Ambulant betreute Wohngemeinschaften – Tanja Sand

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Ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz haben sich in den vergangenen Jahren etabliert. Zu den wesentlichen Merkmalen dieser selbstverwalteten Wohnformen gehört die aktive Beteiligung der Angehörigen: Sie organisieren das Zusammenleben in geteilter Verantwortung mit einem Vermieter und einem ambulanten Pflege- beziehungsweise Betreuungsdienst.

Ambulant betreute Wohngemeinschaften

Ambulant betreute Wohngemeinschaften

Die Rolle der Angehörigen von Menschen mit Demenz

9 783863 212926

www.mabuse-verlag.de

ISBN 978-3-86321-292-6

Mabuse-Verlag

Tanja Sand

Die vorliegende Studie befasst sich mit Motiven und Einstellungen von Angehörigen bei der Entscheidung für eine ambulante Pflege-WG sowie mit deren Bedeutung für die Organisation von WG-Abläufen. Sie öffnet den Blick auf bislang in der Fachliteratur wie in der Praxis wenig beachtete Potenziale und daraus resultierende Perspektiven für zukünftige WG-Gründungen und gibt Impulse für Initiatoren, Projektleiter und Angehörige.

Tanja Sand

Mabuse-Verlag


Die Autorin Tanja Sand, geb. 1973, ist studierte Gerontologin und Fachjounalistin. Sie arbeitet als Projektkoordinatorin im Demenzzentrum „StattHaus Offenbach“ der Hans und Ilse Breuer-Stiftung.


Tanja Sand

Ambulant betreute Wohngemeinschaften Die Rolle der Angehรถrigen von Menschen mit Demenz

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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Inhalt Abbildungsverzeichnis 7 Tabellenverzeichnis 7 1 Einleitung 1.1 1.2 1.3 1.4

Hintergrund und Problemstellung Ziele der Arbeit Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit Grundlegende Begriffsdefinitionen

2 Forschungsergebnisse zur Situation Angehöriger von Menschen mit Demenz 2.1 2.2 2.3 2.4

Pflege- und Betreuungsaufgaben Motive und Motivation bei der Betreuung und Pflege Einflussfaktoren für den Umzug in eine Pflegeeinrichtung Alternative Wohn- und Versorgungsformen

3 Ambulant betreute Wohngemeinschaften in geteilter Verantwortung 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Begriffsbestimmung und Abgrenzungen Entstehung und Entwicklung Strukturen, Prinzipien und Konzepte Rolle und Aufgaben der Angehörigen Forschungsstand zur Beteiligung von Angehörigen

4 Aufbau und Durchführung der Befragung 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Untersuchungsgegenstand und Evaluationsziele Auswahl der Methode Zugang zu den Befragten und Interviewpartnern Kriterien zur Auswahl der befragten Personen Aufbereitung des Materials

9 9 13 14 15

21 21 22 26 27

31 31 32 34 40 42

45 45 47 48 48 49


5 Ergebnisse 51 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Soziodemografische Daten und Hintergründe Motive bei der Entscheidung für eine ambulante WG Aufgaben und Tätigkeitsfelder von Angehörigen Beurteilung der eigenen Rolle in der WG-Organisation Bewertung von WG-Strukturen und Prozessen Fazit und ableitbare Hypothesen aus den Ergebnissen

51 51 55 59 60 62

6 Schlussbetrachtung und Ausblick

69

7 Literatur- und Quellenverzeichnis

75

8 Weiterführende Literatur

81

Anhang 83 A 1 A2 A3 A4

Zusammenfassung des Inhalts (Abstract) Fragebogen Interviewleitfaden Tabellarische Auswertung einzelner Fragen im Fragebogen

83 85 89 92


Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6:

Die fünf Quellen der Motivation nach Barbuto und Scholl 18 Multiprofessionelles Netzwerk in ambulant betreuten WGs 36 Das Prinzip der geteilten Verantwortung 37 Verantwortungsdreieck einer ambulant betreuten Demenz-WG 38 Besuchshäufigkeit von Angehörigen in den untersuchten WGs 56 Anzahl der im Fragebogen angegebenen Besuche in der WG, um organisatorische Aufgaben zu übernehmen 57 Abb. 7: Aufgaben und Funktionen, die Angehörige in der WG laut Angaben im Fragebogen übernehmen 58 Abb. 8: Beurteilung der eigenen Rolle und Aufgaben innerhalb der WG-Organisation 60 Abb. 9: Angaben zur Weiterempfehlung einer ambulant betreuten WG 62 Abb. 10: Modellhafter Ansatz für einen Vermittlungstransfer beim Aufbau ambulant betreuter WGs 67

Tabellenverzeichnis Tab. 1: Gründe für die Übernahme der Betreuung eines Angehörigen Tab. 2: Informationen zu den geführten Interviews Tab. 3: Aus den Interviews erstellte Kategorien von Faktoren und ihre subsumierten Aspekte bei der Entscheidung für eine ambulant betreute WG gegenüber anderen Betreuungsformen

23 51 54



1 Einleitung 1.1 Hintergrund und Problemstellung Laut einer Mitteilung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft leben in Deutschland derzeit rund 1,5 Millionen Menschen mit einer dementiellen Veränderung (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2013, Informationsblatt Nr. 1). So es im Bereich Therapie und Prävention in absehbarer Zeit keinen Durchbruch geben sollte, wird sich die Zahl der betroffenen Personen bis zum Jahr 2050 auf etwa drei Millionen verdoppeln und es kommen im Schnitt demnach täglich 100 Menschen mit einer Demenz hinzu (ebd.). Sieben von zehn Pflegebedürftigen werden zuhause betreut, davon zwei Drittel ausschließlich von ihren Angehörigen, wie die im September 2014 veröffentlichte Pflegestudie der Techniker Krankenkasse (TK-Pflegestudie) ergab. Mit dem Fortschreiten einer Demenz kommt die Alltagsgestaltung im eigenen Zuhause jedoch zunehmend an ihre Grenze. Dies gilt ebenso für Angehörige, die sich oft viele Jahre bis an den Rand der Erschöpfung um das auf Unterstützung angewiesene Familienmitglied kümmern. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass sich aufgrund veränderter Lebensentwürfe das familiäre Pflegepotenzial verändern wird. Die Zahl der Menschen mit Demenz, die auf außerhäusliche beziehungsweise stationäre Pflege angewiesen sein werden, wird weiter ansteigen (Klie & Schumacher 2009, S. 13). Die Vorstellung, einen an Demenz erkrankten Familienangehörigen in eine stationäre Einrichtung geben zu müssen, weil eine adäquate Versorgung und Betreuung zuhause nicht mehr geleistet werden kann, stellt für viele Angehörige eine große Hürde dar und bedeutet eine zusätzliche, vor allem psychische Belastung. Diese wird insbesondere durch ein schlechtes Gewissen und das Gefühl, versagt und den hilfebedürftigen Angehörigen „abgeschoben“ zu haben, hervorgerufen. Mit dem Umzug in eine Pflegeeinrichtung fällt dann zwar einerseits die Last der Rundum-die-Uhr-Versorgung weg, andererseits auch in der Regel die Verantwortung, die Angehörige für eine lange Zeit übernommen haben. Die 9


1 Einleitung

gemeinhin bestehende Aussage, dass das langjährige Wohnen am selben Ort gerade für an Demenz Erkrankte ein hoch bedeutsames Element von psychischer und physischer Sicherheit, Vertrautheit und das Selbst stützender emotionaler Bindung bedeutet (Kruse & Wahl, 2010, S. 412), kann die Unsicherheit von Angehörigen verstärken und sie von einem Umzug in ein Pflegeheim abschrecken. Gleichzeitig weisen Kruse & Wahl darauf hin, dass in Zukunft Verbesserungen der physischen Wohnumgebung mit Elementen des biografischen Arbeitens sowie Einbeziehung und Stärkung von Angehörigen geschaffen werden müssen (ebd.). In einem Vorwort fordert Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister der CDU, die Bedürfnisse der Gesellschaft und des Einzelnen in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen, wobei die meisten Menschen bei aller Individualität auf der Suche nach Wohnraum immer danach streben, ein Gefühl von Zuhause zu finden (Frey et al., 2013, S. 13). Wo dieses Zuhausegefühl am ehesten entstehen kann, stellt sowohl eine jeweils individuell zu lösende Herausforderung, als auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar. In wissenschaftlichen Studien wurden inzwischen Faktoren für eine demenzfreundliche Lebenswelt herausgearbeitet. Dazu gehören vorrangig das Erhalten von Alltagsnormalität, ein überschaubares Umfeld, das an die eigene Häuslichkeit angelehnt ist und eine personenbezogene Pflege entlang der individuellen Bedürfnisse und Wünsche (Verbeek et al., 2011, S. 252 f.). Ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz (WGs) setzen an diesem Punkt an. Sie siedeln sich konzeptionell als Alternative zwischen der eigenen häuslichen Betreuung und der Pflege in einer stationären Einrichtung an. Die ersten spezifischen Wohn- und Betreuungsformen für Menschen mit Demenz entstanden Mitte der 1990er Jahre, die erste ambulant betreute WG wurde im Jahr 1995 in Berlin gegründet. In Deutschland, insbesondere in Berlin, hat die Anzahl ambulant betreuter WGs für Menschen mit Pflegebedarf und/oder Demenz in den vergangenen Jahren stark zugenommen (Wolf-Ostermann et. al. 2012, S. 32). Ziel war und ist bis heute, trotz der beziehungsweise mit den durch die Demenz fortschreitenden 10


1.1 Hintergrund und Problemstellung

Einschränkungen in einem privaten Wohnumfeld und in einer familiennahen Konstellation möglichst selbstbestimmt leben und eine weitestgehend gute Lebensqualität erfahren zu können. Bundesweit gab es im Jahr 2012 geschätzt etwa 1.500 ambulant betreute WGs mit 11.000 Betreuungsplätzen für Menschen mit Pflegebedarf und/oder einer Demenz (Wolf-Ostermann, 2014, S. 7). Mit einer Anzahl von insgesamt etwas über 530 stellen WGs explizit für Menschen mit Demenz den größten Anteil dar (Wolf-Ostermann, 2015, S. 12). Bei Betrachtung der Relation von Betreuungsplätzen in ambulant betreuten WGs zu denen in stationären Pflegeheimen, entfallen im Bundesdurchschnitt auf einen WG-Platz 80 Betreuungsplätze in Pflegeheimen, was heißt, dass der Anteil von Wohn- beziehungsweise Betreuungsplätzen in ambulant betreuten WGs an die 1,3 Prozent bezogen auf alle zur Verfügung stehenden Betreuungsplätze in Pflegeheimen beträgt (ebd.). Auf einen WG-Platz in Hessen kommen laut gleicher Quelle 2.010 pflegebedürftige Personen und der Anteil an Menschen mit Pflegebedarf, die in ambulant betreuten WGs leben und versorgt werden, liegt bei 0,5 Prozent. Dies bedeutet, dass – würde eine Versorgung in ambulant betreuten WGs beispielsweise nur auf ein Prozent aller Menschen mit Pflegebedarf angestrebt werden – doppelt so viele ambulante Wohngruppen zur Verfügung stehen müssten. Um zehn Prozent aller Menschen mit Pflegebedarf in einer ambulant betreuten WG zu versorgen, müssten circa 30.000 WGs mit durchschnittlich acht Betreuungsplätzen entstehen. Pflege-WGs genießen weithin eine hohe Akzeptanz in der Gesellschaft und in Anbetracht der Diskussionen um die oftmals prekäre und aufgrund von Personalmangel und profitgeleiteten Strukturen als menschenunwürdig empfundene Versorgung in Pflegeheimen ein überwiegend gutes Image. Ein weiterer Faktor sind finanzielle Anreize und Förderungen seitens der Gesetzgeber, so dass ein weiteres Ansteigen von WGs zu erwarten ist (Wolf-Ostermann, 2014, S. 7). Im Gegensatz zur „totalen Institution“ Pflegeheim haben Pflege-WGs, die tatsächlich als selbstverwaltete ambulant betreute WGs und nicht als trägergesteuertes Konstrukt fungieren, zwar formale Elemente wie Vereinbarungen über 11


1 Einleitung

Regeln des Zusammenlebens und der Organisation der WG, jedoch sind größere individuelle Spielräume der beteiligten Parteien erlaubt. So gelten beispielsweise die Räumlichkeiten einer WG als Privaträume mit gewöhnlichen Mietverträgen. Hinsichtlich der Begleitung der Betroffenen sind WGs bestrebt, die Bewohner gemäß ihren noch vorhandenen Fähigkeiten in die Alltagshandlungen und -aktivitäten einzubinden und diese zu fördern. Ambulant betreute WGs agieren in Form eines Netzwerks, in dem verschiedene, oftmals unabhängig voneinander agierende Akteursgruppen unterschiedliche Unterstützungsmaßnahmen und Aufgaben übernehmen, die für eine erfolgreiche Betreuung notwendig sind (ebd., S. 33 und 35). Konzeptionell gehört die Beteiligung und Mitarbeit der Angehörigen zu den wesentlichen Merkmalen von ambulant betreuten WGs. Die Angehörigen stellen sogar maßgeblich die Garanten für die Ausübung der Selbstbestimmung dar (Schwendner, 2014, S. 62), was insbesondere dann gilt, wenn ein an Demenz erkrankter WG-Bewohner keine eigenen Entscheidungen mehr treffen kann. Als Vertreter und Fürsprecher der Bewohner können Angehörige Einfluss auf die Art und Weise der Versorgung und damit auf deren Qualität nehmen (Wolf-Ostermann & Gräske, 2006, S. 34). Doch wie sieht die Realität in ambulant betreuten WGs hinsichtlich der aktiven Mitgestaltung tatsächlich aus? Empirische Daten über die systematische und verbindliche Integration von Angehörigen in die organisatorischen, pflegerischen oder betreuungstechnischen Prozesse sind rar. Den wenigen Untersuchungen zufolge kann davon ausgegangen werden, dass in etwa 50 Prozent der ambulanten WGs Angehörige regelmäßig mitwirken und in einem weiteren Drittel wenigstens gelegentlich (Schwendner, 2014, S. 64). Während es anfangs darum ging, Demenz-WGs als Modell für eine alternative Wohn- und Betreuungsform zu etablieren, wird seit einigen Jahren die Beteiligung der Angehörigen in den Blick genommen und untersucht. Bislang gibt es jedoch nur sehr wenige Publikationen, die sich wissenschaftlich mit diesem Aspekt und den Folgerungen befassen. Die wenigen vorhandenen Erhebungen zeigen, dass (dauerhaft) ledig12


1.2 Ziele der Arbeit

lich ein geringer Teil der Angehörigen zu einer Mitarbeit verbindlich verpflichtet wird und auch in der Praxis die erwünschte und im Konzept verankerte Mitarbeit von Angehörigen oftmals nicht erbracht wird. Die Alzheimer-Gesellschaft Brandenburg e. V. zitiert Untersuchungen, die von lediglich 20 Prozent der WGs ausgehen, in denen Leistungen von Angehörigen systematisch in der Leistungsplanung berücksichtigt werden. Hier zeigen sich unterschiedliche Ergebnisse und Interpretationen. Was fehlt, sind zudem Erkenntnisse darüber, wie Angehörige besser unterstützt werden können, damit sie ihre Rolle innerhalb des Verantwortungsverbunds besser ausfüllen können (Schwendner, 2014, S. 66).

1.2 Ziele der Arbeit 20 Jahre nach Gründung der ersten ambulant betreuten Wohngruppe für Menschen mit Demenz in Deutschland möchte die vorliegende Arbeit bisherige Ergebnisse hinsichtlich der Mitwirkung von Angehörigen in selbstverwalteten WGs überprüfen. Hierzu wurden aufgrund der geografischen Nähe und damit einhergehenden besseren Zugangsmöglichkeiten ausschließlich WGs in Hessen herangezogen. Vor zehn Jahren entstand hier die erste WG, eine aktuelle offizielle Zahl, wie viele WGs inzwischen in Hessen bestehen, konnte weder durch Recherchen noch auf Anfrage beim Hessischen Amt für Versorgung und Soziales beziehungsweise bei der hessischen Betreuungs- und Pflegeaufsicht herausgefunden werden. Grund sind die unterschiedlichen Zuständigkeiten der Ämter bezüglich Meldepflichten. Experten gehen von einer Zahl nicht über 15 ambulant betreuter Demenz-WGs in Hessen aus. In die Arbeit flossen Untersuchungsergebnisse aus insgesamt sechs WGs ein. Darunter befinden sich die älteste hessische WG (Wohngemeinschaft Bachgasse in Darmstadt Arheilgen) und die jüngste WG im „StattHaus Offenbach“, die im November 2014 an den Start ging. Für die vorliegende Arbeit sollten das Verständnis und das Bewusstsein für die Rolle als Gestalter eines Pflege- und Betreuungsarrangements in selbstverwalteten WGs beleuchtet werden. Dazu wurden Motive und motivationale Faktoren beim Aufbau und bei der Organisation einer 13


1 Einleitung

WG herausgearbeitet und daraus ableitend Einstellungen, das Rollenverständnis und ein erster Überblick für die in WGs agierenden Persönlichkeitstypen gegeben. Potenziale, die sich aufgrund der (erworbenen) Handlungskompetenzen der Angehörigen ergeben, sollten aufgedeckt und Perspektiven für den Aufbau weiterer WGs entwickelt werden. Letztlich ging es darum, die Ergebnisse der durchgeführten Befragung und daraus gewonnene Erkenntnisse zu nutzen, um künftigen WGAkteuren (Projektleiter, Initiatoren wie zum Beispiel Pflegedienste, Stiftungen, Wohnungsbaugesellschaften, Angehörige, Moderatoren, freiwillige Helfer, weitere Beteiligte) Anregungen zu geben, wie WGs nicht nur hinsichtlich ihres Images in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern auch innerhalb der Verantwortungsgemeinschaft zu einem nachhaltigen und tragfähigen Erfolgsmodell werden können. Wissend, dass aufgrund der Komplexität und den Zugängen zu Angehörigen („engagierte“ Angehörige sind eher bereit, ein Interview zu geben) diese Arbeit ihre Grenzen hat, war dennoch ein Ziel, Aspekte, die bislang nicht in Betracht gezogen wurden, in Erscheinung treten zu lassen und ein neues Bewusstsein für die Rolle von Angehörigen in der Versorgung zu fördern.

1.3 Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit Zunächst werden die hier nötigen grundlegenden Begriffe Rolle, Motiv und Motivation erläutert, danach die allgemeine Situation pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz betrachtet. Neben den zu leistenden Betreuungs- und Pflegeaufgaben wurden ausgewählte Forschungsergebnisse zusammengetragen, die Erkenntnisse zu Motiven und zur Motivation von Angehörigen hinsichtlich der Übernahme dieser Betreuungsaufgaben liefern. Die Erkenntnisse geben zugleich einen ersten Einblick in grundlegende persönliche Haltungen und Situationen, die Angehörige in WGs aufweisen. Wie sich beim Verfassen der Arbeit herausgestellt hat, geht der Entscheidung, einen Angehörigen mit Demenz aus dem eigenen häuslichen Umfeld in eine betreute Einrichtung umziehen zu lassen, ein oft jahre14


1.4 Grundlegende Begriffsdefinitionen

langer Prozess voraus. Dieser wird bestimmt durch eine immer intensiver werdende Organisations- und Betreuungsarbeit gepaart mit immer geringer werdenden eigenen Ressourcen zur Aufrechterhaltung des eigenen Alltags. Daher war für die Verfasserin von Interesse, bisherige empirische Erhebungen über die Situation von pflegenden Angehörigen zu sichten und diese den Ausführungen zu WGs im Allgemeinen und der eigenen Untersuchung voranzustellen. Die Erkenntnisse dienen zum einen der Übersicht über spezifische Herausforderungen, denen Angehörige von dementiell veränderten Personen gegenüberstehen, zum anderen der Einordnung von Motiven, warum Angehörige diese Aufgabe(n) übernehmen und welche Konsequenzen sich später für die Beteiligung an Aufbau und Organisation selbstverwalteter WGs ergeben. Danach werden spezifische Wohn- und Versorgungsformen für Menschen mit Demenz vorgestellt und die wichtigsten Grundlagen ambulant betreuter WGs erläutert. Der anschließende Praxisteil befasst sich mit der Beantwortung verschiedener Fragestellungen zu Motiven und motivationalen Aspekten bei der Entscheidung für eine ambulant betreute WG, zum eigenen Rollen- und Handlungsverständnis sowie zur aktiven Beteiligung der Angehörigen. Dazu wurden Angehörige in sechs ambulant betreuten WGs in Hessen befragt. Im daraus gezogenen Fazit werden die Ergebnisse der Untersuchung dargestellt, interpretiert und in der Schlussbetrachtung Perspektiven für zukünftige WG-Gründungen beschrieben.

1.4 Grundlegende Begriffsdefinitionen Um die der Arbeit zugrundeliegenden Hintergründe zu verstehen, werden an dieser Stelle die Begriffe Rolle, Motiv und Motivation kurz erläutert. Für alle Begriffe gibt es verschiedene Definitionen und unterschiedlich ausdifferenzierte Deutungsansätze. Ziel ist ein grundsätzliches Verständnis und ein Bewusstsein für diese in jedem Menschen in unterschiedlicher Art und Ausprägung vorhandenen psychologischen Merkmale und Ausdrucksformen zu vermitteln. In der (Zusammen-)Arbeit mit Angehörigen – aber nicht nur mit ihnen – kann die Kenntnis über 15


1 Einleitung

das Vorhandensein unterschiedlicher Motive und entsprechender Handlungsweisen oder auch Unterlassungen dazu dienen, die richtigen motivationalen Anreize (so genannte „Trigger“) einzusetzen beziehungsweise die für eine Situation gegebenenfalls passenderen Schritte einzuleiten.

Motiv Motive sind zeitlich überdauernde psychische Eigenschaften von Personen, die im Zug der Sozialisation erworben werden und ein verhältnismäßig stabiles System bilden (Gabler Wirtschaftslexikon online). Bei einem Motiv geht es zudem immer um tief verankerte menschliche Bedürfnisse, die durch einen Auslöser zu einer Handlung werden. Verwandte Begriffe und Konzepte zu Motiv sind Instinkt, Trieb, Bedürfnis oder Interesse (ebd.). Eine andere Erklärung bietet die Internetseite über Allgemeine und Theoretische Psychologie der Universität Heidelberg, die einen weiteren Aspekt einbezieht: Motive verleihen Erlebnissen, Verhaltensweisen und Objekten eine bestimmte Wertigkeit. Motive sind somit eine Disposition (Veranlagung), nach einem bestimmten, individuell definierten beziehungsweise in der Persönlichkeit verankerten wertgeladenen Zielzustand zu streben. Mit einem Motiv wird auch eine überdauernde Handlungsbereitschaft bei einer bestimmten Person beschrieben oder wie es das Unternehmen motivation analytics – Institut für Motivationspotenziale beschreibt: Ein Motiv kann als Ressource angesehen werden, also als die Energiequelle, auf die zur Realisierung einer motivationsgesteuerten Handlung zurückgegriffen wird. In der Basisliteratur zu den Themen Motiv und Motivation werden oft die sogenannten „Big Three“ der Grundbedürfnisse nach David McClelland genannt: Leistung – Personen, die sich durch ein hohes Leistungsmotiv auszeichnen, lassen sich mit einer Bindung an ein Ziel oder Teilziele sowie durch Freude und Interesse, Neugier und Abwechslung positiv ansprechen. Zu unterscheiden sind hierbei intrinsisch und 16


1.4 Grundlegende Begriffsdefinitionen

extrinsisch motivierte Handlungen. Intrinsisch motivierte Personen erhöhen ihre Leistung nach Rückmeldung, extrinsisch Motivierte erhöhen ihre Leistung durch sozialen Vergleich. Macht – Menschen, die ein hohes Machtmotiv besitzen, sprechen besonders gut auf die Themen Autonomie, Selbstbestimmung und Wahrnehmung der eigenen Kompetenz mit einem positiven Feedback an. Sie möchten Einfluss nehmen und bei Entscheidungen mitreden. Sie streben nach Bedeutung und Wirksamkeit ihres eigenen Tuns. Anschluss/Zugehörigkeit – Menschen mit dieser Wertedisposition haben ein großes Bedürfnis nach sozialer Einbindung und damit einhergehender Sicherheit und Geborgenheit. Sie lassen sich durch die gemeinsame Arbeit in einer Gruppe animieren und möchten einen Beitrag leisten (mindtools). Motive sind nicht direkt beobachtbar, sondern nur durch Beobachtung bestimmter Verhaltensweisen erschließbar. Erst danach können Voraussagen über zukünftiges Verhalten gemacht werden (Allgemeine und Theoretische Psychologie Universität Heidelberg). Eine weitere Frage ist daher die der Motivanregung: Wann wird ein Motiv „aktiv“? Wann wird die Handlungsbereitschaft tatsächlich umgesetzt? Wann wird ein Motiv zur konkreten Motivation? (ebd.)

Motivation Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist Motivation eine Emotion und ein Zustand, der sowohl psychisch als auch körperlich wahrgenommen wird. Motivation kann ausgelöst werden, indem Menschen etwas aus sich heraus (intrinsisch motiviert) oder angeregt von außen (extrinsisch motiviert) tun. Motivation entsteht also, wenn bestimmte Motive angesprochen werden (motivation analytics – Institut für Motivationspotenziale). Anders ausgedrückt ist Motivation ein Prozess, der durch die Anregung eines Motivs ausgelöst wird. Es handelt sich um eine bestimmte Handlung mit dem Ziel, einen bestimmten Zustand zu einem bestimm17


1 Einleitung

ten Zeitpunkt zu erreichen. Heckhausen schreibt von motivationalen Einflüssen, die in der Person selbst liegen. Dazu gehört unter anderem ein dem Menschen eigenes Streben nach Wirksamkeit und damit nach primärer Kontrolle, was wiederum von Aktivität geprägt ist (Heckhausen & Heckhausen, 2010, S.3). Eine aktuell vorhandene Motivation, mit der eine Person ein bestimmtes Ziel anstrebt, wird von personbezogenen und von situationsbezogenen Einflüssen geprägt, wozu auch die vorhersagbaren Handlungsergebnisse und deren Folgen gehören. Um noch einmal zu verdeutlichen, aus welchen Teilaspekten sich Motivation zusammensetzt und um die späteren Ausführungen einordnen zu können, zeigt ein Schaubild die so genannten fünf Quellen der Motivation (Abbildung 1).

Intrinsisch

Die 5 Quellen der Motivation

Extrinsisch

Intrinsische Prozessmotivation

„Das macht mir Spaß“

Internes Selbstverständnis

„Interne subjektive Ideale und Werte“

Instrumentelle Motivation

„Mittel zum Zweck, Zwischenziel

Externes Selbstverständnis

„Anforderungen des Umfelds oder Teams“

Internalisierung von Zielen

„Beitrag zum gemeinsamen Ziel“

Abb. 1: Die fünf Quellen der Motivation nach Barbuto und Scholl (Quelle: Inst. für Management-Innovation)

Rolle Der Begriff Rolle beziehungsweise Soziale Rolle stammt aus der Soziologie und Sozialpsychologie und wird heute auch im Bereich des Projektmanagements und in der Organisationsentwicklung angewendet. 18


1.4 Grundlegende Begriffsdefinitionen

Mit einer Rolle werden bestimmte Verhaltensweisen und Erwartungen in Verbindung gebracht. Die Begriffsbestimmung umfasst somit Einstellungen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, die jedem Inhaber eines sozialen Status von der Gesellschaft zugeschrieben werden (Lexikon online für Psychologie und Pädagogik). Entscheidend ist dabei die Identifizierung sozialer Rollen mit einem ganz bestimmten Interaktionsverhalten. Dieses berücksichtigt bestimmte Rechte und Pflichten des so genannten Rolleninhabers, die mit einem sozialen Status verknüpft sind. Hinzu kommen in der Psychologie vor allem auch Erwartungen, die man an die Trägerin beziehungsweise den Träger einer bestimmten Rolle knüpft (ebd.). Laut Ausführungen auf dem Internetportal des Projektmagazins wird Rolle auch als eine „temporäre Funktion einer Person oder Organisationseinheit innerhalb der Projektorganisation“ bezeichnet (Projektmagazin – Das Fachportal für Projektmanagement). Demnach wird eine Rolle beschrieben durch Aufgaben, Befugnisse und Verantwortungen. Es kann vorkommen, dass mehrere Personen eine Rolle wahrnehmen und übernehmen. Ebenso kann eine einzige Person mehrere Rollen haben. In der Soziologie bezeichnet Rolle die Art der Interaktion eines Individuums innerhalb eines sozialen Systems oder einer Gruppe. Verantwortlichkeiten einer bestimmten Rolle beziehungsweise Person ergeben sich aus ihren Aufgaben und ihrer Einordnung in die (Projekt-) Organisation. Um eine Rolle und damit verbundene Verantwortlichkeiten erfüllen zu können, muss die jeweilige Person mit Fähigkeiten und Befugnissen ausgestattet sein. Diese sind notwendig, um die jeweilige/n Aufgabe/n durchzuführen. Es braucht somit ein Verständnis für die eigene und die Rolle anderer Personen in einem System oder in einer Organisation (ebd.). Das Rollenverständnis setzt sich wiederum aus den sozialen Prägungen, aus den bereits dadurch und im Laufe des Lebens erworbenen Werten, Normen, Haltungen und Einstellungen sowie aus konkreten Aufgaben und deren Ausführung zusammen. 19


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