So kรถnnte es gewesen sein.
Matthias David, Prof. Dr. med., geb. 1961, Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Gynäkologie, Campus Virchow-Klinikum an der Berliner Charité, Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Versorgungsforschung/Migration, Psychosomatik, Medizingeschichte und klinische Arbeiten zur Myomtherapie. Andreas D. Ebert, Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. h. c. mult., geb. 1963, ist Ärztlicher Leiter der Praxis für Frauengesundheit, Gynäkologie und Geburtshilfe in Berlin (www.prof-ebert.de). Studium der Medizin an der Charité sowie der Geschichte an der Technischen Universität Berlin. Promotion (Dr. med.) 1990 an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Promotion (Dr. phil.) 1995 an der TU Berlin. Forschungsaufenthalt am National Cancer Institute/NIH (USA). Habilitation (2000). 2005 Ernennung zum apl. Professor. 2005–2013 Chefarzt. 2014 Gründung der eigenen Praxis mit Studienzentrum. Forschungsschwerpunkte: Endometriose, Myome, operative und konservative Frauenheilkunde sowie deutsch-russischeGeschichte und Medizingeschichte. Präsident der Deutsch-Russischen sowie der DeutschAzerbaijanischen Gesellschaften für Gynäkologie und Geburtshilfe. 2016 Bundesverdienstkreuz am Bande.
Matthias David, Andreas D. Ebert (Hrsg.)
Berühmte Frauenärzte in Berlin Band 2 Mit Beiträgen von M. David, J. W. Dudenhausen, A. D. Ebert, W. Henrich, E. Keil, H. Kentenich, W. Lichtenegger, W. Pritze, M. T. Schäfer, G. Schmidt (†), E. Tammiksaar und J. Sehouli
Im Auftrag der Gesellschaft für Geburtshilfe und GynäkoloIgie in Berlin (GGGB) anlässlich ihres 175-jährigen Bestehens im Jahr 2019
Ebert2018-KORR-5x_INHALT_K_Layout 1 17.04.2018 08:52 Seite 4
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Inhalt Vorwort (Elke Keil) .................................................................................................................................. 9 Einführung (Matthias David, Andreas D. Ebert) .......................................................................... 11
TEIL 1: PERSONEN Joachim Friedrich Henckel (1712–1779) ....................................................................................... 15 und die erste Sectio caesarea an der Lebenden in Berlin (Martin T. Schäfer, Andreas D. Ebert, Matthias David)
Die ersten Professoren der Geburtshilfe an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin: Adam Elias von Siebold (1775–1828) und Eduard Casper Jakob von Siebold (1801–1861) ................................................................ 25 (Andreas D. Ebert, Matthias David)
Eduard Arnold Martin (1809–1875) und die Geburt des späteren Kaisers Wilhelm II. ............................................................... 41 (Matthias David, Andreas D. Ebert)
Carl Siegmund Franz Credé (1819–1892), der Credésche Handgriff und die Credésche Augenprophylaxe ............................. 45 (Andreas D. Ebert, Matthias David)
Rudolf Virchow (1821–1902) und die Entstehung des Begriffs „Myom“ ............................................................................. 51 (Matthias David, Andreas D. Ebert)
Robert von Olshausen (1835–1915) und die Anfänge der operativen Frauenheilkunde .......................................................... 57 (Andreas D. Ebert, Matthias David)
August Eduard Martin (1847–1933) und der „Drei-Männer-Handgriff“ bei der Beckenendlagengeburt ..................................................................................................................... 63 (Matthias David, Andreas D. Ebert)
Johann Veit (1852–1917) und der Beginn der „Stückchendiagnostik“ in Berlin ................................................... 67 (Andreas D. Ebert, Matthias David)
Georg Winter (1856 –1946) und die Anfänge der „Krebsbekämpfung durch Früherfassung“ in Ostpreußen ....................................................................................................................................... 73 (Andreas D. Ebert, Matthias David)
Sigmund Freud (1856 –1939), Wilhelm Fließ (1858–1928) und Alfred Koblanck (1863–1928): die Psychoanalyse, die Nase und das weibliche Genitale
............................................. 79
(Matthias David, Andreas D. Ebert)
Ernst Bumm (1858 –1925) und sein „Grundriss zum Studium der Geburtshilfe“
................................................... 85
(Matthias David, Andreas D. Ebert)
Hermann Johannes Pfannenstiel (1862–1909) und die Einführung des suprasymphysären Faszienquerschnitts ............................. 89 (Matthias David, Andreas D. Ebert)
Alfred Dührssen (1862–1933): verkanntes Genie oder egomaner Querulant? .................................................................... 93 (Matthias David, Andreas D. Ebert)
Karl Franz (1870 –1926): der „beste Operateur Deutschlands“
..................................................................................... 99
(Andreas D. Ebert, Wolfgang Pritze, Matthias David)
Von Wien über Prag nach Berlin: Georg August Wagner (1873 –1947) – ein Operateur macht Schule ............................ 109 (Andreas D. Ebert, Matthias David)
Max Hirsch (1877–1948) und die Frauenkunde ....................................................................... 115 (Matthias David, Andreas D. Ebert)
Benno Hallauer (1880 –1943): Eierstocktransplantation, Krebsforschung und Narkohypnose .......................... 121 (Matthias David, Andreas D. Ebert)
Ernst Philipp (1893 –1961) und seine Nominierung für den Nobelpreis für Medizin und Physiologie 1957 ...................................................................................................................... 127 (Andreas D. Ebert, Matthias David)
Zum Wirken von Benno Ottow (1884 –1975) in Dorpat, Berlin und Stockholm .................................................................................................................... 131 (Andreas D. Ebert, Erki Tammiksaar, Matthias David)
Hermine Heusler-Edenhuizen (1872–1955): die erste Frauenärztin Deutschlands ................................................................. 139 (Matthias David, Andreas D. Ebert)
TEIL 2: ORTE UND STRUKTUREN Zur Geschichte der Universitätsfrauenklinik Charlottenburg
.......................... 147
(Matthias David, Gösta Schmidt (†), Heribert Kentenich)
Die Frauenklinik am Mariendorfer Weg: Von der „Brandenburgischen Hebammenlehranstalt und Frauenklinik“ zur „Städtischen Frauenklinik Neukölln“ ......................................... 153 (Joachim W. Dudenhausen)
Zur Geschichte des Rudolf-Virchow-Krankenhauses
................................................. 163
(Matthias David, Gösta Schmidt (†), Jalid Sehouli, Werner Lichtenegger)
Vom Universitätsklinikum Steglitz (UKS) der FU Berlin zum Campus Benjamin Franklin (CBF) der Charité – Universitätsmedizin Berlin ......................................................................................................... 171 (Andreas D. Ebert)
Die Denkschrift der Puerperalfieber-Commission der Gesellschaft für Geburtshülfe und Gynäkologie in Berlin von 1877 .............................................................................................................................. 187 (Matthias David, Andreas D. Ebert)
Die Vorsitzenden der „Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in Berlin“ seit ihrer Gründung 1844 bis zum Mai 2018 ................................................................................................................................ 193 (Andreas D. Ebert)
Nachwort (Wolfgang Henrich) ........................................................................................................ 195 Danksagung und Ausblick (Matthias David, Andreas D. Ebert) ......................................... 197
Personenregister ............................................................................................................................... 201
Vorwort
Die Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in Berlin (GGGB) zählt zu den ältesten wissenschaftlichen Gesellschaften Deutschlands und feiert 2019 ihr 175. Jubiläum. Wieder ist es unseren beiden schon länger medizinhistorisch aktiven Kollegen Matthias David und Andreas D. Ebert zu verdanken, dass dieser Anlass gewürdigt wird und es mit der Herausgabe dieses nun vorliegenden Buches auch eine Fortsetzung ihrer Publikationen zur Geschichte der Berliner gynäkologischen Gesellschaft gibt. 1994 erschien unter der Federführung von A. D. Ebert und H. K. Weitzel aus Anlass ihres 150-jährigen Bestehens die Festschrift „Die Berliner Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie 1844 –1994“, an der zahlreiche Berliner Autoren mitgearbeitet haben. Mit einem zweiten Buch „Berühmte Frauenärzte in Berlin“ setzten M. David und A. D. Ebert die Beschreibung der Geschichte unserer traditionsreichen Gesellschaft 2007 fort. Die Berliner Gesellschaft in ihrer noch heute bestehenden Form entstand aus der am 13. Februar 1844 von Carl Mayer, dem späteren Schwiegervater von Rudolf Virchow, gemeinsam mit neun weiteren geburtshilflich tätigen Ärzten gegründeten Gesellschaft für Geburtshülfe. Es war herausragenden Medizinern zu verdanken, dass das wissenschaftliche Leben in der GGGB trotz Kriegen und der deutschen Teilung aufblühen und sich entwickeln konnte.
Berühmte Frauenärzte in Berlin · Band 2
Das vorliegende Buch knüpft daran an, an Mediziner zu erinnern, deren Namen zum Begriff geworden sind. An die Personen, die dahinterstehen, erinnern sich nicht mehr viele, obschon die damit verbundenen Begriffe nahezu allen Frauenärzten weiterhin geläufig sind. Es ist Anliegen des Buches, die Kreativität und die persönlichen Hintergründe von Ärzten und Wissenschaftlern zu beleuchten, die die Wurzeln unseres Faches heute noch bestimmen. Gesellschaftsbedingt war die wissenschaftliche Entwicklung der Gynäkologie und Geburtshilfe jahrhundertelang eine Männerdomäne. Auch heute noch sind Frauen in der Medizin sowohl als Ordinarien als auch in leitenden Funktionen deutlich unterrepräsentiert. Im Gegensatz dazu steht der wachsende Frauenanteil beim Studium der Humanmedizin. Den Frauen ist es zu wünschen, dass es ihnen selbstverständlich wird, sich bei der weiteren Entwicklung unseres Faches ebenso zu verwirklichen. Im Namen des Vorstandes der GGGB danke ich den Autoren und den Herausgebern M. David und A. D. Ebert für ihre Arbeit und freue mich, dass auch dieses Buch unsere wissenschaftliche Gesellschaft begleiten und dafür sorgen wird, dass die Geschichte nicht verloren geht.
Dr. med. Elke Keil Vorsitzende der Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie in Berlin 2016 – 2018
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Matthias David, Andreas D. Ebert
Einführung
Was hat uns dazu bewogen, einen zweiten Teil der „Berühmten Frauenärzte in Berlin“ vorzulegen? Welche Argumente gibt es dafür, die Kollegenschaft und vor allem die nachwachsende Ärztinnen- und Ärztegeneration mit der Geschichte ihres Faches bekannt zu machen? Welche Personen, Geschehnisse, Ereignisse, Institutionen und Strukturen sind es aus unserer Sicht Wert, an sie zu erinnern? Was fasziniert uns an der (Medizin-)Geschichte? Was verstehen wir unter Geschichte? „Der Begriff ‚Geschichte‘ wird in zwei spezifischen Bedeutungen benutzt. Geschichte wird einmal als Bezeichnung für den Ablauf von Ereignissen und zum anderen als Bezeichnung für die Darstellung dieses Ablaufes benutzt. Während die Rede vom ‚Ablauf der Ereignisse‘ eher die Vorstellung von objektiv rekonstruier- und erklärbaren Geschehensabläufen – eben der ‚Geschichte‘ – fokussiert, steht in der zweiten Bedeutung der Prozess der Konstruktion der Vergangenheit und sein Einfluss auf die entstehenden ‚Geschichten‘ im Vordergrund. In den geschichtstheoretischen Diskussionen der jüngeren Vergangenheit hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Rede vom ‚Ablauf der Ereignisse‘, losgelöst vom Prozess des Schreibens einer Geschichte, argumentativ nicht überzeugt“ (4). In einer Zeit, in der die ärztliche Tätigkeit in Klinik und Praxis immer mehr von ökonomischen Zwecken, Arbeitszeitverdichtung, Forcierung der Abläufe und Dauerpräsenz gekennzeichnet ist, stellt sich aber vor allem die Frage nach dem Nutzen – wozu also Medizingeschichte? Wir wollen dazu zwei ArgumenBerühmte Frauenärzte in Berlin · Band 2
tationsketten heranziehen, nämlich die eines Medizinhistorikers und die des Philosophen Odo Marquard. Der Medizinhistoriker W. F. Kümmel (1) führt in seinem Beitrag „Vom Nutzen eines ‚nicht notwendigen Faches‘ […]“ folgende Argumente für die Einbindung der Medizingeschichte in die ärztliche Ausbildung an: 1. Direkter Nutzen für die Medizin z. B. durch Lehren für die Seuchenbekämpfung, die Wiederentdeckung früherer Therapiemittel, bessere Aufklärung über ärztliche Fehler („Kurpfuscher“), eine Verbesserung der Allgemeinbildung und eine Erziehung zum interdisziplinären Denken. 2. Allgemeiner Nutzen durch eine Erziehung zur Skepsis, Toleranz, Bescheidenheit und Erweiterung des Gesichtskreises hin zu den Geisteswissenschaften, um kritisch die praktisch-klinische Medizin, aber auch deren theoretische Aspekte zu hinterfragen (1). 3. Schließlich sind auch moralische Aspekte Gegenstand der Medizingeschichte. So galt Geschichte, jedenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als „beste Schule ärztlicher Ethik“ (1) und als bestes Fundament „für die Orientierung in schwierigen Standesfragen“ (1). „Dass […] ethische Probleme der Gegenwart sowie individuelle moralisch relevante Haltungen einzelner Menschen zumindest auch Produkt historischer Prozesse sein könnten. Dieser Minimalkonsens erscheint als gesichert […]. Bei der Kritik der moralisch relevanten Verhältnisse, Positionen usw. kann die historische Analyse zunächst helfen, die Kritik auf eine höhere Reflexionsebene zu heben und auch von der unmittelbaren Betroffenheit abzukoppeln, al-
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Matthias David, Andreas D. Ebert so eine produktive Kritik mit Distanz zu ermöglichen. Zudem kann eine Sensibilisierung für langsam verlaufende Prozesse erzielt werden“ (4). Neben diesen Legitimierungsargumenten der und für Medizingeschichte möchten wir, gerade in der heutigen postmodernen Zeit, auf einige philosophische Aspekte der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Vergangenem hinweisen. Der Philosoph Odo Marquard (1928–2015) schrieb 1981 in einem Essay: „Weil wir sterben und dies wissen, darum werden wir auf unsere Vergangenheit verwiesen“ (3). Die Endlichkeit des Menschen verweist ihn auf seine Herkunft: „Die moderne Welt aber verändert sich schnell und immer schneller. In dieser schnellen – ständig neu und ständig fremdwerdenden – Welt müssen die Menschen (endlichkeitsbedingt) dennoch langsam herkunftsbezogen und in vertraut bleibenden Verhältnissen leben. […] Je schneller die Zukunft
modern für uns das Neue – das Fremde – wird, desto mehr Vergangenheit müssen wir […] in die Zukunft mitnehmen und dafür immer mehr altes auskundschaften und pflegen […] Weil die Menschen in der modernen – der wandlungsbeschleunigten und dadurch zunehmenden diskontinuierlichen – Welt ihre Kontinuität besonders schützen müssen, besteht gerade und nur in ihr der historische Sinn, der mehr als die Veränderlichkeit von Wirklichkeit, die Grenzen dieser Veränderlichkeit erfährt: der historische Sinn ist […] vor allem der Sinn für Kontinuität […] Je schneller das Neueste zum Alten wird, desto schneller kann Altes wieder zum Neuesten werden: Jeder weiß das, der nur ein wenig länger schon lebt. Darum darf man sich beim modernen Dauerlauf Geschichte – je schneller sein Tempo wird – zugleich unaufgeregt überholen lassen und warten, bis der Wettlauf – von hinten überrundend – wieder bei einem vorbeikommt“ (2).
LITERATUR 1. Kümmel W. F. Vom Nutzen eines „nicht notwendigen Faches“: Karl Sudhoff, Paul Diepgen und Henry E. Sigrist vor der Frage „Wozu Medizingeschichte?“. In: Geschichte und Ethik in der Medizin. Von den Schwierigkeiten einer Kooperation. Hrsg. R. Toellner, U. Wiesing, G. Fischer, Stuttgart 1997, S. 5 –16 2. Marquard O. Skepsis und Zustimmung, Philosophische Studien. Reclam, Stuttgart 1995, S. 52 – 55
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3. Marquard O. Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist. In: Text und Applikation. Poetik und Hermeneutik. Bd. XI., W. Fink, München 1981, S. 581–592 4. Schulz St. Medizingeschichte(n) in Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung. Herausgegeben von St. Schulz, K. Stegleder, H. Fangerau, N. W. Paul, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, S. 46 – 58
Matthias David · Andreas Ebert
Martin T. Schäfer, Andreas D. Ebert, Matthias David
Joachim Friedrich Henckel (1712–1779) und die erste Sectio caesarea an der Lebenden in Berlin*
Über die Jahrhunderte haben sich die Indikationen, der Operationsmodus und die Erfolgsraten der Sectio caesarea in Abhängigkeit vom medizinischen Fortschritt verändert. „Indikationen zu Schnittentbindungen unterliegen einem Wandel; sie sind abhängig von der Gefährdung der Mutter durch die Schnittentbindung und mögliche Komplikationen und Folgen. Seit etwa 100 Jahren wird die Schnittentbindung als anerkannte Notmaßnahme zur Rettung der Mutter und seit etwa 50 Jahren als Notmaßnahme zur Rettung des ausschließlich reifen […], in Abb.1: Entwicklung der Gesamt-Sectiorate in den Berliner Geburtskliniken in der Dekade 2007 bis 2016 laut Perinatalerhebung den letzten etwa 30 Jahren auch zur Berlin (Gestalter = Schwangerschaftswoche) Rettung des unreifen Kindes eingesetzt […]. Ein Teil der sekundären Schnittentbindungen sind Notfalleingriffe wegen mütterlicher oder kindlicher Notsituationen, bei denen so rasch als möglich die Geburt beendet werden sollte“ (8). Abb. 2: Autograf J. F. Henckel Die Sectio caesarea ist heute neben der Episiotomie die meist durchgeführte Operation veröffentlichung als Primärquelle wollen wir in der Geburtshilfe. In Deutschland beträgt an den ersten „Berliner Kaiserschnitt“ erindie aktuelle Sectiofrequenz aktuell etwa 31%, nern und die damaligen Umstände sowie den in Berlin ist sie etwas geringer (Abb. 1). Operateur, den Chirurgen Joachim Friedrich Henckel (1712 – 1779), näher vorstellen. Auf der Basis von Originaldokumenten aus dem Geheimen Preußischen Staatsarchivs und Vom Barbiergehilfen zum der 1773 erschienenen lateinischen Original-
Pensionärchirurgen
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überarbeitete, ergänzte und aktualisierte Version des Artikels: Martin T. Schäfer, Matthias David: Anmerkungen zur Geburtshilfe im 18. Jahrhundert. Joachim Friedrich Henckel (1712 – 1779): Der erste Kaiserschnitt an der Lebenden in Berlin vor 225 Jahren. Zentralblatt Gynäkologie 118 (1996) 121–128.
Berühmte Frauenärzte in Berlin · Band 2
Joachim Friedrich Henckel (Abb. 2) wurde am 4. März 1712 in der Stadt Holland in Ostpreußen geboren. Durch seinen Vater, der Wundarzt und Inhaber einer Barbierstube war, erhielt
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Martin T. Schäfer, Andreas D. Ebert, Matthias David Henckel als Heranwachsender den ersten Unterricht in der Chirurgie. Ab 1729 folgte eine Ausbildung in Danzig und Königsberg bei den Wundärzten Marggraf und Nicolai. Mit 17 Jahren machte er vor dem chirurgischen Amt in Königsberg seine Gehilfenprüfung und erhielt dort auch Unterricht in Anatomie (13). Da Henckel in Danzig hohe Schulden hatte, versagte ihm der Vater die weitere finanzielle Unterstützung und schickte ihn 1731 zu dem befreundeten Regimentsfeldscher Borckenhagen vom Kleistschen Regiment nach Berlin. Dort wurde Henckel Kompaniefeldscher, besuchte Vorlesungen des Collegium medico-chirurgicum im Anatomischen Theater zu Berlin und volontierte an der Charité (13). In Potsdam versorgte Henckel die „Langen Kerls“ der Leibkompanie von Friedrich Wilhelm I. (1688–1740). Durch „gnädiges Wohlgefallen“ des Königs wurde er zwei Jahre später zum Pensionärchirurgen ernannt. Pensionärchirurg deshalb, weil er während seines dreijährigen Studiums eine staatliche Pension – eine Art Stipendium – erhielt. Nach drei Jahren wurden aus den Pensionärschirurgen, die immerhin 50 Thaler Jahressold erhielten, üblicherweise Regimentsfeldschere, die privat praktizieren durften (11, 13). 1737 ging Henckel auf „Kosten des Königs“ für zwei Jahre nach Paris zum Studium an die „Academie Royal de Chirurgie“. Dort hörte er unter anderem auch die Vorlesungen über Geburtshilfe bei Jean Grégoire († 1679), einem Pariser Chirurgen, der sich auch mit Geburtshilfe beschäftigte. Auf dessen Empfehlung lernte Henckel in Straßburg Johann Jakob Fried (1689 –1769) kennen, der dort seit 1728 den ersten Lehrstuhl für Geburtshilfe innehatte. Fried stand der ersten Geburtshilfeschule für Ärzte und Hebammen im Bürgerhospital vor und gab auch geburtshilflichen Unterricht für Studenten (29).
Als Regimentschirurg bei den „Langen Kerls“ in Berlin 1740 wieder zurück in Berlin scheint Henckel sich um die Errichtung einer entsprechenden
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Schule in Berlin bemüht zu haben. Der König aber wollte eher seine „großen Kinder hübsch gesund sehen“, so dass Henckel zum Regimentschirurgicus bei den „Langen Kerls“ des Soldatenkönigs ernannt wurde (11). Nach dem Tod Friedrich Wilhelm I. im Mai 1740 löste sein Sohn Friedrich II. (1712–1786) die „Riesengarde“ aber kurzerhand auf. Henckel wurde daraufhin Regimentschirurg bei den Gens d’Armes in Berlin. Mit ihnen und 20.000 Preußen zog der 28-Jährige im Dezember 1740 in den ersten Schlesischen Krieg (1740–1742). Mit vielen militärmedizinischen Erfahrungen im Gepäck, besonders auf dem Gebiet der Verbandstechnik, kehrte Henckel unverletzt aus dem Feldzug zurück. Bald darauf erschienen seine „Anweisungen zum verbesserten chirurgischen Verbande“, eine der ersten vollständigen Schriften in deutscher Sprache zu diesem Thema. Die Abhandlung wurde später noch mehrmals überarbeitet veröffentlicht, letztmalig 1830 sogar vom berühmten Johann Friedrich Dieffenbach (1795–1847) (13).
Vom Pensionärschirurgus und zum Doktor der Medizin Nach dem Kriegseinsatz hielt Henckel auch erste chirurgische Vorlesungen in seinem Privathaus in der Wallstraße mit dem Titel „Chirurgische Operationen und Bandagen“. Seine Vorlesung („für zwei Dukaten pro Persohn“) war überfüllt, während die zur gleichen Zeit im Anatomischen Theater von Prof. Simon Pallas (1694–1770), dem führenden Chirurgen der Charité und Nachfolger von Gabriel Senff († 1737) und Johann Daniel Neubauer († 1739), gehaltene Vorlesung nur von wenigen Studenten besucht wurde (11). Henckel versprach den von seiner Vortragsart begeisterten Studenten praktische Demonstrationen an der Leiche – für private Vorlesungen damals ein Novum. Er richtete ein entsprechendes Gesuch an den König, und dieser ließ ihm durch seinen damaligen Minister Adam Otto von Viereck (1684 –1758) mitteilen: „[Er] soll sich allda seiner Kadaver bedienen“ (11). WeMatthias David · Andreas Ebert