Paula und die Zauberschuhe

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de. Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen N ­ euigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de. © 2017 Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Straße 1a 60486 Frankfurt am Main Tel.: 069-70 79 96-13 Fax: 069-70 41 52 verlag@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de www.facebook.com/mabuseverlag Illustrationen: Carolina Moreno Gestaltung: ffj Büro für Typografie und Gestaltung, Frankfurt am Main / Philip Holderied / Dorothea Schubert Text und Konzeption: Alexandra Haag Druck: Beltz Bad Langensalza GmbH ISBN: 978-3-86321-317-6 Alle Rechte vorbehalten

Alexandra Haag ist Physiotherapeutin, Fach­ lehrerin Sonderpädagogik für körperliche und ­motorische Entwicklung und Medizinstudentin. Vor und während ihres Medizinstudiums hat sie Kinder mit B ­ ehinderungen auf Freizeiten begleitet, bei Krankenhausaufenthalten behandelt und an Sonder- und Regelschulen unterrichtet.

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Carolina Moreno, geboren in Rosario/Argentinien, ist studierte Graphik- und Modedesignerin. Zur Zeit unterrichtet sie das Fach Kunst an einer Grundschule in Freiburg. Sie liebt Fotografie, ­Kalligraphie und Drucktechniken. Sie lebt mit ihrem Partner, beiden Töchtern und ihrer Hündin Lola in Freiburg.

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erschuhe u nd die

Ein Bilderbuch Ăźber ein Kind mit einer kĂśrperlichen Behinderung

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main

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Die Projekt-Idee Die Idee zu diesem Buch kam mir, weil ich so ein Buch gesucht und nicht gefunden habe. Es gibt Bücher, die Kinder erklären, warum ihre Haare ausfallen, wenn sie eine Chemotherapie erhalten, oder wie Kinder mit ihren Familien im Iglu in der Arktis leben. Aber es gibt keine Bücher über Kinder mit einer Zerebralparese, dabei wird die Wahrscheinlichkeit immer höher, auf ein solches Kind zu treffen. In Deutschland leben derzeit etwa 50.000 Kinder mit einer spastischen Lähmung in Folge einer Zerebral­parese. Seit April 2009 wird die Behindertenrechtskonvention der UN im deutschen Gesetz Schritt für Schritt umgesetzt. Dadurch haben alle Kinder das Recht inklusiv beschult zu werden. Damit das Miteinander gelingt, braucht es eine lebensnahe Aufklärung bei Kindern und Erwachsenen. „Paula und die Zauber­schuhe“ beschreibt den Alltag von Paula, einem Vorschulkind mit einer spastischen Körper­behinderung. Wir möchten mit der kurzen Erzählung einen Beitrag zur Inklusion leisten, indem sie einen Einblick in die Welt eines Kindes mit Körperbehinderung gibt und kindlich-kreative Erklärungsmodelle aufnimmt. In dem Buch erzählt Paula von ihrer Familie und ihren Freund*innen im Kinder­garten. Sie erklärt ihre Spastik und setzt sich mit medizinischen Therapien auseinander. Paula zeigt dabei ihre Gefühle wie Freude, Angst und Wut, weiß aber auch, was sie will, und zeigt, was sie kann. Hinter der Idee steckt ein großes Team: Wir, das sind Kinder mit und ohne Zerebralparese, Eltern, Freund*innen, Therapeut*innen, Psycholog*innen, Pädagog*innen, Student*innen der Medizin und der sozialen Arbeit und Menschen, die wir um ihre Meinung und Ideen und Vorstellungen gefragt haben. Ich habe unsere Erlebnisse, Aussagen und Erfahrungen für, mit und von den Kindern gesammelt und daraus eine Geschichte geschrieben. Wir möchten die Anerkennung der Vielfalt unterstützen und hoffen, dieses Buch möglichst vielen Kindern, Eltern, Freunden und Mitmenschen, aber auch Pädagog*innen zugänglich zu machen. Wir freuen uns über Rückmeldung, Anregung und Kritik unter paula@neurokinder-freiburg.de

Der Förderverein für Neurokinder der Uniklinik Freiburg e. V. ist aus einer Elterninitiative im Dezember 2005 entstanden. Sein Ziel ist, den Alltag von Babys, Kinder und Jugendlichen, die mit Hirn-, Muskeloder Nervenerkrankungen leben, und ihren Angehörigen zu erleichtern. Unterstützt wird der Verein durch viele Hände und kreativen Ideen. Besuchen Sie uns doch auf unserer Webseite: www.neurokinder-freiburg.de

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Zum Umgang mit dem Buch Das Buch ist sowohl als Bilderbuch zum Anschauen und Vorlesen als auch zum Selberlesen für ältere Kinder ab dem achten Lebensjahr konzipiert. Für jüngere Kinder oder für Kinder mit einer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne ist das gemeinsame Anschauen der Bilder interessanter als das ausschließliche Zuhören. Durch das gemeinsame Entdecken und Beschreiben der Bilder können Sie sich zusammen mit dem Kind die Geschichte von Paula oder eine eigene Geschichte erzählen. Sie können die erste Seite, in der Paula kurz vorgestellt wird, vorlesen oder gemeinsam lesen. Hier ist die Schrift größer. Danach können Sie gemeinsam mit den Kindern – anhand der Bilder – entdecken, was Paula erlebt. Die Fragen Ihres Kindes können Sie aus dem Text beantworten oder als Anregung nutzen, um ihm Raum zu geben, seine eigene Sicht zu entwickeln. Die Kapitel, in denen es um den Alltag Paulas und ihrer Familie geht und es sich um das Miteinander dreht, sind mit einem kleinen Schmetterling gekennzeichnet. Die Kapitel mit einer kleinen Orthese geben Einblick in die Therapien. Sie erklären den Ablauf in einer Bewegnungsambulanz und den Hintergrund von Paulas Spastik.

Das Buch kann mit und ohne medizinische Kapitel gelesen werden. Beide erzählen die Geschichte von Paula. Über das gemeinsame Lesen können Eltern oder weitere Bezugspersonen mit den Kindern über das Sosein und die Behinderung ins Gespräch kommen. Die Erzählperspektive von Paula, einem Kind mit einer Zerebralparese, kann Kinder dabei unterstützen, ihre Behinderung zu erklären. Sie werden staunen, welche Stärke das ausstrahlen kann. Das steckt an: Kinder mit anderen Besonderheiten, zum Beispiel mit Sprachfehlern, Diabetes, einen markanten Leberfleck im Gesicht, könnten sich wahrscheinlich indirekt angesprochen fühlen. Das Sosein ist bunt. Das Buch richtet sich an Kinder unabhängig von Behinderung. Gemeinsam mit Paula trauen wir uns zu, Vorurteilen vorzubeugen und Unsicherheiten abzubauen.

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Das bin ich

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allo, ich bin Paula. Ich bin schon fast sechs Jahre alt und komme

nächstes Jahr in die Schule.

Das ist Lola, mein Schaf und Compagnon. Lola war schon immer da. Meine Mama sagt, als ich geboren bin, war Lola größer als ich. Aber jetzt habe ich sie schon längst eingeholt. Meine Lieblingsfarbe ist pink. Am allerliebsten esse ich Schokolade und Eis. Ich bin gerne im Wasser, aber am schönsten finde ich reiten. Meine Lieblingstiere sind Pferde. Deswegen freue ich mich immer sehr auf meine Reitstunden. Dienstags reite ich immer auf einem echten Pferd.

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ch male gerne auf Wände. Meine Mama findet das gar nicht toll. Gar nicht toll

finde ich Haarekämmen, deshalb habe ich immer eine rot-pink-farbene Mütze auf.

Manche Ärzte meinen, dass ich eine gute und eine schlechte Seite habe. Sie sagen, die rechte Hand kann das und das nicht, und sie sagen, die linke kann dies und jenes gut. Vielleicht ist es auch andersherum, aber das ist mir egal, weil ich links und rechts sowieso noch nicht unterscheiden kann. Ich finde beide Seiten gut. Vielleicht kann ich mit der einen Hand besser malen, dafür kann die andere das Blatt festhalten. Zusammen sind meine Hände echt prima. Am meisten kümmern sich die Ärzte allerdings um meine Beine, denn beim Laufen kann ich mit den Fersen nicht den Boden erreichen. Dabei stimmt das gar nicht. Wenn ich mich ganz doll anstrenge und daran denke, dann gelingt es mir doch manchmal.

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Paula in der Physiotherapie

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it Manuela turne ich immer. Sie ist meine Physiotherapeutin. Zweimal in der Woche gehe ich mit meiner

Mama zu ihr. Weil ich schon fast sechs Jahre alt bin, kann ich mit Manuela alleine turnen. Mama wartet draußen auf mich. In der

Zwischenzeit geht sie einkaufen, liest ein spannendes Buch oder spielt mit Pavo Fußball. Manchmal habe ich keine Lust zu turnen, weil ich lieber mit meinen Freundinnen spielen möchte. Dann komme ich mit schlechter Laune zu Manuela. Aber meistens steigt meine Laune beim Turnen wieder. Bei Manuela wohnt auch Mathilda, der nimmersatte, murmelfressende Drache. Sie versteckt sich schon seit vielen Jahren hinter der Sprossenwand. Manuela und ich spielen oft Mathildafüttern. Mathilda ist eine Feinschmeckerin und hat ganz besondere Vorlieben. Deswegen suche ich die leckersten Zutaten und nehme dafür weite Wege auf mich. Ich steige über Stufen und Hindernisse, überquere wackelige Matten, klettere durch Tunnel, recke und strecke mich. Das sind Übungen, die für mich nicht immer einfach sind. Manuela hilft mir, dass ich mit meinen Füßen sicher auf dem Boden stehe und nicht falle. Sie ist froh, dass die Kinder, die zu ihr kommen, Mathilda gerne füttern. Ich suche das Essen für Mathilda, und Manuela führt mit ihren Händen meine Füße. Dadurch spüre ich meine Füße besser. Wenn ich viel Zeit habe, koche ich für Mathilda eine leckere Murmelsuppe.

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Paula und ihre Orthesen

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urz nach meinem dritten Geburtstag habe ich Orthesen von dem Orthopädietechniker Olli bekommen. Olli baut

Orthesen und Schienen und vieles mehr. Orthesen haben nichts mit den Ohren zu tun, hat Mama mir erklärt.

Die Orthesen sind für meine Füße da. Orthesen finde ich doof. Sie stören mich, wenn ich krabble. In meine Lieblingsschuhe passe ich auch nicht mit ihnen. Nicht einmal alleine anziehen kann ich sie. Am Anfang hatte ich von den Orthesen auch rote Stellen, die mir ganz schön wehgetan haben. Dann hat der Orthopädietechniker sie bearbeitet und jetzt passen sie besser. Ich durfte mir auch eine Farbe aussuchen, natürlich pink. Ich finde sie aber immer noch doof. Schließlich haben mein Bruder und mein Papa auch keine Orthesen. Jeden Morgen überlege ich, wie schön es wäre, wenn die Orthesen einfach zu Hause bleiben könnten, wenn ich in den Kindergarten gehe. Ich erfinde immer neue Geschichten, um sie im Kindergarten nicht tragen zu müssen. Einmal habe ich erzählt, dass die Orthesen noch schlafen müssten und keine Lust mehr auf meine Stinkefüße hätten. Meine Mama bleibt jedoch dabei: Jeden Morgen werden mir die Orthesen angezogen.

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Paula hat eine Spastik

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ch habe eine Spastik, hat mir die Ärztin erklärt. Also wohnt in manchen meiner Muskeln eine Spastik, so habe

ich das verstanden. Die Muskeln sind am Knochen befestigt; man kann sie von außen gar nicht sehen, weil sie unter der

Haut versteckt sind. In den Muskeln meiner Waden wohnt zum Beispiel eine Spastik. Die Muskeln, die eine Spastik haben, ziehen sich viel lieber zusammen, als dass sie locker lassen. Deswegen kann ich meine Fersen nicht so einfach auf den Boden setzen, weil die Spastik meine Ferse immer vom Boden hochzieht. Und deswegen habe ich Orthesen und mein Bruder nicht. Einfach so, und ich kann überhaupt nichts dafür. Ich habe gar nichts falsch gemacht. Auch meine Eltern haben nichts falsch gemacht. Warum die Spastik in manchen meiner Muskeln wohnt, weiß niemand. Die Mama hat mir erzählt, dass ich zu früh auf die Welt gekommen bin. Neun Tafeln Schokolade schwer war ich und über 100 Tafeln süß. Und mein Bruder genauso. Die Ärztin erzählt mir, dass ich in meinem Kopf eine kleine Blutung hatte. Genauer gesagt: in meinem Gehirn. Das ist schon ganz lange her. Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber zurück ist eine kleine Narbe geblieben. Genau so wie die auf meinem Knie. Die kleine Narbe in meinem Gehirn kann man von außen nicht sehen. Das Gehirn und die Muskeln unterhalten sich. Das Gehirn ist der Bestimmer und erteilt den Muskeln Befehle. Daraufhin kann sich der Muskel anspannen oder entspannen. Die kleine Narbe stört dabei.

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Wie das Gehirn und die Muskeln sich genau unterhalten und warum die kleine Narbe sie stört, das würden die Ärzte auch gerne besser verstehen. Ich kann es mir aber ganz gut vorstellen: Bestimmt spricht das Gehirn mit den Muskeln wie Pavo und ich mit dem Dosen-Schnur-Flüster-Telefon. Das Gehirn hat natürlich viele Dosen-Schnur-Füster-Telefone, um mit Händen, Beinen, Füßen und Armen gleichzeitig zu telefonieren. Erst haben wir Knochen und Muskeln an unserem Körper gesucht und dann haben mein Papa, mein Bruder und ich das so gemalt: Gehirn

Dosen-SchnurFlüster-Telefon

Muskeln

Knochen

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Hintergrundinformationen Paula hat eine Zerebralparese. Im deutschem Sprachgebrauch wird auch gelegentlich der Begriff ­„Früh­kindliche Hirnschädigung“ verwendet. In der medizinischen Fachsprache wird von einer infantilen ­Cerebralparese oder frühkindlichen Zerebralparese gesprochen. Dieser Begriff beschreibt eine Schädigung des Gehirns, die vor oder um den Zeitraum der Geburt und bis einschließlich vier Wochen nach ­ der Geburt stattgefunden hat. Jedoch ist der genaue Zeitraum der ursächlichen Schädigung des Gehirns sehr umstritten und viele Experten lassen auch andere Zeiträume gelten. Die Schädigung passiert zu einem Zeitpunkt, in dem das Gehirn des Kindes sich in einem frühkindlichen Reifungsprozess befindet. Die Z­ erebralparese ist die häufigste ausgeprägte körperliche Behinderung im frühen Kindesalter. Zwei bis drei Kinder von 1000 Lebendgeburten sind betroffen. Dabei steigt die Rate von Kindern, die deutlich zu früh oder mit einem sehr niedrigen Geburtsgewicht geboren werden auf 40 bis 100 von 1000 Lebend­geburten an (www.scpenetwork.eu) . Die Zerebralparese ist ein Sammelbegriff für Folgen einer Schädigung des Gehirns, bei der fast immer Bereiche des Gehirns betroffen sind, die für die Bewegungssteuerung des Körpers zuständig sind. ­Zusätzlich können weitere Merkmale einer Gehirnfunktionsstörung auftreten, die das Hören, das Sehen, die I­ ntelligenz, die Fähigkeit zur Kommunikation und der Nahrungsaufnahme betreffen kann. Kinder mit einer Zerebralparese entwickeln häufiger ein Anfallsleiden. Was sind die Ursachen einer Zerebralparese? · Sauerstoffmangel vor, während und unmittelbar nach der Geburt · Frühgeburt und den damit verbundenen höheren Risiken für eine Schädigung des Gehirns · Durchblutungsstörungen und Blutungen im Gehirn · Entzündungen im Gehirn und der Hirnhäute · Fehlbildung im Gehirn und genetische Ursachen · Gehirntumore · Schädel-Hirn-Trauma · Alkohol, Medikamente, Drogen während der Schwangerschaft ·… Wahrscheinlich werden bei jeder Geburt Nervenzellen geschädigt. Ob wir die Schädigung des Gehirns wahrnehmen und ob daraus eine Behinderung entsteht, hängt von vielen Faktoren ab: Die Größe der Schädigung und die Lage im Gehirn spielen eine Rolle. Viel bedeutsamer sind jedoch die Behandlung, das Umfeld und die einzelnen Strategien, die jedes Kind und seine Familie und Freund*innen ent­wickeln und das, was unsere Gesellschaft daraus macht. Mit der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ und der seit 2009 in Deutschland ratifizierten Behindertenrechtskonvention werden gesetzlichen Grundlagen geschaffen, die diese Faktoren einbinden. Jedes Sosein eines Menschen wird von der Zeit vor und während der Geburt geprägt, aber auch von jedem neuen Augenblick des Lebens bestimmt. Jedes Gehirn ohne und mit Zerebralparese ist zeitlebens lernfähig. Was ist eine Spastik? Unser Gehirn spricht mit unseren Muskeln und ist mit allen Muskeln innerhalb unseres Körpers verbunden. Dafür benutzt es Leitungen, die wir Nerven nennen. Es besteht selbst aus 86.000.000.000

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Nervenzellen. Im Gehirn, das man sich wie eine Festplatte vorstellen kann, gibt es unterschiedliche Bereiche und Funktionen. Mehrere Bereiche im Gehirn sind für die Haltung und die Bewegung, auch Motorik genannt, zuständig. Alle Bereiche im Gehirn sind über Nervenleitungen miteinander verbunden. Die Nerven des Gehirns reden über weitere Nerven mit unseren Muskeln. Eine weitere Schaltstelle befindet sich im Rückenmark. Das Rückenmark kann man sich wie ein dickes Nervenbündel vorstellen. Im Gehirn und Rückenmark gibt es eine Ordnung. Eine ganz kleine Schädigung in einem bestimmten Bereich eines Gehirns kann große Auswirkungen mit sich bringen. Die Bewegungsmöglichkeiten können ganz unterschiedlich betroffen sein. Die Spastik ist die häufigste Bewegungsstörung, deswegen beschränken wir uns darauf bei der Erklärung. Eine Spastik kann man sich als eine Art „Ersatzprogramm“ für Bewegung vorstellen, dass der Körper bereitstellt, wenn das Gehirn eine Schädigung in bestimmten motorischen Bereichen erfahren hat. Da es sich nur um ein „Ersatzprogramm“ handelt, hat es nicht alle Funktionen in der gleichen Qualität wie das motorische Programm eines Gehirns ohne Schädigung. In den Muskeln in denen die Spastik ausgeprägt ist, ist die Muskelspannung stark erhöht. Das bedeutet nicht, dass der Muskel mehr Kraft hat. Es bedeutet, dass der Muskel eine Muskelspannung hat mit der Paula lernen kann, sich gegen die Schwerkraft aufzurichten. Auch wenn ihre Bewegung nicht so kraft­ dosiert, koordiniert und feinabgestimmt auf die jeweilige Situation ist wie mit Muskeln, die keine Spastik haben. Allerdings kann eine Spastik auch so stark ausgeprägt sein, dass sie manche Funktionen unmöglich machen. Um die Folgen der Spastik zu verstehen, ist es wichtig zu wissen: Jeder Muskel hat einen Gegenspieler. Gegenspieler werden die Muskeln genannt, die verantwortlich sind für die Gegenbewegung innerhalb eines Gelenks. Die spastischen Muskeln neigen dazu, sich zu verkürzen. Die Gegenspieler neigen zur Schwäche. Erst werden die Gelenke unbeweglicher. Wenn die Muskeln verkürzt sind und sich weniger dehnen lassen, ist es zum teilweisen Umbau des Muskelgewebes in Bindegewebe kommen. In der Fachsprache heißt das Kontraktur. Muskeln, die sich verkürzen, können Gelenke und Knochen, die sich noch ausbilden, verformen. Aus diesem Grund wird bei Kindern mit einer Zerebralparese besonders auf die Aufrichtung der Wirbelsäule und die Entwicklung der Hüfte geachtet. Hier gibt es auch speziellen Datenbanken, die die Versorgungsforschung und die Behandlungsforschung von Kindern mit Zerebralparese verbessern möchten. Hier sind Ihre Kinder und Sie gefragt. Nur gemeinsam können wir Wissen schaffen und die Therapie mit Blick auf die Lebensqualität verbessern. Links finden Sie im Anhang. Was sind Orthesen? Ohne Orthesen steht Paula auf den Zehenspitzen, weil die Spastik in den Wadenmuskeln die Fersen nach oben zieht, Die Orthesen helfen ihr beim Laufen, indem sie dafür sorgen, dass Paula ihre Fersen auf den Boden setzt. Die Orthesen helfen auch dabei, die Kontrakturen und Fehlstellung der Füße zu vermeiden oder hinauszögern, wenn Paula zunehmend mit ihrem Rollator durch die Gegend flitzt. Orthesen sind beim Gehen und Stehen hilfreich, stören aber beim Krabbeln, vor allem am Anfang, wenn man noch nicht damit geübt ist. Es gibt sie in allen Farben und Formen. Meistens passen die Lieblingsschuhe mit Orthesen nicht mehr, so dass auch speziellen Zeiten eingeplant werden müssen, an denen die Lieblingsschuhe ohne Orthesen getragen werden können.

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