Das zweite Leben

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Die Herausgeber Karl-Heinz Pantke, geb. 1955, erlitt 1995 einen schweren Schlaganfall mit Locked-in Syndrom. Bis 1995 war er als Doktor der Physik im Wissenschafts­ betrieb tätig. Seit 2000 leitet er den Verein LIS e. V., in dem sich Überlebende des Locked-in Syndroms organisieren. Seit 2008 übernimmt er Lehraufträge in Unterstützter Kommunikation an berufsbildenden und Fachhochschulen. Seit 2014 hat er die Leitung der Christine Kühn Stiftung inne, die die Lebensbedingungen von Patienten mit einem Locked-in Syndrom untersucht. Linda Loschinski, geb. 1988, verfasste im Jahr 2013 ihre Bachelorarbeit im Fach Philosophie-Neurowissenschaften-Kognition zum Locked-in Syndrom. Ihren Abschluss Master of Science erlangte sie 2015 in Klinischer Psychologie (Vertiefungsrichtung Medizinische Psychologie). Seit 2013 ist sie im LIS e.V. für die Inventarisierung der Bibliothek zuständig und als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. 2016 erfolgte zudem eine Anstellung als klinische Psychologin in der Reha Tagesklinik für Neurologie, Orthopädie und Geriatrie in Berlin. Im LIS e. V. organisieren sich Überlebende des Locked-in Syndroms aus ganz Europa. Schwerpunkte sind die Angehörigenberatung und die Selbsthilfe. In einem Informationszentrum werden Kranken- und Betroffenenberichte, Filmdokumente sowie Literatur zum Locked-in Syndrom gesammelt. Die Christine Kühn Stiftung wurde 2013 testamentarisch von der Berliner Künstlerin Christine Kühn gegründet. Zweck der Stiftung ist die Förderung der wissenschaftlichen Erforschung des Locked-in Syndroms (Ursachen, Diagnose, Behandlung), die Verbesserung der Pflegesituation von Menschen mit Lockedin Syndrom sowie deren Interessenvertretung in der Öffentlichkeit.

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Karl-Heinz Pantke, Linda Loschinski, LIS e.V. und Christine KĂźhn Stiftung (Hrsg.)

Das zweite Leben Interviews mit Ăœberlebenden eines Locked-in Syndroms

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter: http://dnb.dnb.de abrufbar. Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de. Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de.

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Inhalt

Vowort

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Wie alles anfängt

Das Locked-in Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Betroffene berichten von der Zeit nach dem Schlaganfall . . . 15 Der Sprachlose und das Nahtoderlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Die Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Sarahs Albtraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Die Kämpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

Hurra, wir leben noch!

Der Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Der Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Das Sonnenscheinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Der Entlähmte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Die Geduldige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Der Hertha-Frosch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Die Optimisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Die Unverzagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

Anhang

Lebensqualität bei schweren Lähmungen und Locked-in Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Herr K. und das Systematische Repetitive Basis training (SRBT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Interview der Herausgeber mit Mechthild Katzorke (catlinafilm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

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Unterstützte Kommunikation bei einem Locked-in Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Gedicht über das Sonnenscheinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Über LIS e.V. und die Christine Kühn Stiftung . . . . . . . . . . . 189 Danksagung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Auch, wenn wir durchgängig die männliche Form verwendet haben, um den Text leserlicher zu gestalten, sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Frauen gleichermaßen mit inbegriffen und gemeint sind.

Hinweis zu weiteren Inhalten Über das Buch verstreut finden sich Infokästen zu den Themen ­Basilaristhrombose, Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation, ­Locked-in Syndrom nach einem Unfall, Tracheostoma und das Lockedin Syndrom im ehemaligen Ostblock sowie der Buchstabentafel. Beiliegend findet sich eine DVD mit Filmbeiträgen von catlinafilm Berlin der Filmschaffenden Mechthild Katzorke und Volker Schöwerling. Diese DVD enthält dokumentarische Beiträge zu den Betroffenen Marianna Battaglia, Anama Fronhoff und Michael Sagel. Mit Marianna Battaglia sowie Michael Sagel wurden von den Heraus­gebern ebenfalls Gespräche geführt, die sich im vorliegenden Buch wiederfinden.

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Vorwort

Dies ist ein Buch der Hoffnung. Wir möchten Angehörigen und Betroffenen ein Stück Zuversicht geben und aufzeigen, dass ein Lockedin Syndrom nicht gleichzusetzen ist mit einem Todesurteil. Für dieses Buch stellten wir uns die Frage, wie es nach dem Locked-in Syndrom für die Betroffenen weitergehen kann. Was wird aus den Menschen lange Zeit nach einem derartigen Schicksalsschlag? Finden sie einen Weg zurück in die Gesellschaft? Und wenn ja, wie sieht dieser Weg aus? Oder führen sie ein freudloses Leben „am Rande der Gesellschaft“? Antworten fanden wir in berührenden Schilderungen der Patienten und Angehörigen, die wir befragten. Die Wege scheinen so unterschiedlich zu sein, wie die Menschen, die sie beschreiten. Um sich den Antworten zu nähern, wurden Interviews mit Überlebenden des Locked-in Syndroms sowie einigen Angehörigen geführt. Bis auf eine Ausnahme sind alle Personen Mitglieder bei LIS e.V. Dieser Verein wurde im Sommer 2000 mit acht Mitgliedern – drei Betroffenen und fünf Angehörigen – gegründet und zählt heute ca. 170 Mitglieder. Um das Leben von Langzeitüberlebenden des Syndroms in das Zentrum der Betrachtung zu rücken, legten wir für die Teilnehmerauswahl das Kriterium fest, dass der Infarkt mindestens 15 Jahre zurückliegen sollte. Die Interviews fanden zwischen Oktober 2016 und März 2017 in Berlin statt. Die Teilnehmenden sind entweder im Raum Berlin wohnhaft oder nahmen teils weite Reisen auf sich, um mit uns sprechen zu können. Unter Berücksichtigung der obigen ­Voraussetzungen ergab sich somit eine Gruppe von acht Personen. 7

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Vorwort

Nachdem wir die ersten Interviews geführt hatten, mussten wir feststellen, dass wir es mit Menschen zu tun hatten, die eine besondere Stärke ausstrahlten. Zuvor glaubten wir, auf Menschen zu stoßen, die eher am „Rande der Gesellschaft“ zu finden seien. Über den psychischen Zustand der Betroffenen konnten wir zu Beginn der Befragungen nur spekulieren. Es zeigte sich, dass keiner der Befragten davon berichtete, durch den Infarkt zu einem unglücklichen Menschen geworden zu sein. Des Weiteren sind die Befragten teils besonders rege Mitglieder der Gesellschaft; bei Vielen ist ein hohes soziales Engagement zu verzeichnen. Diese Entdeckung überraschte uns. Um den zeitlichen Verlauf unmittelbar nach dem Ereignis bis hin zu dem Leben 15 Jahre später etwas genauer abbilden zu können, sahen wir uns, angeregt durch die obige Entdeckung, dazu veranlasst, die Anfangszeit nach dem Auftreten des Syndroms – wenn auch weder ausführlich oder systematisch – mit in unsere Betrachtungen einzubeziehen. Aus den Schilderungen von den ersten Monaten nach dem Einsetzen des Locked-in Syndroms (siehe Wie alles anfängt) ergibt sich ein gänzlich anderes Bild der Überlebenden, als viele Jahre danach, das am besten als Flucht aus der Realität und völlige Orientierungslosigkeit charakterisiert werden kann. Oft setzt die Psyche alles daran, sich die Realität eines völlig gelähmten Körpers zu erklären und die abenteuerlichsten Geschichten werden dabei konstruiert. Auszüge aus solchen Schilderungen beinhalten u. a. folgende Vorstellungen: „Ich bin in einem schlechten Traum“, „Ich stelle mich gelähmt“ oder „Ich spiele die Hauptrolle in einem Film“. Die Berücksichtigung der Postakutphase verdeutlicht den ungeheuren Wandlungsprozess, den Betroffene durchlaufen. Die Postakutphase berücksichtigten wir in Form von Schilderungen der Patienten, in denen ihre subjektive Wahrnehmung während dieser Phase deutlich wird. Darüber hinaus führten wir zwei Gespräche zu diesem ersten Zeitraum nach dem Infarkt. Eines beleuchtet ein Nahtoderlebnis (Der Sprachlose) kurz nach dem Ereignis, eines 8

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Vorwort

die Postakutphase (Sarahs Albtraum) und eines die ersten drei Jahre nach dem Infarkt (Die Kämpfer). An die Phase der Realitätsverdrängung kann sich eine Zeit tiefer Depressionen anschließen, in der teilweise auch Suizidgedanken geäußert werden. Diese Phase ist sehr individuell ausgeprägt; bei manchen Betroffenen scheint sie sogar ganz zu fehlen. Wir haben deshalb auf eine Darstellung dieser Phase in Form eines eigenen Kapitels verzichtet. Sie findet jedoch in einigen der Interviews Erwähnung. Es dauert erfahrungsgemäß mindestens zwei bis fünf Jahre, bis der Patient obige Phasen überwunden hat und in der Realität angekommen ist. Trotz dieses schwierigen Weges, der hinter allen Langzeitbetroffenen liegt, geht aus den Interviews hervor, dass es sich bei den Personen im Hauptteil „Hurra wir leben noch!“ um durchaus lebensfrohe und aktive Menschen handelt. Wir legen Wert auf die Feststellung, dass wir Überlebende systematisch befragt haben; bei der Suche einer Ursache für deren weitestgehend stabilen psychischen sowie physischen Zustand jedoch nur spekulieren können. Um die Handhabung des Buches zu vereinfachen, stellen wir die Kapitel im Folgenden kurz vor: – „Wie alles anfängt“ beleuchtet anhand subjektiver Schilderungen der Patienten und eines Interviews die ersten Monate nach dem Infarkt. Weitere Interviews betrachten die ersten Jahre nach dem Ereignis. – „Hurra wir leben noch!“ ist der Titel des Hauptteils des Buches und enthält acht Interviews mit Betroffenen, bei denen der Infarkt mindestens 15 Jahre zurückliegt. – Der „Anhang“ enthält einen Beitrag von Prof. Niels Birbaumer, der die Lebensqualität von Patienten mit Amyothropher Lateralsklerose untersucht hat. Weiterhin einen Artikel über das Systemati9

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Vorwort

sche Repetitive Basistraining, ein Gespräch der Herausgeber mit den Filmemachern der beiliegenden DVD sowie einen Beitrag über die von den interviewten Personen benutzten unterschiedlichen Formen der Unterstützten Kommunikation. – Ein großer Reichtum dieses Buches besteht in der DVD-Beilage, die in Zusammenarbeit mit Mechthild Katzorke und Volker Schöwerling von catlinafilm aus Berlin entstand. Inhalt dieser DVD mit dem Titel „Wider die Langsamkeit“ sind dokumentarische Berichte, die auf das Alltagsleben dreier Betroffener fokussieren. Wir hoffen, mit diesem Buch einen Beitrag zu der Frage zu leisten, wie es Menschen gelingen kann, mit einem schweren traumatischen Ereignis leben zu lernen und den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Wir wünschen uns weiterhin, dass dieses Buch eine Hilfe und Inspiration für alle Betroffenen und deren Angehörige auf ihrem Weg nach einer schweren Hirnschädigung sein möge. Berlin, im November 2017 Dr. Karl-Heinz Pantke und Linda Loschinski

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Das Locked-in Syndrom Tritt ein Locked-in Syndrom ein, so ist der gesamte Körper gelähmt; auch Sprechen und Schlucken sind nicht möglich. Der Verstand ist jedoch nicht betroffen. Patienten sind klar und wach, können sich jedoch zu ihrem Zustand nicht äußern. Lediglich die Augenlider können meist bewegt werden und stellen daher die einzige Möglichkeit der Kommunikation dar. Manchmal ist sogar das nicht mehr möglich. Wahrscheinlich ist dieser Zustand so alt wie die Menschheit. Jedoch erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat der angelsächsische Sprachraum die Bezeichnung „Locked-in Syndrome“1 geprägt und Mediziner haben erkannt, dass es sich um Patienten handelt, die alles verstehen können, jedoch zum Antworten nicht in der Lage sind. Zuvor wurden Betroffene als Körper ohne Kognition und Emotionen behandelt. Einer der tragischsten Irrtümer der jüngeren Medizin! Die häufigste Ursache dieses Zustandes ist der Schlaganfall, auch Infarkt genannt. Allerdings sind auch andere Auslöser bekannt, wie z. B. die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Menin­gitis (Hirnhautentzündung) oder ein Unfall. Glücklicherweise ist dieser schreckliche Zustand relativ selten. Genaue Zahlen gibt es zwar nicht, jedoch gehen Schätzungen davon aus, dass nur ca. jeder hundertste bis tausendste Schlaganfall mit einem Locked-in Syndrom verbunden ist. Dabei ist von einer sehr hohen Dunkelziffer auszu­gehen.

1 Engl. locked-in = „eingeschlossen“.

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Bei einem Schlaganfall können durch sehr langwierige Rehabilitationsmaßnahmen erstaunliche Erfolge erzielt werden. Untersuchungen zeigen, dass diese umso erfolgreicher sind, je früher damit begonnen wird. Am schmerzlichsten wird von Locked-in Patienten neben der Bewegungsunfähigkeit der Verlust des Sprechens empfunden. Für Schlaganfallbetroffene ergibt sich somit als eines der obersten Ziele, die verbale Kommunikation zurückzugewinnen. ALS hingegen ist eine fortschreitende, nicht heilbare Erkrankung, an deren Ende ein Locked-in Syndrom auftritt. Auch einige bekannte Persönlichkeiten erlitten ein Locked-in Syndrom: Jean-Dominique Bauby (französischer Journalist und Chef­ redakteur des Frauenmagazins Elle), Stephen Hawking (englischer Astro­physiker) und Jörg Immendorff (deutscher Künstler). Basilaristhrombose Eine der häufigsten Ursachen eines Locked-in Syndroms ist eine Basilaristhrombose. Dabei wird die Arteria basilaris durch einen Thrombus (Blutgerinnsel) verschlossen. Dadurch kommt es zu einer Minderdurchblutung des Hirnstamms und unter Umständen auch des Kleinhirns. Ein massiver Infarkt in diesem Gebiet hat ein Locked-in Syndrom zur Folge. Nach einer Basilaristhrombose sollte schnell und entschlossen gehandelt werden, z. B. kann mit einer sogenannten Lyse der Thrombus medikamentös aufgelöst werden, um den durch den Infarkt untergegangenen Bereich möglichst klein zu halten. Allerdings schließt sich das Zeitfenster für eine derartige Behandlung bereits nach einigen Stunden nach dem Infarkt. Alle im Buch auftauchenden Betroffenen – außer Sarah – erlitten eine Basilaristhrombose.

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Betroffene berichten von der Zeit nach dem Schlaganfall

Am Anfang dieses Buchprojekts stand unser Anliegen, die Leben von Langzeitbetroffenen zu porträtieren. Dabei lernten wir Menschen kennen, die uns mit ihrem Lebenswillen, Optimismus und Kampfgeist überraschten. Wir stellten uns die Frage, wie trotz einer derart schweren Erkrankung eine solche Einstellung zum Leben möglich ist. Unsere Idee dabei war, dass in der ersten Phase nach dem Infarkt möglicherweise eine Antwort darauf zu finden sein könnte, welche Voraussetzungen für eine spätere Lebenszufriedenheit gegeben sein müssen. Die Zeit zwei bis fünf Jahre nach dem Infarkt ist für viele Patienten mit tiefen Depressionen, manchmal sogar mit Suizidgedanken verbunden. Nach Durchschreiten des „Tals der Tränen“ bewerten Betroffene ihr Leben jedoch oftmals völlig neu. Die Neubewertung verdeutlicht, dass die Leidtragenden einen tiefgreifenden Veränderungsprozess durchlaufen, an dessen Ende die Akzeptanz ihres Zustandes stehen kann. Diese Tatsache ist für ­gesunde Menschen nur schwer nachvollziehbar. Es scheint kaum vorstellbar, dass trotz starker Beeinträchtigungen oder sogar völliger Lähmung ein erfülltes Leben möglich ist. Dies führt zu Fehleinschätzungen bei der Einschätzung der Lebensqualität der Patienten durch Außenstehende. Interviews mit Betroffenen können aus naheliegenden Gründen nicht unmittelbar nach dem Schlaganfall geführt werden. Deshalb griffen wir auf Gedächtnisprotokolle der Patienten zurück, um deren Erlebniswelt kurz nach dem Infarkt greifbar zu machen. Wir haben 15

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die Schilderungen in niedergeschriebenen Berichten durchsucht und in drei Kategorien eingeordnet: I) Nahtoderlebnisse IIa) Verleugnung – Flucht aus der Realität in Form von Träumen, Halluzinationen und Horrorvisionen, sowie IIb) Schilderungen mit Bezug zur Unbeweglichkeit durch das Locked-in Syndrom III) Depressionen Die Punkte I, IIa, IIb und III werden immer in dieser Reihenfolge durchlebt. Aber nicht alle Stadien kommen bei allen Patienten vor. Die folgenden Schilderungen stammen teils von Personen, die wir für den Hauptteil des Buches interviewt haben; sie werden dem Leser später wieder begegnen. I) Nahtoderlebnisse

Direkt nach dem Infarkt besteht akute Lebensgefahr. Bei Nahtoderlebnissen handelt es sich um einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand unter Lebensgefahr oder auch in vermeintlicher Todesnähe. Berichtet werden oft Wahrnehmungen des eigenen Körpers von außen sowie Licht- und Tunnelerscheinungen. Einer der Herausgeber dieses Buches, selbst betroffen, Karl-Heinz Pantke schreibt: „Ich habe das Bewusstsein nicht oder nur sehr kurzfristig verloren und konnte meinen Körper verlassen. Ich nahm ihn unbekleidet und ohne jegliche geschlechtliche Merkmale wahr. Eine Lieblingsposition meines Körpers war, mit verschränkten Armen etwa im 30°-Winkel unter der Zimmerdecke zu schweben. Er konnte jede beliebige Stellung im Raum einnehmen. Er schwebte im Raum.“2 2 Karl-Heinz Pantke: Locked-in – Gefangen im eigenen Körper. 6. Auflage. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2014. Karl-Heinz Pantke kommentiert aus heutiger Sicht: „Obwohl das Erlebte

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Eine andere Betroffene schreibt: „Meine Gedanken treiben zum Licht empor. Ich kann mich in der heißen, feuchten Luft und dem Licht, das um mich herum leuchtet, starr ausgestreckt liegen sehen. Wieder sehe ich den Berg. Als der Nebel um ihn herum sich verdichtet, verwandelt sich der Berg in eine Reihe von Hügeln, die von Zickzacklinien begrenzt sind.“3 Eine weitere Betroffene schreibt: „Nach meinem Hirnstamminfarkt mit nachfolgendem Locked-in Syndrom im Jahre 2000 war ich sieben Monate im Koma. Während dieser Zeit habe ich etliches erlebt in meinem Inneren. So war ich an einer Art Tor oder Grenze. Dort traf ich auf verstorbene Verwandte und auf meinen Glaubensführer. ­Allerdings waren diese Personen nicht in einer menschlichen Körperform, sondern als eine Art Energiewolke präsent. Sie haben mir ­wortlos mitgeteilt, dass das Hinübergehen noch nicht ansteht. Sehr ungern habe ich dieses befolgt und bin in den kranken und gelähmten Körper zurück.“4 Zählt man den Herausgeber mit, so gibt es in der von uns befragten Gruppe insgesamt 13 Personen, die ein Locked-in Syndrom erlebt haben. Eine Person konnte nicht mehr befragt werden. Von den verbleibenden zwölf Personen haben drei eine Nahtoderfahrung gehabt. Das entspricht 25 % der Gruppe. Obwohl das Erlebnis wahrscheinlich nur einige Minuten dauert, gehört es zu dem Intensivsten, was ein Mensch erleben kann. Vielfältige Deutungen werden dafür angeboten. Am wahrscheinlichsten erscheint uns die Erklärung eines Sauer­ stoffmangels im Gehirn, hervorgerufen durch die Minder-

über 20 Jahre zurückliegt, ist mir jedes Detail nach wie vor präsent. Kein Ereignis in meinem Leben wurde mit vergleichbarer Intensität erlebt.“ 3 J. Tavalaro, R. Tayson: Bis auf den Grund des Ozeans. 3. Auflage. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1998. 4 Anama Fronhoff in einer E-Mail an den Verein vom 23.09.17.

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durchblutung. Eine eindeutige Erklärung für das häufige Auftreten solcher Wahrnehmungen gibt es jedoch nicht. IIa) Flucht aus der Realität in Form von Träumen, Halluzinationen und Horrorvisionen

Sarah glaubte, sich an einer Schule zu befinden (siehe Sarahs Albtraum). Als sie sich in der Rehaklinik befindet, sagt sie wiederholt zu ihrer Mutter: „Mama, du musst der Direktorin von der Schule sagen, dass ich hier nicht mehr herkommen möchte.“ Anama Fronhoff berichtet: „Am Anfang dachte ich wirklich, ich sei Praxisanleiterin für die [Krankenpflege-, Anm. d. Red.] Schüler und würde mich gelähmt stellen. Alles wäre nur ein Prozess von ein bis zwei Wochen, dann würde ich in mein normales Leben zurückkehren. Und das hat insgesamt ca. ein Jahr gedauert, bis ich realisiert habe, dass das nicht weggehen würde.“ 5 Günter Müller: „[…] Zum anderen wollte ich den erlittenen Schlaganfall und die dadurch entstandene Lähmung nicht wahrhaben. Ich kam zu der Auffassung, die Hauptrolle in einem Film zu spielen.“6 Karl-Heinz Pantke: „Ich meinte, mich in einem schlechten Traum zu befinden, aus dem ich bald aufwachen würde, und alles wäre wieder in Ordnung. Es dauerte Monate, bis ich meinen Zustand vollends ­realisierte.“ 7 Sonja Ufer schreibt: „Ich bin in ein großes schwarzes Loch gefallen und erst langsam mit vielen wirren Träumen wieder in die Realität zurückgekehrt. Jedes kurze Wachsein brachte ein neues Mosaikstein5 Siehe beiliegende DVD. 6 Günter Müller: Im Reich der Halluzinationen – Gefangen im Ich nach dem Schlaganfall. Eigenverlag & LIS e.V., Berlin 2002. 7 Karl-Heinz Pantke: Locked-in – Gefangen im eigenen Körper. 6. Auflage. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2014.

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chen von der Außenwelt. Ich musste für mich dann noch sortieren, was ist Wirklichkeit und was ist Traum.“ 8 Kunibert Geiger: „An den folgenden Tagen erwache ich morgens genauso bewegungslos wie ich abends eingeschlafen bin. Zuerst glaube ich noch an einen schlechten Traum; doch langsam begreife ich die Wirklichkeit, begreife den Zustand der absoluten Bewegungslosigkeit, höre das Piepsen der Beatmungsmaschine und spüre die Kanüle in meinem Hals.“ 9 Jean-Dominique Bauby: „[…] während mich eine Hostess mit libane­ sischem Akzent an eine kleine Bar führt. Gläser und Flaschen sind durch Plastikschläuche ersetzt, die von der Decke fallen wie die Sauerstoffmasken in abstürzenden Flugzeugen. Ein Barkeeper gibt mir durch ein Zeichen zu verstehen, ich solle mir einen davon in den Mund stecken, was ich auch tue. Eine nach Ingwer schmeckende, bernsteinfarbene Flüssigkeit fließt hindurch, und ein Gefühl von Wärme durchdringt mich von den Zehenspitzen bis in die Haarwurzeln.“10 Karl-Heinz Pantke: „[…] wurden hier unter anderem Filme für das Fernsehen in riesigen Kühlhallen gedreht. Die Produktion in diesen Hallen wurde eingestellt, als ein ehemaliger Bäckermeister den Einfall hatte, Eis durch Gelee zu ersetzen, um so tiefe Temperaturen vorzutäuschen. Obwohl in den Produktionsstätten eisige Kälte herrschte, durchströmte meinen ganzen Körper ein unbekanntes Glücksgefühl, das ich nur schwer beschreiben kann.“ 11 Michael Ernicke: „Auf dem Dach der Charité stand ein Wohnwagen, von dem aus wir Patienten in ein Versuchslabor rübergebeamt wur8 Persönliche Mitteilung von Sonja Ufer aus einer E-Mail vom 16. Mai 2017. 9 Kunibert Geiger, Rosemarie Geiger-Essert: Das Leben neu lernen – wie mein Körper Flügel bekam. Eigenverlag 2000. 10 Jean-Dominique Bauby: Schmetterling und Taucherglocke. Zsolnay-Verlag, Wien 1997. 11 Karl-Heinz Pantke: Locked-in – Gefangen im eigenen Körper. 6. Auflage. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2014.

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den. In dem Wohnwagen war ein kleiner Kran, er war das Abbild eines großen Kranes, der gegenüber am Wasser stand. Von dem kleinen wurden wir zum großen Kran gehoben. Der Traum kam in den verschiedensten Variationen wieder. Manchmal landete ich vor dem Kran in der Baugrube, kletterte hinaus, ging zum Kran und fischte die anderen Patienten mit einer großen Kiepe aus dem Wasser. Als ich die Kiepe aus dem Wasser hob, sah ich Folgendes: Einige wenige hatten es nicht geschafft, alle Gliedmaßen rechtzeitig in die Kiepe zu nehmen. Sie wurden beim Schließen der Kiepe abgetrennt. Die Menschen waren verstümmelt und wurden sofort von dort lebenden Hunden aufgefressen. Die andern kamen ins Labor.“12 IIb) Schilderungen mit Bezug zur Unbeweglichkeit durch das Locked-in Syndrom

Friedemann Knoop: „Irgendwie wurde ich in eine Ritterrüstung gepresst, die aus Stein war. Meine Bewegungsfreiheit war fast null. Ich schleppte mich ins Wasser, wo ich auch prompt unterging. Zu meinem Erstaunen war ich nicht der Einzige, der in Rüstung unter Wasser herumwerkelte. Nein, eine ganze Armee von versteinerten Soldaten war da unten zu finden. Ich bemühte mich um einen Schulterschluss, der auch umgehend zustande kam. Wir bildeten eine unüberbrückbare Mauer … ein ganzes Heer von Rittern aus Stein.“ 13 Günter Müller: „Ich verstand meine völlige Lähmung und Sprach­ losigkeit nicht. So war der Rand der Antidekubitusmatratze außen sehr hoch. Ich identifizierte diesen mit lebenden bzw. elektronischen Dummies, welche mir ins Bett gelegt worden waren. Ich beschreibe, wie sich das anfühlte: Die Dummies hielten meine Arme und Hände 12 Jean-Dominique Bauby u. a.: Wahrnehmungsverschiebung – Patienten berichten. In: Metamorphose. LIS e.V., Berlin 2002. (=Beobachtungen zum Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung bei motorischen Einschränkungen durch Krankheit, Band 2). 13 Ebd.

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fest. Meine Unterschenkel waren von den Beinen der Dummies umschlungen, sodass ich mich nicht drehen konnte. Der Kopf wurde festgehalten, es ging gar nichts. […] So empfinde ich ständig eine sich verengende textile Haube auf dem Kopf, die teilweise die Ohren bedeckt, sodass ich dadurch schlechter hören kann. Gelegentlich habe ich dazu noch eine Halskrause, die mir das Gefühl des Erstickens gibt und das Schlucken verhindert. Die Halskrause plagt mich die ganze Nacht und verschwindet am Vormittag.“14 Wie die Betroffenen teils selbst beschreiben, beziehen sich diese Schilderungen nicht nur auf die Zeit kurz nach dem Ereignis, sondern halten oftmals viele Monate an oder kehren immer wieder. Dabei kann man unterscheiden zwischen einer fortdauernden Verkennung der Realität, Halluzinationen und der Verarbeitung in Form von Albträumen. Ersteres war z. B. bei dem Mädchen der Fall, das der Annahme war, es sei in der Schule. Auch Anama Fronhoff, die sich in der Rolle der Praxisanleiterin sah, unterlag einer falschen Realitätsannahme. Diese Überzeugungen sind keine Träume, sondern stellen für lange Zeiträume die wahrgenommene Realität dar. Zeitweise kann dies möglicherweise mit Medikamenten in Verbindung gebracht werden, die die Patienten vor allem kurz nach dem Infarkt auf der Intensivstation erhalten. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass eine komplexe Leistung des Gehirns – wie das Aufbauen einer komplett falschen Realität über einen langen Zeitraum – allein durch die Wirkung von Medikamenten begründet werden kann. Es ist anzunehmen, dass die Psyche eine erhebliche Rolle dabei spielt. Eine Situation, in der der Körper die Befehle des Gehirns nicht mehr umsetzen kann und der Geist in diesem Körper eingeschlossen ist, ist unvorstellbar und wahrscheinlich eine der grausamsten Erfahrun14 Günter Müller: Im Reich der Halluzinationen – Gefangen im Ich nach dem Schlaganfall. Eigenverlag & LIS e.V., Berlin 2002.

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gen, die ein Mensch machen kann. Wird der Mensch der Kommunikation jeglicher Art beraubt, tritt eine Katastrophe ein. Die Existenz, wie sie vorher selbstverständlich war, gibt es nicht mehr. Und das geschieht von einem auf den anderen Moment. Das Gehirn ist nicht in der Lage, dies sofort zu verarbeiten. Selbiges gilt für die Psyche. Würde der Betroffene die Konsequenzen des Ereignisses sofort klar realisieren, würde das gesamte innerpsychische System zusammenbrechen. Also fährt die Psyche ihre stärksten Geschütze auf – Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Verleugnung der Realität, zeitliche, räumliche, situative und auf die eigene Person bezogene Orientierungslosigkeit; Ich-Zerfall – und hält diese zunächst aufrecht. Dies ist als Selbstschutz in dieser traumatischen Situation zu verstehen. Mit der Zeit, sobald der Patient bereit dazu ist, wird diese Phase des Realitätsverlustes, wie oben beschrieben, wieder verlassen und die nächste Phase der Verarbeitung kann beginnen. Es scheint nicht bei allen Betroffenen eine Phase des Realitätsverlustes zu geben. Einige leiden an wiederkehrenden Halluzinationen – also optischen, akustischen und/oder taktilen Eindrücken, die in der Realität keine Entsprechung haben. Diese sind zeitlich begrenzt und können in eine normale Wahrnehmung eingebettet sein, sodass im Nachhinein schwer nachvollziehbar sein kann, ­welche Erlebnisse real waren und welche nicht. Karl-Heinz Pantke schreibt hierzu:15 „Im Moment des Erlebens sind Realität und Halluzination nicht zu unterscheiden, aber da es mir aufgrund des Locked-in Syndroms nicht möglich war, das Bett zu verlassen, kann ich jede Wahrnehmung, die außerhalb des Bettes stattfand, auf eine Halluzination zurückführen.“ Bezüglich der Halluzinationen, die die völlige Bewegungslosigkeit zum Thema haben, kann Folgendes konstatiert werden: Die Zentren im Gehirn, die mit der Planung und Durchführung von Motorik be15 Karl-Heinz Pantke: Locked-in – Gefangen im eigenen Körper. 6. Auflage. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2014.

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Betroffene berichten von der Zeit nach dem Schlaganfall

schäftigt sind, bekommen bei Vorhandensein eines Locked-in Syndroms lediglich die Rückmeldung, dass eine geplante Bewegung nicht durchgeführt werden kann. Einen Grund für die Störung bekommt das Gehirn jedoch nicht geliefert. Es sucht einen Grund für das Bewegungshemmnis.16 Die beschriebenen Halluzinationen können als Erklärungsversuch des Gehirns für die plötzliche Bewegungslosigkeit gedeutet werden. III) Depressionen

An die Phase der Verleugnung, Orientierungslosigkeit und Halluzinationen schließen sich oft tiefe Depressionen an. Sieht man diese als einen Gefühlszustand, der Motivationen, Denkweisen und Verhalten negativ beeinflusst, so wird verständlich, dass hierzu keine Interviews geführt werden können, die diese Zeit rückblickend beleuchten. Eine authentische Schilderung des Gemütszustands im Nachgang eines Locked-in Syndroms verfasste Karl-Heinz Pantke in einem Gedicht, welches in seiner ersten Veröffentlichung erschien:17 Depression dunkle Wolke nicht aus dieser Welt legt sich über dich erdrückt dich lässt jedes Problem riesengroß erscheinen lässt dir keinen Ausweg Depression 16 Christel Eickhof: Kann Wahrnehmung die Lähmungen beim „Patienten mit dem Locked-in Syndrom“ konsolidieren? In: Metamorphose. LIS e.V., Berlin 2002. (=Beobachtungen zum Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung bei motorischen Einschränkungen durch Krankheit, Band 2). 17 Karl-Heinz Pantke: Locked-in – Gefangen im eigenen Körper. 6. Auflage. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2014.

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Wie alles anfängt

Orientierungslosigkeit und Depressionen dauern insgesamt zwei bis fünf Jahre an, in denen die Lebensqualität niedrig ist. Die meisten der Befragten geben an, Depressionen gehabt zu haben. Im Hauptkapitel des Buches begegnen wir Betroffenen, bei denen der Infarkt mindestens 15 Jahre zurückliegt. Hier wird deutlich, dass die Betroffenen eine hohe Lebensqualität schildern. Auch wenn der Wegfall von Orientierungslosigkeit und Depressionen zu einer Erhöhung der Lebensqualität führen sollte, so scheint dies nicht als Erklärung für die Lebensfreude und den Optimismus der Betroffenen auszureichen, auf die wir gestoßen sind. Vermutlich spielen unterschiedlichste Faktoren in dieser Entwicklung eine Rolle. Eine These zur Erklärung stellte die Gruppe um Prof. Niels Birbaumer an der Universität Tübingen auf (Lebensqualität bei schweren Lähmungen und Locked-in Syndrom). Dies ist etwas, das mit diesem Buchprojekt nicht geleistet werden kann und soll. Zudem ist zu erwähnen, dass die betrachtete Gruppe Betroffener sehr klein ist und zudem vorrangig aus Vereinsmitgliedern des LIS e.V. besteht, welche vermutlich eine gewisse Umtriebigkeit und soziales Interesse an den Tag legen, da sie sich in ihrer Not überhaupt an den Verein wendeten. Wie es Patienten geht, die keinen Kontakt zu Gleichgesinnten haben, wissen wir nicht. Das letzte Wort gehört einer Betroffenen: „Die ersten Jahre waren für mich die Hölle. Ich dachte, dass ich dieses Leben niemals mehr glücklich werden könnte. An einem Punkt, an dem ich dachte, es würde gar nichts mehr gehen, hat sich auf einmal mein Blickwinkel auf das Leben verändert. Vorher habe ich mehr gesehen, was nicht mehr geht. Seitdem sehe ich deutlich mehr, was mittlerweile besser geht als vor dem Hirnstamminfarkt. Das hat natürlich wenig mit körperlicher Bewegung zu tun, sondern mehr mit Intuition und anderen Wesenszügen. Auch wenn es sich befremdlich anhören mag, bin ich meinem Lebensziel von innerer Freiheit näher denn je.“18 18 Anama Fronhoff in einer E-Mail an den Verein vom 23.09.17.

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