Humor und Führung

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Eckhard Lotze, geb. 1968, ist ehemaliger Gesundheits- und Krankenpfleger. Als Diplom-Berufspädagoge für Pflegewissenschaft sowie Master of Health Administration (M.A.) arbeitet er im Öffentlichen Gesundheitsdienst der Stadt Bremen. Zurzeit verantwortet er das Referat „Pflege/Gesundheit älterer Menschen“. Die Reflektion über Funktionen, Potenziale und Grenzen des Humors begleiten den Autor schon seit seiner erfolgreichen Tätigkeit als Klassenclown.


Eckhard Lotze

Humor und FĂźhrung GesundheitsfĂśrderndes Potenzial in Organisationen?

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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Ausschließlich aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in diesem Buch das generische Maskulinum benutzt. Es sind selbstverständlich – wo nicht sinnentstellend – immer Frauen mit gemeint.

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Inhaltsverzeichnis Vorwort Seite 1 Einleitung 2 Führung in Organisationen 2.1 Theoretische Grundlagen zu Organisation und Führung 2.1.1 Der Organisationsbegriff 2.1.2 Was ist Führung? 2.2 Entwicklungslinien der Führungstheorien aus kritischer Perspektive 2.2.1 Eigenschaftsansatz („Great-Man-Theory“) 2.2.2 Verhaltensansatz 2.2.3 Kontingenzansatz: Berücksichtigung der Situation 2.2.4 Aktuelle Ansätze – Das Beispiel der transformationalen Führung 2.2.5 Gibt es das beste Führungsmodell? 2.3 Führungsmythen und -dilemmata 2.4 Das systemtheoretische Verständnis von Organisation und Führung 2.4.1 Das traditionelle rational-positivistische Denken in Organisationen 2.4.2 Systemtheoretische Grundlagen der Organisation 2.4.3 Organisationen bestehen aus Kommunikation 2.4.4 Führungsaufgaben nach systemtheoretischem Verständnis 3 Führungsaufgabe Gesundheitsförderung 3.1 Gesetzliche Grundlagen der Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt 3.2 Veränderung der Gesundheitsbelastungen durch den Wandel der Arbeit 3.3 Bedeutung des Paradigmenwechsels zur Gesundheitsförderung

8 9 13 14 14 18 20 20 21 22 24 27 27 31 32 33 34 36 38 38 40 42

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3.4 3.5 3.6 4 4.1 4.2

4.3

5 5.1 5.2 5.3

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Theoretische Grundlagen der Gesundheitsförderung Zusammenhang zwischen Führung und Gesundheit Sozialkapitalansatz Potenzial des Humors Humor und Wissenschaft Humortheorien 4.2.1 Überlegenheitstheorien (Aggressionstheorien) 4.2.2 Soziale Theorien 4.2.3 Inkongruenztheorien 4.2.4 Psychophysiologische („Kathartische“) Theorien Humor als gesundheitsfördernde Ressource 4.3.1 Erkenntnisse der Gelotologie 4.3.2 Humorwirkungen in der Psychotherapie 4.3.3 Stresstheoretischer Erklärungsansatz – Humor als personale Ressource 4.3.4 Humor und Positive Psychologie 4.3.5 Das Humorkontinuum – Anforderungen an Humoreinsatz in (therapeutischen) Beziehungen Humor und Führung: Gesundheitsfördernd oder organisationsgefährdend? Erkenntnisse zu Humorwirkungen in Organisationen Ambivalenzen des Humors für Führungskräfte Dimensionen des Humors in Organisationen 5.3.1 Selbstführung mit Humor 5.3.2 Humor in der Interaktion 5.3.3 Humor als Teil der Organisationskultur Fazit

Literaturverzeichnis

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44 46 47 52 52 55 56 56 57 58 58 58 59 61 63 64 67 67 73 75 76 77 80 82 83


Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Zweidimensionales Raster zur inhaltlichen Systematisierung von Organisationstheorien Abbildung 2: Aufgabenfelder der betrieblichen Gesundheitspolitik Abbildung 3: Das transaktionale Stressmodell Abbildung 4: Humor als Kontinuum _______________________________________ Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5:

Manager und Führer – eine Gegenüberstellung Beispiele für Führungsmythen Rollendilemmata der Führung Humorausrichtungen Negative und positive Humorwirkungen in Organisationen

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Vorwort Der Inhalt dieses Buch ist als Masterarbeit im Fachbereich „Gesundheitswissenschaften“ an der Universität Bielefeld entstanden. Ich danke dem Mabuse-Verlag, dass ich meine Reflektion über Humor nach über zehnjähriger Rolle als Vorgesetzter breiter bekannt machen kann. Meine persönliche Erfahrung ist, dass in Arbeitsbeziehungen Humor einen wichtigen Stellenwert haben sollte. Humor „heilt“ bei uns Führungskräften rigiden Perfektionismus, er kann positive Beziehungen zu Mitarbeitern stärken und lässt uns gelassener mit den Unwägbarkeiten der modernen Arbeitslebens umgehen. Und es ist – wie gezeigt wird – durchaus plausibel, dass Humor sich damit gesundheitsfördernd auswirken kann. Um nun nicht blauäugig jede rote Clownsnase oder jeden derben Witz als Beitrag zur Betrieblichen Gesundheitsförderung fehlzuinterpretieren, wird dieses Buch auch mögliche Schattenseiten des Humors ansprechen. Diese Perspektive fehlte mir in der Literatur zum Thema häufig. Ich wünsche Ihnen Gewinn für Ihre Arbeit und für Ihre Mitarbeiterführung durch das Lesen. Manchmal gilt einfach: „All you need is Laugh!“.

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1 Einleitung Führungskräften wird eine herausgehobene Verantwortung in Organisationen zugeschrieben. Als ihre zentrale Aufgabe gilt die Ausrichtung des Organisationshandelns auf die Organisationsziele. Dazu wirken sie auf Mitarbeiter („Geführte“) ein, deren Ziele bei weitem nicht deckungsgleich mit denen der Organisation (oder der „Führer“) sein müssen. Das oben stehende Bonmot deutet ein erstes Führungsdilemma an, einerseits für eine gelingende Beziehungsebene zwischen Hierarchieebenen zu sorgen, andererseits die Ziele der Organisation mit Macht durchsetzen zu wollen/zu sollen. Nach überkommenen Führungsmodellen streben Organisationen nach Festlegung der (rational) besten Lösung dieses durch einheitliche Handlungsausrichtung aller Organisationsmitglieder an. Nach dieser „klassischen“ Sichtweise wäre es wichtigste Aufgabe der Führung, durch Anwendung von Führungsinstrumenten und -techniken auf Mitarbeiter einzuwirken – im Dienst des Organisationszwecks. 1

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Allerdings widerspricht dem ein systemtheoretischer Zugang zum Thema Führung, der in diesem Buch v.a. aus zwei Gründen gewählt wird. Erstens wird mit seinen Grundannahmen das Paradigma einer rationalen Steuerbarkeit von Organisationen durch (willensstarke oder besonders intelligente) Einzelne widerlegt. Damit steht auch die traditionelle Sicht auf Rolle und Aufgaben von Führungskräften in Frage. Zweitens lenkt die systemtheoretische Sicht auf Organisationen in dieser Arbeit den Blick auf das zentrale gestaltende Element von Organisationen: die Kommunikation. Diese ist nie nur ein Austausch von Informationen, sondern Existenzbedingung von Organisationen. Diese sind vor allem Anderen soziale Systeme, so dass nur das, was kommuniziert wird, für sie existiert. Durch ihre Rahmensetzung für Kommunikationsmöglichkeiten tragen Führungskräfte maßgeblich dazu beitragen, wie „Geführte“ ihren Arbeits1

In diesem Buch wird der Begriff „Organisation“ durchgängig auf die Arbeitswelt bezogen (z.B. Unternehmen, Behörden). 2 Oder gar nur die eigenen Ziele.

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platz wahrnehmen. Da die Mitarbeiter heute als zentrale Wertschöpfungsquelle von Organisationen erkannt werden, kristallisiert sich als Aufgabe von Führungskräften zunehmend die Schaffung einer Gesundheit und Wohlbefinden förderlichen Arbeitsumgebung heraus. Diese wird besonders stark durch eine gelingende sozial-kommunikative Beziehungsebene beeinflusst. Da die Gesundheitsförderung nach Ansicht von Gesundheitswissenschaftlern das Zukunftsthema der Arbeitswelt werden wird, kommen auf Führungskräfte hier wichtige Aufgaben zu. Sie werden gesundheitsfördernde Kooperationsstrukturen und -kulturen in Organisationen gestalten müssen. Diese Aufgabe ist nicht an Gesundheits- oder Kommunikationsexperten delegierbar, Führungskräfte selbst werden sich ihrer Verantwortung für Wohlbefinden und Gesundheit im Setting der Arbeitswelt bewusst werden müssen. Vor diesem Hintergrund und gegen die in Deutschland bisher herrschende Exotik des Themas angehend wird in diesem Buch der Versuch unternommen, Humor in Organisationen explorativ zu thematisieren. Denn Humor ist ein ubiquitär beobachtbares sowie – als Geisteshaltung – nichtbeobachtbares Phänomen menschlicher Existenz, auch in Organisationen. Als Ziel des Buchs kann deshalb gelten, eine Herleitung der Sinnhaftigkeit von Beschäftigung mit Humor in den hierarchischen Bezügen von Organisationen zu leisten. Kommunikation und Interaktion sind das wichtigste konstitutive Element von Führungshandeln und gelten als Kern der Personalführung (vgl. Kieser/Walgenbach 2003, S. 66), woraus die Bedeutung des Wissens über humorvolle Kommunikation gerade für Führungskräfte erwächst. Allerdings geht es in diesem Buch nicht darum, Humor als eine weitere Technik oder als Instrument von Führungskräften zu „verkaufen“, sondern zu entwickeln, welche positiven und ggf. negativen Auswirkungen Humor in Organisationen und ihren Hierarchien sowie für Einzelne nach dem Stand der Humorforschung haben kann. Der Humor wird dazu aus interdisziplinärer Sicht (soziologisch, psychologisch, philosophisch, physiologisch, etc.) betrachtet. Ausdrücklich auch

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jenseits seiner konkreten Ausformung als Kommunikationsmedium (Räwel 2005, S. 34ff). Denn Humor ist mehr als Lachen, Witz und Spaß. Eine humorvolle Grundhaltung gegenüber Anforderungen des Lebens wurde bereits vom Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud (1856 – 1939), als reflektierte und psychisch „reife“ Bewältigungsstrategie angesehen. Es verwundert insofern nicht, dass der Humor seit einigen Jahren insbesondere in den Fokus von Heilberufen geraten ist. Während positive Wirkungen humorvollen Umgangs miteinander auf das sozio-emotionale Wohlbefinden unmittelbar einleuchten, wird dort sogar vermehrt therapeutisches Potenzial postuliert (vgl. Titze/Eschenröder 2011, Wild 2012). Dieser sich andeutende Zusammenhang zwischen Humor und Gesundheit wird vorgestellt und in den Zusammenhang von Anforderungen an gesundheitsförderndes Führungsverhalten gestellt. Wenn Humor als stressmoderierende Variable des Menschen betrachtet werden kann, sollte dieses Potenzial Führungskräften bekannt sein. Gleichzeitig gilt das Führungsverhalten selbst als zentraler Einflussfaktor auf das Stressgeschehen von Mitarbeitern (Ducki/Felfe 2011, S. VII). Vor dem Hintergrund des überproportionalen Anstiegs psychischer Erkrankungen von Arbeitnehmern verdient gerade die Fokussierung stressreduzierender Faktoren besondere Beachtung. Als solcher verstanden ist Humor nicht notwendig ein Störfaktor im „ernsthaften“ Getriebe von Organisationen, sondern hat als beziehungs- und gesundheitsförderndes Element vermehrte Aufmerksamkeit von Führungskräften und Wissenschaft verdient. Wenn Humor nicht mehr (nur) als Gegenteil von Ernst, sondern als personale Gesundheitsressource aufgefasst wird, kann er einen Beitrag zu einer gesundheitsfördernden Organisationskultur leisten. Im zweiten Kapitel wird nach der Definition der Grundbegriffe Organisation und Führung die historische Entwicklung der Führungstheorien vorgestellt. Danach wird als Kontrast zu überkommenen Vorstellungen das systemtheoretische Verständnis von Organisation und Führung entfaltet. Die systemisch begründete Anforderung an Führungskräfte zur Kontextgestaltung wird im dritten Kapitel auf das Thema der Gesundheitsförderung bezogen und ihre wichtige Rolle betont. Im vierten Kapitel wird das vielschichtige Potenzial des Humors insbesondere in Bezug auf seine gesundheitsfördernden Aspekte beschrieben. Das fünfte Kapitel verbindet

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dann die Aspekte der gesundheitsfÜrdernden Fßhrung und des Humors miteinander und wägt Chancen und Grenzen des Humors in Organisationen ab. Am Ende (sechstes Kapitel) wird ein Fazit aus den gewonnenen Einsichten gezogen.

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2 Führung in Organisationen Menschen haben sich zu jeder Zeit „organisiert“. Jedes Zusammenleben von Menschen in Gruppen bringt Regeln des Umgangs miteinander hervor. Während Gruppen aber definitorisch durch informelle Beziehungen, freiwillige Mitgliedschaft und Überschaubarkeit gekennzeichnet sind, können Organisationen als formalisierte kollektive Handlungszusammenhänge angesehen werden, die auf die Erreichung spezifischer Ziele gerichtet sind (Klatetzki 2008, S. 351). Aus Sicht der Sozialisationsforschung „wird durch den Eintritt in eine Organisation ein Individuum zum Mitglied in einem rechtlich fundierten Sozialsystem, mit der Folge, dass seine Handlungen nun entscheidend durch die Erwartungen und Anforderungen des Organisationssystems und nicht durch seine persönlichen Präferenzen bestimmt werden“ (a.a.O., S. 352). Als Ursache für die Herausbildung von Führung in Organisationen wird in betriebswirtschaftlichen Grundlagenwerken oft die Komplexität heutiger Güter- und Dienstleistungsproduktion und die deshalb historisch gewachsene notwendige Arbeitsteilung angeführt, die es durch Führungskräfte zu koordinieren gelte (vgl. Wunderer 2003, S. 4; Hungenberg/Wulf 2011, S. 20f). Merkwürdig selten wird aber die Frage nach der Macht und ihrer Legitimation, also der Begründung von Führungsansprüchen, gestellt. Wolf konstatiert eine bis heute anhaltende Ignoranz des Machtphänomens in der Organisations-, Management und Unternehmensführungslehre (Wolf 2011, S. 265ff). Deshalb erfolgt zunächst eine grundsätzliche Positionierung des Autors hinsichtlich der möglichen Perspektiven auf Machtverhältnisse in Organisationen unter Kapitel 2.1.1. 3

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Teils wird sogar biologistisch das „Naturrecht“ mit Rückgriff auf „Führungsverhalten“ im Tierreich (Rudel, Rangordnung) bemüht und Führung quasi als genetisch angelegtes animalisches Erbe angesehen.

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2.1 Theoretische Grundlagen zu Organisation und Führung 2.1.1 Der Organisationsbegriff Es gibt viele Definitionen dazu, was eine Organisation sei. Organisationen finden sich in allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft, sie sind bei weitem nicht – wie in diesem Buch – auf den Bereich des Arbeitslebens beschränkt. Und selbst, wenn man die Organisationen betrachtet, die als Arbeitgeber fungieren, ist festzustellen, dass heute sogar ein erheblich kleinerer Teil der Bevölkerung in der Privatwirtschaft beschäftigt ist als vor 100 Jahren. Den größten Wachstumsbereich im 20. Jahrhundert bildeten als Arbeitgeber vielmehr gemeinnützige Organisationen und Behörden (Boersch/Elschen 2007, S. 20). Der heute im allgemeinen Sprachgebrauch übliche Organisationsbegriff (etymologisch von „organon“ (gr.) abgeleitet = „Werkzeug“, „Instrument“, „Organ“) ist erst seit dem 19. Jahrhundert verbreitet, er kann als Produkt der Industrialisierung bezeichnet werden (Simon 2009, S. 41). Die dem Begriff innewohnende biologische Metaphorik von Organisationen („Organismus“) als „Ganzes“ mit Beziehung zu ihren „Teilen“ weist bis heute auf das ursprüngliche Verständnis hin, sie erklärt aber bei weitem das Funktionieren von Organisationen nicht hinreichend und ist wissenschaftlich weiterentwickelt worden (vgl. Luhmann 2000, S. 11). 4

Eine allgemein anerkannte Metatheorie der Organisation gibt es nicht. „Die Organisationstheorie ist keine homogene Disziplin. Sie verfügt über kein allseits akzeptiertes Paradigma, das Forschung und praktische Gestaltung einheitlich leiten würde. Im Gegenteil, unterschiedliche Perspektiven und Theoriengebäude konkurrieren um Erklärungs- und Gestaltungsrelevanz“ (Schreyögg 2004, S. 1069). Gründe dafür sind die hohe Komplexität von Organisationen und die unterscheidbaren Analyseebenen (Mikro-, Mesound Makrotheorien der Organisation), die je nach disziplinärem Erkenntnis4

Z.B. versinnbildlicht in Begriffen wie dem Staat als „Körper“, Kammern als „Körperschaften“, Unternehmen als „juristische Personen“.

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interesse zudem Unterschiedliches fokussieren (Kieser/Ebers 2006, S. 20). Wolf lehnt eine zu „oberflächliche“ Unterscheidung von Organisationstheorien (z.B. in „klassische“, „neoklassische“ und „moderne“ Ansätze) ab, sondern empfiehlt zur notwendigen Systematisierung die Ordnung der Organisationstheorien anhand zweier von Burrell und Morgan formulierten Polaritätsdimensionen. Diese sind erstens die Grundpolarität „Subjektivismus“ vs. „Objektivismus“. Diese beschreibe den methodischen Zugang zum Forschungsobjekt. „Subjektivistisch“ seien Theorien, die betonen, dass die Sicht/der Wert von Dingen/Phänomenen individuenabhängig sei und es keine objektive Weltsicht gebe (verstehende Wissenschaft). „Objektivistische“ Theorien dagegen gehen davon aus, dass Charakter/Eigenschaften von Dingen bzw. Phänomenen personenunabhängig spezifizierbar seien (erklärende Wissenschaft). Zweitens wird die Grundpolarität des „zugrundeliegenden Gesellschaftsverständnisses“ zugrunde gelegt. Theorien zu Organisationen greifen nämlich unterschiedliche Probleme auf. Den einen Pol der Betrachtung bildet hier der Begriff „regulation“ – hier sind Stabilität und Gleichgewicht (Ursachen für Ordnung in Organisationen) zentrale Denkansätze. Den entgegengesetzten Pol bildet der „radical change“, dies sind jene Theorieansätze, die den Wandel in Organisationen zu erklären versuchen. Kritik an bestehenden Zuständen und Verbesserung derselben sind die Ziele. Zudem gehen letztgenannte Theorien davon aus, dass Organisationen eher von Dissens als von Konsens geprägt sind (Wolf 2011, S. 624 ff). Mithilfe einer Vier-Felder-Matrix (vgl. Abb. 1) können daran angelehnt vier Theorieansätze unterschieden werden. Folgende stichwortartig zusammengefassten Ausprägungen sind ihnen charakteristisch: • Funktionalistische Ansätze (Dimensionen: Objektivismus, Stabilität/Ordnung): Ziele sind Herausarbeiten von Kausalitäten/Zusammenhängen zwischen Phänomenen, Streben nach verallgemeinernden Aussagen. Entwicklung einer „Sozialtechnologie“ zur Beherrschbarkeit komplexer Systeme.

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• Interpretative Ansätze (Dimensionen: Subjektivismus, Stabilität/Ordnung): soziale Realitäten sind nicht als „harte Fakten“ gegeben. Sie sind konstruiert, nicht gegenständlich fassbar. Nur Beschreibung/Ausdeutung von Vorgefundenem (Konstruiertem) möglich. Forscher als Subjekt hinterfragt subjektiven Sinngehalt der Akteure (doppelte Hermeneutik). Keine Kritik an bestehender Ordnung. • Radikal-strukturalistische Ansätze (Dimensionen: Objektivismus, Wandel durch Konflikt): Identifizierung/Analyse bestehender Machtquellen mit Ziel der Veränderung („Anleitung zur Revolution“). Themenschwerpunkte sind Mechanismen von Herrschaft, Entfremdung, Emanzipation. Sozialer Wandel ist forschungsleitend, fundamentaler Konflikt wird zwischen Produktionsverhältnissen und sozialen Einheiten („Arbeiterschaft“) vermutet. • Radikal-humanistische Ansätze (Dimensionen: Subjektivismus, Wandel durch Konflikt): Veränderung des Status Quo ebenfalls angestrebt, allerdings unter Berücksichtigung ungleicher Weltsichten/Deutungsmuster unterschiedlicher Akteure. Ziel ist Befreiung von Bevormundung, Entfremdung, Ausbeutung und Unterdrückung. Bestehende Strukturen sind soziale Konstruktionen, die von den mächtigsten Akteuren dominiert werden und so oberflächlich einen faktischen Konsens „vorgaukeln“. Tieferliegende Machtprozesse werden kritisch herausgearbeitet – Enthüllung durch „kritische Analyse“. Die (forscherseitigen) Interessen liegen offen, Orientierung am interpretativen Paradigma – aber radikal tiefergehend als nur die Frage nach dem „Wie“ der Konstruktion sozialer Realität wird die „Warum“-Frage gestellt (Welche Interessen welcher Akteure spielen eine Rolle?) Wolf schildert in eigener Erweiterung des vorgestellten zweidimensionalen Rasters, dass die historisch jüngeren der Organisations-, Management- und Unternehmensführungstheorien (u.a. Systemtheorie, verhaltenswissenschaftliche Theorie, machttheoretischer Ansatz, Evolutionstheorie) sich wie folgt darstellen: „Diese Theorien gehen von begrenzt rationalen Akteuren aus, sie sind tendenziell subjektivistisch. Regeln spielen bei ihnen eine relativ

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geringe Rolle, die Aussagen der Theorien sind hochsituativ. Nomologische Aussagen sollen eher nicht entwickelt werden; normative ebenfalls nicht“ (Wolf 2011, S. 629). Abb. 1: Zweidimensionales Raster zur inhaltlichen Systematisierung von Organisationstheorien

(Quelle: Wolf 2011, S. 625 in Anlehnung an Burrell/Morgan 1979, © Verlag Springer) In diesem Buch wird das letztgenannte radikal-humanistische Paradigma bei der Betrachtung von Organisationen bevorzugt. Es wirkt sich vor allem auf die nachfolgend kritische Sicht auf Führung in Organisationen aus.

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Nach T.S. Kuhn ist ein Paradigma die Gesamtheit des Wissens einer Disziplin, in der die Mitglieder der „scientific community“ übereinstimmen. Wissenschaft ist nach Kuhn kein kumulativer Erkenntnisfortschritt, er erkennt Revolutionen und Brüche in

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2.1.2 Was ist Führung? Gelegentlich wird als Hauptforschungsfrage der modernen Führungsforschung formuliert, was genau unter „Führung“ zu verstehen sei (Bertelsmann Stiftung 2010, S. VI). Führung ist Wunderer zufolge zu verstehen „als ziel- und ergebnisorientierte, aktivierende und wechselseitige, soziale Beeinflussung zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben in und mit einer strukturierten Arbeitssituation“ (Wunderer 2003, S. 4). Zudem gestaltet „Mitarbeiterführung die Einflussbeziehungen in führungsorganisatorisch differenzierten Rollen im Rahmen von Arbeitsverträgen“ (ebd.). Funktional sind diese Definitionen stimmig, sie unterschlagen aber die tiefere Bedeutung von Führung, wie im Folgenden aufgezeigt wird. Der Begriff der Führung wird gelegentlich durch den synonym gebrauchten Anglizismus „Leadership“ ersetzt (vgl. Achouri 2009; Eurich/Brink 2009). Dies deutet bereits eine grundlegend mögliche Unterscheidung des Führungsverständnisses im Kontext des Arbeitslebens an: in das der Unternehmensführung und jenes der Personalführung (Preißler 1992, S. 2). Unternehmensführung beinhaltet sowohl den Aspekt der institutionellen – also auf organisatorisch-rechtliche Strukturregeln zurückgehende – Führungsebenen (z.B. Unterscheidung in Top-, Middle- und LowerManagement) als auch den des funktionalen, Tätigkeiten abbildenden Prozesses, der grob gefasst aus den drei Teilaktivitäten Planung, Steuerung, Kontrolle besteht (Hungenberg/Wulf 2011, S. 24). Neuberger schlägt vor, speziell diesen strukturell-institutionellen Aspekt der Tätigkeit von Führungskräften mit dem Begriff „Management“ zu bezeichnen. Hingegen 6

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wissenschaftlichen Theoriebildungen, wenn bestehende Erklärungsmuster keine Antworten auf neu identifizierte Probleme liefern (Kriz et al. 1996, S. 167ff). 6 Das kann an der längeren Forschungstradition zu Führungstheorien in den USA liegen. Denkbar wäre aber auch eine manchmal im politischen Kabarett spöttisch persiflierte Affinität der Betriebswirtschaft zu möglichst englisch klingenden Neologismen. Vielleicht existiert hierzulande jedoch auch noch eine Sprachsensibilität wg. der historischen Belastung des „Führer“-Begriffs. 7 Das Wort „Management“ stammt ihm zufolge nicht vom naheliegenden lateinischen „manu agere“ (Hand anlegen; mit eigenen Händen machen) ab, sondern von „maneggia-

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besteht ihm zufolge beim Begriff „Führung“ eine Akzentsetzung in personal-interaktionaler Hinsicht (Neuberger 2002, S. 48). Folgende Gegenüberstellung veranschaulicht schlagwortartig die gebräuchliche Unterscheidung vermeintlicher Management- vs. Führungskompetenzen (s. Tab. 1). 8

Tab. 1: Manager und Führer – eine Gegenüberstellung

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Manager

Führer

...verwalten ... erhalten ... imitieren ...sind Kopien ...akzeptieren den Status Quo ...fokussieren sich auf Systeme ...verlassen sich auf Kontrolle ...sind auf kurzfristige Erfolge aus ...fragen nach wie und wann ...sind rational und kontrolliert ...haben die Bilanz im Auge ...machen Dinge richtig

...innovieren ...entwickeln ...kreieren ...sind Originale ...fordern den Status Quo heraus ...fokussieren sich auf Menschen ...setzen auf Vertrauen ...denken langfristig ...fragen nach was und warum ...sind begeistert und begeisternd ...haben die Vision im Herzen ...machen die richtigen Dinge

(Quelle: Neuberger 2002, S. 49, © UVK Verlagsgesellschaft mbH)

re“ (ital.) = ein Pferd führen/zurichten bzw. von „manégé“ (frz.) = dressiert. Es sei assoziiert mit der Beherrschung/Anwendung von Techniken und Kniffen (Neuberger 2002, S. 48). 8 „Führen“ leitet sich etymologisch vom Wortstamm „Fahren“ ab, Kernbedeutung ist „(etwas) fahren machen“ (Neuberger 2002, S. 8). 9 Diese dichotome Trennung illustriert zwar leicht verständlich die möglichen Bedeutungsunterschiede, allerdings kritisiert Neuberger selbst den verherrlichenden Charakter dieses Führer-Verständnisses als Rückkehr charismatischer Führung (Neuberger 2002, S. 49).

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