Nr. 225 · Januar/Februar 2017 42. Jahrgang · D 6424 F · 8 Euro
www.mabuse-verlag.de
Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe
Interkulturalität
Pflegestärkungsgesetz II – Weitreichende Auswirkungen. Medikationsplan – Gerechte Rollenverteilung notwendig. Straftaten gegen PatientInnen – Kommentar.
— Kultur respektieren — Umgang mit Scham — Medizinethnologie ahre use J ab 40 d. M me . r D
+ en! n re uch a sp uss % a 30 enk ch s Ge
Abo & Geschenk
1
2 Gutsch
Gutsche
ein
Nr.
in des M abuseBuchve Abos D r. med. rsande s verwen Mabus e, CDs, DVDs, Sp dbar für Büch er, iele u.v. m. Eu
über
ro ( in Wo
rten:
für
)
Bitte be
stel
len Sie un Kasseler ter Angabe de Bücher-Gutschein Str. 1 a r Gutsch E-Mai
· 60 l: buchve ei rsand@ 486 Frankfur nnr. beim Mab t · Te mab use-Bu chversa (Mabus use-verlag.de l.: 069-70 79 nd e-Buch 96-16 Frankfur versand · www.mabus t am M --> Büch e-verla ain, de g.de n er) Mabus e-Buch versand
Prämie 1: ein Buch aus dem Mabuse-Verlag www.mabuse-verlag.de
Prämie 2: Büchergutschein im Wert von 10 Euro Einlösbar beim Mabuse-Buchversand
lesen und ... ... Zusammenhänge erkennen ... mit anderen Gesundheitsberufen ins Gespräch kommen ... Fachwissen vertiefen ... sich für ein solidarisches Gesundheitswesen engagieren
"
Ich abonniere Dr. med. Mabuse – Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe und erhalte sechs Ausgaben zum Vorzugspreis von 32 (statt 44) Euro/SchülerInnen und Studierende für 21 Euro (mit Nachweis):*
Name: Straße: PLZ/Ort: Bitte einsenden an:
Tel./Fax:
Fax: 069-70 41 52 E-Mail: abo@mabuse-verlag.de
E-Mail: Datum/Unterschrift: Als Geschenk erhalte ich: ■ Prämie 1: ein Buch meiner Wahl aus dem Mabuse-Verlag: _____________________ (alle Bücher unter www.mabuse-verlag.de/Mabuse-Verlag)
Mabuse-Verlag GmbH Abo-Service Dr. med. Mabuse Postfach 90 06 47 60446 Frankfurt am Main www.mabuse-verlag.de
■ Prämie 2: einen Büchergutschein im Wert von 10 Euro oder ■ Prämie 3: eine Aboprämie von der Webseite: ________________________________ (alle Prämien online unter www.mabuse-verlag.de/Zeitschrift-Dr-med-Mabuse/Abo/) * Zuzüglich einer einmaligen Versandkostenpauschale von 3 Euro (Inland) bzw. 9 Euro (Ausland). Das Schnupperabo zum Vorzugspreis läuft für ein Jahr und geht danach in ein reguläres Abo über (44 Euro pro Jahr, zzgl. Versandkosten), falls Sie es nicht zwei Monate vor Ablauf kündigen. Das Schüler-/StudentInnenabo (nur bei Vorlage eines entsprechenden Nachweises) läuft für ein Jahr und wird jeweils automatisch um ein weiteres Jahr verlängert.
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser, was Ende 1976 als Frankfurter Fachschaftszeitschrift der spontaneistischen Linken bei den Medizinstudierenden begann, hatte naturgemäß keinen richtigen Plan – schon gar nicht den, einmal 40 Jahre alt zu werden. Zentral waren uns die Kritik am „herrschenden Gesundheitssystem“ sowie – und das war damals wie heute nicht gerade Zeitgeist – Diskussion und Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen. Erstere gab es Ende der 1970er reichlich: Wir hatten keinerlei Probleme die Seiten zu füllen, waren aber trotzdem überrascht, dass sich innerhalb weniger Jahre Mabuse-Gruppen an fast allen deutschen medizinischen Fakultäten bildeten. Zweiteres war zunächst nur ein hehrer Anspruch. Daran änderte erst der legendäre Berliner Gesundheitstag im Mai 1980 (das erste Treffen von 10.000 Menschen aus verschiedenen Gesundheitsberufen) etwas: Hier formulierte sich das Unbehagen an den Strukturen im Gesundheitswesen, der Verdrängung der Rolle der Ärzte im Nationalsozialismus, den Zuständen in der Psychiatrie und vielem mehr. Durcheinandergewirbelt wurden wir akademischen Mabuse-Macher dann ab Mitte der 1980er Jahre: Viele mussten ihre politischen
Aktivitäten durch Facharztausbildung und Familiengründung deutlich zurückfahren. Gleichzeitig gab es eine Emanzipationsbewegung innerhalb der Krankenpflege und Dr. med. Mabuse war plötzlich mit einer Pflegeredaktion konfrontiert, die den Anspruch aus der Gründungsphase einforderte. Bei allen schwierigen inhaltlichen Auseinandersetzungen hat nicht zuletzt dies der Zeitschrift durch eine Erweiterung der LeserBasis zu seinem 40. Geburtstag verholfen. Die ehrenamtliche und für uns so wichtige Pflegeredaktion ist jetzt schon seit über 25 Jahren aktiv. Dr. med. Mabuse ist nach wie vor die einzige Zeitschrift, die von verschiedenen Berufsgruppen gelesen wird und das macht uns auch an unserem 40. Geburtstag stolz. Allen, die uns in der langen Zeit unterstützt, mit uns über eine solidarische Gesundheitspolitik gestritten haben, allen AutorInnen und natürlich Ihnen als treue LeserInnen möchten wir ein herzliches Dankeschön sagen und mit Ihnen auf unser Jubiläum anstoßen! Hermann Löffler PS: Unsere Geburtstagsfeier haben wir auf 2017 verschoben, der Termin wird noch bekannt gegeben.
Foto: Nils Arthur
Das Team des Mabuse-Verlages feiert das Jubiläum und wünscht Ihnen erholsame Feiertage und alles Gute, Gesundheit und Glück im Neuen Jahr!
Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017
3
Inhalt 40 Jahre Dr. med. Mabuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 7 Beiträge zum Jubiläum
Abschaffen statt reformieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 14 Auswirkungen des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes auf die Heime Michael Graber-Dünow
Jünger als vor zehn Jahren! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 16 Jahreshauptversammlung und 30-jähriges Jubiläum des vdää Nadja Rakowitz
Endlich am Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 18 Bundesregierung beschließt letzte Stufe der Pflegereform Wolfgang Wagner Das gesundheitspolitische Lexikon:
New Medical Schools . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 40 Beat Sottas
Von Begeisterung und Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 42 Begegnungen mit anthroposophischer Pflege Hanna Lucassen
Der Medikationsplan – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 45 optimierungsbedürftig wie die Arzneimittelsicherheit Gerd Glaeske Gesundheit anderswo:
Mehr als nur Geburtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 46 Arbeit von Hebammen in Myanmar Carine Weiss
Der Placebo-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 49 Ein Phänomen, das einem Wunder gleicht Eckart von Hirschhausen
Editorial
Straftaten gegen PatientInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 52 Zum Prozess gegen die Hebamme Regina K. Oliver Tolmein
Pflegestudium – und dann?
Rubriken ...............................
3
Leserbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . 61 Neuerscheinungen . . . . . . . . . . . . . 66
.......................
S. 55
Arbeitsmarktsituation und Berufschancen akademisierter Pflegekräfte Ingeborg Löser-Priester
Broschüren/Materialien
.......
71
Zeitschriftenschau . . . . . . . . . . . . . . . 72 Termine
..............................
73
Stellenmarkt/Fortbildung . . . 76
Gesundheitsexperten von morgen:
Kleinanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
Beratung ist notwendig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 58
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Familienorientierte Pflege auf der neonatologischen Intensivstation Lydia Bleeker
Besser reich und gesund als arm und krank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 82 Karin Ceballos Betancur Foto: picture alliance/dpa
Schwerpunkt:
Interkulturalität Kultur respektieren und befragen............................................................................... S. 22 Zur Interkulturalität im deutschen Gesundheitswesen Walter Bruchhausen
Gesundheitswissen vermitteln ..................... S. 25 Projektarbeit mit interkulturellen Gruppen Maria Rave-Schwank
Umgang mit Scham......................................................... S. 28 Interkulturelle Herausforderungen in der Hebammenarbeit Maria Zemp
Neugier, Respekt und Unterstützung........................................................................... S. 32 Systemische Beratung und Therapie im interkulturellen Kontext Cornelia Oestereich
Gesund oder krank? ......................................................... S. 36 Gedanken zum kulturellen Kontext der Medizin Katarina Greifeld
Interkulturalität ...................................................................... S. 39 Bücher zum Weiterlesen
36 Schwerpunkt: Interkulturalität
Medizinethnologie
Gesund oder krank?
Foto: Juan Manuel Castro Prieto/Agence VU/laif
Gedanken zum kulturellen Kontext der Medizin
Viele Menschen suchen nach alternativen Heilverfahren, die gesund und krank sein anders definieren, hier bei einem Schamanen in Peru.
Katarina Greifeld Im Medizinstudium wird gelehrt, wann ein Mensch als gesund oder krank bezeichnet werden kann. Mithilfe naturwissenschaftlicher Parameter werden dazu sowohl klare Definitionen als auch Behandlungsstandards festgelegt. Unsere Autorin beschreibt, warum diese scheinbar rein objektive Wissenschaft nicht gesondert von kulturellen Einflüssen betrachtet werden kann. Und sie zeigt, wieso es sich lohnt, unterschiedliche kulturelle Konzepte von Gesundheit und Krankheit zu kennen und in der eigenen Praxis zu reflektieren.
D
ie uns am besten bekannte Medizin, die sogenannte Biomedizin, soll als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen dienen. Tatsächlich finden sich überall Alternativen zur Biomedizin. Andere Heilerpersönlichkeiten, die neben und ergänzend zur Biomedizin tätig werden, um Individuen von Zuständen des Unwohlseins/
Missbefindens/Krankseins zu befreien oder ihnen zumindest dabei zu helfen, gibt es sowohl im ländlichen Bayern, im großstädtischen Berlin als auch in Kuba, China oder anderswo. Die Biomedizin stellt physiologische und biochemische Prozesse in den Vordergrund, die sichtbar gemacht und damit nachgewiesen werden können, und erklärt Krankheit entsprechend linear. Sie ordnet sich damit in ihrer Logik den Naturwissenschaften zu. Ein Ideal der Biomedizin als Naturwissenschaft ist die Standardisierung, die sich freilich nicht durchgängig umsetzen lässt – sie ist auch nicht wertneutral, obwohl das gerne behauptet wird. Neuere Forschungen (vgl. Lock/Nguyen 2010) belegen das sehr eindrücklich. Sie wird in erster Linie mit Apparatemedizin und Körpereingriffen, hochwirksamen Medikamenten wie Antibiotika, Organspenden oder Gentechnik assoziiert. Ihr fehlt, so wird immer wieder von Kritikern vorgetragen, die „Mitte“, Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017
Medizinethnologie
das „Herz“, die „Seele“ oder was es sonst noch an Umschreibungen für diesen „Mangel“ gibt. Hier wird schon deutlich, dass sich unterschiedliche Erklärungen auf unterschiedliche Menschenbilder oder Konzeptionen vom Menschen beziehen.
Kultureller Kontext der Biomedizin Wie schon Paul Feyerabend in seinem Werk „Wider den Methodenzwang“ eindrücklich darlegt, besteht „die Geschichte der Wissenschaft (...) ja nicht bloß aus Tatsachen und Schlüssen aus Tatsachen. Sie enthält auch Ideen, Deutungen von Tatsachen, Probleme, die aus widerstreitenden Deutungen entstehen, Fehler und anderes mehr. Bei genauerer Untersuchung stellt sich sogar heraus, daß die Wissenschaft überhaupt keine ‚nackten Tatsachen‘ kennt, sondern daß alle ,Tatsachen‘, die in unsere Erkenntnis eingehen, bereits auf bestimmte Weise gesehen und daher wesentlich ideell sind“ (Feyerabend 1993, S. 15 f.). Kulturelle Setzungen und Werte beeinflussen also auch die Biomedizin (und nicht nur andere Heilkunden und -traditionen), wie sie etwa bei der medizinischen Versorgung von Migranten auftreten oder bei Technologien, um beispielweise kinderlosen Frauen eine Schwangerschaft zu ermöglichen beziehungsweise diese zu unterbrechen, wenn das Geschlecht des zukünftigen Kindes nicht „passt“ (man denke hier nur an die Schwangerschaftsabbrüche bei weiblichen Föten in China oder Indien).
Gedachte Einheit: Leib/Seele/Körper/Geist Biomedizinisches Handeln unterscheidet sich also von Ort zu Ort und von Person zu Person und ist daher eindeutig kontextabhängig. Weitere Dimensionen des heilkundlichen Handelns, die nicht nur physiologische und biochemische Prozesse in den Vordergrund stellen, kommen allerdings häufig zu kurz. Es handelt sich dabei um die nicht weniger wichtigen psychologischen, sozialen, kulturellen, moralischen und nicht zu vergessen politischen Dimensionen. Ich möchte hier die sehr unterschiedlichen Konzeptionen von Leib/ Seele/Körper/Geist, die es in der Welt gibt, herausgreifen. Sie bestimmen das Beziehungsgeflecht zwischen Menschen – einzeln und in Gruppen – und ihren Göttern. Im Prinzip geht es bei diesen schwer fassbaren Metaphern stets um eine gedachte Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017
Einheit. Das heißt: Nur wenn Leib/Seele/ Körper/Geist in Harmonie sind, wird der Mensch als gesund/heil gedacht. Viele Menschen suchen nach dieser Einheit und daher nach alternativen Heilverfahren, die gesund und krank sein anders definieren. Man denke nur an die weitverbreitete Nutzung von Akupunktur in Kombination mit Biomedizin oder in Kombination mit Ayurveda, Kräutermedizin oder anderen Alternativen.
Bilder einer vermeintlichen Realität Unsere heutige Biomedizin strotzt nur so von bildgebenden Verfahren und spiegelt uns auf diese Weise eine Realität vor, die es unter Umständen so nicht gibt (Eschenbruch 2013). Ihre Bilder sind nur vermittelt und indirekt: durch Einfärbungen von Organen auf Bildfolien aus furchterregenden Apparaten wie Computer- oder Magnetresonanztomografen und dergleichen, die anzeigen können, wo eine spezifische „Dysfunktion“ ihren Platz hat. Allerdings können diese Bilder nur noch von hoch spezialisierten Experten gedeutet werden und ähneln darin für den Amateur, Laien oder Kranken dem magischen Handeln der Schamanen. Die Biomedizin gibt uns die Bilder vor, die wir von unserem Körper haben. Von Kindheit an werden wir mit Darstellungen unserer Körper konfrontiert, die uns deren vermeintliche Größe, Farbe und Orte zeigen. Menschen aus anderen Kulturen können dies vollkommen anders sehen, so wie sie auch die Bedeutung der inneren Organe unterschiedlich gewichten können. Unsere „Nachbarn“, die Franzosen, räumen den Nieren („oh mes reins“) sowie der Leber („J’ai mal du foie“) einen hohen Stellenwert im Unwohlsein ein, während die Deutschen es eher mit dem Herzen haben. Bereits in den 1980er Jahren baten Ethnologen ihre Gesprächspartner Körperbilder anzufertigen, wobei sich zeigte, dass es durchaus unterschiedliche anatomische Vorstellungen in der Welt gibt (Greifeld 1984).
Schwerpunkt: Interkulturalität
turelle Missverständnisse“ (2003), dass die Beziehung zwischen deutschen Ärzten und ihren türkischen Patienten sich oft schwierig gestalte, wobei Sprachprobleme dabei nur die Spitze des Eisbergs seien. Tatsächlich verursache das Verstehen von Beschreibungen oder Erklärungen aus einem anderen Körperverständnis heraus das größere Problem, etwa wenn „Organe fallen“, also nicht mehr am richtigen Ort sind, wenn also Leiden in sogenannten Organchiffren ausgedrückt wird, die spezifischen kulturellen Setzungen folgen (Yildirim-Fahlbusch 2003).
Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit Grundsätzlich lässt sich aber auch feststellen, dass sich jede Heilkunst kontinuierlich verändert und andere Einflüsse aufnimmt. Damit verändern sich auch die Verständnisse vom Krank- beziehungsweise Gesundsein. So werden etwa in Nord-Mexiko bei den Mayos schon seit vielen Jahrzehnten kräftigende Spritzen eingesetzt, die sich als wirkmächtig erwiesen haben. Die Kranken fragen nach ergänzenden Therapien, die nicht nur auf der Basis von Kräuterrezepturen entstanden sind, sondern die Utensilien aus der Biomedizin nutzen. Auch in Tansania wird oft speziell nach Medikamenten in Spritzen verlangt, weil sie als wirksamer als Tabletten wahrgenommen werden. Andererseits gibt es Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, zum Beispiel in Südamerika, die den direkten Bezug zu individuellen körperlichen Gründen gar nicht kennen. Vielmehr wird der Mangel an spirituellem oder körperlichem Gleichgewicht der Gruppe für das Kranksein ihrer Mitglieder verantwortlich gemacht. Der rituelle Drogenkonsum der Schamanen kann dann dazu dienen, die Gemeinschaft der Menschen mittels mächtiger Schutzgeister zu beschützen. Mit ihren Ritualen können sie die Beziehung zwischen den Geistwesen und den Menschen regeln (Drexler 2013).
Unterschiedliches Körperverständnis
Schmerz und seine Bedeutung
Der ethnologische Blick auf die Biomedizin zeigt also, dass sie keineswegs wertneutral ist, sodass Migranten eine biomedizinische Behandlung häufig als fremd und Angst einflößend erleben (vgl. u. a. Löscher 2010, Dreißig 2005 und Knipper/ Bilgin 2009). So schreibt etwa der Arzt Y. Yildirim-Fahlbusch in seinem Artikel „Kul-
Schmerz ist ein weiteres interessantes Thema, um zu verdeutlichen, wie unterschiedlich Menschen und ihre Vorstellungen zu Krankheit und Gesundheit sind. Die europäische Kultur ist darauf gerichtet, Schmerz so weit wie möglich zu vermeiden. Wer sich vorsätzlich Schmerzen zufügt oder zufügen lässt, wird als nicht ganz normal
37
38
Schwerpunkt: Interkulturalität
Flüchtlin gskinder unterstü tzen
Der Sammelband stellt aus vielfältigen Perspektiven konzeptuelle Überlegungen wie auch praktische Erfahrungen zur sozialpädagogischen Arbeit mit jungen Flüchtlingen vor und betont so den notwendigen Dialog aller beteiligten Akteure aus Politik, Verwaltung und Jugendhilfe. 2017, 174 Seiten, broschiert, € 19,95 ISBN 978-3-7799-2358-9 Auch als E-Book erhältlich
Schulso zialarbeit m it geflüch teten Mensch en
Ein Arbeitsbuch für SozialarbeiterInnen und Lehrkräfte mit Konzepten und Praxiserfahrungen, mit Hintergrundwissen und Informationen zu rechtlichen und ethischen Fragen. 2017, 220 Seiten, broschiert, € 16,95 ISBN 978-3-7799-3455-4 Auch als E-Book erhältlich
www.juventa.de
JUVENTA
Medizinethnologie
empfunden. In anderen Kulturen kann Schmerz allerdings sehr positiv bewertet werden. So wird etwa bei den Beti in Südkamerun der Schmerz ganz gezielt eingesetzt, um während einer speziellen Initiationsfeier die Jungen zu Männern zu machen. Nur wer die Skarifikationen, das Einschreiben des Schmerzes in den Leib, ohne Weinen oder Aufschreien über sich ergehen lässt, und das ist die Regel, wird zum Mann. Für Frauen gilt übrigens Analoges beim Gebären (Houseman 1989 und Ravololomanga 1989). Schmerz ist auch ein zentrales Phänomen bei Krankheit und Verletzung, bei Flucht, Krieg und Folter. Überall wird Schmerz anders ausgedrückt, und es ist bekannt, dass die derzeit Geflüchteten über umfangreiche Schmerzerfahrungen verfügen, die sie in der Regel (noch nicht) thematisieren und/oder lösen können. Dies geschieht zudem vor dem Hintergrund eines unterschiedlichen kulturellen Verständnisses, das hier in erster Linie auf das Individuum und erst in zweiter Linie auf das weitere (familiäre) Umfeld gerichtet ist.
Kulturspezifische Syndrome Gesundheit und Krankheit sind also keine wertfreien Begriffe, die quasi von einer normativen Biomedizin mit naturwissenschaftlichem Inhalt gefüllt werden. Nein, jede Kultur kennt eigene Heilweisen, Heilverfahren und Heilkunden, die aufs Engste mit ihren Wertsetzungen verbunden sind und damit gesund beziehungsweise krank sein definieren. Das zeigt sich besonders gut an den sogenannten kulturspezifischen Syndromen. Ein Beispiel: „Susto“ wird zu den kulturspezifischen Syndromen Lateinamerikas gezählt, wobei durch Schreck beziehungsweise Erschrecken eine Erkrankung ausgelöst wird. Es gibt viele verschiedene Symptome, die von Appetit-, Antriebs- oder Ruhelosigkeit über Schwäche, Blässe, Erbrechen, Depression und Fieber bis zum Tod reichen können. Die zuständigen Heiler versuchen, je nach kulturellem und sozialem Kontext, die besten Mittel zur Heilung zu finden, deren Grundlage jeweils in der Denkfigur des „Seelenverlustes“ wurzelt. Zu bedenken ist hier, dass nicht alle Kulturen dem christlichen Modell der Eine-Seele-Existenz folgen. Vielmehr können mehrere Seelen in einer Person vorhanden sein, sodass der Verlust einer Seele eine bestimmte Symptomatik
und nicht notwendig den Tod zur Folge hat. Durch genau umschriebene Heilrituale kann die verlorene Seele wieder zurückgeholt werden und damit die Kranken wieder gesunden. Kulturspezifische Syndrome gibt es auch in der Biomedizin, die ganz neue Syndrome erschafft, wie etwa die hinlänglich bekannten Menstruationsbeschwerden oder ADHS. Auch Männer bleiben nicht mehr verschont, wenn ihnen etwa ein zu niedriger Testosteronspiegel zugeschrieben wird, der angeblich medikamentös behandelt werden muss, damit sie wieder ein glückliches und erfülltes Leben führen können.
Globalisierung beeinflusst auch Heilsysteme Durch die internationalen Migrationsbewegungen vermischen sich die diversen Heilsysteme und bilden neue Kreationen aus. Außerdem gibt es zunehmend internationale Kooperationen: So tauschen sich Heiler aus Nordamerika mit ihren Kollegen aus Südamerika auf Tagungen oder bei anderen Treffen aus. Die Folge ist die Integration neuer Rituale und Heilmittel. Auch das Internet bietet eine hervorragende Möglichkeit, sich direkt auszutauschen, etwa zwischen westafrikanischen Heilkundigen und ihren kubanischen Pendants. Auch stellen einige Heiler (virtuellen) Patienten ihre Dienste bereits über das Internet zur Verfügung. Insgesamt wird deutlich, dass das Verständnis der Biomedizin zu dem, was wir krank oder gesund nennen, nicht unbedingt mit dem übereinstimmt, was in der Welt zu diesen Daseinszuständen gedacht und erlebt wird. Andere Heilkunden und -traditionen spiegeln unterschiedliche Verständnisse von Körper/Leib und Seele/ Geist. Das hierzulande tätige medizinische Personal sollte das im Hinterkopf haben. ■ Die Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Was wollen Sie noch von der Welt sehen? „Frieden, allüberall.“
Dr. Katarina Greifeld geb. 1956, ist Ethnologin und freiberuflich tätige entwicklungspolitische Sachverständige in Frankfurt am Main. greifeld@gmx.de Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017
Buchbesprechungen
Buchbesprechungen
Karen Nolte
Todkrank Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert: Medizin, Krankenpflege und Religion
E
s fällt sehr schwer, eine Rezension für dieses sehr interessante und informative Buch zu schreiben, das sehr zwiespältige Gefühle in mir hinterließ. Am sinnvollsten wird es wohl sein, wenn ich diesen Zwiespalt berücksichtige und die Aspekte zu Inhalt und Form getrennt bespreche. Beginnen wir mit der Form des Buches: Sie macht das Lesen schwer, nicht des Inhaltes wegen, sondern weil es ein wissenschaftliches Buch ist. Zuweilen nehmen die Fußnoten auf einer Seite mehr Platz ein als der eigentliche Text und man muss eben doch manchmal auch die Fußnoten lesen, weil sie den Text ergänzen. Dann verliert man den Rhythmus oder muss sich sehr anstrengen, den Text zusammenhängend lesen und verstehen zu können. Eine weitere formale Erschwernis bestand für mich darin, dass manche Fakten mehrfach auftauchen, wenn die Verfasserin die Berichte in den verschiedenen Kapiteln und Zusammenhängen wiederholt, manchmal mit den gleichen Formulierungen, die ein bald ermüdendes Wiedererkennen bewirken. Die Versuchung ist groß, den Text dann einfach zu überfliegen und den Faden abreißen zu lassen. Da es sich um ein wissenschaftliches Buch handelt, müssen diese Fußnoten und ständigen Rückgriffe wohl sein, aber die Lesbarkeit leidet sehr darunter, man muss sich den Inhalt ernsthaft erarbeiten. Das Fazit am Ende des Buches ist dagegen so anschaulich und informativ, dass ich es mir bereits am Ende eines jeden Kapitels wünschen würde.
Nun zum Inhalt: Die Verfasserin schildert sehr eindrucksvoll die Behandlung von todkranken Menschen im 19. Jahrhundert, wobei die medizinischen Sachverhalte weniger Raum einnehmen – was aber sicher kein Schaden ist, denn allzu viele Möglichkeiten gab es nicht. Sehr plastisch und gut nachvollziehbar werden dagegen die Einstellungen der verschiedenen Behandler den Patienten gegenüber dargestellt, ebenso die der Priester und Pfarrer sowie vor allem die der pflegenden Diakonissen, die in ihren Berichten den Geist dieser Zeit und der diakonischen Arbeit sehr gut spürbar machen. So zeigt sich auch, dass die Ärzte sich nicht nur um das körperliche Befinden der Patienten kümmerten, sondern auch um die seelischen Schwierigkeiten und – was mich überraschte – auch um ihre soziale Position, zu deren Besserung sie manchmal auch beizutragen versuchten, etwa indem sie eine kräftigende Kost verschrieben. Dies geschah nicht aufgrund einer medizinischen Indikation, sondern schlicht weil die Patienten hungerten. Auch die Position der Theologen wird ersichtlich, die sich überwiegend um das Seelenheil der Patienten sorgten. Besonders deutlich wird im Wirken der Diakonissen auch der religiöse Hintergrund dieser Arbeit. Hinter den konkreten Fakten wird dabei nicht nur das Rollenverständnis der verschiedenen Akteure sichtbar, sondern auch das Menschenbild, das je nach Profession durchaus unterschiedliche Prägungen erfährt. So ist es gut möglich, sich in die verschiedenen Rollen hineinzuversetzen. Man mag auch überlegen, wie man sich selbst vielleicht in dieser Situation verhalten hätte und vergleicht es mit der heutigen Zeit. Für alle ist der Patient ganz selbstverständlich das Objekt der Fürsorge, im medizi-
Mabuse-Buchversand Die unabhängige Versandbuchhandlung für alle Gesundheitsberufe • Fachbücher – für Ihren beruflichen Erfolg • Romane, Kochbücher u. v. m. – für Ihre Freizeit • Service für Schulen, Institute und Bibliotheken Ihre Bestellung unterstützt die gesundheitspolitische und publizistische Arbeit unserer Zeitschrift. Fax: 069-70 41 52 · Tel. 069-70 79 96 16 buchversand@mabuse-verlag.de
www.mabuse-verlag.de Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017
nischen, sozialen aber auch spirituellen Sinne, während nach heutigem Verständnis eines selbstbestimmten Lebens der Mensch unter Berücksichtigung seiner Würde nicht mehr als Objekt betrachtet werden darf, auch nicht als Objekt der Fürsorge. So wäre es interessant, in Weiterführung dieser Untersuchung den Wandel dieser Beziehung vom 19. in das 20. Jahrhundert und in die Gegenwart zu verfolgen, um zu sehen, in welchen Bereichen sich dieser Wechsel abzeichnete und wie die verschiedenen Berufsgruppen lernten, damit umzugehen. Fazit: Es lohnt sich, die formalen Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen, um an die Vielzahl der lebendigen und atmosphärisch so eindrucksvollen Informationen zu kommen. Dr. med. Peter Weyland, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoonkologe, Allgemeinmediziner i.R., Ingoldingen
Wallstein Verlag, Göttingen 2016, 260 Seiten, 24,90 Euro
Ulrike Anderssen-Reuster, Effi Mora
Wie Bindung gut gelingt Was Eltern wissen sollten
U
lrike Anderssen-Reuster greift in diesem Ratgeber auf ihre Erfahrungen als leitende Ärztin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Städtischen Krankenhauses Dresden-Neustadt zurück, insbesondere auf ihre Arbeit in
61
62
Buchbesprechungen
der Psychotherapeutischen Elternambulanz. Effi Mora studierte Bildende Kunst in Dresden. Ihre Illustrationen bereichern die einzelnen Kapitel. Zunächst konzipiert als ein Buch zur Selbsthilfe für Eltern, die „nicht aus einer perfekten, heilen Welt kommen und die manches erlebt haben, das nicht ideal ist“, so Ulrike Anderssen-Reuster im Vorwort, hat dieses Buch weitaus mehr zu bieten! Mit dem zentralen Thema der Bedeutung sicherer Bindungserfahrungen für Kinder zwischen der Schwangerschaft und dem dritten Lebensjahr ist das Buch ein hilfreicher Ratgeber für alle Eltern, da sichere Bindungserfahrungen ein lebenslanger Schutzfaktor sind. Besonders praxisnah und alltagstauglich sind die Anleitungen zu Achtsamkeitsübungen, die als Audiodateien zum Download bereitgestellt wurden und die den Abschluss eines jeden Kapitels bilden. Das Buch beinhaltet insgesamt elf Kapitel und beginnt mit der Schwangerschaft und den damit verbundenen Auswirkungen auf den eigenen Körper sowie auf die Paardynamik. Diese neue Situation und der häufige, unrealistische Wunsch nach dem „perfekten“ Kind können zu erhöhtem Stresserleben führen. Achtsamkeit als Gegenteil von Stress und entsprechende Übungen helfen, aus Stresssituationen auszusteigen. So heißt die erste Übung „Einfach mal Pause machen!“ und soll einen Weg aus dem gehetzten Modus aufzeigen. Das zweite Kapitel behandelt Geburt und Wochenbett, auch die Wochenbettdepression und weitere seelische Belastungen werden mit diversen Lösungsansätzen benannt. Wichtig ist es, die eigene Ruhe und Entspannung zu fördern, da diese für den Umgang mit dem Säugling entscheidend sind. Es werden praxistaugliche achtsame Körperwahrnehmungsübungen, die zur Entspannung beitragen, vorgestellt. Anschließend behandeln die Autorinnen den Einfluss von Stress auf das kindliche Gehirn, beschreiben in Kapitel vier die intuitive elterliche Kompetenz und deren Störungen, um im fünften Kapitel das zentrale Bindungsthema ausführlich und sehr verständlich darzustellen. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich damit, welche Auswirkungen die eigenen Kindheitserfahrungen auf das Verhalten gegenüber dem Baby haben, etwa in Bezug auf kindliche Regulationsstörungen und der Kommunikation. Auch die Frage „Was tun bei Hochstress?“ wird beant-
wortet. Den Abschluss bildet ein Exkurs zur Frage der Umsetzung von Achtsamkeit im Alltag mit Kindern. Im Anhang finden sich nützliche Adressen, Webadressen und Unterstützungsmöglichkeiten. Christiane Kreis, Supervisorin in Frankfurt am Main, L.O.T.U.S GbR
Schattauer Verlag, Stuttgart 2015, 176 Seiten, 24,99 Euro
Anette Dowideit
Vorsicht, Arzt! Wie unser Gesundheitssystem uns krank und andere reich macht
S
chon wieder ein Ärztehasser-Buch? Nicht wirklich. „Wie unser Gesundheitssystem uns krank und andere reich macht“ heißt der Untertitel. Ärzte sind nun mal der Leitberuf in diesem System, deshalb bekommen sie zuerst ihr Fett weg. Gemeint sind aber alle. Hier schreibt mir eine Journalistin aus der Seele. Auf 220 Seiten beschreibt Anette Dowideit en detail alle Widrigkeiten unseres Gesundheitssystems. Das soll zwar eines der besten der Welt sein, aber auch eines der teuersten und wird immer mehr zur Gesundheitswirtschaft, wo die Gesetze des Marktes gelten. Und Markt heißt immer: Es geht primär ums Geld. Gleich im ersten Kapitel, ohne Vorwort, geht es um Korruption: Ein Privatdetektiv beschattet eine Radiologin, die anderen Ärzten in die Briefkästen ihrer Privathäuser Umschläge mit Geldscheinen steckt, damit sie ihre Patienten nur in ihre Röntgen- und Bestrahlungspraxis überweisen. Das tut der Detektiv nicht im Auftrag der Polizei, sondern eines anderen Radiologen, der sich im selben Gebiet niederlassen will, aber wegen der Bestechungspraxis fürchtet, keine Patienten zu bekommen. Das mögen selbst Leute kaum glauben, die beispielsweise in der Patientenberatung so einiges hören. So geht es in dem Buch aber weiter. Alle skandalträchtigen Themen werden abgehandelt: die Selbstzahler-Leistungen (IGeL), Korruption durch Ärzte und Apotheker, die raffinierten Gelddruckmethoden der Pharmaindustrie, die
Gefahr durch kranke Ärzte und durch Keime in Krankenhäusern, die ungleichen Chancen verschiedener Arztgruppen, die Verquickung zwischen Industrie und Forschung. Erst auf den letzten zehn Seiten fragt die Autorin, was der einfache Patient dagegen tun kann. Viel fällt auch ihr nicht ein. Das System wird von oben gelenkt, der Fisch stinkt vom Kopf. „Brauchen wir ein anderes Gesundheitssystem?“, fragt sie und schaut auf Systeme in Ländern, die stärker vom Staat kontrolliert werden, dabei aber auch transparenter sind. Und stellt fest, dass das auch Nachteile hat. Datenschutz verhindert Transparenz, und in Deutschland sind die Regeln des Datenschutzes besonders hoch, das wollen wir ja auch nicht aufgeben. Ganz am Ende des Buches preist die Autorin das belgische Gesundheitssystem, in dem die Krankenkassen direkt mit den Ärzten verhandeln, ohne dass ärztliche Selbstverwaltungskörperschaften dazwischen stehen. Aber wollen wir, dass AOK, DAK, Barmer, TK usw. bestimmen, ob der 80-jährige Patient noch eine künstliche Hüfte bekommt? Sind das nicht, wie bei uns, eher ärztliche Entscheidungen? Ist unser System dann doch besser als sein Ruf? Nicht solange Ärzte auch hier immer mehr finanziellen Erwägungen folgen (müssen) als medizinischen. Wir brauchen ein System, das es Ärzten ermöglicht, „wieder mehr ans Wohl ihrer Patienten zu denken und weniger ans Geld, das sich mit diesen erzielen lässt“. Die ständigen kosmetischen Reparaturen, die jede neue Regierungskoalition veranlasst oder unterlässt, haben unser System nicht besser gemacht. Aber zu einem „großen Wurf“ fehlt den Politikern bisher der Mut. Außerdem wissen sie nicht, wohin der Wurf gehen soll: zu einem noch freieren, deregulierteren System oder zu einem staatlicheren, kontrollierteren. Neue Systeme fangen sowieso zuerst in den Köpfen an. Erst denken, dann handeln. Zum Denken ist dieses Buch schon mal eine sehr gute Anregung. Christoph Kranich, Verbraucherzentrale Hamburg
Plassen Verlag, Kulmbach 2016, 224 Seiten, 19,99 Euro Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017
Buchbesprechungen
Dirk K. Wolter
Schmerzen und Schmerzmittelabhängigkeit im Alter Die gerontopsychiatrische Perspektive
W
er schon lange nach einem zusammenfassenden Buch zur Schmerzthematik im Alter gesucht hat, wird nun endlich fündig. Warum eigentlich erst jetzt? Die Gruppe schmerzertragender Älterer wächst doch schon länger, ebenso rasant wie die Analgetika-Verordnungshäufigkeit in Deutschland. Allemal Grund genug, sich mit dieser Materie fundiert auseinanderzusetzen: Das macht Dirk Wolter mit diesem Buch, und zwar gründlich. Schon die Einleitung zeigt deutlich, dass es sich hier nicht um ein Lehrbuch eines einzelnen Faches, sondern um eine Zusammenfassung spezifischen Wissens verschiedener Fachrichtungen handelt. Mit den ersten vier Kapiteln des Buches werden dem Leser neurobiologische, (patho-)physiologische Modelle, Mythen und Fakten zu Schmerzen im Alter sowie Genderaspekte vermittelt, didaktisch klug und aufeinander aufbauend. Infoboxen, verständliche Abbildungen und extra kenntlich gemachte Exkurse erleichtern die Erfassung der nicht ganz leichten Materie. Mit den klinisch bezogenen Themen der folgenden Kapitel sind gut zwei Drittel des Buches gefüllt: Es geht zunächst um Kommunikations- und Beziehungsaspekte bei Schmerzen, anschließend in ausführlicher Form um Schmerzen bei (neuro-)psychiatrischen Erkrankungen. Hierbei werden nicht nur die bekannten diagnostischen und therapeutischen Be-
Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017
sonderheiten bei Demenzerkrankten (samt serviceorientierter Angabe, wie und wo Assessment-Instrumente zu finden sind), sondern auch die schmerzspezifischen Besonderheiten verschiedener psychiatrischer Störungen (von affektiven und Psychose-Erkrankungen über somatoforme Störungen und Posttraumatische Belastungsstörungen bis zum Delir) anschaulich vermittelt. Nach Darstellung der Einsatzmöglichkeiten, Wirkung und Nebenwirkung der verschiedenen Gruppen der Psychopharmaka werden in sehr ausführlicher Form die schwierigen Zusammenhänge zwischen Schmerz und Schmerzmittelabhängigkeit dargestellt und insbesondere auf Opiatanalgetika und deren Suchtrisiko ausführlich und differenziert eingegangen. Kennzeichnend für das Buch ist, dass im Schlusskapitel, Behandlung und Begleitung aus gerontopsychiatrischer Sicht, auch den nicht medikamentösen und psychologischen sowie weniger bekannten Therapieansätzen samt deren Weiterentwicklung viel Raum gegeben wird. Hier wird besonders gut deutlich, wie in diesem Buch auch über den Tellerrand geschaut wird und welche therapeutischen Anleihen neben den etablierten ärztlichtherapeutischen Trampelpfaden möglich sind, aber wohl viel zu selten Anwendung finden. Das Buch zeigt, was der Autor besonders gut kann: Wissen vermitteln, Querund Weiterdenken, Verbindungen herstellen. Dirk Wolter beschränkt sich nicht auf die Darstellung evidenzbasierter Studienergebnisse und des aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstandes. Und er scheut sich auch nicht, scheinbar Altbekanntes zu hinterfragen, es anzureichern und mit eigenen Einschätzungen und Be-
wertungen zu ergänzen, wobei er diese eigene Sicht hinreichend klar kennzeichnet. Zudem hat der Autor eine enorme Menge an Literatur akribisch und mit Sorgfalt recherchiert, was sich im umfangreichen enzyklopädischen Register mit 1.400 Literaturangaben niederschlägt. In das Buch fließt neben jahrelangem wissenschaftlichem Interesse die klinische Erfahrung des Autors als ärztlicher Leiter gerontopsychiatrischer Abteilungen im In- und Ausland ein, aber auch eine gehörige Portion Herzblut. Dirk Wolter handelt und schreibt aus Überzeugung. Man kann das umfängliche Buch in einem durchlesen (die innere Logik und der stringente Aufbau verleiten einen schon sehr dazu), man muss es aber nicht. Auch durch das Lesen einzelner Kapitel, die in sich schlüssig und verständlich sind, ist zu speziellen Fragestellungen hinreichend Grundlage, weiterführendes Wissen und Anregung zu erhalten. Das Buch richtet sich an unterschiedliche Professionen: Vor allem Klinikern wird es eine breite Grundlage für ihr Handeln geben. So kann dieses Buch zu einem Standardwerk über psychologische und psychiatrische Aspekte von Schmerzen im Alter werden. Das Zeug dazu hat es. Es gibt bislang kein vergleichbares Werk. Und schließlich hat das Buch auch noch einen halbwegs moderaten Preis. Dr. Tilman Fey, Chefarzt der Abteilung für Gerontopsychiatrie, LWL-Klinik Münster
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2016, 348 Seiten, 59 Euro
63
64
Buchbesprechungen
Anna-Elisabeth Neumeyer
Neuerscheinung Neuerscheinungen en im MabuseVe erlag Mabuse-Verlag
Die Angst vergeht, der Zauber bleibt Therapeutisches Zaubern® in Arztpraxen und Krankenhäusern
D Anette Temper e
Schattenschwester Ein Kinderfachbuch a für Kinder m mit einem depressiven Geschwisterkind 72 Seiten, 16,95 Euro ISBN 978-3-86321-308-4 Dieses Buch thematisiert Ängste und Gefühle bei der Depression eines Geschwisterkindes und zeigt Wege des Umgangs mit der Situation in einfachen Sätzen und schönen Bildern auf. Abgerundet durch einen Kinderfachteil bietet es (nicht nur) für Eltern die Möglichkeit, psychische Erkrankungen und die mit ihnen verbundenen Ängste und Fragen von Kindern sensibel zu thematisieren.
Ingritt Sachse
Die Kröte Schild Sprachspiele und Bilder für die Kinderpsychotherapie 84 Seiten, 16,95 Euro ISBN 978-3-86321-330-5 Aus der Erfahrung in der KinderpsyKinderpsy chotherapie entstand die Idee, ein Kinder(fach)buch mit Sprachspielen, Phantasiegeschichten und angedeu angedeuteten Bildern zu gestalten. Im MittelMittel punkt stehen verschiedene Facetten der kindlichen Welterfahrung. Empffo ohlen für die psychotherapeuapeu tische und pädagogische Arbeit mit Kindern.
www www.mabuse-verlag.de .mabuse-verlag.de
ie Wissenschaft hat die Magie aus der Medizin vertrieben, aber nicht aus uns Menschen. Die Hypnotherapeutin und Sozialpädagogin Anna-Elisabeth Neumeyer hat aus ihrer eigenen Leidenschaft für Schauspiel und Zauberei eine ganz eigene neue Form entwickelt: das therapeutische Zaubern. Mit „Die Angst vergeht, der Zauber bleibt“ legt sie jetzt ihr viertes und umfassendstes Buch vor, in dem aus jeder Seite die langjährige praktische Erfahrung und eine große Liebe zu den oft kleinen Patienten spricht. Mit vielen Fallbeispielen und auch den Querverbindungen zu alten und modernen therapeutischen Traditionen wie der Arbeit des US-amerikanischen Psychiaters und Hypnotherapeuten Milton Erickson ist es eine Fundgrube und eine Anregung für jeden Leser, der sein Repertoire von Metaphern und Geschichten um unglaublich anschauliche und wirkungsvolle Interventionen erweitern möchte. Annalisa ist eine moderne Hexe – und das meine ich voller Respekt vor ihrer Pionierleistung, den heilsamen Zauber für die Psychotherapie und die ärztliche Praxis wiederzuentdecken. Wir lernten uns kennen und schätzen über die Zauberei und die Hypnotherapie, auf den Kongressen und zuletzt bei meiner „HUMOR HILFT HEILEN“-Akademie. Da brachte Annalisa das therapeutische Zaubern den Clowns bei, die im Auftrag meiner Stiftung Kinder im Krankenhaus besuchen und mit Musik, Kunststücken und Humor „verzaubern“. Ich habe erlebt, wie wirksam die scheinbar kleinen Effekte sind, die in diesem Buch beschrieben werden: „Das stärkste Kind der Welt“ lässt tatsächlich Kinder über sich hinauswachsen. Ein Kind, was überzeugt davon war, nicht mehr laufen zu können, „vergaß“ sogar in der Interaktion mit den zaubernden Clowns seine Störung. Wunderbar. Beschrieben werden Kunststücke mit Haargummis, die zwischen den Fingern hüpfen und sich verketten, was sich wunderbar eignet, auch bettlägerigen Kindern etwas in die Hand zu geben, mit dem sie spielen und üben können. Und womit sie dann auch andere
Kinder und Erwachsene verblüffen können. Meine absolute Lieblingsidee: wie man aus der Blut-Entnahme eine Blut-Zunahme macht! Kinder bis ins frühe Schulalter denken sehr magisch. Eine Blutentnahme macht ihnen Angst, nicht nur durch die Nadel und den Einstich, sondern auch durch die Vorstellung, dass ihnen ein Stück Lebenssaft genommen wird, auf nimmer Wiedersehen. „In einem Zauberritual bekommt das Kind Kirsch- oder Johannisbeersaft zu trinken und dazu erklärt, dass sie damit das abgenommene Blut auffüllen können. Sie dürfen das ganze Glas behalten, nur ein kleines Röhrchen wird am Arm abgezweigt, um zu schauen, ob der Saft angekommen ist. Die Kinder bleiben die ‚Gewinner‘“. So einfach und so klug, dass man sich wundert, warum da vorher noch niemand darauf gekommen ist. Und sich wundert, warum es nicht schon längst überall praktiziert wird. Wenn wir die moderne Psychotherapieforschung und das heutige Wissen über die durchschlagende Kraft von einer positiven Erwartungshaltung im PlaceboEffekt verbinden mit dem alten Wissen von der Kraft der Rituale und Geschichten, entsteht etwas bewährtes Neues! Die moderne Wissenschaft hat noch kein Mittel erschaffen können, das so beruhigend ist wie der Klang einiger herzlicher Worte und Gesten. Gleichzeitig hat sie noch kein Mittel erschaffen, das die Vergiftung durch verletzende Worte und unnötige Ängste aufheben könnte. Und deshalb sollten alle in Gesundheitsberufen Tätigen viel mehr wissen, über die Kraft ihrer Persönlichkeit, ihrer Worte und ihrer Haltung. Und ein paar gute Geschichten, Metaphern und Tricks drauf haben! Dem Buch wünsche ich viele Leser, und allen Patienten, dass ihnen oft der Mund vor Staunen offen steht – nicht nur beim Zahnarzt. Eckart von Hirschhausen, Komiker, Autor und Moderator. Sein neues Buch „Wunder wirken Wunder“ wirft einen humorvollen Blick auf die bunte Wunderwelt der Heilkunst.
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2016, 215 Seiten, 19,95 Euro Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017
Buchbesprechungen
Heinz Böker, Paul Hoff, Erich Seifritz (Hg.)
„Personalisierte“ Psychiatrie – Paradigmenwechsel oder Etikettenschwindel?
S
eit über zehn Jahren ist das menschliche Genom erforscht. Dadurch entstand in der Medizin die Hoffnung, eine auf den individuellen Patienten zugeschnittene „personalisierte Medizin“ zu entwickeln – ein Gedanke, der hoffnungsvoll stimmt, da Patienten mit gleicher Diagnose auf die gleiche Therapie häufig unterschiedlich positiv oder gar nicht ansprechen. So wurden durch Gentests und Biomarker Subgruppen bei verschiedenen Krankheiten (z. B. Karzinomen) und spezifisch wirkende Medikamente (hier Chemotherapeutika) identifiziert. Dieser optimistische Ansatz wurde auch auf die Behandlung von Menschen mit schweren seelischen Erkrankungen wie Depression und Schizophrenie übertragen: Sowohl Psychiatern als auch Patienten ist bekannt, dass zum Beispiel Antidepressiva bei einem großen Teil der Betroffenen effektlos sind (non-Responder) und bei den Respondern auch noch ein Teil auf den Placebo-Effekt zurückzuführen ist. Die Therapie besteht häufig in einem Probieren, welches Psychopharmakon einen positiven Effekt bei möglichst wenig unerwünschten Nebenwirkungen hat. Also, wo liegt überhaupt das Problem einer „personalisierten Psychiatrie“? Die Herausgeber machen deutlich, dass es durchaus ein Problem gibt. Es kommen nicht nur Kritiker der personalisierten Psychiatrie zu Wort, sondern auch Befürworter. Beide Seiten waren 2012 Gegenstand eines Kolloquiums an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich („Burghölzli“), das die Chancen und Gefahren dieses Ansatzes aufzeigen sollte. Im ersten Teil des Buches wird „Der Begriff der Person in der Psychiatrie“ thematisiert. Es werden Kritiker zitiert, die von einer „depersonalisierten Psychiatrie“ (Fuchs, Heidelberg) oder „Psychiatrie ohne Ansehen der Person“ (Küchenhoff, Basel) sprechen, wenn die Erkrankung auf einen genetischen oder biochemischen Parameter reduziert wird, ohne die klinische Psychopathologie und Lebensgeschichte des Patienten zu berücksichtigen. Befürworter der biologischen Psychiatrie wie Holsboer (München) schwärmen: „Die personaliDr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017
sierte Medizin wird die Gesundheitsverwaltung und -politik, die Versicherungsindustrie, aber auch das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie von Grund auf verändern.“ Er spricht sich dafür aus, anstelle der klinischen Diagnose die Ergebnisse der Neurowissenschaften ins „Epizentrum“ zu stellen. Im Anschluss beschäftigen sich die AutorInnen mit „psychiatrischer Grundlagenforschung: Konsequenzen für Psychiatrie und Psychotherapie“. Hier werden aus unterschiedlichen Perspektiven der Verhaltensforschung (Prägung) und Psychoanalyse neurowissenschaftliche Konzepte zum Beispiel zur Schizophrenie vorgestellt. Das folgende Kapitel „Individualisierte Ansätze bei psychiatrischen Erkrankungen“ erscheint inhaltlich außerordentlich interessant und lehrreich. Allein wegen der darin enthaltenen Diskussion über affektive Störungen (Depression, bipolare Störungen) lohnt sich das Buch. Im vierten Abschnitt „Historische und ethische Aspekte der Debatte um Personalisierung“ kommen zwei Medizinethiker (Vollmann und Maio) zu Wort und kritisieren die Gefahr der Ökonomisierung der „Personalisierung“. Böker und Hoff fassen die Beiträge am Ende noch einmal zusammen und äußern ihre Einschätzung, dass es des problematischen Begriffs der „personalisierten“ Psychiatrie im Grunde nicht nicht bedarf. Dennoch sehen sie die Notwendigkeit, diagnostische, therapeutische und prognostische Parameter zu verfeinern. Dabei müssten neben den „molekulargenetischen und weiteren biologischen und neurobiologischen Faktoren insbesondere die psychosozialen Variablen“ einbezogen werden. Das Buch behandelt außerordentlich wichtige Entwicklungen der Forschung, Theorien und Therapien im Feld der Psychiatrie. Irritierend ist, dass nicht alle der rund 25 AutorInnen im Autorenverzeichnis aufgenommen sind. Prof. Dr. Matthias Elzer, Hochschule Fulda
Wenn Landschaften Menschen gut tun
Berndt Vogel
Grün für die Seele Menschen aufblühen lassen
Berndt Vogel
Grün für die Seele Menschen aufblühen lassen 2017. 224 S., 385 Fotos, Kt € 34,95 / CHF 45.50 ISBN 978-3-456-85687-2 Auch als eBook erhältlich
Wie sich grüne Innen- und Außenräume nutzen lassen, um die psychische Gesundheit von Menschen zu stabilisieren, Erholung und Recovery zu ermöglichen, Menschen zu aktivieren, Inklusion erlebbar zu machen und Kreativität und Fantasie zu entfalten, zeigt dieser opulent illustrierte und anschaulich gestaltete Bild- und Textband. Der Autor und Leiter der Garten- und Landschaftstherapie im St. Gallischen Kantonalen Psychiatrischen Dienst in Wil fasst darin unter anderem seine Green-Care-Arbeiten zusammen.
www.hogrefe.com
Hans Huber Verlag, Bern 2014, 248 Seiten, 29,95 Euro
65