Bettina Flaiz, geb. 1981, hat Pflege/Pflegemanagement (Bachelor) und Pflegewissenschaft (Master) an der Hochschule Esslingen studiert und promovierte an der Philosophisch Theologischen Hochschule Vallendar. Sie ist examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Dualen Hochschule Baden-WĂźrttemberg, Studienzentrum fĂźr Gesundheitswissenschaften & Management in Stuttgart.
Bettina Flaiz
Die professionelle Identität von Pflegefachpersonen Eine Vergleichsstudie zwischen ÂAustralien und Deutschland
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
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Diese Dissertation wurde an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar unter dem Titel „Die professionelle Identität von Pflegefachpersonen. Eine Ländervergleichsstudie australischer gegenüber deutschen Pflegefachpersonen“ angenommen.
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Für Volker
Inhalt Abbildungsverzeichnis 13 Tabellenverzeichnis 14 Abkürzungsverzeichnis 16 Vorwort 19 1 Einführung 1.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung der Arbeit 1.2 Struktur der Arbeit
2 Stand der Forschung 2.1 Literaturrecherche 2.2 Annäherung an die professionelle Identität von Pflegefachpersonen 2.2.1 Werte als leitende Ausgangsbasis 2.2.2 Dimensionen und Elemente 2.2.3 Phasenmodelle 2.2.4 Annäherung an eine kollektive Identität 2.2.5 Zwischenbilanz 2.3 Besondere Einflussfaktoren 2.3.1 Bildung 2.3.2 Geschlecht 2.3.3 Vorbilder 2.3.4 Gruppe 2.3.4.1 Zugehörigkeit zur Profession 2.3.4.2 Zusammenarbeit 2.3.5 Zwischenbilanz 2.4 Caring als mögliches Element der professionellen Identität 2.5 Professionelle Identität als bestimmender Faktor 2.5.1 Pflegequalität und Patientenorientierung 2.5.2 Berufsausstieg
21 21 24
27 27 33 33 36 45 49 55 57 57 65 67 69 69 71 73 73 77 77 78
2.5.3 Zwischenbilanz 2.6 Studien zur professionellen Identität benachbarter Professionen 2.6.1 Stand der Forschung in der Sozialen Arbeit 2.6.2 Stand der Forschung in der Medizin 2.6.3 Zwischenbilanz 2.7 Desiderat 2.7.1 Vergleichende Studien 2.7.2 Gegenstandsbegründete Methodenwahl 2.7.3 Ausdruck professioneller Identität in Form von pflegerischer Performanz 2.8 Leitende Fragestellungen
81 83 83 86 89 90 92 94 95 97
3 Entwicklung der Profession Pflege in Deutschland und Australien
99
3.1 Deutsche Pflegehistorie 3.1.1 Einfluss der Medizin 3.1.2 Konfessionelle Prägung der Pflege 3.1.3 Akademisierung der Pflege 3.2 Australische Pflegehistorie 3.2.1 Einfluss der Medizin 3.2.2 Konfessionelle Prägung der Pflege 3.2.3 Akademisierung der Pflege 3.3 Zwischenbilanz zur Pflegehistorie in Deutschland und Australien
100 100 102 104 107 107 108 109 113
4 Theoretische Bezugspunkte 4.1 Wissen als mögliche Dimension professioneller Identität 4.1.1 Wissensformen der Pflege 4.1.2 Zwischenbilanz für die Untersuchung 4.2 Patientenorientierte Pflegeverständnisse als mögliche Dimension 4.2.1 Begriffsklärung patientenorientierte Pflegeverständnisse 4.2.2 Modell der multidimensionalen Patientenorientierung nach Wittneben 4.2.3 Verwandte Konzepte 4.2.4 Zwischenbilanz für die Untersuchung
117 118 118 122 125 125 128 134 136
4.3 Gruppen als mögliche Dimension 139 4.3.1 Die Bedeutung von Gruppen als theoretischer Bezugspunkt 139 4.3.2 Eckpunkte der Social Identity Theory 141 4.3.2.1 Gruppenzugehörigkeit und soziale Kategorien 141 4.3.2.2 Gruppenperformanz 145 4.3.3 Eckpunkte der Self-categorization Theory 146 4.3.4 Zwischenbilanz für die Untersuchung 147 4.4 Professionstheorien als möglicher Ausgangspunkt professioneller Identität 150 4.5 Bourdieus Habitus-Konzept 160 4.5.1 Nutzen von Bourdieus Habitus-Konzept 160 4.5.1.1 Wissenschaftstheoretisches Verständnis Bourdieus 161 4.5.1.2 Kollektive Denkschemata des Habitus 163 4.5.1.3 Habitus als subjektives Produktionssystem 164 4.5.1.4 Habitus als Modus operandi und Opus operatum 165 4.5.2 Das Habitus-Konzept als Sozialisationstheorie 167 4.5.3 Beharrungstendenz des Habitus 169 4.5.3.1 Hysteresis-Effekt 169 4.5.3.2 Automatismus 170 4.5.4 Habitus und Feld, Kapital, Strategien 171 4.5.5 Rezeption des Habitus-Konzepts in pflegewissenschaftlichen Studien 174 4.5.6 Zwischenbilanz für die Untersuchung 178 183 4.6 Zusammenfassung der theoretischen Bezugspunkte 4.6.1 Thesen 183 4.6.2 Theoretisches Konstrukt 185 4.6.3 Arbeitsdefinition 189
5 Forschungsdesign 5.1 Forschungsmethodologische Grundlagen der Untersuchung 5.1.1 Methodologische Einordnung 5.1.2 Formulierung der Forschungsfrage 5.1.3 Gütekriterien der Arbeit 5.2 Begründung der Erhebungsform 5.2.1 Episodisches Interview
193 193 193 195 199 205 207
5.3 5.4 5.5 5.6
5.7
5.8
5.2.2 Szenarien 5.2.3 Bilder Konzeption der Erhebung Pretest und Modifikation des Erhebungsinstruments Forschungsethische Implikationen Sampling und Zugang zum Feld 5.6.1 Begründung der Samplingstrategie 5.6.2 Zugang zum Feld Durchführung der Untersuchung 5.7.1 Interviewdurchführung in Australien 5.7.2 Interviewdurchführung in Deutschland Vorgehen bei der Datenauswertung 5.8.1 Transkription 5.8.2 Begründung der Datenauswertung 5.8.3 Erläuterung und Durchführung der Datenauswertung
6 Ergebnispräsentation 6.1 Struktur der Ergebnispräsentation 6.2 Beschreibung der Stichprobe 6.2.1 Stichprobe Australien 6.2.2 Stichprobe Deutschland 6.3 Ergebnispräsentation Australien 6.3.1 Entscheidungsparameter 6.3.2 Arbeitsweise 6.3.3 Gute Pflege 6.3.3.1 Expertise-Orientierung 6.3.3.2 Bedürfnisorientierung 6.3.4 Zugehörigkeit zum Pflegeteam 6.3.4.1 Teamplayer – Australien 6.3.4.2 Einzelkämpferin 6.3.5 Zusammenarbeit von Pflege und Medizin 6.3.5.1 Traditionelle Hierarchie 6.3.5.2 Advocacy 6.3.5.3 Gleichberechtigte Partnerschaft 6.3.6 Vertretung der Profession
208 210 212 217 218 224 224 231 233 233 235 236 236 237 239
247 247 250 252 254 256 256 264 269 270 273 280 280 283 284 285 287 290 291
6.4 Zwischenbilanz australische Themenfelder 6.5 Ergebnispräsentation Deutschland 6.5.1 Entscheidungsparameter 6.5.2 Arbeitsweise 6.5.3 Persönlich-naives Wissen 6.5.4 Gute Pflege 6.5.4.1 Konform-Orientierung 6.5.4.2 Ideal-Orientierung 6.5.5 Zugehörigkeit zum Pflegeteam 6.5.5.1 Teamplayer 6.5.5.2 Einzelgänger/-innen 6.5.6 Zusammenarbeit von Pflege und Medizin 6.5.6.1 Traditionelle Hierarchie 6.5.6.2 Sprachrohr 6.5.7 Vertretung der Profession 6.6 Zwischenbilanz der deutschen Themenfelder
7 Ergebnisdiskussion 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5
Verhinderung vs. Ermöglichung „guter“ Pflege Fremdbestimmung vs. Selbstbestimmung „guter“ Pflege Persönlicher Maßstab vs. wissenschaftliches Selbstverständnis Jede/-r für sich vs. gemeinsame Zielsetzungen Traditionelle Spielregeln vs. Verschiebung von Kapital
8 Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse und Implikationen 8.1 Zusammenfassung 8.2 Implikationen
9 Resümee 9.1 Reflexion der Vorgehensweise 9.2 Abschließende Betrachtung
295 299 299 304 307 310 311 313 316 316 318 320 320 323 327 330
335 335 338 344 347 352
357 357 362
369 369 373
Literaturverzeichnis 375
Vorwort Bettina Flaiz hat eine bemerkenswerte Studie zur Pflege verfasst, die zugleich professionstheoretisch wie auch gesundheits- und berufspolitisch einiges an Sprengstoff enthält. Sie hat sich auf die Suche nach den Ausdrucksformen professioneller Identität von Pflegefachpersonen in zwei doch recht unterschiedlichen Regionen der Welt gemacht. Die Unterschiedlichkeit zwischen der Pflege in Deutschland und Australien beruht u. a. auf differenten Bildungswegen, Berufs- bzw. Professionskonstruktionen und Beschäftigungsbedingungen. Wie also lassen sich vor diesen und weiteren Hintergründen Vergleiche und Unterschiede im beruflichen Grund- und Selbstverständnis, in Begründungskompetenzen und in der damit korrespondierenden professionellen Identität von erfahrenen Pflegenden beschreiben und erklären? Die Autorin stützt sich theoretisch auf die klassische wie die moderne Professionssoziologie. Mit den klassischen Theorien werden bekanntlich vor allem Strukturen, Funktionen und Prozesse von Professionen und Professionalisierung erfasst und erklärt. Den modernen Theorien geht es hingegen stärker um das Verständnis professionellen Handelns sowie aktuell um Fragen von Haltungen und Identitäten der Akteure, also um deren Professionalität. Schließlich hat die Autorin vor dem Hintergrund der Habitustheorie und Kapitalbegriffen von Pierre Bourdieu ihre qualitativen Interviews entwickelt, begründet und umgesetzt. Die Gegenüberstellung von insgesamt 24 Interviewauswertungen zeigt, dass die australischen Pflegefachpersonen in dieser Studie ganz andere Formen professioneller Identität haben zeigen können als die deutschen. Dies offenbart sich sowohl in den Grundvorstellungen und Überzeugungen von guter Pflege als auch in ihrer Selbstbestimmtheit, ihrer wissenschaftsfundierten Reflexions- und Begründungsfähigkeit, ihrer Orientierung an und in Teams und vor allem an der entschiedenen Zugehörigkeit zur Profession Pflege. Ganz besonders imponiert aber die ausgereifte und durchgängige Ausrichtung am Dienstleistungsauftrag und dem Wohlergehen der anvertrauten Patienten und Pflegebedürftigen in Australien. Die deutschen Pflegefachpersonen hingegen orientieren sich vor allem an einem funktionierenden Ablaufgeschehen in den Organisationen, lassen sich leichter fremdbestimmen, argumentieren überwiegend subjektiv und erfah19
Vorwort
rungsorientiert und sind, wenn auch in gewisser Weise an Teams ausgerichtet, doch weitgehend orientierungs- und organisationslos, was die Berufsgruppe bzw. die eigene Profession anbelangt. In der Auseinandersetzung und Selbstbehauptung gegenüber anderen Professionen, wie insbesondere der Ärzteschaft, aber auch im Hinblick auf die sowohl in Australien als auch in Deutschland bestimmenden Ökonomisierungsprozesse im Gesundheitswesen sind die australischen Pflegefachpersonen erheblich besser gewappnet als ihr Pendant in Deutschland. Bettina Flaiz verweist auch auf die eigentlichen Gründe für diese Differenzen. Bildung, Organisation und Legitimation der Pflegeprofession in Australien verlaufen in vielerlei Hinsicht anders als in Deutschland. Heißt es dort seit mehr als 30 Jahren Studium und wissenschaftsorientierte Sozialisation, ist es hier in erster Linie die Berufsausbildung und die berufliche Sozialisation; heißt es dort bereits seit den 1960er Jahren berufsständisch in Kammern organisierte und registrierte Pflegefachperson, sind es hierzulande kaum organisierte und auch nicht registrierte Pflegende. Und heißt es dort „Nurse-Patient-Ratio“, erlebt die Pflege hierzulande seit Jahren einen laufenden und schier unendlichen Exodus der Pflege aus den Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen und aus dem Beruf heraus auch und gerade wegen fehlender, wirksamer Personalbemessungssysteme. Mit den Ergebnissen ihrer Studie kann die Autorin zeigen, wie eine je unterschiedlich strukturierte Struktur wiederum differente strukturierende Strukturen hervorbringen kann, um mit Bourdieu zu sprechen. Konkret: Die professionsförderlichen Rahmenbedingungen der Pflege in Australien ermöglichen die Entwicklung von derartigen professionellen Identitäten und Habitus bei den Pflegenden, die nicht nur den Patienten und Pflegebedürftigen in der Versorgung zugutekommen, sondern wiederum professionsförderliche Rahmenbedingungen einfordern, durchsetzen und erfolgreich transformieren können. Das Buch von Bettina Flaiz reiht sich damit in maßgebliche Beiträge zur Professionalisierung der Pflege ein. Es trägt eindrucksvoll zur Weiterentwicklung einer identitäts- und haltungsorientierten Professionstheorie und inspirierend zum Diskurs über berufliches Selbstverständnis und professionelle Identität von Pflegefachpersonen in Deutschland bei. Vallendar, November 2017
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Univ.-Prof. Dr. phil. Frank Weidner
(Lehrstuhl Pflegewissenschaft, PhilosophischTheologische Hochschule Vallendar)
1 Einführung „‘Who are you?’ said the caterpillar. ‘I – I hardly know, Sir, just at present’, Alice replied rather shyly, ‘at least I know who I was when I got up this morning, but I think I must have been changed several times since then.’“ (Carroll 1967, S. 47)
1.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung der Arbeit Das Interesse an Identität allgemein und der damit implizierten Fragestellung „Wer bin ich?“ im Besonderen besteht seit der Antike. Allerdings ist hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Identitätsfragen in der modernen Gesellschaft eine zunehmende Konjunktur festzustellen, die auf Umbruchssituationen vormals etablierter Strukturen und Normen zurückzuführen ist. Identität erhält dabei die Funktion eines Orientierung bietenden Kompasses (vgl. Zirfas 2010, S. 9–11). Übertragen auf die Pflege sind zwei Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nennen, welche die vormals gültigen Strukturen und Normen der Berufsgruppe und somit deren Identität infrage stellen: 1. Einhergehend mit der Dominanz der naturwissenschaftlichen Perspektive innerhalb der Medizin besteht eine Präferenz für medizinische Diagnostik, die mittlerweile aufgrund der Möglichkeiten des technischen Fortschritts eine Hochleistungsmedizin befördert hat, die widerum dazu beiträgt, dass ebenso in der Pflege Umstrukturierungen und neue Aufgabenbereiche entstehen (vgl. Uexküll 1994, S. VII; Dörge 2009, S. 22–23). 2. Vergleichbar, im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Raum, aber erheblich verzögert, setzt ab den 1990er Jahren im Bildungsbereich eine hochschulische Qualifikationsoffensive von Pflegefachpersonen ein, um durch die Akademisierung von Pflege diese zugleich zu professionalisieren. (vgl. Reinhart 2015, S. 41–44; Remmers in: Eylmann 2015, S. 18–19). Generell zeichnen sich seit den 1990er Jahren, innerhalb der deutschen Pflege, verstärkt Bestrebungen ab, die Pflege als Profession zu etablieren. 21
1 Einführung
Die Folgen dieser Entwicklungen sind als widersprüchlich zu bezeichnen. Einerseits deutet Proksch mit der sprachlichen Wendung von Pflegemanagerinnen/-managern, die vormals als Stationsleitungen und davor als Stationsschwestern bezeichnet wurden, auf vollzogene Weiterentwicklungen der Pflege hin (vgl. Proksch 2014, S. 1–2). Ebenfalls scheint die in der Pflege bekannte Argumentation im Sinne von „Das haben wir schon immer so gemacht“ passé, sodass der Eindruck entsteht, dass der Wandel hin zu einer modernen Profession Pflege in Deutschland vollzogen ist (vgl. Höhmann 2013, S. 315–330). Andererseits unterstreicht die Bewertung von Dörge (2009) die Fragilität der skizzierten Entwicklungen, wenn sie auf die anhaltende Sprachlosigkeit der Pflege verweist und beim Großteil der deutschen Pflegefachpersonen kein professionelles Pflegehandeln erkennt (vgl. Dörge 2009, S. 95–96). Ähnliche Schlussfolgerungen finden sich in Studien, die trotz hochschulischer Qualifikationen von Pflegefachpersonen kaum nennenswerte Erweiterungen der pflegerischen Sichtweise feststellen (vgl. Mischo-Kelling 2012, S. 425–426). Folglich ist eine pflegerische Handlungskompetenz, wie sie Raven (2007) als konstituierend für die Profession Pflege erachtet und wie sie sich durch Fallverstehen vollziehen müsste, immer noch ein Novum in der Pflege (vgl. Raven 2007, S. 207–209). Hofmann (2012) problematisiert darüber hinaus, dass sich eine pflegewissenschaftliche Elite in Deutschland gebildet hat, jedoch die große Masse der Pflegefachpersonen sich weiterhin als „Mädchen für alles“ (Hofmann 2012, S. 1161) versteht. Vor diesem Hintergrund sind Erkenntnisse der 1990er Jahre, wie in der Dissertation von Weidner (1995) oder bei Taubert (1992), die sich mit dem „neuen Selbstverständnis“ (Taubert 1992, S. 1) der Pflege beschäftigt haben, nach wie vor aktuell. Taubert skizziert vor nunmehr 25 Jahren folgendes Bild der Pflege: „Die Anzeichen der tiefergreifenden Orientierungskrisen in der Krankenpflege sind nicht zu übersehen. Identitätsdiffusion und fehlende Orientierung verstärken die Rollenkonflikte der Pflegenden und erschweren die notwendige Ambiguitätstoleranz sowie die Fähigkeit zur Identitätsdarstellung.“ (Taubert 1992, S. 214) Insbesondere die Fähigkeit zur Identitätsdarstellung, wie sie von Taubert gefordert wird, würde voraussetzen, dass sich Pflegefachpersonen dieser bewusst sind. Forderungen nach einem Neu-Zuschnitt des Aufgabenprofils sowie 22
1.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung der Arbeit
Veränderungen im Ausbildungsbereich erweisen sich in dieser Hinsicht als wenig förderlich, um der Orientierungslosigkeit der Pflege entgegenzuwirken (vgl. Wissenschaftsrat 2012; Dreier et al. 2015, S. 95–107; Rundt 2015, S. 29–31). Mit der skizzierten Ausgangslage ist der deutschen Pflege einerseits eine Verunsicherung ihrer professionellen Identität zu bescheinigen, die unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen im Gesundheitsbereich nicht zurückgehen wird, andererseits liegen kaum Untersuchungen zur professionellen Identität von Pflegefachpersonen für Deutschland vor (vgl. Gerlach 2013, S. 62). Brown hat bereits 1995 in ihrer Untersuchung das professionelle Selbstverständnis amerikanischer und deutscher Pflegefachpersonen untersucht und vor dem Hintergrund der Etablierung der ersten Pflegestudiengänge in Deutschland Chancen der Entwicklung einer professionellen Identität formuliert (vgl. Brown 1995, S. 230). Dennoch finden sich nach Mitte der 1990er Jahre kaum mehr Studien, die sich explizit mit dem Thema auseinandersetzen1. Grund dafür ist eine junge deutsche Pflegewissenschaft mit enormem Nachholbedarf in verschiedensten Bereichen (vgl. Behrens et al. 2012, S. 4–8; Bartholomeyczik 2009, S. 50). Demgegenüber sind internationale Forschungsaktivitäten bereits seit Anfang der 1990er Jahre festzustellen, wenngleich auch dort eine einheitlich anerkannte Definition professioneller Identität fehlt. Darüber hinaus wird ebenso und nach wie vor ein dringlicher Forschungsbedarf konstatiert (vgl. Johnson et al. 2012, S. 562). Mit der vorliegenden Arbeit wird eine Annäherung und Exploration von professioneller Identität als das Erkenntnisinteresse durch eine multiperspektivische Herangehens- und Vorgehensweise realisiert (vgl. Schulze 2016, S. 122–124), indem untersucht wird, wie unter bestehenden Verunsicherungen Pflegefachpersonen ihre pflegerische Performanz – das bedeutet ihre Wahrnehmungen, Entscheidungen und Handlungen – vor dem Hintergrund einer professionellen Identität begründen. Wesentlich ist dabei, nicht nur monoperspektivisch die Begründungen für die pflegerische Performanz deutscher Pflegefachpersonen zu beschreiben, sondern mittels eines Ländervergleichs Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu bestimmen, um eine Annäherung an die 1 Ausnahmen stellen die Studien zum Professionalisierungspotenzial (Weidner 1995), zur beruflichen Identität in der medizinischen Rehabilitation (Hotze 1997) sowie zu Aspekten beruflicher Sozialisation und Identität (Walter 1991) dar.
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1 Einführung
Konstruktion der professionellen Identität vorzunehmen und damit neue Perspektiven zu eröffnen. Neben einem Ländervergleich im empirischen Teil werden verschiedene theoretische Perspektiven berücksichtigt. Eigens für die Pflege können dadurch Elemente, Dimensionen und Einflussmöglichkeiten professioneller Identität in Bezug auf curriculare Entwicklungen oder den Berufsverbleib abgeleitet werden. Bislang machen groß angelegte Studien wie die NEXT-Studie (Nurses Early Exit Study) auf alarmierende Zahlen zum Berufsausstieg aufmerksam (vgl. Achenbach 2005, S. 416–420), allerdings fehlen Beiträge, die konkrete Erkenntnisse zur Vorbeugung dessen liefern. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit können daher in genannten Debatten möglicherweise neue Aspekte aufzeigen. Darüber hinaus wird in internationalen Studien für eine Intensivierung an Untersuchungen plädiert, da die Bedeutung professioneller Identität in Bezug auf eine höhere Selbstwirksamkeit, präventive Auswirkungen eines Burn-out (vgl. Cowin 2008, S. 1450) sowie als förderlicher Aspekt erfolgreicher interprofessioneller Zusammenarbeit (vgl. King et al. 2010, S. 77–78) vermutet werden. Letztlich ist erst durch Erkenntnisse über die professionelle Identität deren gezielte Beeinflussung und Veränderung möglich.
1.2 Struktur der Arbeit Im Wesentlichen ist die Arbeit in einen theoretischen und einen empirischen Teil gegliedert. Im zweiten Kapitel wird der Stand der Forschung analysiert, um eine Ausgangsbasis zur Formulierung eines Desiderats zu schaffen und ebenso die leitenden Fragestellungen der Arbeit zu fundieren. In einem sich anschließenden Abriss wird die Pflegehistorie der Länder Deutschland und Australien vorgestellt. Beide Länder sind im empirischen Teil für die komparative Studie vorgesehen, weshalb eine Skizzierung der landesspezifischen Pflegehistorie unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bedeutsamkeit für die professionelle Identität erfolgt. Insbesondere vor dem Hintergrund der in Kapitel zwei gewonnenen Erkenntnisse zum Stand der Forschung werden im theoretischen Teil ausgewählte Theorien, Modelle und Konzepte vorgestellt und ihre Relevanz und Konsequenzen für die empirische Untersuchung benannt. Zunächst steht dabei die Frage im Raum, über welches Wissen Pflege verfügt oder inwiefern es prägend 24
1.2 Struktur der Arbeit
und leitend für Pflegefachpersonen ist. Im Weiteren wird die Vielfalt patientenorientierter Pflegeverständnisse aufgegriffen, um das breite Spektrum an Pflegeverständnissen bezüglich der Bedeutsamkeit für die professionelle Identität fassbar zu machen. Mit der anschließenden Vorstellung einer Gruppentheorie, einem Überblick zu professionssoziologischen Ansätzen und deren Bezug zur professionellen Identität sowie im Weiteren durch Darlegung Bourdieus Habitus-Konzepts sind insbesondere Einflussgrößen und mögliche Dimensionen einer professionellen Identität, wie beispielsweise die Sozialisationserfahrung, berücksichtigt. Abschließend werden die theoretischen Bezugspunkte in Thesen zusammengefasst, auf diese Weise ein vorläufiges theoretisches Konstrukt sowie eine Arbeitsdefinition professioneller Identität skizziert und dadurch eine zentrale Grundlage für die empirische Untersuchung gebildet. Im empirischen Teil stehen zunächst Begründungen zum Forschungsdesign sowie die methodische Vorgehensweise, insbesondere die Entwicklung und Begründung der Erhebungs- und Auswertungsinstrumente, im Mittelpunkt. Besondere Beachtung erfahren Spezifika, die aufgrund des Ländervergleichs berücksichtigt werden. Mit dem Vergleich deutscher mit australischen Pflegefachpersonen ist eine Kontrastfolie im empirischen Teil verankert, sodass Unterschiede und Gemeinsamkeiten bezüglich der Begründungen ihrer pflegerischen Performanz herausgearbeitet werden können, die auf die Konstruktion ihrer aktuellen professionellen Identität zurückzuführen sind. Australien wurde dabei gezielt für den Ländervergleich ausgewählt, da die Ausbildung seit Jahrzehnten an der Hochschule angesiedelt ist, folglich Pflegefachpersonen mit Bachelorabschluss in der unmittelbaren Patientenversorgung tätig sind (vgl. Du Toit 1995, S. 167). Vor diesem Hintergrund besteht ein Kontrast zur deutschen Pflege, die in dieser Hinsicht noch am Beginn der Akademisierung der Pflege steht (vgl. Kälble/Borgetto 2016, S. 395–396). Von Interesse sind somit Fragen nach denjenigen Elementen oder Dimensionen, die in den Begründungen ihrer pflegerischen Performanz relevant sind: Warum treten gerade diese in Erscheinung, und weisen sie landesspezifische Unterschiede auf? Diese Aspekte werden schließlich in der Ergebnispräsentation und Diskussion unter Einbezug der theoretischen Bezugspunkte und des Forschungsstands eruiert. Mit der Zusammenfassung der Ergebnisse werden darüber hinaus Implikationen abgeleitet. Die Schlussbetrachtung dient der Reflexion und ist ebenso in Hinsicht auf anstehende Aufgaben, Herausforderungen und Möglichkeiten zu lesen. 25
1 Einführung
Die Struktur der Arbeit betreffend ist hinzuzufügen, dass eine spezifische Perspektive vorliegt, die sich vor allem durch die qualitative empirische Untersuchung manifestiert (vgl. Lamnek 1995, S. 16). Obwohl das Thema professionelle Identität verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen berührt, ist hiesiges Wissenschaftsverständnis qualitativ zu verorten (vgl. Westmeyer 2009, S. 50; S. 417–422), demzufolge liegt ein plurales Theorieverständnis zugrunde, das wiederum mit der Multiperspektivität des theoretischen sowie des empirischen Teils korrespondiert (vgl. Winter 2010b, S. 133; Schulze 2016, S. 122–124).
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