Henriette Arendt – H. Sappok-Laue

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Die Autorin Henrike Sappok-Laue, geb. 1971, ist Pflegewissenschaftlerin (M.Sc.), Diplom-Berufsp채dagogin (FH) und Krankenschwester. Sie promovierte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar.


Henrike Sappok-Laue

Henriette Arendt Krankenschwester, Frauenrechtlerin, Sozialreformerin

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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Inhalt Danksagung ..................................................................................................... 9 Vorwort ......................................................................................................... 11 1. Einführung .............................................................................................. 17 1.1

Wer war Henriette Arendt? .............................................................. 21

1.2

Das Buch „Dornenpfade der Barmherzigkeit“ ................................. 24

1.3

Forschungsstand ............................................................................... 33

1.4

Forschungsfragen ............................................................................. 38

1.5

Methoden .......................................................................................... 39

1.6

Quellen.............................................................................................. 40

2. Leben, Werk und Wirken Henriette Arendts (1874-1922) .................... 43 2.1

Kindheit und Jugend (1874-1896).................................................... 43

2.1.1 Familie Arendt aus Königsberg i. Pr. ........................................... 44 2.1.2 Kindheit ohne (Mutter-)Liebe ...................................................... 52 2.1.3 Erziehung und Bildung der „Höheren Tochter“........................... 54 2.1.4 Die erste große Krise .................................................................... 57 2.1.5 Beziehungen ................................................................................. 58 2.1.6 „Soziale Ader“ und Entwicklung eines sozialdemokratischen Bewusstseins ................................................................................ 59 2.2

Krankenpflege (1896-1903) ............................................................. 61

2.2.1 Im Jüdischen Schwesternverein ................................................... 64 2.2.2 Die Ausbildung im Jüdischen Krankenhaus ................................ 69 2.2.3 Die zweite große Krise ................................................................. 79 2.2.4 Charakterzüge ............................................................................... 83 2.2.5 In weiteren Schwesternvereinen................................................... 85 2.2.6 Trost, Spiritualität und Taufe ....................................................... 95


2.2.7 Weiterbildungen ........................................................................... 96 2.2.8 In der Krankenpflege .................................................................. 101 2.2.9 Resümee über die Pflege ............................................................ 122 2.3

Soziale Arbeit als Polizeiassistentin (1903-1909).......................... 125

2.3.1 Die Einstellung als Polizeiassistentin......................................... 126 2.3.2 Bezug zur bürgerlichen Frauenbewegung .................................. 140 2.3.3 Menschenbild ............................................................................. 143 2.3.4 Zöglinge und deren Fürsorge ..................................................... 145 2.3.5 Erwachendes Interesse für die Kinderfürsorge .......................... 151 2.3.6 Gang an die Öffentlichkeit ......................................................... 158 2.3.7 Kämpfe an allen Fronten und Scheitern als Polizeiassistentin .. 167 2.4

Freiberufliche Fürsorge als Krankenschwester (1909-1922) ......... 177

2.4.1 Rückzug und Veröffentlichung von „Dornenpfade“ und „Erlebnisse einer Polizeiassistentin“ ................................... 179 2.4.2 Detektivin im Kampf gegen den Kinderhandel ......................... 184 2.4.3 Beim Kongress des Weltbundes der Krankenpflegerinnen 1912 in Köln ............................................................................... 194 2.4.4 In England .................................................................................. 200 2.4.5 1916-1922 ................................................................................... 212 3. Schlussfazit........................................................................................... 219 3.1

Zusammenfassung .......................................................................... 219

3.2

Einordnung ..................................................................................... 224

3.3

Diskussion ...................................................................................... 230

4. Verzeichnisse ....................................................................................... 235 4.1

Quellen- und Literaturverzeichnis .................................................. 235

4.1.1 Archivalische Quellen ................................................................ 235


4.1.2 Gedruckte Quellen ...................................................................... 236 4.1.3 Quelleneditionen ........................................................................ 240 4.1.4 Fachliteratur................................................................................ 241 4.1.5 Internetressourcen ...................................................................... 251 4.1.6 Werkbibliographie ...................................................................... 253 4.2

Abbildungsverzeichnis ................................................................... 255

4.3

Abkürzungsverzeichnis .................................................................. 257

5. Anhang ................................................................................................. 259 5.1

Transkription „Handgeschriebener Lebenslauf Henriette Arendts, 1903“ (Faksimile: Abbildung 2) ..................................... 259

5.2

Transkription „Brief Henriette Arendts an Polizeirat Wurster aus der Tübinger Universitäts-Frauenklinik, 1905“ (Faksimile: Abbildung 11) .................................................. 260

5.3

Analyse der Quelle „Dornenpfade der Barmherzigkeit“ ............... 262



Danksagung Bin ich selbst dann auch längst vergessen, was liegt daran! Bleibt nur eine Spur von meinen Erdentagen, so habe ich doch nicht umsonst gelebt und gekämpft! Henriette Arendt, Erlebnisse einer Polizeiassistentin

Das vorliegende Buch wurde am 26.11.2014 als Dissertation unter dem Titel „Bin ich selbst dann auch längst vergessen… Henriette Arendt – Krankenschwester, Frauenrechtlerin und Sozialreformerin. Ein Leben zwischen Pflege und Fürsorge“ an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar angenommen. Den Anstoß zu dieser Arbeit verdanke ich meiner ehemaligen Professorin an der Katholischen Hochschule in Köln, Frau Prof. Gertrud Hundenborn, die mich an einem kalten und düsteren Novembernachmittag im Jahr 2004 über eine Quellenarbeit auf Henriette Arendt aufmerksam machte. Ich danke meinem Doktorvater Prof. Dr. Frank Weidner und meinem Zweitbetreuer Dr. Ralf Forsbach für die professionelle und wohlwollende wissenschaftliche Begleitung, die den Forschungsprozess durch die unterschiedlichen Perspektiven sehr bereichert hat. Zudem bedanke ich mich für die Unterstützung zahlreicher ArchivarInnen, KommilitonInnen und WissenschaftlerInnen sehr herzlich: Frau Maja Riepl-Schmidt, Jerome Kohn vom Hannah Arendt Center in New York, Frau Kunz, Frau Reichau und Frau Haßmann vom DBfK in Potsdam, Frau Prof. Dr. Susanne Kreutzer für methodische Hinweise, Frau Prof. Dr. Karen Nolte für ihren Hinweis auf Agnes Karlls Briefe im Archiv des DBfK in Potsdam, Frau Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach für das Lesen und ihre wissenschaftlichen Anmerkungen, Frau Eva Weickart vom Frauenbüro der Stadt Mainz für ihren Hinweis auf das Archiv Bibliographia Judaica, Frau Dr. Renate Heuer, Frau Dorothea Bader vom Staatsarchiv Ludwigsburg, die mir unkompliziert und freundlich zahlreiche Kopien von Aktenstücken anfertigte und der Oberin der DRK-Schwesternschaft Mainz e. V. Angelika Hahner, die im Archiv der Schwesternschaft nach Unterlagen suchte und mir diese schnell und einfach zukommen ließ. Meiner Kommilitonin Elisabeth Linseisen danke ich

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Danksagung

für das Lesen und kritische Korrigieren meiner Texte und Sandra Postel für die Gespräche. Besonderer Dank gebührt Doris Geis, die ich vergebens zu kontaktieren versuchte. Ich verdanke der von ihr vorliegenden Literaturliste wertvolle Anregungen. Mein herzlichster und innigster Dank gilt meiner Familie. Meiner Mutter Traute Müller-Glewe gebührt mein größter Dank, denn ohne ihre finanzielle Unterstützung hätte dieses Forschungsprojekt nie zu einem Ende gefunden. Meinen Schwiegereltern Bernd und Helga Laue danke ich für die Zeit, die sie mir geschenkt haben. Meinen Schwiegereltern Christian und Ursula Sappok danke ich für das detaillierte Korrekturlesen und den tröstenden Zuspruch, meinem Bruder Ulrich Köhn für die Erläuterungen zur Pharmaziegeschichte. Meinen Kindern Maximilian, Louis, Annemarie und Anton danke ich für die Rücksicht und das Verständnis – das macht Mama nicht noch mal! Meinem Mann Christopher Sappok danke ich für sein Know-how und seine unermüdliche Hilfe in Formatierungsfragen sowie für das Korrekturlesen. Außerdem danke ich ihm innig für den steten Rückhalt, die Gespräche und für alles, wofür es an dieser Stelle keine Worte gibt.

Bonn, im Juni 2015

Henrike Sappok-Laue

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Vorwort „Wo findet die Geschichte der Pflege in unseren Ländern wissenschaftliches Asyl?“ Diese Frage stellte der Pflegehistoriker Horst-Peter Wolff im Jahr 2002, und er befand, dass die Pflegegeschichte ein „kümmerliches“ und von der Pflegewissenschaft „vernachlässigtes“ Dasein friste.1 Wie verhält es sich heute? Hat die Geschichte der Pflege inzwischen, zumindest in Deutschland, eine Unterkunft gefunden? Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, im Vorfeld meiner pflegehistorischen Arbeit diesbezüglich einen groben Überblick zum aktuellen Geschehen zu geben und die eingangs gestellte Frage kurz zu reflektieren. Zunächst werde ich anhand verschiedener Kriterien überprüfen, wo und inwiefern die Geschichte der Pflege in Deutschland auf wissenschaftlicher Ebene verortet ist: In einem ersten Schritt wird die institutionelle Anbindung historischer Pflegeforschung betrachtet. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Personen sich mit der Erforschung der Geschichte der Pflege beschäftigen und in welchen Kontexten die Forschungsergebnisse auf Tagungen, Kongressen oder in Fachzeitschriften veröffentlicht und diskutiert werden. Vor dem Hintergrund einer solchen Bestandsaufnahme ist es dann möglich, die aktuelle Verortung der historischen Pflegeforschung aufzuzeigen. Ausdrücklich institutionell angebunden ist die Erforschung der Geschichte der Pflege am Institut für Geschichte der Medizin (IGM) der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart. Hier werden derzeit drei Forschungsprojekte unter der Überschrift „Sozialgeschichte der Pflege“ durchgeführt: Die Historikerin Bettina Blessing erforscht Hospitalorden und ihr Wirken in der Pflege im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Barmherzigen Brüder und der Elisabethinerinnen.2 Ihre Kollegin, die Historikerin Kristina Matron, beschäftigt sich mit der Offenen Altenhilfe in Frankfurt am Main in der Zeit von 1945 bis 1982/83, und Nina Grabe, ebenfalls Historikerin, promoviert zum Thema stationärer Versorgung alter Menschen in der deutschen Nach1

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Wolff, Horst-Peter (2002): Wo findet die Geschichte der Pflege in unseren Ländern wissenschaftliches Asyl? S. 101-102. Diese Frage greift auch Hubert Kolling auf in: Kolling, Hubert (2014): Editorial. S. 6. S. Homepage des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung http://www.igmbosch.de/content/language1/html/10372.asp (zuletzt aufgerufen am 16.11.2014).

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Vorwort

kriegszeit von 1945 bis 1975 im Raum Hannover bzw. südliches Niedersachsen. Astrid Stölzle, Krankenschwester und Historikerin, promovierte mit Unterstützung eines Stipendiums des IGM im Jahr 2013 zum Thema „Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg“ und Anja Faber, ebenfalls Krankenschwester und Historikerin, schloss kürzlich ihr Dissertationsprojekt „Pflegealltag im stationären Bereich zwischen 1880 und 1930“ ab.3 Neben diesen ausgewiesenen Forschungsprojekten forscht und publiziert am IGM auch die Historikerin Sylvelyn Hähner-Rombach. Zurzeit arbeitet sie u. a. zur Krankenpflege in der Psychiatrie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und zur Tuberkulose bei Ordensschwestern im 19. Jahrhundert.4 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Hähner-Rombachs Herausgeberschaft der „Quellen zur Geschichte der Krankenpflege“ im Jahr 2008.5 Die Veröffentlichung dieser Quellensammlung war eines von über 40 Projekten, die die Robert-Bosch-Stiftung in der Zeit zwischen 2004 und 2011 mit ihrem Programm „Beiträge zur Geschichte der Pflege“ gefördert und somit für einen regelrechten Boom in der Erforschung der Pflegegeschichte gesorgt hat.6 Ein weiteres Projekt ist die Wanderausstellung „WHO CARES? – Geschichte und Alltag in der Krankenpflege“, die in der Zeit von 2011 bis heute bereits in Berlin, Zürich, Bremen, Bochum, Hamburg und Ingolstadt Station gemacht hat.7 Am Medizinhistorischen Institut der Universität Würzburg erforscht die Krankenschwester und Historikerin Karen Nolte u. a. die Geschichte der Krankenpflege im 18., 19. und 20. Jahrhundert. Im Jahr 2012 zeichnete sie als Gastherausgeberin verantwortlich für das Themenheft „Pflegegeschichte – Fragestellungen und Perspektiven“ des Medizinhistorischen Journals, in

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Stölzle, Astrid (2013): Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg; Faber, Anja (voraussichtl. Dez. 2014): Pflegealltag im stationären Bereich. S. Homepage des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung http://www.igmbosch.de/content/language1/html/10973.asp (zuletzt aufgerufen am 16.11.2014). S. Hähner-Rombach, Sylvelyn (2008): Quellen zur Geschichte der Krankenpflege. Vgl. Hähner-Rombach, Sylvelyn (2011): Warum Pflegegeschichte? S. 23. Vgl. auch Blessing, Bettina (2012): Historische Pflegeforschung. S. Internetauftritt der Ausstellung unter http://www.ausstellung-pflegegeschichte.de/index.html (zuletzt aufgerufen am 16.11.2014) und Atzl, Isabel (2011): WHO CARES?

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Vorwort

dem aktuelle Forschungsergebnisse veröffentlicht wurden.8 Zuletzt veröffentlichte sie ihre Ergebnisse zur Diakonissenpflege im 19. Jahrhundert.9 Die Diakonissenpflege erforschte auch die Historikerin Susanne Kreutzer in ihrer Habilitationsarbeit.10 Im Gegensatz zu Nolte betrachtete sie jedoch die Nachkriegszeit im Zeitraum zwischen 1945-1980. Kreutzer hat derzeit eine Professur im Fachgebiet Gesundheitswissenschaften mit dem Schwerpunkt Pflegewissenschaft an der Fachhochschule in Münster inne. Damit sind alle mir bekannten relevanten Institutionen genannt, an denen sozusagen „routinemäßig“ die Geschichte der Pflege erforscht wird. Raum für wissenschaftlichen Austausch bieten in Deutschland mittlerweile zwei Foren: Zum einen ist dies die im Jahr 1991 von der Krankenschwester, Berufspolitikerin und Pflegewissenschaftlerin Hilde Steppe (1947-1999) ins Leben gerufene Sektion Historische Pflegeforschung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V.11 Die Sektion trifft zweimal jährlich zusammen und hat sich das Ziel gesetzt, die Etablierung der pflegehistorischen Forschung in der Pflegewissenschaft zu fördern.12 Parallel dazu gab es seit einigen Jahren auch ein loses „Netzwerk Pflegegeschichte“, dessen Mitglieder sich regelmäßig an der ehemaligen FH in Frankfurt/Main (jetzt Frankfurt University of Applied Sciences) trafen. Aus diesem Netzwerk ist im Mai 2014 die Fachgesellschaft Pflegegeschichte e. V. hervorgegangen. Mit der Aufzählung der institutionellen Anbindung der historischen Pflegeforschung und der dort Tätigen ist die Liste der auf diesem Gebiet Forschenden jedoch noch nicht erschöpft. Unabhängig von den erwähnten Institutionen forschen und qualifizieren sich Nachwuchswissenschaftlerinnen auf verschiedenen Wegen: Die Kinderkrankenschwester und Diplom-Pflegewirtin (FH) Anja K. Peters promovierte in diesem Jahr 2014 mit einer Biographiearbeit über die Reichshebammenführerin Nanna Conti.13 Peters reichte ihre Arbeit am Insti8 9 10 11 12

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Medizinhistorisches Journal 47 (2012) Heft 2. Nolte, Karen (2013): Protestant nursing care in Germany in the 19th century. Kreutzer, Susanne (2014): Arbeits- und Lebensalltag evangelischer Krankenpflege. Vgl. Recken, Heinrich (2009): Von Aarau nach Jena. S. 27ff. S. Homepage der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V. Sektion historische Pflegeforschung unter http://www.dg-pflegewissenschaft.de/2011DGP/sektionen/pflege-undgesellschaft/historische-pflegeforschung (zuletzt aufgerufen am 16.11.2014). Peters, Anja K.: (2014): Nanna Conti (1881-1951).

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Vorwort

tut für Geschichte der Medizin an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald ein. Annett Büttner, Historikerin und Archivarin der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth, promovierte kürzlich am Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Sie erforschte die konfessionelle Kriegskrankenpflege im 19. Jahrhundert.14 Petra Betzien, Dipl.-Betriebswirtin, promoviert derzeit an der FernUniversität Hagen am Lehrstuhl für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte mit dem Thema „Krankenschwestern im System der Konzentrationslager – Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst am Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett“.15 Zur Pflege im Nationalsozialismus forscht auch die Medizinerin EvaMaria Ulmer, die an der Frankfurt University of Applied Sciences als Professorin in den Pflegestudiengängen lehrt. Ihr Forschungsschwerpunkt ist dabei hauptsächlich die Geschichte der jüdischen Krankenpflege. Gemeinsam mit den Sozial- und Kulturwissenschaftlern Birgit Seemann und Edgar Bönisch betreut Ulmer das Projekt „www.jüdische-pflegegeschichte.de“ an der Frankfurt University, das Informationen zu Personen, Orten, Gebäuden, Institutionen und Quellen jüdischer Pflegegeschichte in Frankfurt am Main aus der Zeit zwischen 1870/71 und 1945 bündelt.16 Dieser grobe Überblick über laufende bzw. kürzlich abgeschlossene Forschungsprojekte zeigt, dass die Geschichte der Pflege schwerpunktmäßig aus der Perspektive der Medizingeschichte und der Geschichtswissenschaft erforscht wird. Die aktuellen Forschungsthemen beziehen sich mehrheitlich auf die Alltags- und Sozialgeschichte der Pflege oder die Kriegskrankenpflege. Forschungsergebnisse werden traditionell meist im Medizinhistorischen Journal oder der wissenschaftlichen Zeitschrift für Pflegeberufe „Pflege“ publiziert. Seit zwei Jahren existiert zusätzlich das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe „Geschichte der Pflege“ – eine zweimal jährlich erscheinende Fachzeitschrift. 14 15 16

Büttner, Annett (2013): Die konfessionelle Kriegskrankenpflege im 19. Jahrhundert. Betzien, Petra (2012): NS-Schwestern in Konzentrationslagern. S. Homepage des Projektes unter http://www.juedische-pflegegeschichte.de/einfuehrung/juedischekrankenpflege-in-frankfurt-am-main/ (zuletzt aufgerufen am 16.11.2014).

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Vorwort

Im Jahr 2014 trafen zudem zwei Mal die unterschiedlichen Experten auf diesem Gebiet zusammen: Am Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim bei Linz/Österreich fand in der Zeit vom 23.-24. Mai 2014 die Tagung „Geschichte der Pflege- und Gesundheitsberufe lehren und lernen: Der Umgang mit Leid aus Sicht der Pflegenden und Gepflegten“ statt. Ausgerichtet wurde die Tagung von den Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats der Fachzeitschrift „Geschichte der Pflege“. Zeitgleich richteten Susanne Kreutzer und Karen Nolte mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Medizinhistorischen Museum eine Internationale Konferenz zum Thema „Nursing 1914-1918: War, Gender and Labour in a European Perspective“ in Ingolstadt aus. Um an die oben aufgeführte Frage nach dem wissenschaftlichen Asyl der Geschichte der Pflege anzuknüpfen, lässt sich folgender Sachverhalt zusammenfassen: Obwohl es eine Fülle von Forschungsarbeiten, eine Fachgesellschaft für die Entwicklung der Pflegewissenschaft mit einer eigenen Sektion zur Förderung der Geschichte der Pflege, eine eigene Fachgesellschaft Pflegegeschichte und eine eigene Fachzeitschrift gibt, wird die Erforschung der Geschichte der Pflege von der Pflegewissenschaft selbst weitestgehend vernachlässigt. Universitäre Fachbereiche oder gar Lehrstühle für historische Pflegeforschung sucht man in Deutschland vergebens. Und doch ist es im Zuge der Erforschung, Etablierung und Überprüfung neuer pflegewissenschaftlicher Konzepte wichtig, die Vergangenheit zu erforschen und zu verstehen, um nicht Gefahr zu laufen, das Rad immer wieder neu zu erfinden. So ist es für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Pflege sinnvoll, die bisherige Entwicklung zu kennen. Die vorliegende pflegehistorische Arbeit wurde am Lehrstuhl für Pflegewissenschaft der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar (PTHV) eingereicht und schließt einen kleinen Teil einer großen geschichtlichen Lücke. Kann dies ein Anfang für die Etablierung pflegehistorischer Forschung in der Pflegewissenschaft sein oder wird es eine Ausnahme bleiben? Es sei auf die Gefahr hingewiesen, dass der Aufschwung, der durch die Bereitstellung der Fördergelder der Robert-Bosch-Stiftung ausgelöst wurde, zu verpuffen droht, wenn keine Anschlussprojekte angedacht werden. Hier

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Vorwort

sind nun die Entscheidungsträger der Pflegewissenschaft auf wissenschaftlicher, finanzieller und politischer Ebene gefragt, um endlich das längst überfällige Forschungsgebiet Historische Pflegeforschung auf universitärer Ebene zu etablieren.

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1. Einführung Im Jahr 1909 erschien das Buch „Dornenpfade der Barmherzigkeit. Aus Schwester Gerdas Tagebuch, herausgegeben von Schwester Henriette Arendt“, das durch seinen „reißerischen Titel“ Aufsehen erregte.17 In diesem 322 Seiten umfassenden, tagebuchartig verfassten Roman werden die beruflichen und privaten Erlebnisse einer jungen Krankenschwester beschrieben, die voller Idealismus in ihren Beruf einsteigt. Über einen Zeitraum von sieben Jahren (1896-1903) erlebt „Schwester Gerda“ von Anfang an Konflikte mit verschiedenen Oberinnen, Mitschwestern und Privatpatienten. Sie beobachtet, wie ihr bekannte Schwestern dem physischen und psychischen Druck in der Pflege nicht standhalten, und erkrankt selbst mehrfach. Schließlich muss sie, finanziell am Ende und beruflich, persönlich und sozial gescheitert, die Arbeit als Krankenschwester aufgeben. Die Schilderungen bzgl. der Krankenpflege sind, laut Zeitgenossen, unumstritten authentisch und tragen „entschieden den Stempel der Echtheit und Ursprünglichkeit“.18 Auch im Vergleich zu ähnlichen Quellen, die die Arbeitswelt der konfessionell gebundenen und „freien“ Krankenpflege thematisieren, finden sich Übereinstimmungen in Bezug auf die Beschreibung von Krankheitsbildern und Behandlungsmethoden, Verhältnisse zwischen Ärzten und Krankenschwestern und Krankenschwestern untereinander, Beziehungen zu den Patienten und persönlichen Belastungen durch die Krankenpflege.19 Agnes Karll (1868-1927), Mitbegründerin der Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands (B.O.K.D.), war von Henriette Arendt und dem Verlag um ein Vorwort gebeten worden. Für Karll war das Buch (im Folgenden „Dornenpfade“ genannt) als „Studienmaterial für die beteiligten Kreise“ und „Mahnruf an das Gewissen des ganzen Deutschen Volkes“ so bedeutend, dass sie sich nicht scheute, eine Woche lang an der neun17

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S. Sticker (1977): Agnes Karll, S. 184. Zeitgenössische Veröffentlichungen belegen die Popularität dieses Buches: z. B. Degener (1912): Wer ist´s? S. 26. S. Rezension in: Unterm Lazaruskreuz, Jg. 4 (1909), Nr. 12, S. 140. Vgl. auch Agnes Karlls Einführung in „Dornenpfade“, S. 6f. Vgl. auch die Rezension in: Caritas 15 (1910), S. 265. Vgl. Wolff, C. (1912): Mehr Sonne; Algenstaedt, Luise (1903): Frei zum Dienst; Algenstaedt, Luise (1906): Skizzen aus dem Schwesternleben. Bei Algenstaedt steht die Diakonissenpflege im Vordergrund.

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1. Einführung

seitigen Einführung zu arbeiten, worüber sie in Briefen an ihre Mutter berichtete.20 Ihr Interesse galt dabei der Aufdeckung der Missstände und der Entwicklung günstigerer Rahmenbedingungen für den Krankenpflegeberuf und der damit verbundenen Forderung nach sozialer Sicherung der Pflegerinnen.21 Auch in katholischen Kreisen wurde das Buch als „Mahnruf“ interpretiert, allerdings unter anderen Vorzeichen. So zog es z. B. Wilhelm Liese (1876-1956), Schriftleiter der Zeitschrift „Charitas“, als Negativbeispiel für die Zustände in der freien, nicht mutterhausgebundenen Pflege heran und erläuterte: „Die sogenannten wilden Schwesternschaften sind den größten gesundheitlichen und besonders sittlichen Gefahren ausgesetzt, wie Schwester Gerdas Buch ‚Dornenpfade der Barmherzigkeit’ erschreckend klar gezeigt hat.“22 Auch Heinrich Dreesmann (1865-1929), leitender Chirurg am St. Vinzenz-Hospital in Köln und Gründer des „Katholischen Krankenfürsorgevereins“23, zeigte sich von dem Buch stark beeindruckt und berief sich ebenfalls auf die von der Krankenpflege ausgehenden, großen sittlichen Gefahren für freie Schwestern. In einem Brief an den Kölner Erzbischof Antonius Kardinal Fischer (1840-1912) plädierte er für den konfessionellen Zusammenschluss weltlicher Pflegerinnen: „Die in dem Werk [„Dornenpfade“, HSL] enthaltende Mahnung, die Krankenpflegerin zu grösserer Selbständigkeit zu erziehen, kann doch sicherlich nicht als Erfolg versprechend angesehen werden.“24 Für die Krankenpflege geriet das Buch in Vergessenheit, bis Birgit Panke-Kochinke im Jahr 2001 Auszüge daraus in einer Quellensammlung zur Geschichte der Krankenpflege veröffentlichte. Panke-Kochinke ging – im Gegensatz zu den Zeitgenossen Henriette Arendts (s. o.) – davon aus, dass es sich um ein „fiktives“ Tagebuch handelt.25 Im Zuge der Recherchearbeit 20

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S. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, Vorwort Agnes Karll, S. 6-14. Vgl. auch Archiv DBfK Potsdam: Briefe Agnes Karlls an ihre Mutter, 27. Februar 1909 und 19. März 1909. Vgl. Schmidbaur, Marianne (2002): Vom „Lazaruskreuz“, S. 58. Vgl. Liese, Wilhelm (1914): Wohlfahrtspflege und Caritas, S. 82 (Herv. i. Orig.). Vgl. weiterhin die Rezension in: Caritas 15, S. 265. Zur Geschichte dieses Vereins s. Sappok-Laue, Henrike (2008): Der Katholische Krankenfürsorgeverein. S. Denkschrift des Kölner Arztes Dr. Heinrich Dreesmann an Erzbischof Antonius Kardinal Fischer (1840-1912) vom 19. Juli 1910 in: Hainbuch, Friedrich (1988): Die Gründung, S. 32 (Herv. i. Orig.). Vgl. auch Liese, Wilhelm (1929): Lorenz Werthmann, S. 235. Vgl. Panke-Kochinke, Birgit (2011): Die Geschichte der Krankenpflege, S. 13, 152.

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1. Einführung

für die vorliegende Studie verdichteten sich jedoch die Hinweise, dass es sich bei „Schwester Gerda“ doch um ein höchst unmittelbares Pseudonym für die als Herausgeberin in Erscheinung getretene Henriette Arendt handelt. Henriette Arendt (1874-1922) stammte aus Königsberg in Preußen und war die Tante der später berühmten politischen Philosophin und Soziologin Hannah Arendt (1906-1975), welche beim Erscheinen von „Dornenpfade“ allerdings gerade einmal drei Jahre zählte. Ausgehend von der Erforschung der Entstehungsumstände von „Dornenpfade“ und der damit verbundenen Frage, inwieweit „Schwester Gerda“ und Henriette Arendt als ein und dieselbe Person zu bezeichnen sind, erwies es sich als höchst aufschlussreich, das gesamte Leben Henriette Arendts auszuleuchten, sodass die Rekonstruktion ihrer Lebens- und Wirkungsgeschichte das Kernstück der vorliegenden Arbeit darstellt. Daher wird im folgenden Unterkapitel ein kurzer Überblick zu Henriette Arendts Biographie gegeben, um dann „Schwester Gerda“ und Henriette Arendt einander gegenüberzustellen. Ferner werden die verschiedenen methodischen, theoretischen und strukturellen Merkmale der vorliegenden Studie aufgezeigt. Das zweite Kapitel, (2.1-2.4), stellt den Hauptteil der Studie dar. In diesem Teil wird die Lebensgeschichte Henriette Arendts mit ihren konstituierenden Elementen beschrieben. Er ist chronologisch in vier Unterkapitel gegliedert, die sich an den unterschiedlichen beruflichen Wendepunkten Henriette Arendts orientieren: In Kapitel 2.1 „Kindheit und Jugend“ werden zunächst die familiären und kulturellen Strukturen beleuchtet, die Henriette Arendts Leben bis zu ihrem 21. Lebensjahr prägten. Zudem werden hier ihre schulische Bildung und ihre beginnende politische Haltung beschrieben und erste persönliche und charakterliche Anpassungsschwierigkeiten aufgezeigt. Kapitel 2.2 ist eng an „Dornenpfade“ orientiert (die Übernahme fiktiver und/oder subjektiver Elemente aus dieser Quelle wurde dabei bewusst in Kauf genommen. An besonders heiklen Stellen wird deutlich auf mögliche fiktive Komponenten hingewiesen). Hier werden Henriette Arendts pflegerische Ausbildung im Jüdischen Krankenhaus in Berlin und Details über ihre Einsätze in der Privat- und Krankenhauspflege (hier beispielhaft die Pflege Diphtheriekranker) thematisiert. Eine schwere persönliche Krise im Herbst 1897 wirft u. a. ein Licht auf eine scheinbar chronische Unterleibserkran-

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1. Einführung

kung unter der Henriette Arendt litt und sie in den Folgejahren zu regelmäßigen Krankenhausaufenthalten zwang. Arendts Anstellung und ihre sechsjährige Tätigkeit als Polizeiassistentin stehen im Focus des Kapitels 2.3, wobei hier ihr erwachendes Interesse für die bürgerliche Frauenbewegung und die Belange misshandelter und verwahrloster Kinder maßgeblich sind. Im Zusammenhang mit den Zielen der bürgerlichen Frauenbewegung wird auch auf Henriette Arendts Verhältnis zur B.O.K.D. und deren Gründerin Agnes Karll näher eingegangen. Neben der Gestaltung Arendts’ Arbeitsfeldes als Polizeiassistentin werden ihre Konflikte mit ihren Vorgesetzen und die Gründe für ihr Scheitern als Polizeiassistentin dargelegt. Kapitel 2.4 umreißt die Jahre zwischen 1909-1922. In dieser Zeit war Henriette Arendt freiberuflich als Fürsorgerin tätig. Der Zenit ihrer Karriere als ehemalige Polizeiassistentin, freiberufliche Fürsorgerin und Aktivistin für das Frauenwahlrecht wird in den Abschnitten 2.4.2 bis 2.4.4 beschrieben. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab ihrem Leben eine weitere, entscheidende Wende. Aufgrund der dünnen Quellenlage kann ihre Lebenszeit zwischen den Jahren 1916 bis zu ihrem frühen Tod im Alter von 47 Jahren im Jahre 1922 nur noch schemenhaft umrissen werden. Mit der Beschreibung des Ablebens Henriette Arendts endet auch der Hauptteil der Arbeit. In Kapitel 3 werden die Forschungsergebnisse anhand der starken Brüche und Wendepunkte in Henriette Arendts Leben zusammengefasst und die Erkenntnisse in einen pflegehistorischen Kontext gesetzt, wobei hier das Augenmerk auf die Abgrenzung der Krankenpflege in Bezug auf die Entwicklung des Berufs ‚soziale Arbeit’ gelenkt wird. Mit einer Diskussion der Ergebnisse und der Formulierung der aus der Studie hervorgegangenen Forschungsfragen schließt die Arbeit ab. Kapitel 4 beinhaltet die unterschiedlichen Verzeichnisse, u. a. die Quellen- und Literaturangaben und eine Werkbibliographie Henriette Arendts.

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1.1 Wer war Henriette Arentd?

1.1 Wer war Henriette Arendt? Über Henriette Arendt könnten viele unterschiedliche Bücher geschrieben werden, denn ihre Lebensgeschichte zerfällt in sehr unterschiedliche Phasen: Sie war als Krankenschwester, Polizeiassistentin und als Autorin und Aktivistin gegen den internationalen Kinderhandel aktiv. Auch als Sozialreformerin kann sie in die lange Liste der Persönlichkeiten der bürgerlichen Frauenbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eingereiht werden. Sie wurde als zweites Kind einer wohlhabenden jüdischen, assimilierten Kaufmannsfamilie geboren. Bereits in frühester Kindheit verlor sie ihre Mutter, und fehlende (Mutter-)Liebe überschattete ihr Heranwachsen. Eigensinnig widersetzte sie sich den Vorstellungen des ihr zugedachten bürgerlichen Frauenlebens und flüchtete, eben volljährig geworden, nach Berlin, um dort im Frühjahr des Jahres 1896 eine Ausbildung in der Krankenpflege zu beginnen. Aufgrund gesundheitlicher Probleme, aber auch wegen ihres Charakters, der sich „keineswegs unterordnen“26 konnte, wechselte sie mehrfach den Schwesternverein und war sowohl in der freien Privat- als auch in der Krankenhauspflege tätig. 1903 gelangte sie über den Stuttgarter Hilfspflegerinnen-Verband an die Position einer „Polizeiassistentin“. Dieses Amt galt als einer der ersten neuen sozialen Frauenberufe Deutschlands und war eng mit den Forderungen der Frauenbewegung nach beruflicher Selbständigkeit und sozialer Hilfstätigkeit der bürgerlichen Frau verbunden.27 Doch auch hier geriet sie mit ihren Vorgesetzen in Konflikte, sodass sie zum 31. Januar 1909 ihren Dienst kündigte. Bereits im Jahr 1907 hatte sie begonnen, ihre Erfahrungen und Erlebnisse als Polizeiassistentin zu publizieren. In dem Buch „Menschen, die den Pfad verloren“ machte sie auf gesellschaftspolitische Probleme aufmerksam, die im Zusammenhang mit dem seinerzeit weitestgehend tabuisierten Feld der Prostitution standen.

26 27

S. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 49. Vgl. Schröder, Iris (2001): Arbeiten für eine bessere Welt, S. 9ff; S. 289.

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Abb. 1: Auswahl von Veröffentlichungen Henriette Arendts (im Uhrzeigersinn): der Vortrag „Mehr staatliche Fürsorge für Gefallene und Gefährdete!“ (1907), das Buch „Menschen, die den Pfad verloren“ (1907), das Buch „Kleine weisse Sklaven“ (1911), das Buch „Erlebnisse einer Polizeiassistentin“ (1910).

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1.1 Wer war Henriette Arendt?

Im Jahr 1910 gab sie mit ihren „Erlebnisse[n] einer Polizeiassistentin“ Einblicke in die Konflikte, die zu ihrer Kündigung als Polizeiassistentin geführt hatten. Diese Veröffentlichung trägt die scharfen Züge einer Abrechnung. Besondere Aufmerksamkeit erregte auch ihr Buch „Kleine weisse Sklaven“, das 1911 veröffentlicht, und 1914 sogar verfilmt wurde. Hierin berichtete sie über ihre Tätigkeiten als selbsternannte „Detektivin gegen den internationalen Kinderhandel“. Diese Berichte erreichten nicht nur in Deutschland einen hohen Bekanntheitsgrad. Aktiv in der sozialen Reformbewegung, trat Henriette Arendt u. a. für sexuelle Aufklärung, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und vor allem das Frauenwahlrecht ein. Seit 1907 reiste sie – zunächst in Deutschland, später auch im europäischen Ausland – durch verschiedene Städte und hielt Vorträge über den Beruf der Polizeiassistentin und ihre Tätigkeit als „Internationale Detektivin, um den Kinderhandel aufzudecken und zu bekämpfen“.28 1912 kam sie bei dem Kongress des Weltbunds der Krankenpflegerinnen (International Council of Nurses, ICN) im Kölner Gürzenich in Kontakt mit englischen und amerikanischen Krankenpflegerinnen, die ebenfalls in der Frauenbewegung aktiv und an Henriette Arendts Engagement auf dem Gebiet der sozialen Arbeit interessiert waren. Sie luden sie ein, ihre Vorträge auch in England und Amerika zu halten. Henriette Arendt machte sich im Sommer des Jahres 1914 auf den Weg, doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs vereitelte weitere Reisepläne, kaum dass sie in England angekommen war. Sie versuchte zunächst unterzutauchen, wurde als feindliche Ausländerin mehrmals festgenommen und schließlich über die Niederlande nach Deutschland abgeschoben. Ab dem Jahr 1916 verliert sich ihre Spur weitgehend. Sie konnte oder wollte an ihre große Popularität vor dem Krieg nicht mehr anknüpfen und starb einsam, wie aus der Sterbeurkunde ersichtlich ist, in der nicht einmal Geburtsort und -name bekannt sind, am 22. August 1922 in einem Mainzer Krankenhaus.29

28 29

Vgl. STAL: F 201, Bü. 97: Protokoll der Polizeidirektion Wien, 21. März 1916, S. 1. S. Sterberegister des Standesamts Mainz, Urkunde Nr. 1070. Vgl. auch Geis, Doris (1995): Henriette Arendt, S. 158f; Riepl-Schmidt, Mascha (2007): Zwischen allen Stühlen, S. 142.

23


1. Einführung

1.2 Das Buch „Dornenpfade der Barmherzigkeit“ Als „Dornenpfade“ 1909 veröffentlicht wurde, wurde allgemein davon ausgegangen, dass es sich bei „Schwester Gerda“ um ein Pseudonym für Henriette Arendt handelte. So zeigten sich Henriette Arendts Zeitgenossen z. B. irritiert über „das Preisgeben ihrer eigenen Person in Wort und Schrift (siehe ‚Dornenpfade der Barmherzigkeit’).“30 Auch Anna Sticker war 1977 davon überzeugt, dass Henriette Arendt mit der anonymen Schwester Gerda zu identifizieren war.31 In der aktuellen Literatur wird die Authentizität unterschiedlich bewertet. Während Panke-Kochinke angibt, „Dornenpfade“ sei ein „(fiktives) Tagebuch“, gehen andere davon aus, dass es sich bei dem Buch um eine „Mischung aus Dokumentation, Fiktion und Autobiographie“ handelt.32 Doris Geis stellt fest, dass das Buch weitgehend autobiographisch orientiert ist, und erachtet „Dornenpfade“ als das persönlichste Werk Henriette Arendts.33 In dem Buch findet sich eine Vielzahl von Indizien, die darauf hinweisen, dass es sich bei „Schwester Gerda“ und Henriette Arendt weitgehend um ein und dieselbe Person handelt. Daher soll es im Folgenden um eine tiefere Analyse von „Dornenpfade“ gehen, um Aufschlüsse über dessen Wert für eine Lebensbeschreibung Henriette Arendts zu erhalten. Es wird nun exemplarisch eine Reihe von Zitaten aus „Dornenpfade“ vorgestellt und diese anhand der Quellenlage auf Parallelen zu Henriette Arendts Biographie überprüft. Eine ausführliche Analyse findet sich im Anhang der Arbeit. Im Vorwort der Herausgeberin gesteht zunächst Henriette Arendt selbst eine große Nähe zu „Schwester Gerda“ ein: „Man drängt mich von verschiedenen Seiten, das mir zur Verfügung stehende Tagebuch […] zu veröffentlichen. Das Leben der Schreiberin ist mir so vertraut, daß ich für die Zu30

31 32

33

S. Frauenbestrebungen, 1. April 1911, „Henriette Arendt. Kindersklaven in Europa“, S. 30. Vgl. auch die Rezension in: Unterm Lazaruskreuz, Jg. 4, Nr. 12, S. 140. Hier beschreibt die Verfasserin die Zukunft „Schwester Gerdas“ im Bereich der sozialen Arbeit. Agnes Karll verweist ebenfalls in ihrer Einführung zu „Dornenpfade“ auf die Zukunft „Schwester Gerdas“ in der sozialen Arbeit, in der sie „an der rechten Stelle“ Gutes geleistet hätte, s. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 14. Vgl. auch Geis, Doris (1995): Henriette Arendt, S. 154. S. Sticker, Anna (1977): Agnes Karll, S. 185. Vgl. Maier, Heike (1998): „Taktlos, unweiblich und preußisch“, S. 22. Hähner-Rombach schließt sich Maiers Einschätzung an, S. Hähner-Rombach, Sylvelyn (2008): “Out of the Frying Pan”, S. 159. S. Geis, Doris (1995): Henriette Arendt, S. 136.

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1.2 Das Buch „Dornenpfade der Barmherzigkeit“

verlässigkeit der Darstellung einstehen kann.“ Agnes Karll unterstreicht in ihrem Vorwort die Authentizität der Schilderungen in „Dornenpfade“, und merkt dazu an: „Die Schreiberin [hat] bei der Abfassung nie an eine Veröffentlichung gedacht. Mit rücksichtsloser Offenheit hat sie ihre Erlebnisse für sich selbst seinerzeit zu Papier gebracht. […] Die mitgeteilten Tatsachen haben den Wert a b s o l u t e r W a h r h e i t. Trotz der öfteren Betonung ihrer lebhaften Phantasie hat die Verfasserin die eigenen und fremden Erlebnisse nirgends übertrieben, nur selten die Düsterkeit des Bildes durch einen verklärenden Schimmer gemildert.“34

Bei den Erläuterungen zu Kindheit und Jugend sind, bei übereinstimmenden Zeitangaben, deutliche Parallelen erkennbar, so zunächst in den Beschreibungen der Familienstruktur, des familiären Umfeldes und der schulischen Laufbahn sowie eines Auslandsaufenthaltes in Genf. 35 Als wichtigstes Referenzdokument erweist sich hier ein handgeschriebener Lebenslauf Henriette Arendts vom 20. Februar 1903.36 Allgemein decken sich die meisten Orte, Daten und Ereignisse aus „Dornenpfade“ mit dem Lebenslauf, so z. B. die Dauer der krankenpflegerischen Tätigkeit von 1896-1903 (hauptsächlich in Berlin), Aufenthalte in Kiew und Hirsau, aber auch der Eintritt in ein Schwesternheim vom Roten Kreuz, der von „Schwester Gerda“ auf den 1. April 1898 datiert wird.37 Am Ende des Tagebuches, im Mai 1903, schreibt „Schwester Gerda“, dass sie eine Stelle in „St.“ als Aufseherin für das Frauengefängnis annehme. Ihre Aufgaben seien, „nach der Entlassung aus dem Gefängnis für die Unglücklichen zu sorgen, zu helfen, daß sie im Leben wieder festen Fuß fassen, einen Beruf finden, der sie ehrlich ernähre.“ Henriette Arendt trat am 20. Februar 1903 ihren Dienst als erste Polizeiassistentin Deutschlands in Stuttgart an. Ihre Aufgaben waren unter anderem, sich um die aus dem Gefängnis entlassenen Frauen zu kümmern, z. B. durch Ausstiegsangebote aus der Prostitution.38

34 35 36 37 38

S. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 6f (Herv. i. Orig.). S. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 15-24. STAL: F 801, Bü. 26: Lebenslauf. S. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 111. STAL: F 801, Bü. 26: Auszug aus dem Protokoll der Abteilung des Gemeinderats für innere und ökonomische Verwaltung vom 6. April 1903.

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1. Einf端hrung

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1.2 Das Buch „Dornenpfade der Barmherzigkeit“

Abb. 2: Handgeschriebener Lebenslauf Henriette Arendts, 1903. Quelle: STAL: F 801, Bü. 26 (Transkription siehe Anhang).

Eine chronologisch erste eindeutige Übereinstimmung findet sich in der Beschreibung eines Selbstmordversuchs „Schwester Gerdas“ im Alter von

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1. Einführung

16 Jahren und entsprechenden eigenen Angaben Henriette Arendts in einer „Autobiographischen Skizze“ von 1914.39 Unterfüttert werden diese Schilderungen durch anamnestische Angaben in einer Abschrift eines Ärztlichen Berichts bezüglich eines Aufenthaltes Henriette Arendts in der „Privat-Heil& Pflege-Anstalt für Nerven- & Gemütskranke von Dr. Gustav Scholinus“ in der Zeit vom 9. Oktober bis 9. November 1897.40 In „Dornenpfade“ und der „Autobiographischen Skizze“ wird detailliert ein in selbstmörderischer Absicht ausgeübter Sprung in die Spree und der darauf folgende Aufenthalt bei der Polizei beschrieben. Dieser Selbstmordversuch fand in einer kalten Winternacht 1890/91 oder 1891/92 aus Verzweiflung über die berufliche Zukunft Henriette Arendts bzw. „Schwester Gerdas“ statt. Sowohl in „Dornenpfade“ als auch in der „Autobiographischen Skizze“ wird die unfreundliche und rohe Behandlung durch die Polizei nach der Rettung aus der Spree beschrieben, aber auch, dass sich schließlich ein „freundlicher alter Herr“41 bzw. ein „alter Wachtmeister sich in väterlicher Weise“42 ihrer annahm und sie daraufhin in die Charité gebracht wurde. Eine weitere eindeutige Übereinstimmung liegt in „Schwester Gerdas“ Darstellung eines Nervenzusammenbruchs im November 1897 und den Angaben des bereits erwähnten Ärztlichen Berichts der „Privat-Heil- & PflegeAnstalt für Nerven- & Gemütskranke von Dr. Gustav Scholinus“. Ein Detail soll hier beispielhaft herausgegriffen werden: „Gerda“ beschreibt, wie sie während ihrer Arbeit im Operationssaal plötzlich starkes Nasenbluten bekommen habe. Nachdem sie scheinbar kollabiert war, hatte sie „das Gefühl als ob ich wieder in der Spree läge, den Kopf unter Wasser, und fing an, verzweifelt mit Händen und Füßen um mich zu schlagen.“43 Henriette Arendts Aufnahme in Dr. Scholinus’ Anstalt war notwendig geworden, nachdem sie im Krankenhaus Nasenbluten bekommen hatte und ihr gewesen sei „als

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40 41 42 43

Vgl. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 21ff und Arendt, Henriette (1914): Meine Arbeit zum Schutze der Wehrlosen, S. 100. STAL: F 801, Bü. 26: Ärztlicher Bericht von 1897. S. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 22. S. Arendt, Henriette (1914): Meine Arbeit zum Schutze der Wehrlosen, S. 100. S. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 90.

28


1.2 Das Buch „Dornenpfade der Barmherzigkeit“

wenn sie mit dem Kopf unter Wasser getaucht worden sei; sie habe sich dann zur Wehr gesetzt.“44

Abb. 3: Abschrift des Zeugnisses von Henriette Arendt aus dem Sanatorium für Nervenkranke, 1900. Quelle: STAL: F 801, Bü. 26.

44

STAL: F 801, Bü. 26: Ärztlicher Bericht von 1897.

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1. Einführung

Eine letzte eindeutige Übereinstimmung tritt durch die Überprüfung eines in „Dornenpfade“ wiedergegebenen Zeugnisses zu Tage. Hier zitiert „Schwester Gerda“ am 30. November 1900 ein am 15. November 1900 „vom Sanatorium“ ausgestelltes Zeugnis, das sich, bis auf den Namen und das Datum, wortgleich in den Zeugnisabschriften Henriette Arendts wieder findet: „Sanatorium für Nervenkranke. Groß-Lichterfelde bei Berlin (Anhalter Bahn) den 8. August 1900. Hierdurch bescheinige ich, daß die Krankenschwester Fräulein Henny Arendt aus Königsberg i./Pr., welche mehrfach als Separatpflegerin in dem hiesigen Sanatorium beschäftigt war, stets zu meiner vollsten Zufriedenheit hier tätig gewesen ist. Sie ist sehr erfahren und gewandt, zeichnet sich durch große Sachkentnis [sic!] aus, ist umsichtig und unverdrossen, und versteht es, durch ihre Intelligenz wie durch ihr freundliches und angenehmes Wesen die Zuneigung der ihr anvertrauten Kranken zu erwerben. Dr. Goldstein.“ 45

Diese und andere Parallelen zwischen „Schwester Gerda“ und Henriette Arendt und die Angaben aus dem Vorwort und der Einführung lassen also zunächst darauf schließen, dass es sich bei den Tagebucheintragungen um weitestgehend authentische Schilderungen und Erlebnisse von Henriette Arendt selbst handelt. Aus der Analyse geht jedoch auch hervor, dass Henriette Arendt vor der Veröffentlichung einige redaktionelle Veränderungen bezogen auf Namen, Daten und Orte durchgeführt hat. Und nicht nur das: scheinbar hat sie ganze Zeitabschnitte verlegt, so z. B. die Zeit der in „Dornenpfade“ geschilderten Pflege von „Sanitätsrat Boger“46, die starke Parallelen zur Pflege des „Hofzahnarztes Hofrath Dr. T“47 aufweist, über die eine Abschrift eines ärztlichen 45 46

47

Vgl. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 254 und STAL: F 801, Bü. 26: Zeugnisabschriften. S. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 297-305. Die Pflege von „Sanitätsrat Boger“, einem morphiumsüchtigen „Trunkenbold“ und dessen „verschüchterte[r], aufgeregter[r] und fast taube[r]“ Schwester findet laut „Dornenpfade“ in der Zeit vom 3. November 1901 bis 31. März 1902 in Rixdorf (östlich neben Berlin-Tempelhof) statt. STAL: F 801, Bü. 26: Zeugnisabschriften. Hier attestiert Dr. Artur Süssmann Schwester Henny Arendt die Pflege des sehr schwer zu behandelnden Morphinisten Hofrat Dr. T., der noch eine „imb“ [sic! gemeint ist hier offenbar die Bezeichnung ‚imbezil’, die eine geistige Behinderung bzw. mentale Retardierung oder unterdurchschnittliche kognitive Fähigkeit beschreibt. HSL] Schwester bei sich hatte. Die Pflege fand in der Zeit vom 1. Januar bis 1. April 1901 statt und der Arzt unterschrieb das Zeugnis in Friedenau (westlich neben Berlin-Tempelhof).

30


1.2 Das Buch „Dornenpfade der Barmherzigkeit“

Zeugnisses für „Schwester Henny Arendt“ vorliegt. Ebenso die Wochen im „erst vor wenigen Monaten eröffneten ‚Kreiskrankenhaus’“ („Dornenpfade“), bei dem es sich um das Kreiskrankenhaus in Groß-Lichterfelde handelt (Zeugnis Henriette Arendt). 48 Problematisch wird der Vergleich „Schwester Gerda“ – Henriette Arendt zum Ende des Buches.49 Ab März/April 1902 wirken die Aufzeichnungen „Gerdas“ abgehackt und beschreiben hauptsächlich ihren sich dramatisch verschlechternden Gesundheitszustand. Stationen in Kiew und Hirsau beziehen sich ausschließlich auf Erholungsaufenthalte und schließlich wird sogar ein Morphium-Abusus angedeutet.50 Diese Schilderungen wirken, im Vergleich zum Großteil des Buches, unglaubwürdig. Die Skepsis wird durch die Angaben im Lebenslauf Henriette Arendts bestätigt: Die Aufenthalte in Kiew und Hirsau sind hier mit pflegerischen Tätigkeiten verknüpft und ein Zeugnis aus Hirsau hebt sogar Arendts „innewohnende große Energie“ hervor.51 Hier stimmt nachgewiesenermaßen die Kunstfigur „Gerda“ nicht mit Henriette Arendt überein. Auch der Stuttgarter Hilfspflegerinnen-Verband, dem sich Arendt im Herbst des Jahres 1902 anschloss und über den sie an den Posten der Polizeiassistentin gelangte, wird in „Dornenpfade“ nicht direkt erwähnt. Den Kontakt mit dem Stuttgarter Polizeiamt schreibt sie in „Dornenpfade“ fälschlicherweise der Oberin ihres Berliner Schwesternvereins zu.52 Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Henriette Arendt 48

49 50

51 52

Vgl. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 254-282. Hier beschreibt „Schwester Gerda“ ihre Dienste (1. Dezember 1900 bis 20. Februar 1901) im „erst vor wenigen Monaten“ eröffneten Kreiskrankenhaus. In den Zeugnisabschriften des STAL findet sich ein Zeugnis aus dem Kreiskrankenhaus GroßLichterfelde vom 5. Januar 1901, welches Henriette Arendts Tätigkeit dortselbst für die Zeit vom 20. September bis 28. Dezember 1900 bescheinigt. Das Teltower Kreiskrankenhaus in Groß-Lichterfelde war erst am 26. Juni 1900 eingeweiht worden. Konkret ab S. 305. Vgl. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 315. Ein Missbrauch bzw. zumindest ein gefährlicher Konsum von „Stimulantien“, „Excitantien“ und „Narcoticis“ kann Henriette Arendt tatsächlich nachgewiesen werden, jedoch erst in der Zeit 1907/1908 als sie sich starken Anfeindungen als Polizeiassistentin ausgesetzt sah: „Außerdem liegt die Gefahr nahe, daß sie [Henriette Arendt, HSL] wieder zu Stimulantien greift, oder daß sie, wie dies tatsächlich schon der Fall ist, zu Narcoticis ihre Zuflucht nimmt, um schlafen zu können.“ Vgl. STAL: F 801, Bü. 26: Erklärung Stadtarzt Dr. Gastpar, 30. Mai 1908. S. STAL: F 801, Bü. 26: Zeugnisabschriften. Zeugnis vom 24. Januar 1903, Hirsau. Vgl. Arendt, Henriette (1909): Dornenpfade, S. 318 und STAL: F 801, Bü. 26: Lebenslauf; HähnerRombach, Sylvelyn (2008): “Out of the Frying Pan“, S. 167. Bei der von Henriette Arendt erwähnten „Stuttgarter Schwester“ („Dornenpfade“, S. 312) und deren „Verband“ scheint es sich um den Stuttgarter Hilfspflegerinnen-Verband zu handeln. Dieser wird jedoch sehr kritisiert, was womöglich auf die Konflikte zwischen Henriette Arendt und der seinerzeitigen Vorsteherin des Verbands, Paula Steinthal,

31


1. Einführung

„Dornenpfade“ erst sechs Jahre nach Ende ihrer ersten aktiven Phase in der Krankenpflege veröffentlicht und offenbar einige eigene spätere Erlebnisse eingearbeitet hat. Dies erscheint u. a. bei der Erwähnung ihres MorphiumAbusus’ und der Erwähnung der Gründung der B.O.K.D. so.53 Als Fazit der Analyse schließe ich mich der Einschätzung Geis’, „Dornenpfade“ sei weitgehend autobiographisch orientiert, an. Umfassende Beschreibungen aus „Dornenpfade“, können als authentisch belegt werden, womit davon ausgegangen werden kann, dass Henriette Arendt die Urheberin von „Dornenpfade“ war und in weiten Teilen auf eigene Tagebuchaufzeichnungen zurückgegriffen hat.54 Auch die Art und Weise der Darstellung entspricht der generellen Veröffentlichungspraxis Henriette Arendts, deren andere Publikationen sich ebenfalls auf die Wiedergabe ihrer Erfahrungen, Aktivitäten und oft persönlicher Details beziehen. Somit kann, mit gebotener Vorsicht, durchaus auf die Angaben in „Dornenpfade“ zurückgegriffen werden, wenn es um eine Lebensbeschreibung Henriette Arendts geht. Ungenauigkeiten und die Übernahme subjektiver Anschauungen werden in der vorliegenden Studie dabei bewusst in Kauf genommen. Die zum Ende des Buches hin offenbar verdrehten und/oder erfundenen Ausführungen verbieten aber, das Buch als durchweg autobiographisches Zeugnis gelten zu lassen. Der Schluss des Buches ist vielleicht der Dramatik geschuldet. Schließlich sollte „Dornenpfade“ dazu dienen, die be-

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zurückzuführen ist. Die Konflikte schwelten seit dem Frühjahr 1907 und mündeten schließlich in Henriette Arendts Kündigung aus dem Verband (s. u.). Vgl. diesbezüglich auch die Angaben zum Thema „Strafe“ im Alten Testament in „Dornenpfade“, S. 209: „Das Alte Testament reizt mich allerdings recht wenig. Dieser grausame Gott, der sogar Menschenopfer verlangt und der die Sünder heimsucht bis ins dritte, vierte Glied, sagt mir so gar nicht zu“ und ihren Ausführungen zur „Strafe“ von verwahrlosten Kindern in: Arendt, Henriette (1910): Erlebnisse, S. 20: „Oft muss ich an die arme Emma denken, […] und dann denke ich auch an das arme kleine Wesen, das jetzt vom Armenamt aus versorgt wird, an die Sünden der Eltern, die heimgesucht werden an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied.“ Zu den möglichen Entstehungsumständen dieses Tagebuchs sei darauf hingewiesen, dass die Schülerinnen des Jüdischen Schwesternvereins in Berlin zu Beginn ihrer Pflegeausbildung am Jüdischen Krankenhaus dazu angehalten wurden, ein Tagebuch zu führen, in welchem sie praktische Notizen aus ihrem Stationsalltag festhalten sollten. Vgl. Jacobsohn, Paul (1895): Die Pflegerinnenschule des jüdischen Krankenhauses, S. 338. Der Verlag (Deutsche Verlagsanstalt) kann zur Veröffentlichung keine Informationen mehr geben, da entsprechende Unterlagen durch einen Brand im 2. Weltkrieg vernichtet worden sind (Email von Frau Regine Schmitt von der Verlagsgruppe random House, 18. September 2008). Zum Thema ‚Tagebuch führen’ äußerte sich auch Agnes Karll zu Beginn ihrer Ausbildung im Jahr 1887 im Clementinenstift in Hannover. In einem Brief an ihre Mutter schrieb die damals Neunzehnjährige: „Ein Tagebuch werde ich jedenfalls nicht führen, es ist unmöglich. Bekomme ich später Lust dazu, so kann ich ja noch immer anfangen.“ S. Sticker, Anna (1977): Agnes Karll, S. 28f.

32


1.3 Forschungsstand

stehenden Verhältnisse in der Krankenpflege zu verbessern und dies sollte wohl am besten mit einer gesundheitlich, finanziell, familiär, sozial und ideell gescheiterten Heldin gelingen.

1.3 Forschungsstand Henriette Arendts Lebensgeschichte, die sich weitgehend in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches (1871-1918) abspielte, zeichnet sich durch ungewöhnliche Vielfalt aus und bietet Zugang für unterschiedliche Forschungsrichtungen. Ihr Lebenslauf ist vergleichbar mit dem anderer Sozialreformerinnen – z. B. Alice Salomon (1872-1948) oder Jenny Apolant (1874-1925) – die als sogenannte „höhere Töchter“ in den 1870er Jahren geboren wurden und sich mit dem ihnen scheinbar fest vorgegebenen Lebensweg nicht abfinden wollten.55 So vielfältig sich Henriette Arendts Leben darstellt, so vielfältig ist auch die Forschungsliteratur, die sich mit ihr befasst: Eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Henriette Arendts Tätigkeit als Polizeiassistentin erfolgte bereits im Jahr 1922 in der Dissertation von Lina Wolff, die sich mit der Frauenfürsorgetätigkeit bei der Polizeiverwaltung Stuttgarts beschäftigte.56 Diese Untersuchung blieb für lange Zeit die einzige – erst im Zuge der Frauen- und Geschlechterforschung der 1980er und 1990er Jahre wurde Henriette Arendt wiederentdeckt. Hier fand sie vor allem in den Forschungen über die bürgerliche Frauenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und speziell durch ihre spektakuläre berufliche Tätigkeit als erste Polizeiassistentin Deutschlands in Stuttgart im Kontext der Erforschung der ‚Sittlichkeitsbewegung’ Erwähnung.57

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Vgl. Schröder, Iris (2001): Arbeiten für eine bessere Welt, S. 10; Kuhlmann, Carola (2000): Alice Salomon, S. 51f. Wolff, Lina (1922/23): Frauenfürsorgetätigkeit, S. 25, S. 42ff. Nur indirekt wurde Henriette Arendt bereits in einer früheren wissenschaftlichen Arbeit erwähnt: S. Beaujon, Cornelia M. (1912): Die Mitarbeit der Frau bei der Polizei, S. 5: „Litteratur ist über diese Materie noch nicht vorhanden. [...] Einige kürzere oder längere, in Buchform oder als Zeitungsbericht herausgegebenen Jahresberichte u. s. w. einzelner Polizeibeamtinnen, und einige andern [sic!] Berichte in den Zeitungen können nicht als wissenschaftliche Litteratur betrachtet werden.“ Meyer-Renschhausen, Elisabeth (1983): Der Männerhass der Polizeimatrone, S. 43ff; MeyerRenschhausen, Elisabeth (1989): Weibliche Kultur, S. 288, 295; Peters, Dietlinde (1984): Mütterlichkeit im Kaiserreich, S. 368ff.

33


1. Einführung

In einer jüngeren Studie zur Geschichte der Frauenbewegung und Sozialreform wird Henriette Arendts Tätigkeit als Polizeiassistentin als eine der „ersten neuen sozialen Frauenberufe“ gewertet.58 Andere Untersuchungen der Frauen- und Geschlechterforschung berücksichtigen auch Henriette Arendt als Persönlichkeit, beschränken sich jedoch ebenfalls meistenteils auf ihre Tätigkeit als Polizeiassistentin.59 Des Weiteren steht sie im Mittelpunkt einer umfangreichen lokalhistorischen Stuttgarter Studie. Auch hier ist ihre Tätigkeit als Polizeiassistentin Kern des Interesses.60 Wichtige Details über Henriette Arendts Lebensgeschichte bietet eine Veröffentlichung von Doris Geis, die in den frühen 1990er Jahren offenbar aus literaturhistorischem Interesse eine Biographiearbeit über Henriette Arendt begonnen, aber nicht abgeschlossen hat.61 Gute Kurzüberblicke über Lebensdaten, Lebensleistung bzw. Veröffentlichungen finden sich in unterschiedlichen Lexika62, im Mainzer Frauenkalender aus dem Jahr 2008 und im Historischen Pflegekalender der FH Münster aus demselben Jahr. Hier steht Henriette Arendt mit Kurzvita für ihren Geburtsmonat November. Selbstverständlich wird sie auch in wissenschaftlichen Beiträgen bezogen auf die Polizeigeschichte erwähnt.63 Hervorzuheben ist hier die aktuelle und detaillierte Studie von Dirk Götting, der den Beginn der weiblichen Po58 59

60 61 62

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Schröder, Iris (2001): Arbeiten für eine bessere Welt, S. 289f. Maja Riepl-Schmidt war die Erste, die eine Studie über Henriette Arendt im Kontext der Stuttgarter Frauenemanzipation veröffentlichte. S. Riepl-Schmidt, Maja (1990): Die erste Polizeiassistentin Stuttgarts. Später auch: Riepl-Schmidt, Mascha (2007): Zwischen allen Stühlen. Allerdings sind RieplSchmidt bei der Quellenanalyse einige kleine Irrtümer unterlaufen: In „Die erste Polizeiassistentin“ gibt sie auf S. 206 an, Henriette Arendt hätte in der Zeit bis 1903 unter anderem in „Kassenheilanstalten“ gearbeitet und sei vom Roten Kreuz an „Kriegsschauplätze“ gesandt worden. In „Zwischen allen Stühlen“ schreibt sie auf S. 133 in Anlehnung an Henriette Arendts Lebenslauf (STAL: F 801, Bü. 26: Lebenslauf) ebenfalls von „Kriegsschauplätzen“, die jedoch nicht namentlich genannt würden. RieplSchmidts Angaben zu „Kassenheilanstalten“ und „Kriegsschauplätzen“ sind nicht richtig. Statt „Kassenheilanstalten“ muss es „Nervenheilanstalten“ und statt „Kriegsschauplätze“ muss es „Krankenhäuser“ heißen (vgl. STAL: F 801, Bü. 26: Lebenslauf). An „Kriegsschauplätze“ kann Arendt alleine deshalb nicht geschickt worden sein, weil das Deutsche Kaiserreich in der fraglichen Zeit nicht im Krieg stand. Zudem geben auch weitere Quellen keine Hinweise auf eine Kriegskrankenpflege Henriette Arendts zu dieser Zeit (der angesprochene Lebenslauf wurde im Jahr 1903 erstellt). Während des 1. Weltkrieges hat Henriette Arendt über das Rote Kreuz in einer Teeküche für galizische Flüchtlinge gearbeitet. Maier, Heike (1998): „Taktlos, unweiblich und preußisch“. Geis, Doris (1995): Henriette Arendt. Heuer, Renate (1982): Bibliographia Judaica. S. 9.; Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, S. 187f.; Wolff, Horst-Peter (1997): Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte, S. 4f. Nienhaus, Ursula (1992): Einsatz für die „Sittlichkeit“; Swoboda-Riecken, Susanna (2001): Berufliche Sozialisation und Rollenverständnis, S. 57ff; Sabitzer, Werner (2011): „Polizeischwester Henny“.

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1.3 Forschungsstand

lizeiarbeit im Kontext der bürgerlichen Frauenbewegung zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs untersucht, und in diesem Zusammenhang auch Henriette Arendts Verbindungen zum Abolitionismus und der Sittlichkeitsbewegung aufdeckt.64 Selbst die Pflegegeschichte hat sich bereits mit Henriette Arendt befasst. So stellte Sylvelyn Hähner-Rombach Henriette Arendts Tätigkeit als Polizeiassistentin in einer Fallstudie exemplarisch als berufliche Alternative für Krankenschwestern zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor.65 Hähner-Rombach identifiziert in ihrem Beitrag die Arbeit als Polizeiassistentin als eine Schnittstelle zwischen Krankenpflege und sozialer Arbeit, erläutert dies aber nicht weiter. Des Weiteren sind Auszüge aus „Dornenpfade“ mit quellenkritischen Erläuterungen in Birgit Panke-Kochinkes Quellenbuch abgedruckt.66 Einfache Erwähnungen Henriette Arendts und/oder ihrer Schriften finden sich in etlichen Veröffentlichungen anderer Wissenschaftsrichtungen.67 Zusammenfassend zeigt sich folgendes Bild: Es gibt keine Literatur, in der Henriette Arendts gesamte Lebensgeschichte im Zusammenhang mit ihrer individuellen Persönlichkeit berücksichtigt wird. Bei den existierenden Studien stehen weniger Henriette Arendts Lebensgeschichte oder ihre krankenpflegerische Laufbahn, sondern mehr ihre berufliche Tätigkeit als erste Polizeiassistentin Deutschlands im Zentrum des Interesses. Mit dem Beitrag Hähner-Rombachs gibt es bisher nur einen einzigen sehr komprimierten Ansatz einer pflegehistorischen Rezeption. Daher stellt sich hier zunächst einmal die Frage nach Henriette Arendts pflegehistorischem Stellenwert. Dazu können mehrere unterschiedliche Perspektiven aufgezeigt werden: Die Zeit des Deutschen Kaiserreichs stellt eine Schlüsselperiode für die Geschichte der Krankenpflege dar und bietet eine Vielzahl pflegehistorischer Anknüpfungspunkte: Die Verberuflichung der Krankenpflege ist in mehreren For-

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Götting, Dirk (2010): Das Aufbegehren der bürgerlichen Frauenbewegung. Hähner-Rombach, Sylvelyn (2008): “Out of the Frying Pan”. Zur Anstellung Henriette Arendts beim Stuttgarter Polizeiamt und zur Bedeutung des Stuttgarter Hilfspflegerinnen-Verbandes siehe auch Hähner-Rombach, Sylvelyn (2008): Quellen zur Geschichte der Krankenpflege, S. 219f. Panke-Kochinke, Birgit (2011): Die Geschichte der Krankenpflege. S. 144-153. Gesellschaftswissenschaftlich z. B. in: Leidinger, Christiane (2008): Keine Tochter aus gutem Hause, S. 252 oder: Lange, Annemarie (1967): Das wilhelminische Berlin, S. 337 oder: Sagarra, Eda (1986): Quellenbibliographie autobiographischer Schriften, S. 187. Medizinhistorisch z.B. in: Hummel, EvaCornelia (1986): Krankenpflege im Umbruch, S. 3.

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1. Einführung

schungsarbeiten bereits verschiedentlich beleuchtet worden.68 Aus pflegehistorischer Perspektive ist die bürgerliche Frauenbewegung mit ihrem Streben nach weiblicher Emanzipation und den Forderungen nach Selbständigkeit und Frauenberufstätigkeit jedoch bisher kaum direkt untersucht worden.69 Auch die Einflüsse gesellschaftlicher und/oder ökonomischer Defizite auf die Entwicklung der Pflege, wie z. B. die Problematik der Verelendung des Proletariats, ist bisher nur in wenigen Studien, und hier ebenfalls eher indirekt, erfolgt.70 Der Frage nach der Bedeutung der Krankenpflege bei der Entstehung des Berufs „soziale Arbeit“ geht bisher nur Hähner-Rombach in Bezug auf die Tuberkulosefürsorge nach.71 Aktuelle Veröffentlichungen beschreiben die Rolle bzw. Aufgaben der freien Krankenpflege in der Anfangsphase der öffentlichen Wohlfahrtspflege nur rudimentär.72 So erläutert beispielsweise Iris Schröder in ihrer Studie über Frauenbewegung und Sozialreform, das „klassische Aufgabengebiet“ der Krankenpflege sei nicht zu den „neuen sozialen Berufen“ zu zählen, es seien aber einige „Überschneidungen“ auszumachen, denen sie jedoch nicht weiter nachgeht.73 Internationale, aber vor allem auch nationale Reaktionen auf Tendenzen, die Krankenpflege mit dem Ziel der Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung auch auf den Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege auszuweiten, sind in Deutschland bisher nahezu unerforscht. Für die Zeit des Deutschen Kaiserreichs lohnt sich diesbezüglich ein Blick auf die Entwicklung des Pflegeberufs in den angloamerikanischen Ländern. Hier liefert z. B. Schweikardt Ergebnisse aus einem deutsch-britischen Vergleich.74 Daneben 68

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Schweikardt, Christoph (2008): Die Entwicklung der Krankenpflege; Helmerichs, Jutta (1992): Krankenpflege im Wandel; Hummel, Eva-Cornelia (1986): Krankenpflege im Umbruch; Kruse, Anna-Paula (1983): Die Entwicklung der Krankenpflegeausbildung. Eva-Cornelia (1986): Krankenpflege im Umbruch; Ansätze in Schweikardt, Christoph (2008): Die Entwicklung der Krankenpflege, S. 207ff; Bischoff, Claudia (1997): Frauen in der Krankenpflege; Teilweise in Sticker, Anna (1977): Agnes Karll. Eine Übersicht bieten z. B. Seidler, Eduard/Leven, Karl-Heinz (2003): Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, S. 223-228. Für die Diakonie vgl. Friedrich, Norbert (2006): Überforderte Engel; Nolte, Karen (2009): Pflege von Leib und Seele. Aus katholischer Perspektive vgl. Meiwes, Relinde (2008): Katholische Frauenkongregationen. Hähner-Rombach (2014): „Die praktische Außenarbeit“. Hier geht Hähner-Rombach auf die zu Beginn von Krankenpflegerinnen ausgeübte Tuberkulosefürsorge am Anfang des 20. Jahrhunderts ein. S. Sticker, Anna (1977): Agnes Karll, S. 145; Kerchner, Brigitte (1992): Beruf und Geschlecht, S. 170ff; Kuhlmann, Carola (2000): Alice Salomon, S. 71f, 107, 115, 146f; Schmidbaur, Marianne (2002): Vom „Lazaruskreuz“, S. 73ff, und für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg S. 111ff. Schröder, Iris (2001): Arbeiten für eine bessere Welt, S. 282. S. Schweikardt, Christoph (2008): Die Entwicklung der Krankenpflege, S. 68-89.

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1.3 Forschungsstand

gibt es nur wenige Arbeiten, die z. T. skizzenhaft die beruflichen Entwicklungen der Pflege in Deutschland und in angloamerikanischen Ländern vergleichend analysieren.75 Eine umfassende Schilderung des Lebens und Wirkens Henriette Arendts liegt, wie dargelegt, bislang nicht vor. Die Betrachtung Henriette Arendts gesamter Lebensgeschichte aus pflegegeschichtlicher Perspektive ist m. E. aus unterschiedlichen Gründen sinnvoll: Zunächst können in diesem Zusammenhang die Informationen aus „Dornenpfade“ in Bezug auf Alltag, Konflikte und Probleme der weltlichen Krankenpflege in der Zeit des vorvergangenen Jahrhundertwechsels fruchtbar gemacht werden. Weiterhin bietet Henriette Arendts Selbstwahrnehmung einen pflegehistorischen Zugang, denn sie verstand sich seit ihrer Ausbildung im Jahr 1896 als Krankenpflegerin. Zeitlebens nutzte sie den Namenszusatz „Schwester“ und trug auch während ihrer Zeit als Polizeiassistentin und Fürsorgerin als Mitglied der B.O.K.D. eine typische Schwesterntracht. Durch einen Auftritt auf dem Kongress des Weltbundes der Krankenpflegerinnen (International Council of Nurses, ICN) in Köln 1912 verdeutlichte sie ihre Nähe zur Krankenpflege, wobei sie bis dato bereits seit neun Jahren nicht mehr in der (eigentlichen) Krankenpflege tätig gewesen war. An dieser Stelle eröffnet sich über die Biographiearbeit hinaus ein weiteres Forschungsfeld, welches pflegehistorisch relevant ist. Anhand von Henriette Arendts Lebensgeschichte können exemplarisch die Verflechtungen der sich seinerzeit ausbildenden Berufe ‚Krankenpflege’ und ‚soziale Arbeit’ (auch als Soziale Hilfs- oder Fürsorgetätigkeit bezeichnet) dargestellt werden. Henriette Arendt berichtete auf dem ICN-Kongress in Köln 1912 über ihre Arbeit in der sozialen Fürsorge und erregte mit ihren Schilderungen internationales Interesse. In englischsprachigen Pflegefachzeitschriften wurde Henriette Arendts Fürsorgetätigkeit ausführlich und durchweg positiv diskutiert.76 In Amerika wurde ihre Arbeit als aktive Öffnung der freien deutschen Krankenpflege in Richtung öffentlicher Gesundheitspflege gewertet.77 Henriette Arendt ermöglicht so75

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Vgl. Falkenstein, Dorothe (2006): Zu Besuch in den britischen Zentren für Pflegegeschichte; Stollberg, Gunnar (2010): Sozialer Wandel. Zum Vergleich der Krankenpflege im Deutschen Kaiserreich und den Vereinigten Staaten s. Hähner-Rombach, Sylvelyn (2012): Probleme der Verberuflichung der Krankenpflege. Vgl. The British Journal of Nursing, Juli bis September 1912, Juni 1914; The American Journal of Nursing, Januar 1913; The Journal of the Nurses of New Zealand, Oktober 1912. Vgl. Dock, Lavinia (1912): A History of Nursing, S. 33ff.

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1. Einführung

mit als Schlüsselfigur einen Zugang zu einer Vielzahl der aufgeführten Aspekte.

1.4 Forschungsfragen Die forschungsleitenden Fragen wurden, analog zum Merkmal ‚Offenheit’ einer Einzelfallstudie78, entsprechend einfach formuliert und aufgrund der Erkenntnisse aus dem Quellenmaterial während des Forschungsprozesses mehrfach modifiziert bzw. konkretisiert. Ausgangspunkt war die von Henriette Arendt im Jahr 1909 herausgegebene Schrift „Dornenpfade der Barmherzigkeit. Aus Schwester Gerdas Tagebuch“. Hier stellte sich zunächst die Frage nach der Herausgeberin: „Wer war Henriette Arendt?“. Bei der Recherche fanden sich verschiedene Hinweise darauf, dass es sich bei Henriette Arendt und „Schwester Gerda“ weitestgehend um ein und dieselbe Person handelte. Deshalb ergab sich die Frage: „Sind die Schilderungen in „Dornenpfade“ authentisch in Bezug auf Henriette Arendts Lebenserfahrungen, d. h. können die Schilderungen in „Dornenpfade“ für eine Biographiearbeit herangezogen werden?“ Bei der Erforschung der gesamten Lebensgeschichte ergaben sich in Bezug auf Arendts berufliche Tätigkeiten Fragen wie: „Welche Bedeutung hatte/hat Henriette Arendt für die Entwicklung/Geschichte der Krankenpflege? War ihr Engagement in der sozialen Fürsorge nicht auch ‚Pflege’?“ Diese Problematiken wiesen über den konkreten Einzelfall hinaus und mündeten in weiteren Fragen: „Ist (Kranken-) Pflege in Deutschland seinerzeit nur als medizinischer Assistenzberuf gesehen worden?“, „Passte die ‚soziale Fürsorge’ in die Berufskonstruktion ‚Krankenpflege’ und die ‚Krankenpflege’ in die ‚soziale Fürsorge’?“ und „Wie berücksichtigten die Pflegeberufskonstruktionen der angloamerikanischen Länder seinerzeit den sozialen Aspekt der (Kranken-) Pflege im Vergleich zu Deutschland?“ Mit den hier vorgestellten Fragen ist das Forschungsfeld grob umrissen. Das für die Klärung der genannten Felder hinzugezogene Quellenmaterial wird in Kapitel 1.6 beschrieben. 78

S. Lamnek, Siegfried (1989): Qualitative Sozialforschung, S. 17ff.

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