander. Jede von ihnen eröffnet einen neuen Horizont und zeigt uns einen neuen Aspekt der Humanität. Das Dissonante steht im Einklang mit sich selbst; die Gegensätze schließen einander nicht aus, sondern verweisen aufeinander“ (Cassirer in Witsch 2008: 28). Prof. Dr. Michael Bossle, MScN Institut für Angewandte Gesundheitswissenschaften Studiengangleitung Pflegepädagogik (B.A.) Technische Hochschule Deggendorf
Literatur Adam-Paffrath, Renate (2014): Würde und Demütigung aus der Perspektive professioneller Pflege. Eine qualitative Untersuchung zur Ethik im ambulanten Pflegebereich. Frankfurt/Main: Mabuse Kellner, Anne (2011): Von der Selbstlosigkeit zur Selbstsorge. Eine Genealogie der Pflege. Berlin: Lit-Verlag Steppe, Hilde (2003): Die Vielfalt sehen, statt das Chaos zu befürchten. Bern: Hans Huber Tesak, Gerhild: Cassirer, Ernst. Aus: http://www.philosophiewoerterbuch.de Zugriff vom 02.03.15 Witsch, Monika (2008): Kultur und Bildung. Ein Beitrag für eine kulturwissenschaftliche Grundlegung von Bildung im Anschluss an Georg Simmel, Ernst Cassirer und Richard Hönigswald. Würzburg: Königshausen und Neumann
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1. Über die Arbeit Was wir heute in unserer Gesellschaft brauchen, sind mindestens so sehr die High-touch-Berufe wie die High-tech-Berufe. Wir brauchen Menschen, die soziale Dienste verrichten, zum Beispiel ältere Menschen pflegen, und wir brauchen sie mindestens so sehr wie Computerexperten. Die Computer-Spezialisten steigern das Wachstum. Die High-touch-Berufe machen das Leben lebenswerter. (Ralf Dahrendorf *1929–2009) Der Pflegesektor wird expandieren müssen – demographische, epidemiologische aber auch ökonomische und versorgungsstrukturelle Entwicklungen in unserem Land führen im gesamten Gesundheitssystem zu neuen Versorgungs- und Pflegebedarfen. Die Veränderungen betreffen insbesondere den Altenpflegesektor. Dabei geht es nicht allein um die Schaffung zusätzlicher Pflegeeinrichtungen und die Rekrutierung von Personal. Auch und gerade die qualitative Ausgestaltung der pflegerischen Leistungsangebote wird sich noch facettenreicher gestalten, weil sie sich an den Pflegebedarfen der unterschiedlichen Gruppen pflegebedürftiger Personen orientieren muss (vgl. Dielmann 2002: 64-65). Ob und wie dieser Qualitätsanforderung in der Altenpflege aus Sicht von Arbeitgebern mit akademisch gebildeten Pflegekräften Genüge getan werden kann, ist Thema des vorliegenden Buchs. Denn auch die sich ändernden Qualitätsanforderungen gehörten zu den Gründen, die zur Etablierung grundständiger Pflegestudiengänge führten. Die akademische Erstausbildung findet meist in Form von dualen/ ausbildungsintegrierenden Studiengängen statt. 2004 konnten sich die ersten Interessierten für diese damals vier Pflegestudiengänge immatrikulieren. Seither hat sich die Anzahl der Studiengangangebote rasant entwickelt, die Zahl ist heute um mehr als das Zehnfache gestiegen (vgl. Kap. 3.2.1).
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Lena Heyelmann
Es werden also zunehmend mehr akademisch gebildete Pflegekräfte3 in den Arbeitsmarkt einmünden, sodass die Fragen nach Aufgabengebieten und Positionen für diese „neuen“ Pflegefachkräfte zunehmend interessanter werden. Dass wir sie im Gesundheitswesen brauchen, wird heute in der Fachwelt kaum noch bestritten (vgl. Köpke 2013:163; Naegele et al. 2013:6) – Fragen nach dem Einsatzgebiet und den künftigen Tätigkeiten führen zu einer Vielfalt an Antworten und Ideen. Der Altenpflegesektor braucht aufgrund der oben skizzierten Entwicklungen mehr (und) sehr gutes Personal als heute, um zukünftig die Bedarfe der Bevölkerung abdecken zu können. Hier zeichnet sich immer deutlicher ein problematischer Trend ab: Schon heute können Arbeitgeber im Altenpflegesektor ihre Stellen kaum besetzen, die Altenpflege entwickelt sich zunehmend zu einem Arbeitnehmermarkt4. Das Image des Altenpflegeberufs ist schlecht (vgl. Kap. 2.4.1), öffentlich bekannt gewordene Missstände haben die gesellschaftliche Debatte beeinflusst, sodass auch hier von Modernisierungsbedarfen gesprochen wird – und die Prognosen für den Fachkräftemangel (vgl. Schulz 2012) in diesem Bereich sind nicht gut. Es ist heute noch nicht klar, ob die oben skizzierten Entwicklungen mittelfristig stark aufeinander einwirken werden, ob eine nennenswerte Anzahl akademisch (erst-) ausgebildeter Pflegefachpersonen in den Altenpflegesektor einmünden wird, welche Positionen sie einnehmen werden und ob ihnen im Anpassungsprozess an die heutigen und zukünftigen Bedarfe des Sektors von den Arbeitgebern eine entscheidende Rolle beigemessen wird. Um einen Beitrag zur Klärung dieser Fragen zu leisten, werden in dieser Arbeit die Arbeitsperspektiven von Pflege-dual-Studierenden in der Altenpflege aus Sicht der Arbeitgeber erhoben. 3
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In dieser Arbeit werden unter den Begriffen „Pflegenden“ und „Pflegeberufe“, sofern nicht explizit unterschieden, die Berufe und deren Angehörige der Altenpflege, der Gesundheits- und Krankenpflege und der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege verstanden. Ein Arbeitnehmer-Markt besteht dann, wenn Unternehmen qualifiziertes Personal bewerben (müssen). Voraussetzung dafür ist, dass die Anzahl der offenen Stellen größer ist als die Anzahl der Fachkräfte, die diese besetzen könnten. Der Arbeitnehmer entscheidet, für wen er arbeiten möchte (vgl. Littig 2013:72).
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1. Über die Arbeit
Das umfasst das Interesse an mehreren Sichtweisen: • Den Blick auf die Altenpflege als Arbeitssektor: Wie stellt sich der Altenpflegesektor aus Arbeitgebersicht gegenwärtig dar? Beurteilen Arbeitgeber ihn als attraktiven Teilarbeitsmarkt? • Eine Zukunftsperspektive: Mit welchem Grademix rechnen Arbeitgeber in Zukunft und wie bewerten sie das? • Der Blick auf akademisch gebildete Pflegekräfte. Da in der Region der Interviewpartner gerade die ersten akademisch erstausgebildeten Pflegefachkräfte ihr Studium abschließen, zielen die Erhebungsfragen eher auf prospektive Einschätzungen bezüglich der Kompetenzen der Absolventen als auf konkrete Erfahrungen: Brauchen die Arbeitgeber akademisch gebildete Pflegekräfte und wenn ja, wofür? • Der Blick auf angedachte Arbeitspositionen von Absolventen 5 : Wie würden die Interviewpartner sie einsetzen wollen? Der Altenpflegesektor wurde für die Untersuchung der Arbeitsperspektiven ausgewählt, weil in diesem offenkundig Anpassungen an die oben skizzierten Strukturänderungen geschehen müssen, um auf die quantitativen und auch qualitativen Bedarfsänderungen der Bevölkerung im Hinblick auf die pflegerische Versorgung zu reagieren. Vielleicht kommt die Reform der Pflegeausbildungen da gerade zur rechten Zeit. Die Ergebnisse der Arbeit machen deutlich, dass unter den Arbeitgebern deutliche Ambivalenzen zwischen den angedachten/gewünschten Stellenprofilen oder Werdegängen und den erwarteten Einstiegspositionen existieren. Zwar beurteilt die überwiegende Mehrheit der Befragten den Einsatz der akademisch gebildeten Pflegefachpersonen aufgrund antizipierter Kompetenzunterschiede zu traditionell ausgebildeten Pflegekräften und berufspolitisch positiver Wirkung als wichtig für die Dienstanbieter, aber die Möglichkeiten, die Absolventen für sich zu gewinnen, werden als gering eingeschätzt. Zwischen den Bewertungen der Attraktivität des Altenpflegeberufes 5
Zur Verbesserung der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit immer nur ein Genus verwendet. Das jeweils andere Geschlecht ist stets mitgemeint.
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sowie der angenommenen Motivation, diesen zu ergreifen, und den angedachten Positionen, die in die Kategorien Führung/Stabsstellen und Planungs-/Steuerungsaufgaben eingeordnet wurden, konnten Einflüsse festgestellt werden. Da mit dem Einmünden der Absolventen in den Sektor die Annahme verbunden werden kann, dass bestehende und zukünftige Herausforderungen besser bewältigt werden könnten, wird im Resümee u.a. wegen der Unsicherheiten in Bezug auf die finanzielle Vergütung eine schnelle tarifliche Eingruppierung befürwortet. Die Arbeit wurde als Masterabschlussarbeit im Studiengang „Management von Sozial- und Gesundheitsbetrieben“ an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München (KSFH) eingereicht und soll einen Beitrag zur Akademisierung der Altenpflege leisten. Zu meinem heutigen Aufgabengebiet als Referentin im Fachbereich Pflege der KSFH gehört u.a. die Beratung von Pflege-dual-Studierenden. Zur Beunruhigung ist festzustellen, dass sich die in dieser Arbeit beschriebenen Unsicherheiten der Arbeitgeber (vgl. Kap. 6) in vielen Fällen auch unter den zukünftigen Absolventen des Studiengangs zeigen. Als zunehmend wichtige Aufgabe der Hochschulen sehe ich deswegen die Unterstützung der Studierenden in der Fähigkeit benennen zu können, was sie können und, offensichtlich für eine gelungene Einmündung noch bedeutsamer, was sie wollen (vgl. S. 118). Persönlich will ich mich an dieser Stelle bei vier Personen bedanken, ohne die diese Veröffentlichung nicht zustande gekommen wäre. Prof. Dr. Giese für ihre fortdauernde Unterstützung meiner Karriere, besonders für die Herstellung des Kontaktes zum Mabuse-Verlag. Leo und Norman dafür, dass sie sich in zahlreichen Stunden um die Kinder gekümmert haben, sodass ich in Ruhe arbeiten konnte und Geli für das Korrekturlesen. Danke Ihnen/Euch!
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1. Über die Arbeit
Arbeitsaufbau Das vorliegende Buch gliedert sich in zwei große Bereiche: Zunächst geht es um die Analyse des Altenpflegesektors als Arbeitsmarkt und die bestehenden Möglichkeiten beruflicher und akademischer Pflege(aus)bildungen. Im zweiten, empirisch angelegten Teil steht die Frage im Mittelpunkt, wie Arbeitgeber in der Altenpflege die Arbeitsperspektiven von Pflege-dualAbsolventen in diesem Sektor einschätzen. Zur Analyse des Altenpflegemarktes werden zunächst die quantitativen Auswirkungen des demografischen Wandels und die versorgungsstrukturellen Veränderungen und Trends beschrieben, anschließend wird genauer auf die Personalzusammensetzung in den Einrichtungen des Sektors eingegangen. Die Erläuterungen dazu, wie sich ambulante und stationäre Altenpflege finanzieren und welche Personalquoten erfüllt sein müssen, ermöglichen eine Einschätzung über finanzielle Spielräume z. B. für die Einstellung von höher qualifiziertem Personal. Darauf aufbauend wird auf den derzeit bereits bestehenden Fachkraftmangel eingegangen, der sich durch den steigenden Bedarf noch verstärken wird, und es werden die bisherigen Lösungsversuche erklärt. Anhand von drei Szenarien folgt eine Darstellung der möglichen Zukunft der personellen Ausstattung in der Altenpflege. In Kapitel drei werden zunächst die traditionellen Berufsausbildungen in der Pflege und die dortigen Reformen beschrieben, dann folgt ein Überblick über die Akademisierung der Pflege gesamt. Anschließend werden die Ergebnisse der Recherche über die heute existierenden dualen Studiengänge dargestellt und erläutert. Den Abschluss des ersten Teils bildet die in bildungs- und berufspolitische Stimmen und Ergebnissen bisheriger empirischer Erhebungen gegliederte Zusammenschau der öffentlich empfohlenen Einmündungsgebiete von Pflege-dual-Absolventen. Im vierten Kapitel werden Forschungsansatz und die Methoden der Datenerhebung sowie –auswertung beschrieben, im fünften Kapitel folgt die Darstellung der empirischen Ergebnisse. Die mittels Experteninterviews erhobenen Einschätzungen wurden in Äquivalenz zu den oben beschriebenen vier Perspektiven in Blöcke geteilt. Es werden sowohl die durch den Arbeitstitel bereits angedeuteten Ambivalenzen zwischen den prognostizierten
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und gewünschten Einmündungsgebieten dargestellt, als auch identifizierte Hintergründe für diese Zweiteilung beschrieben. Im Resümee werden die empirischen Ergebnisse zusammengetragen und erkannte Zusammenhänge zwischen Antworten erklärt. Die Einordnung der Forschungsergebnisse im Hinblick auf ihre berufspolitischen Implikationen bildet den Schluss der Arbeit.
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2. Der Altenpflegesektor in Deutschland Die Menschen in Deutschland werden immer älter, entsprechend steigt der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung. Der demografische Wandel bedingt eine Zunahme von chronischen Erkrankungen und eine wachsende Zahl multimorbider oder gerontopsychiatrisch erkrankter Patienten. Auch wenn die simple Rechnung – je älter, umso kränker und pflegebedürftiger – nicht gelten kann, kann wohl insgesamt von einem höheren Pflegeund Unterstützungsbedarf ausgegangen werden. Weil sich die Generationenbeziehungen geändert haben – als Ausdruck oder Folge davon ist die zunehmende Individualisierung zu sehen – zeigen sich die Auswirkungen des demografischen Wandels vor allem den professionell Pflegenden des Landes. Der Anteil schwerpflegebedürftiger Bewohner in Altenheimen steigt, Altenheime werden zu Pflegeheimen, in denen vorwiegend die hochqualifizierte Pflege von akut und chronisch Kranken sowie die Betreuung des stetig wachsenden Anteils an Demenzkranken gefordert wird, nicht mehr in erster Linie die Freizeitgestaltung rüstiger Pensionäre. Die Krankenhausverweildauer ist über die Jahre so gesunken, dass sie die pflegerische Arbeit in den Häusern extrem verdichtet hat. Die frühen Entlassungen haben auch Einfluss auf die ambulanten Pflegedienste, deren Klienten in der nachstationären Versorgung zunehmend akut-pflegerische Fertigkeiten erfordern (vgl. Dielmann 2002: 64-65). Die immer weiter ansteigende Zahl an Pflegebedürftigen in Deutschland (vgl. Abb. 1) begründet die Aussage, dass der Altenpflegesektor des hiesigen Gesundheitswesens wächst. Im Jahr 2011 waren insgesamt 2.501.411 Personen oder 3,1% der Bevölkerung in Deutschland pflegebedürftig. 2.461.185 (entsprechen 98%), von ihnen waren über 65 Jahre alt. Die Wahrscheinlichkeit pflegebedürftig zu werden, steigt mit zunehmendem Alter an. Der Anstieg verläuft bis zum siebten Lebensjahrzehnt recht moderat, anschließend erhöht sich das Risiko der Pflegebedürftigkeit jedoch deutlich.
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Abb. 1: Pflegebedürftige6 in Deutschland; Angabe in Tausend. Prozentangabe: Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung (Quelle: Statistisches Bundesamt 2015a; eigene Darstellung)
2011 lag der Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung von unter 75 Jahren bei 1,0%, unter den 85–90-Jährigen waren es schon 38% und bei den über 90-Jährigen fast 60% (vgl. Statistisches Bundesamt 2015b; eigene Berechnung). Sechzig Prozent ist zweifelsfrei ein hoher Wert, impliziert jedoch auch, dass fast die Hälfte der über 90-Jährigen noch in der Lage ist, ein relativ ei6
In der Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes werden alle Personen erfasst, die Leistungen nach dem SGB XI erhalten. Im Sinne des SGB XI sind Personen dann pflegebedürftig, wenn sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen (vgl. §14, Abs. 1 SGB XI/§15 SGB XI).
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2. Der Altenpflegesektor in Deutschland
genständiges Leben in ihrer häuslichen Umgebung zu führen, ohne Leistungen nach SGB XI in Anspruch nehmen zu müssen. Aber auch die Leistungsempfänger nach SGB XI, die „Pflegebedürftigen“, leben größtenteils zuhause. 69% von ihnen wurden 2011 in ihrer häuslichen Umgebung versorgt, 46% ausschließlich durch Angehörige oder Nachbarn, bei fast einem Viertel aller Pflegebedürftigen wird die benötigte Unterstützung teilweise oder vollständig durch ambulante Pflegedienste geleistet.
Abb. 2: Pflegebedürftige nach Ort der Versorgung 1999 und 2011 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2015c; eigene Berechnung)
786.920 pflegebedürftige Personen, das entspricht 31% aller Pflegebedürftigen, lebten 2011 in Pflegeheimen (vgl. Statistisches Bundesamt 2015c; eigene Berechnung). Wie der Abbildung 2 zu entnehmen ist, gab es in den letzten zwölf Jahren nicht nur einen Anstieg bei der Gesamtanzahl aller Pflegebedürftigen, sondern auch Verschiebungen bei den Versorgungsarten und -orten. Der Anteil derjenigen, die allein durch Angehörige versorgt werden, lag 2011 5% unterhalb des Anteils von 1999, 2% mehr nahmen die Leistungen
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von Pflegediensten in Anspruch und fast jeder Dritte (31%) wurde in Pflegeheimen versorgt. Simon (2013) hat die Statistik der sozialen Pflegeversicherung hinsichtlich der Leistungsinanspruchnahme der unterschiedlichen Leistungsarten der Versicherung analysiert. Als Leistung der Versicherung erhält der Pflegebedürftige entweder Pflegegeld oder Pflegesachleistungen. Mit Pflegegeldleistungen muss er die für ihn erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung selbst sicherstellen, indem er das Geld an eine oder mehrere Pflegepersonen weitergibt. Als Pflegesachleistungen gelten pflegerische Leistungen, die gegen Entgelt durch professionelle Pflegefachpersonen erbracht werden. Dienstleistungen zu Lasten der sozialen Pflegeversicherung können allerdings nur Einrichtungen erbringen, die durch einen Versorgungsvertrag (§29Abs.2 SBG XI) dafür zugelassen sind. Seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1994 war der Anteil der Sachleistungsempfänger, insbesondere der für die vollstationäre Pflege in Pflegeheimen, kontinuierlich gestiegen, der Anteil der Empfänger von Kombinationsleistungen aus Pflegegeld und Pflegesachleistungen blieb relativ konstant. Seit 2008 geht die Anzahl der „reinen“ Pflegegeld- oder Pflegesachleistungsempfänger zurück und parallel dazu steigt der Anteil der Empfänger von Kombinationsleistungen und von Leistungen für die Tages- und Nachtpflege. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, könnte man damit rechnen, dass Pflegebedürftige zunehmend mehr von Angehörigen oder anderen unausgebildeten Kräften zuhause versorgt werden und sich dabei vermehrt professionelle Unterstützung von ambulanten Pflegediensten oder Einrichtungen, im Rahmen einer Teilzeitunterbringung, geben lassen. Das wäre im Sinne der Pflegeversicherung, deren Leistungskatalog schließlich von der Überzeugung getragen ist, dass die Versorgung von Pflegebedürftigen in erster Linie Aufgabe der Angehörigen ist. Die Leistungen zielen deshalb vorrangig darauf ab, die Angehörigen bei dieser Aufgabe zu unterstützen und dem Versicherten ein möglichst langes Verbleiben in der häuslichen Umgebung zu ermöglichen (vgl. Simon 2013:482-484, 463; §3 SGB XI). Die quantitativen und versorgungsstrukturellen Veränderungen führten dazu, dass im Jahr 2011 38% mehr (entspricht 374.684) Pflegebedürftigen als 1999 von professionell Pflegenden versorgt wurden.
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2. Der Altenpflegesektor in Deutschland
Die sozialen Pflegekassen (§69 SGB XI) sowie die Länder und Kommunen (§8;9 SGB XI) sind per Gesetz in die Pflicht genommen, die ambulante und stationäre Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Der Gesetzgeber hat jedoch auf eine Bedarfsplanung verzichtet, um den Wettbewerb zwischen den Anbietern anzukurbeln, hier wird also gegebenenfalls eine Überversorgung in Kauf genommen. Mit Abschließen eines Versorgungsvertrages zwischen Pflegeanbietern und den Pflegekassen können die Anbieter Pflegeleistungen anbieten. Die Regulierung der Anbieteranzahl im Pflegesektor erfolgt also, anders als beispielsweise die stationäre Krankenversorgung oder die ambulante ärztliche Versorgung, über den Markt – auf den ersten Blick scheint dies zu funktionieren, die Anzahl an Pflegediensten und Pflegeheimen steigt in Äquivalenz zu der steigenden Anzahl an Hilfebedürftigen.
2.1
Beschäftige im Teilarbeitsmarkt Altenpflege
2011 arbeiteten 220.239 mehr Personen in Pflegeheimen als 1999 (entspricht einem Plus von 50%), insgesamt wurden 661.179 Menschen in den 12.354 Pflegeheimen beschäftigt. Auch die ambulanten Pflegedienste hatten 2011 58% mehr Beschäftigte als 1999 – hier arbeiteten 290.714 Menschen bei den 12.349 Pflegedienstanbietern des Landes (vgl. Statistisches Bundesamt 2015d; 2015e; 2015f; eigene Berechnungen). Zu beachten ist, dass es sich bei den Daten um die Anzahl der Beschäftigten handelt, nicht die Vollzeitäquivalente. In ambulanten Pflegediensten arbeiten ca. 70% aller Beschäftigten in Teilzeit, in Pflegeheimen sind es ca. 60% (vgl. Busse/Blümel/Ognyanova 2013: 220).
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Auf den zweiten Blick relativiert sich damit das Plus von 50% bei den Beschäftigten in Altenheimen etwas, hier waren es 2011 33% mehr (+118.000) Vollzeitstellen als zehn Jahre zuvor, 65.000 der Stellen entfielen auf examinierte Altenpfleger, die Anzahl der Stellen hat sich damit um das einundeinhalbfache erhöht. Um 84% ist zwischen 2001 und 2011 die Stel-
lenanzahl in der ambulanten Pflege gestiegen, hier gab es insgesamt 66.000 (+52%) Vollzeitstellen mehr, knapp die Hälfte wurde mit Altenpflegern besetzt (vgl. Statistisches Bundesamt 2015i; eigene Berechnung). Der Markt reagiert also fast der Nachfrage entsprechend. Abb. 3: Anteil von dreijährig ausgebildeten Pflegefachpersonen in ambulanten Pflegediensten und Pflegeheimen. Vergleich zwischen 1999 und 2011 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2015g; 2015h; eigene Darstellung; eigene Berechnung).
In Pflegediensten und Pflegeheimen arbeiten Personen mit unterschiedlichen Ausbildungen und Qualifikationsniveaus. Abbildung 3 zeigt, dass der Anteil an dreijährig ausgebildeten Pflegefachpersonen bei den ambulanten Pflegediensten und in den Pflegeheimen in den letzten Jahren leicht, in den Pflegediensten um 3%, in den Pflegeheimen um 1%, gestiegen ist. Unter
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2. Der Altenpflegesektor in Deutschland
„sonstige Beschäftigte“ sind u.a. alle Pflegehilfskräfte7 und Beschäftigte mit hauswirtschaftlichen Berufsabschlüssen, fachfremden Berufsabschlüssen oder Physiotherapeutenausbildungen zusammengefasst. Zusammenfassend kann man über den Altenpflegesektor konstatieren, dass er wächst und mit diesem Wachstum ein Bedarf an Pflegepersonal einhergeht. Dieser ist zum einen quantitativ – es werden mehr Pflegekräfte gebraucht, um die steigende Zahl an Pflegebedürftigen zu versorgen. Zum anderen hat der Bedarf eine qualitative Dimension – die Verschiebungen bei den Pflegeorten und der Inanspruchnahme von Leistungen aus der Pflegeversicherung deuten auf eine noch weiter zunehmende Singularisierung von Pflegeempfängern hin. Infolge wird der Bedarf an Beratung durch professionelle Pflegekräfte wahrscheinlich steigen, die praktische Umsetzung im häuslichen Umfeld wird, wenn der Trend anhält, häufig durch Laienpfleger durchgeführt werden – was an dieser Stelle nicht bewertet werden soll. In den Pflegeheimen werden, wie es sich jetzt bereits abzeichnet, vermehrt multimorbide, stark pflegebedürftige Bewohner leben. Auch heute haben bereits zwei Drittel aller Bewohner Pflegestufe II oder III. Da die durchschnittliche Verweildauer in den Heimen mittlerweile bei unter einem Jahr liegt, ist die Pflege von der Begleitung der letzten Lebensphase geprägt. In dieser Phase eine unterstützende und tragfähige Beziehung zum Bewohner aufzubauen und eine palliative Versorgung zu ermöglichen, verlangt von den Pflegekräften neben einem guten fachlich-technischen Können ein hohes Maß an Sozialkompetenz und Empathiefähigkeit (vgl. Simon 2013:478; Giese 2011:13-14). Damit kann die Altenpflege als expandierender, sich wandelnder Teilarbeitsmarkt im Gesundheitswesen beschrieben werden. Folglich steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Veränderungen auch auf den Qualifikationsmix der Beschäftigen auswirken werden.
7
Zu den Pflegehilfskräften werden Pflegepersonen gezählt, die eine einjährige, anderthalbjährige oder zweijährige Pflegehilfeausbildung absolviert haben, sowie diejenigen, die ohne pflegerische Ausbildung in der Pflege tätig sind (vgl. Simon 2013:509).
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