Dr. med. Mabuse 227_Würde

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Nr. 227 · Mai/Juni 2017 42. Jahrgang · D 6424 F · 8 Euro

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Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe

Würde Das System auf den Kopf gestellt – Zuzahlungen von Kranken entlasten die Gesunden. Kinderwunsch im Ethikrat – Reproduktionsmedizin in Deutschland.

— Was ist Menschenwürde? — Psychiatrische Versorgung — Coolout in der Pflege


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Nr. 224 (6/2016)

Nr. 223 (5/2016)

Nr. 222 (4/2016)

Nr. 221 (3/2016)

Arbeit & Gesundheit

Interkulturalität

Gesundheit & Medien

Berührung

Psychosomatik

Familie

außerdem: Präventionsgesetz – Hoffnung oder Ernüchterung? • Generalistik und Bürgerversicherung – Debatten ohne Ende • Selbstmedikation – Behandlung in Eigenregie

außerdem: Pflegestärkungsgesetz II • Gerechte Rollenverteillung bei Medikationsplänen • Kommentar zum rechtlichen Umgang mit Straftaten gegen PatientInnen

außerdem: Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Patienten – Pro/Contra • Teure Arzneimittel – ein Politikum • Humor in der Psychiatrie – angemessen und authentisch

außerdem: Fehlverteilung von Arztsitzen – AOKInstitut sieht keinen Ärztemangel • Offene Besuchszeiten – Pro/Contra • Voneinander Lernen – trotz Demenz

außerdem: „Die Altenpflege wird nicht abgeschafft.“ Interview zur generalistischen Pflegeausbildung • Sterbefasten – Ein persönlicher Fallbericht

außerdem: Wahl oder Pflicht? Schwangere zwischen Selbst- und Fremdbestimmung • Ökonomie vor Patientenwohl. Kritik an Kliniken • Nutzen von Nichtraucher-Apps

Nr. 220 (2/2016)

Nr. 219 (1/2016)

Nr. 218 (6/2015)

Nr. 217 (5/2015)

Nr. 216 (4/2015)

Nr. 215 (3/2015)

Resilienz

Flucht

Kunst & Gesundheit

Anthroposophie

Psychiatrie

außerdem: Schneller zum Facharzt. Servicestellen vermitteln Termine • Prävention im Blick. Das Gesundheitssystem Kubas • Arzneimittelrückstände im Wasser

außerdem: Interview mit IPPNW-Gründervater Dr. Bernard Lown • Interprofessionelle Ausbildungsstationen in Schweden • Neuregelungen zu Sterbehilfe und Pflegereform

außerdem: Über die Anziehungskraft der Alternativmedizin • Entscheidungshilfe bei der Früherkennung • Ergebnisse aus dem Hessischen Pflegemonitor

außerdem: Personalmangel als Patientenrisiko. Ursachen und Auswirkungen • Risikoanalyse vor der Schwangerschaft? • Alkoholkonsum im Alter

außerdem: Ein kritischer Blick auf die DemenzSzene • Zweitmeinung als Patientenrecht • Neue Maßregelvollzugsgesetze in Niedersachsen und Schleswig-Holstein

Infektionen & Epidemien außerdem: Kommentar zum Entwurf für ein E-Health-Gesetz • Recht auf sexuelle u. reproduktive Selbstbestimmung

Eine Gesamtübersicht finden Sie auf unserer Homepage www.mabuse-verlag.de Mabuse-Buchversand, Kasseler Str. 1 a, 60486 Frankfurt am Main E-Mail: buchversand@mabuse-verlag.de Tel.: 069-70 79 96 16, Fax: 069-70 41 52

Die Hefte 226 bis 220 kosten je 8 Euro, die übrigen je 7 Euro. Versandkosten: Einzelheft 3,95 Euro. Bei Zahlung mit Paypal, Kreditkarte oder mit SEPALastschrift liefern wir versandkostenfrei!

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, im Gesundheitswesen spielt das Thema Würde in vielen Bereichen eine wichtige Rolle – sei es in der Betreuung von pflegebedürftigen PatientInnen, in der psychiatrischen Versorgung oder in der Palliativmedizin. Viele Einrichtungen werben damit, Menschen mit Pflegebedarf eine würdevolle Versorgung zu bieten. Auch in der palliativen Begleitung wird ein „menschenwürdiges Sterben“ als Ziel formuliert. Aber was bedeutet das? Hinweise darauf kann die Pflege-Charta geben, die erstellt wurde, um die Lebenssituation von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen zu verbessern. Der Rechtekatalog soll sowohl professionell Pflegenden als auch den Angehörigen von Pflegebedürftigen als Orientierung dienen. Wie vielfältig die Bedeutungen von Würde sind, spiegelt sich auch in den Beiträgen unserer AutorInnen wieder. Nach einer Einführung zur Menschenwürde aus moralphilosophischer Sicht geht es um den Berufsalltag in der Pflege. Es wird in den Blick genommen, auf welche Art und Weise Pflegende mit den teils unwürdigen Rahmenbedingungen umgehen. Von den Möglichkeiten, Würde im Kontext psychiatrischer Versorgung zu gewährleisten, berichten Mitarbeiter eines Sozialpsychiatrischen Vereins. Dass ein würdevolles und zufriedenes Leben trotz Behinderung möglich ist, lesen Sie im Gespräch zwischen Maren Asmussen-Clausen und Maria-Cristina Hallwachs.

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Und schließlich beleuchtet Christina Mundlos unwürdige Zustände in der Geburtshilfe sowie die Erfahrungen von Gebärenden und Hebammen. Außerhalb des Schwerpunkts wird das Pro und Contra einer gesetzlich verankerten Personalbemessung in Krankenhäusern diskutiert. Wolfgang Wagner berichtet von den Ergebnissen des Jahresberichts der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen und den Plänen der Bundesregierung, den Zugang zur Psychotherapie für KassenpatientInnen zu erleichtern. Gerd Glaeske greift in seinem Kommentar die finanziellen Belastungen für PatientInnen auf, die durch Zuzahlungen für Medikamente und Heilmittel entstehen und so Krankenkassen sowie gesunde Versicherte entlasten. Wir wünschen eine erkenntnisreiche Lektüre und senden herzliche Grüße aus der Redaktion!

Franca Liedhegener

Ann-Kathrin Roeske

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Inhalt Personalanhaltszahlen im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 14 Pro: Gesetzliche Regelung muss kommen Markus Mai Contra: Personaleinsatz ist Krankenhausverantwortung Thomas Reumann

„Die Faszination darf nie verloren gehen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 16 Der Kongress „Geburtshilfe im Dialog“ in Mannheim Franca Liedhegener

Zu viele Pillen, zu wenig Gespräche . . . . . . . . . . S. 18 Politik will Zugang zur Psychotherapie verbessern Wolfgang Wagner

Register 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 42 Das gesundheitspolitische Lexikon:

Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 44 Daniela Sulman

Kinderwunsch im Ethikrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 45 Zur Reproduktionsmedizin in Deutschland Kirsten Achtelik

Das System auf den Kopf gestellt . . . . . . . . . . . . . . S. 48 Zuzahlungen von Kranken entlasten die Gesunden Gerd Glaeske

PflegeKultur – CareCulture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 49 Pflege aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Regina F. Bendix und Sabine Wöhlke

Rubriken Editorial

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Leserbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ich lese Mabuse, weil ... Nachrichten

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Gesundheit anderswo:

Buchbesprechungen

Entwicklungszusammenarbeit 2.0 . . . . . . . . . . . S. 52

Neuerscheinungen . . . . . . . . . . . . . 66

Wie ein Apell die Welt verändern kann Christoph Lüdemann

Broschüren/Materialien

Freiwillige Selbstkontrolle?

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S. 55

Zeitschriftenschau Termine

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Die Praxis kosmetischer Genitaloperationen bei intersexuellen Kindern Oliver Tolmein

Stellenmarkt/Fortbildung

Gesundheitsexperten von morgen:

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Schutz, Stressabbau, Stärkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 56 Zur Funktion von Humor für Pflegekräfte auf Intensivstationen Dorothea Buchholz

Besser reich und gesund als arm und krank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 82 Karin Ceballos Betancur Foto: Thomas Koehler/photothek.net

...

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Kleinanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79


Schwerpunkt:

Würde Das höchste Gut?

S. 22

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Menschenwürde aus moralphilosophischer Sicht Ralf Stoecker

Fachlicher Anspruch vs. Praxisrealität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 26 Wie Pflegende die unwürdigen Bedingungen im Arbeitsalltag aushalten Karin Kersting

Arbeit auf Augenhöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 29 Würde in der psychiatrischen Versorgung Burkhard Held, Sebastian Keller und Jessica Held

„Es ist wichtig, dass sie mir die Würde lassen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 33 Maria-Cristina Hallwachs und Maren Asmussen-Clausen im Gespräch

Der alltägliche Skandal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 38 Gewalt in der Geburtshilfe Christina Mundlos

Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 41 Bücher zum Weiterlesen


26 Schwerpunkt: Würde

Coolout-Studien

Fachlicher Anspruch vs. Praxisrealität Wie Pflegende die unwürdigen Bedingungen im Arbeitsalltag aushalten

Foto: www.martinglauser.ch

Karin Kersting Im öffentlichen Diskurs werden häufig „unwürdige Zustände in der Pflege“ angeprangert. Die schlechte Versorgung von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen ist immer wieder Thema. Welche Bedingungen hingegen Pflegende in ihrem Berufsalltag aushalten müssen, wird kaum betrachtet. Unsere Autorin hat mit den sogenannten Coolout-Studien in den vergangenen 20 Jahren untersucht, wie Pflegende sich zwischen der geforderten Patientenorientierung und den herrschenden ökonomischen Zwängen bewegen.

P

flegende sollen sich bei der Arbeit sowohl am aktuellen und anerkannten Stand pflegewissenschaftlicher und anderer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse orientieren als auch die Patienten und ihre individuellen Bedürfnisse berücksichtigen. Die pflegebedürftigen Menschen sollen in ihrer Selbstständigkeit gefördert und hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Teilhabe unterstützt werden. Im Pflegehandeln sollen insbesondere das Selbstbestimmungsrecht und die individuelle Situation der zu pflegenden Personen berücksichtigt werden (vgl. BMG 2003). Dieser Anspruch findet sich nicht nur im Krankenpflegegesetz, sondern auch in verschiedenen Pflege-

theorien und -konzepten, die in den Ausbildungen vermittelt werden, und in Forderungen seitens der Praxis wieder. So wird etwa eine patientenorientierte Pflege in (Pflege)Leitbildern von Kliniken formuliert und der Öffentlichkeit vermittelt, dass alles Handeln der Mitarbeiter auf das Wohl der zu Pflegenden ausgerichtet ist: Empathie und Verständnis werden als Handlungsmaxime ausgewiesen. Oder es wird betont, die in der Einrichtung Tätigen nähmen sich Zeit für die zu Pflegenden, deren Würde und Individualität das Handeln leite (vgl. Kersting 2016b, S. 30 f.). Die Forderung einer patientenorientierten Pflege hat damit nach innen wie nach außen eine Funktion – nämlich die, das berufliche Selbstverständnis zu prägen und das jeweilige Krankenhaus als eine humane Einrichtung zu präsentieren, der sich die Einzelnen anvertrauen dürfen und in der sie sich gut aufgehoben wissen können (vgl. Kersting 2016a, S. 40 ff./ 2016b, S. 30 ff.).

Die ökonomischen Zwänge Zugleich müssten aber die von der Gesellschaft eingerichteten Gesundheitsinstitutionen bezahlbar bleiben – so jedenfalls fordern es seit Jahren Politik, Kranken- und Pflegeversicherungsträger. Dr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017


Coolout-Studien

Dieser Appell führt zunehmend zu Konkurrenz und Verdrängungswettbewerben der Einrichtungen untereinander. Gewinnmaximierung gewinnt an Bedeutung und führt in Klinikkonzernen zu wirtschaftlichen Zwängen, die sich in Zeit- und Personalmangel niederschlagen (vgl. Mazei et al. 2014). Der normative Anspruch der Patientenorientierung, mit dem die Einrichtungen für sich werben, degeneriert auf diesem Weg zu einem täuschenden Label, führt doch gerade der Wettbewerb zu Verhältnissen, die diesen Anspruch verhindern. Es gilt das Diktat der Ökonomie: Pflegende müssen ihr Handeln an wirtschaftlichen Prinzipien ausrichten (vgl. Kersting 2016b, S. 31 ff.). Sie sollen bereits in der Ausbildung lernen, mit materiellen und personalen Ressourcen ökonomisch umzugehen (vgl. BMG 2003).

Herrschende „Mängelpraxis“ Die Situation in Krankenhäusern stellt sich als „Mängelpraxis“ dar, wie etwa die Studienreihe „Pflegethermometer“ zeigt: Mängel in der pflegerischen Versorgung sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel, etwa bei der Überwachung verwirrter Patienten, Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme, Mobilisierung und Lagerung von bewegungseingeschränkten Patienten, der Betreuung Schwerstkranker und Sterbender (vgl. Isfort et al. 2010). Der Ruf nach Patientenorientierung bei gleichzeitiger Forderung von Wirtschaftlichkeit bekommt vor diesem Hintergrund geradezu einen zynischen Zug. Die Schilderung einer verzweifelten Krankenschwester, die sich 2015 an die Öffentlichkeit wandte, spitzt den Sachverhalt zu. Sie berichtete dem SPIEGEL unter anderem von Patienten, die fixiert werden, damit sie keine Unruhe stiften, von Patienten, die aufgrund von Überlastung des Pflegepersonals mehrere Stunden in ihrem Kot und Urin liegen, von Pflegenden, die ihren Frust mit Alkohol betäuben. Am Beispiel der Arbeit in der Notaufnahme macht der Beitrag sehr eingängig auf die unhaltbaren Zustände und Zumutungen aufmerksam, die Pflegende und Patienten aushalten müssen. „Manchmal denke ich: Ich wünschte, es würde mal was richtig Schlimmes passieren. Damit sich endlich etwas ändert“, heißt es abschließend in dem Artikel (DER SPIEGEL 44/2015). Aber was soll dieses „richtig Schlimme“ sein, wenn nicht die von ihr geschilderte Situation, dass Menschen mehrere StunDr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017

den in ihren Ausscheidungen liegen, die Tatsache, dass kranke Menschen mit Gurten am Bett festgebunden werden, oder die Anzahl der Todesfälle, die mit dem Personalmangel in Zusammenhang gebracht werden können (vgl. Busse 2013)?

Das Aushaltenkönnen Diese unwürdigen Zustände in der Praxis, die negativen Auswirkungen auf die Patienten und die Belastungen für die Pflegenden sind zwar längst dokumentiert, in einschlägigen Studien untersucht und sowohl der Fachdiskussion wie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Dennoch gibt es weder in der Gesellschaft noch in der Pflegepraxis oder -wissenschaft eine derart nachhaltige Reaktion, die eine grundlegende Änderung der Versorgungsqualität zur Konsequenz hätte. Pflegende halten die Situation im Arbeitsalltag aus – zumindest die meisten von ihnen. Es steigen noch brennen weder alle aus oder betäuben sich mit Alkohol. Der „Wunsch nach etwas richtig Schlimmen“, um einen Wandel anzustoßen, zeigt vielmehr, dass es scheinbar noch nicht schlimm genug ist. Die Frage ist, wie die Akteure diese Situation im Pflegealltag dauerhaft mehr oder weniger widerstandslos hinnehmen können. Ich untersuche seit 20 Jahren mit den sogenannten Coolout-Studien, wie Pflegende den unauflösbaren Widerspruch zwischen dem gesetzlich verankerten (und im Laufe der Jahre immer elaborierter beschriebenen) pflegefachlichen Anspruch und der Sicherung der funktionalen Arbeitsabläufe innerhalb der ökonomischen Zwänge im Krankenhausalltag aushalten. Mit der Metapher der „Bürgerlichen Kälte“, so wie sie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer geprägt worden ist, kann erklärt werden, wie Pflegende, Pflegeschüler, aber auch Pflegepädagogen und Praxisanleiter sich vor diesem Widerspruch schützen können und damit zugleich zur Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse beitragen. Sie alle lernen in der beruflichen Sozialisation, sich gegenüber dem unauflösbaren Widerspruch in den an sie gestellten Anforderungen „kalt“ zu machen, also eine Tendenz der Gleichgültigkeit gegenüber dem Widerspruch zu entwickeln. Dieses Sich-kalt-machen – das „Coolout“ – lässt sich als Prozess einer moralischen Desensibilisierung beschreiben, in dem Pflegende sich verschiedene Deutungen

Schwerpunkt: Würde

und Strategien aneignen. Diese zeigen, wie Pflegende aushalten, was ihnen und den Patienten im Alltag widerfährt, warum das Bestehende sich letztlich relativ reibungslos reproduziert und warum auch das längst beschriebene „Schlimme“ noch nicht schlimm genug ist, um Veränderungen herbeizuführen.

Schutz und Stabilisierung Die Deutungen beziehungsweise Reaktionsmuster haben eine Schutzfunktion für die Akteure, und weil sie hinreichend schützen, stabilisieren sie zugleich die bestehenden Verhältnisse. Ein zentraler Aspekt bei diesen schützenden und stabilisierenden Deutungen ist, dass Verletzungen des pflegefachlichen Anspruchs oder der gebotenen Patientenorientierung zur Normalität im Alltag werden. Es gibt eine Normalitätstendenz hinsichtlich strukturell regelverletzender Abläufe (vgl. Oevermann 1999, S. 257).

„Pflegende lernen, die Regelverletzungen im Alltag als Normalfall anzusehen.“ Dabei sind es im Regelfall nicht die eklatanten, dramatischen Verletzungen der Norm, die zum Protest führen würden, sondern die häufigen Normverletzungen im scheinbar Kleinen. Diese sind vom Inhalt her tendenziell tolerierbar und mobilisieren keinen direkten Widerstand, da sie eher unscheinbar und aufgrund ihrer Häufigkeit im Arbeitsalltag eher harmlos erscheinen: Die Körperpflege, die Lagerung, das Anreichen von Nahrung, die Kommunikation oder anderes werden mit mehr oder weniger Abweichungen, eben nicht ganz so durchgeführt, wie es sein sollte. Schwerstkranken und Sterbenden kann nicht die Zuwendung zuteilwerden, der sie bedürfen. Man muss Abstriche bei der Pflege machen, Prioritäten setzen, Kompromisse suchen und auch bei Personalmangel müssen alle Arbeiten erledigt, alle Patienten versorgt werden. Das alles gilt im Alltag als „normal“ und geschieht jeden Tag.

Regelverletzung und Gewöhnung Pflegende lernen somit, die Regelverletzungen als Normalfall anzusehen. Aller-

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Schwerpunkt: Würde

Coolout-Studien

dings lernen sie auch, grundsätzlich an dem normativen Anspruch festzuhalten, ihn zu wünschen oder auch anzumahnen – wenngleich er im Alltag mehr oder weniger unmerklich unterlaufen wird, weil den Pflegenden nichts anderes übrig bleibt (vgl. Kersting 2016a, S. 93 ff.). Bezieht man dies auf die Kollegin aus dem SPIEGEL-Bericht, so zeigt sich zweierlei: Es gibt zunächst einmal eine nicht mehr zu tolerierende Regelverletzung, eine Sensibilisierung und einen Widerstand, der sich in dem Schritt an die Öffentlichkeit zu gehen zeigt. Zugleich gibt es jedoch eine Gewöhnung an das „Schlimme“, auch an „schlimme“ Regelverletzungen, die aus der eigenen Perspektive und Deutung heraus aber immer noch nicht schlimm genug sind, als dass ihnen eine ausreichende Dramatik für einen Anstoß zum Wandel zugeschrieben würde. Auch bei eklatanten Normverletzungen findet letztlich eine Gewöhnung statt, die dazu führt, dass diese ausgehalten werden und man am nächsten Tag weitermachen kann. Das Beispiel der Kollegin verweist darauf, dass auch bei einer weiteren Zunahme des Arbeits- und Zeitdrucks weder nachhaltiger Protest noch grundlegende Veränderungen zu erwarten sind, sondern sukzessive eine weitere Gewöhnung und Anpassung an die sich verschlechternden Verhältnisse stattfinden werden.

Coolout-Strategien Dies geschieht mithilfe von Deutungen und Strategien des Coolout, etwa — einer unkritischen, fraglosen, unreflektierten Übernahme der Gepflogenheiten der Praxis und alleinigen Orientierung an dem, was im Alltag machbar ist, oder — einem Verharren in der Perspektive

eines Opfers, das keine Macht zur Veränderung hat, gleichsam ohnmächtig hinnehmen muss, was an Normverletzungen geschieht, oder — dem Suchen nach den richtigen Prioritäten, nach guten Kompromissen, nach Nischen und positiven Ausnahmen im Alltag, nach besserer Arbeitsorganisation und -koordination oder dem Hochhalten der Kollegialität und des Teamgeistes, kurz dem Verfallen in verschiedene Strategien, die der Verwirklichung des pflegefachlichen Anspruchs, der Verbesserung der Situation im Arbeitsalltag dienen sollen. Diese führen letztlich aber zu einem Trugschluss, weil mit ihnen nicht, nur zufällig oder nur teilweise das erreicht werden kann, was intendiert ist – nämlich eine Orientierung am einzelnen Patienten. Vielmehr dienen die Strategien im Ergebnis der Sicherung aller Arbeitsabläufe auch unter schlechten Bedingungen. Es werden immer Abstriche an der Pflege gemacht. – Oder es kommt zu einer reflektierten Hinnahme, dass es keine Lösung im Sinne einer Verwirklichung des Anspruchs unter den herrschenden Bedingungen geben kann (vgl. Kersting o. J./2016a, S. 133ff.).

Dementsprechend müsste gefragt und geprüft werden, inwieweit das strukturelle Problem, also der unauflösbare Widerspruch in den Anforderungen an Pflegende, in der Pflegewissenschaft, Pflegepädagogik und Berufspolitik personalisiert, pädagogisiert oder psychologisiert wird – etwa in Motivationsreden mit Aufforderungen zum Zusammenhalt der Berufsgruppe, Konzepten zur Stärkung der eigenen Person und Entwicklung der Ich-Identität, zur Stärkung der Resilienz oder Förderung einer schier unendlichen Anzahl von Kompetenzen, mit denen dann im Alltag die Qualität der Pflege gesichert werden soll. Diese Strategien bergen die Gefahr, die unwürdigen Bedingungen im Pflegealltag zu bagatellisieren oder zu verschleiern, weil der Blick von den eigentlichen Ursachen abgewendet und die Lösung in den Akteure selbst gesucht wird. Dies gilt es weiter zu untersuchen und darüber gilt es aufzuklären. ■ Die vollständige Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de In der kommenden Ausgabe von Dr. med. Mabuse wird ein weiterer Beitrag zur Situation der Pflegepädagogen und Praxisanleiter erscheinen.

Der Widerspruch bleibt bestehen Mit den Ergebnissen der Coolout-Studien lassen sich diejenigen Mechanismen aufdecken, die dazu führen, dass letztlich alles so bleibt, wie es ist, obwohl das doch keiner so möchte. Und das bezieht sich nicht nur auf die Praktiker. Vielmehr lassen sich verschiedene der oben skizzierten Deutungen auch in pflegewissenschaftlichen und pflegepädagogischen Konzepten aufdecken (vgl. Kersting 2008, S. 3–5/2015, S. 177–198/2016, S. 585–604/2016b).

Was bereichert Ihr Leben? „Jede Art von Wärme.“

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Das Arbeitsfeld der Kinaesthetics-TrainerIn

Dr. Karin Kersting ist Krankenschwester, Lehrerin für Pflege, Dipl.-Pädagogin und Professorin für Pflegewissenschaft/Pflegeforschung an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein. karin.kersting@ hs-lu.de


Buchbesprechungen

Paul T. M. Smith

Stressreduzierende Pflege von Menschen mit Demenz Der Stress-Coping-Adaptations-Ansatz

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as Entscheidende in der Begegnung mit Menschen, die von einer Demenz betroffen sind, ist wohl, wie man den Weg zu einem Miteinander sucht. Dies ist die Botschaft des Buchs des britischen Pflegewissenschaftlers Paul T. M. Smith. Es macht einen hölzernen Eindruck, wenn man vom „Stress-Coping-Adaptations-Ansatz“ liest, aber Smith ist über die mehr als 200 Seiten ganz nah bei den betroffenen Menschen. Es ist schon Stress an sich, wenn ein Mensch in seiner Biografie demenzielle Veränderungen erlebt. Der Betroffene verliert den Boden unter den Füßen und ist darauf angewiesen, dass begleitende Menschen Rahmenbedingungen schaffen, die Sicherheit und Wohlgefühl in gleichem Maße vermitteln. „Die primäre Aufgabe der Demenzpflege sollte im Bewahren des Personseins liegen; Identität steht im Zentrum der Person“, schreibt Smith. Der Demenzbetroffene bleibt ihm zufolge ein handelndes Subjekt, kein Objekt der Fürsorge, das in einer erlernten Hilflosigkeit resignieren soll. So stellt Smith etwa das „Behinderungsmodell“ vor, das Prinzipien und Ideale bieten wolle, „welche die verbliebenen Fähigkeiten stärk[en] und gleichzeitig versuch[en], Behinderung zu kompensieren“. Wenn ein Mensch keine Beine habe, sei man gesetzlich verpflichtet, Prothesen zur Verfügung zu stellen oder Rampen zu bauen. Habe jedoch jemand eine Schädigung des Kurzzeitgedächtnisses, so gebe es keine Anpassung der Umgebung. Aus dem fachlichen Diskurs wird bei Smith immer auch eine politische Abwägung. Das ist gut so, schließlich gibt es bei den Hilfen, die Demenzbetroffenen zur Verfügung gestellt werden sollten, immer auch eine politische Dimension. Durch das Voranschreiten einer Demenz bleiben deren Versorgung und Begleitung stets dynamisch. Der Stress, dem sie ausgesetzt sind, verändert sich, indem sich die Toleranzschwellen reduzieren. Die Anpassungsleistung wird zu einer stetig wachsenden Herausforderung. Smith erläutert anschaulich und ausführlich die Zusammenhänge von DeDr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017

menz und Stress. Spannend wird es, wenn er den Stress und das innere Milieu darstellt. Gestörtes Verhalten könne das Ergebnis eines veränderten Körperrhythmus oder von ungelöstem Stress sein, so Smith. Für Pflegende sei es von großer Bedeutung, über ein verändertes Denken zu einer angepassten Haltung und einem sich wandelnden Handeln zu gelangen. Smiths Ansatz einer „Progressively Lowered Stress Threshold“ (dt. etwa: eine sich fortschreitend reduzierende Stressgrenze) geht von verschiedenen Prinzipien aus. So geht es um das „Maximieren einer sicheren Funktion durch prothetisches Unterstützen bei Ausfällen“, das „Sorgen für bedingungslose positive Wertschätzung“ und das „Nutzen von Angst und Vermeidungsverhalten zur Beurteilung des Aktivitäts- und Stimulationsniveaus“ – ein hoher Anspruch für Pflegende. Smith eröffnet Gestaltungsräume, die es zu füllen gilt. Nötig ist dafür jedoch, sich selbst durch eine engagierte teilnehmende Beobachtung einzubringen. Wer aufmerksam beobachtet und den Betroffenen zuhört, entwickelt eine Sensibilität, die der Begleitung demenziell veränderter Menschen entgegenkommt. Smith geht gar so weit, dass er Pflegende ermuntert, Künstler zu sein – im Gegensatz zu einem Verständnis als Dienstleister. Es ist sicher einen Versuch wert, sich bei „unterstützenden Pflegeumgebungen“ kreativ gestaltend einzulassen. Auch zu einer „Ästhetik des Pflegeheims“ äußert sich Smith. Konkret wird es, wenn er den „Körpersystemansatz“ beschreibt. Über die fünf Sinne eines Menschen macht er Vorschläge, wie angepasste Umgebungen im Pflegeheim, aber auch im häuslichen Umfeld, gestaltet werden können. Smiths Buch eröffnet Angehörigen wie beruflich Pflegenden Perspektiven – sowohl in der Weiterentwicklung der Hilfen für Betroffene als auch in der Haltung gegenüber den Menschen und den Phänomenen. Da werden in der Begegnung mit Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, wirklich Fortschritte gemacht. Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Bornheim

Hogrefe Verlag, Bern 2016, 248 Seiten, 29,95 Euro

Angehörige begleiten

Angelika Feichtner, Bettina Pußwald

Palliative Care Unterstützung der Angehörigen facultas 2017 176 Seiten, broschiert EUR 18,40 ISBN 978-3-7089-1489-3 epub 978-3-99030-633-8

Wer schwer oder terminal erkrankte Patientinnen und Patienten in ihrer letzten Lebensphase begleitet, begleitet immer auch deren Angehörige. Im Bewusstsein, dass die gemeinsame Zeit begrenzt ist, wollen Angehörige diese wertvolle Zeit mitgestalten und – trotz eigener Belastung – den Betroffenen Unterstützung sein. Da liegt es an den Pflegenden und dem professionellen Betreuungssystem, sie in Achtung ihrer individuellen Bewältigungsstrategien dabei zu unterstützen. Das Praxisbuch „Palliative Care“ bietet Anregungen für Pflegende, wie die Zusammenarbeit mit Angehörigen in der palliativen Betreuungssituation gelingen kann, ist aber auch ein hilfreicher Leitfaden für Angehörige in dieser schwierigen Zeit.

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Buchbesprechungen

Benno Hafeneger, Marcus Velke u. a.

Geschichte der hessischen Landesärztekammern 1887–1956 Autonomie – Verantwortung – Interessen

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m Vorwort der umfangreichen Studie schreibt Siegmund Drexler, einer ihrer Initiatoren, dass die Aufarbeitung der Rolle gesellschaftlicher Institutionen ohne den Blick auf vorausgegangene Epochen nicht möglich sei. Die NS-Zeit habe im Bildungsbürgertum, bei konservativen Intellektuellen, an den Universitäten und in der überwiegend konservativen Ärzteschaft Unterstützung gefunden. Insbesondere eine biologistische Medizin und ein rassistisches Bild von Gesellschaft hatten Vorläufer. Kurz nach der Machtübernahme wurden 1933 jüdische Ärzte aus Praxen, Kliniken und Universitäten „entfernt“, später kranke Menschen als „unwertes Leben“ getötet. Nach dem Krieg gab es eine „erschreckende Kontinuität“, auch in den Körperschaften der Ärzteschaft, und die Forderung, die Vergangenheit ruhen zu lassen. 2013 hatte die Delegiertenversammlung der Landesärztekammer Hessen beschlossen, ihre Geschichte umfassend wissenschaftlich beforschen zu lassen; zuvor gab es einige Untersuchungen zur Rolle der Ärzteschaft in der NS-Zeit und zum Schicksal jüdischer Ärzte. Ein Team um Prof. Benno Hafeneger (Philipps-Universität Marburg) wurde mit dem Forschungsprojekt beauftragt. Beim Hessischen Ärztetag im September 2016 wurde der Abschlussbericht vorgelegt. Die Intention der Projektgruppe war es, „eine institutions- und regionalgeschichtliche Rekonstruktion der Standesgeschichte der organisierten Ärzteschaft und deren Politik und Vertretung in Form der hessischen Ärztekammern für den langen Zeitraum von 1887 bis 1956 vorzulegen“. Es handelt sich um vier Epochen: Kaiserzeit, Weimarer Republik, NSZeit und Nachkriegszeit. Hessen-Nassau spielte sowohl 1919 als auch 1946 eine „Schrittmacherrolle“ bei der Bildung von Ärztekammern. Die Autoren fragen: Wie haben sich die Kammern gebildet, was waren ihre zentralen Themen, welche Aufgaben sahen sie, welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten finden sich, wer waren die Akteure der Standespolitik?

Die bewegte Geschichte der Kammern wurde durch detailliertes Quellenstudium in zahlreichen Archiven rekonstruiert. Dabei gewinnt der Leser einen Eindruck über das Denken und Handeln der Funktionsträger der Ärzteschaft im Kontext des jeweiligen politischen Systems. Es belegt zudem, dass die schnelle und willfährige Anpassung der Ärzteschaft an die NS-Ideologie eine Vorgeschichte hat und diese nach 1945 größtenteils weiter bestand durch Verdrängen und Verleugnen der menschenverachtenden Medizin der NS- und Vor-NS-Zeit sowie durch „Persilscheine“ und dreistes Lügen (z.B. Neuropathologe Hallervorden, Uni Gießen). Am Beispiel der Nürnberger Ärzteprozesse und der Berichterstattung Alexander Mitscherlichs im Auftrag der Ärzteschaft wird deutlich, wie Funktionsträger mit ihrer Vergangenheit umgegangen sind. Von 1945 bis 1946 war Paul Hofmann, Chirurg und Orthopäde aus Kassel, jüdischer Abstammung und überlebender KZ-Häftling, der erste Präsident der Ärzteschaft Groß-Hessens. Auf ihn folgte rasch Carl Oelemann. Interessant ist, dass die Bildergalerie in der Landesärztekammer Hessen kein Portrait von Hofmann zeigt. Dies soll inzwischen – auch eine Folge der Studie – nachgeholt werden. Das reichhaltige Quellenmaterial mit Protokollen, Presseartikeln, Briefen, Lebensläufen (z.B. Personenlexikon) macht das Buch zu einer spannenden und lehrreichen Lektüre über die Geschichte der Ärzteschaft am Beispiel Hessen. Bei der Gedenkfeier des Deutschen Bundestages zum Holocaust im Januar 2017 sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), dass „Ärzte zu Henkern (...) ehemalige Täter zu Ordinarien befördert, mit Verdienstkreuzen geehrt, ihre Taten verdrängt und die Opfer vergessen wurden“, dass jahrelange Gleichgültigkeit in Wissenschaft, Medien und Politik herrschte. Genau das belegt die Studie eindrücklich. Prof. Dr. med. Matthias Elzer, Hofheim am Taunus

Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2016, 544 Seiten, 49,80 Euro

Wolf-Ulrich Klünker, Johannes Reiner u. a.

Psychologie des Ich Anthroposophie, Psychotherapie

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ieses Buch möchte nicht weniger als einen multiperspektivischen Beitrag zur wissenschaftlichen Fundierung anthroposophischer Psychotherapie im Diskursfeld der Subjektivierung leisten. Bemerkenswert dabei ist die methodische Diversität der AutorInnen. So werden nicht nur Kasuistiken und Therapieansätze, sondern auch eine Einordnung der anthroposophischen Weltsicht in eine chronologisch aufgebaute Geschichte der Geisteswissenschaft des Ichs „mit Zukunftsaspekt[en] des 21. Jahrhunderts“ aufgeboten, um ein zukünftig zu bearbeitendes Forschungsterrain – die Psychologie des Ich – abzustecken. Diese dezidiert bei Wolf-Ulrich Klünker ausgeführte Arbeit ordnet über Aristoteles, Thomas von Aquin, Albert Magnus und Hegel den Forschungsansatz historisch ein und verortet ihn schließlich bei und mit Rudolf Steiner. Wesentlich praxisorientierter führt Johannes Reiner in seinem ersten Beitrag „Lebensstruktur des Ich. Menschenkundliche Ausgangspunkte“ fünf Grundfähigkeiten zur Selbstentwicklung aus, die er von Rudolf Steiners 1904 verfassten „Nebenübungen“ ableitet. Maria Tolksdorf beschreibt in ihrem Beitrag aus ihrer Erfahrung als Kinderund Jugendlichenpsychotherapeutin die Wechselwirkungen von pädagogischen Imperativen und eng getakteten Tagesabläufen, die bei Kindern und Jugendlichen zu Erschöpfungszuständen und Selbstzweifeln führen. Durch die Überwindung automatisierter Denkbewegungen wird ein Wagnis zur Selbsterkenntnis vorgeschlagen, dass die (Selbst-)Krisen als Ausgangspunkte für ein neues Selbstbewusstsein versteht. Mit historischen Referenzen, wie den Vorträgen des Heilpädagogischen Kurses 1924, arbeitet Roland Wiese in seinen Beiträgen „Weltbezug des Ich. Subjektivität und Individualität“ und „Erfahrung des Ich. Ein Übungsansatz“. Er verbindet in wechselnder Intensität theoretische Ausführungen zu den Forschungsansätzen des Heilpädagogischen Kurses oder den Anthroposophischen Leitsätzen 11 bis 16 mit eigenen und historischen Fallgeschichten. Werden bei Wiese insbesondere im ersten Artikel Forschung und Dr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017


Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2016, 187 Seiten, 22 Euro

Klaus Dörner, Thomas Bock u. a. (Hg.)

Irren ist menschlich Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie

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as Buch „Irren ist menschlich“ von Klaus Dörner und Ursula Plog gehört zu den wenigen Büchern, für die ein Verlag gegründet wurde: der Psychiatrie Verlag vor nun genau 40 Jahren. Das Lehrbuch der Psychiatrie wurde von der ersten Auflage an zu einem Kultbuch. Die ersten 3.000 Exemplare wurden den frisch gebackenen Verlegern mehr oder weniger aus den Händen gerissen – bereits nach wenigen Wochen musste nachgedruckt werden. Mittlerweile liegt es bei 400.000 verkauften Exemplaren in der 24. Auflage vor. Dr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017

Es ist eine schier unglaubliche Geschichte: Vier Laien beschließen, einen Verlag zu gründen – eine psychiatrische Krankenschwester, ein Psychiater und die beiden Autoren. Zwei sozialpsychiatrische Hilfsvereine einer Anstalt in Wunstorf bei Hannover werden Träger und stellen ihre spärliche Infrastruktur zur Verfügung. Eine Ergotherapeutin und ein Sozialarbeiter werden, beide in ihrer Freizeit, die ersten Verleger. Und das erste Buch läuft und läuft und läuft – all das ohne professionelles Management und ohne Werbung. Das war nur durch die in der Anfangsphase enge Bindung des Verlages an die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) möglich, die damals ebenfalls ihre Geschäftsstelle in Wunstorf hatte und für einige Jahre dritter Gesellschafter des Verlages wurde: Die DGSPler wollten ebenso wie das Buch eine andere, dem kranken Menschen zugewandtere Psychiatrie. Inzwischen hat sich einiges geändert: Das damals unansehnliche Buch mit dem schäbigen Pappeinband und der laienhaften Gestaltung ist ein Schmuckstück geworden, mit augenfreundlichem Layout und einem Einband, der gut in der Hand liegt. Beides ist auch nötig, denn das Buch bringt es bei knapp 1.000 Seiten inzwischen auf anderthalb Kilo Gewicht. Das Lehrbuch ist eher ein Handbuch geworden und es gibt nicht nur äußerliche Veränderungen: Von den Autoren ist nur Klaus Dörner geblieben, Ursula Plog ist 2002 verstorben. An ihre Stelle sind vier zusätzliche Herausgeber und insgesamt 22 MitarbeiterInnen getreten. Trotzdem besteht der Eindruck, dass es im neuen Team gelungen ist, ein einheitliches Werk vorzulegen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass das ursprüngliche Grundkonzept beibehalten wurde. So bleibt „Irren ist menschlich“ in erster Linie ein Buch über Kranke, ihre Leiden sowie über ihre Helfer – und keines über Krankheiten. Das schlägt sich unter anderem in den Kapitelüberschriften nieder. So heißt etwa das erste Kapitel, das sich den Therapeuten widmet, „Der sich und Anderen helfende Mensch.“ Im Kapitel „Der sich und Andere niederschlagende Mensch“ geht es um depressive Erkrankungen. In diesen Überschriften wird sowohl deutlich, dass jedes Ding zwei Seiten hat, als auch, dass Krankheiten nicht nur den unmittelbar Leidenden betreffen, sondern ebenso Angehörige und Menschen in der Umgebung. Die Wahl der Begrifflichkeit

Lutz Wesel, Arzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapeut und Psychoonkologe, hat vor einigen Jahren selbst eine schwere Krebserkrankung überstanden. In diesem Buch fasst er übersichtlich und gut verständlich zusammen, was man als Patient oder Angehöriger wissen muss, um gute und sichere Entscheidungen treffen und besonnen die richtigen Maßnahmen ergreifen zu können. Das Buch informiert über Schulmedizin und Komplementärmedizin, gibt Tipps, wie man mit Ärzten und Angehörigen kommuniziert, und zeigt, was man als Patient selbst tun kann, um wieder gesund zu werden. Es schaff fftt Verständnis, nimmt die Angst, macht Mut und gibt Zuversicht. Eine Checkliste hilfft, die notwendigen Schritte zu planen. Ein Servicekapitel gibt Hinweise auf Institutionen, Spezialkliniken, Krebsinformationsdienste, Selbsthilfegruppen und weiterführende Literatur.

229 Seiten, Kt, 2017 € (D) 24 ,95/€ (A) 25,70 ISBN 978-3-8497-0176-5

Praxis der „konkreten Verbindungsversuche des Ich mit dem Organismus“ mit Blick auf die Schwellenmomente des Aufwachens und Einschlafens aus dem Text heraus nachvollziehbar beschrieben, so scheint der zweite Artikel sich auf die jeweiligen Leitsätze nur als erweiternde Ausführung zu begreifen. Den Ansatz von Wiese weiterdenkend, dass die Leitsätze kein eigenes Erkenntnissystem, sondern ein „sich-ereignendes erkenntnis-Geschehen“ darstellen, macht die Entscheidung der Autoren, die betreffenden Leitsätze ebenfalls abzudrucken, durchaus nachvollziehbar. Auch wenn die historischen und philosophischen Anekdoten, die einige Beiträge des Bandes prägen, mehr illustrativen als argumentativen Charakter aufweisen, bleiben die Kernargumentationen in allen Beiträgen des Sammelbandes stets stichhaltig. Das Gesamtprojekt, Psychoanalyse und Psychosynthese zusammenzudenken, wird so als vielversprechendes und nutzbringendes Unterfangen dargestellt. Die Kombination aus Themenfeld, gemeinsamer Perspektive und nicht zuletzt den unterschiedlichen Methoden – von empirisch-berichtend bis historisch-analytisch – macht das Buch zu einer lohnenden Lektüre. Fabian Kirchherr, Weimar

127 Seiten, Kt, 2017 € (D) 177,,95/€ (A) 18,50 ISBN 978--3-8497-0188-8

Besonnen handeln!

Das Reden gehört wesentlich zu jeder Psychotherapie. Das brachte Carmen C. Unterholzer zu der im Grunde naheliegenden Frage, ob und wie sie als systemische Therapeutin auch das Schreiben in der Beratung lösungsorientiert einsetzen könnte. Dabei stellte sie fest, dass die meisten Bücher zum Thema eher zur Selbsthilffe anregen oder schreibpädagogisch ausgerichtet sind. „Es lohnt sich, einen Stifft zu haben – Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung“ ist wahrscheinlich das einzige deutschsprachige Buch, das das Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung positioniert und sich konsequent dem therapeutischen Nutzen des Schreibens innerhalb von therapeutischen Settings widmet.

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Buchbesprechungen

ist aus meiner Sicht nicht immer gelungen und ich hadere damit, seit sie in der zweiten Auflage eingeführt wurde. Die in den Überschriften gewählte Sprache der ersten Auflage gefällt mir noch immer besser und ich nehme an, dass es vielen Lesern, vor allem Ärzten, ähnlich geht. Aber niemand sollte sich dadurch abhalten lassen, das Buch in die Hand zu nehmen. Seine Lektüre ist auf jeden Fall eine Bereicherung – auch für Ärzte. Und die vielen anderen Berufsgruppen, die mit psychisch Kranken zu tun haben, werden mit „Irren ist menschlich“ ein sehr gutes, wenn auch etwas langes Lehrbuch finden. Ähnliches gilt für die Betroffenen selbst und für ihre mitleidenden Angehörigen. Asmus Finzen, Berlin

Psychiatrie Verlag, 24. vollst. überarb. Auflage, Köln 2017, 992 Seiten, 39,95 Euro

Renate Stemmer, Martin Schmid u.a. (Hg.)

Aufgabenverteilung und Versorgungsmanagement im Krankenhaus gestalten – von erfolgreicher Praxis lernen

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n 20 Kapiteln widmet sich das Buch der Fragestellung, wie angesichts der ökonomischen und demografischen Herausforderungen sowie der steigenden Anforderungen an die Behandlungs- und Pflegebedarfe von Patienten (im Folgenden wird die männliche Form verwendet, gemeint sind aber immer alle Geschlechter) eine qualitativ hochwertige Versorgung im Krankenhaus gewährleistet werden kann. Die Autoren fragen, wie die gesundheitliche und pflegerische Versorgung im Akutsetting durch eine Verteilung der Aufgaben zwischen den Berufsgruppen im Sinne der Patienten verändert werden kann. Zudem wird in den Blick genommen, wie die zunehmende Akademisierung klinischer Pflege dazu beitragen kann und welche Verantwortlichkeiten akademisch qualifizierte Pflegefachkräfte übernehmen können. Diese Frage ist von hoher Bedeutung, da immer mehr Absolventen ausbildungsintegrierter Pflegestudiengänge die Hochschulen verlassen. Ein angemessener und sinnvoller Einsatz der aka-

demisch qualifizierten Fachkräfte macht internationalen Erkenntnissen zufolge einen Unterschied im Ergebnis und in der Qualität der Krankenhausversorgung. Um diese Fragen beantworten zu können, ziehen die Autoren Ergebnisse von Modellprojekten heran, die in Kliniken in Rheinland-Pfalz bzw. in weiteren Ansätzen und Programmen umgesetzt und evaluiert wurden. Sie wollen wissenschaftliche Ansätze mit Praxisnähe verbinden, um konkrete Antworten zu finden. Im ersten Teil des Buches werden die Dimensionen von Aufgabenneuverteilung und Versorgungsmanagement thematisiert. Es sind eher einführende Themen, die von pflegerischer Bildung und Aufgaben im Umbruch bis hin zu ökonomischen und rechtlichen Aspekten der Aufgabenneuverteilung sowie ethischen Perspektiven auf das Krankenhaussystem reichen. Hier werden alle wesentlichen Grundlagen für die weiteren Kapitel des Buches diskutiert. Die Autoren argumentieren stringent und differenziert auf der Grundlage neuester Erkenntnisse aus den jeweiligen Fachgebieten. Insgesamt wird deutlich, dass sowohl aus bildungspolitischer wie auch aus ökonomischer und ethischer Perspektive viele Argumente für einen sinnvollen Einsatz akademisch qualifizierter Pflegefachkräfte sprechen. Die rechtliche Situation hingegen ist weniger eindeutig. Viele Fragen des Arztvorbehaltes, der Aufgabenzuweisung sowie der Delegation sind rechtlich nicht eindeutig geklärt. Im zweiten Teil werden die Ergebnisse von Modellvorhaben in rheinland-pfälzischen Kliniken vorgestellt. Diese zeigen eine Verbesserung im Versorgungsmanagement sowie Kosteneinsparungen und Produktivitätssteigerungen. Aber es wird auch deutlich, dass Vorbehalte, strukturelle, organisatorische und hierarchische Probleme Projekte dieser Art in der Umsetzung behindern können. In den sich anschließenden Erfahrungsberichten aus den Kliniken wird beschrieben, dass die Projekte die pflegerische Versorgung sowie das pflegerische Verständnis der Fachkräfte auch noch einige Zeit nach Projektende beeinflusst haben. Innovative Ansätze für die Neuverteilung von Aufgaben und für das Versorgungsmanagement in der Krankenhauspraxis werden im dritten Teil des Buches vorgestellt. Darin geht es um die „Reorganisation von Pflege anhand fachlicher

Schwerpunktsetzungen“, den „Einsatz akademisch qualifizierter Pflegender“ und das Thema „Behandlungskoordination und Versorgungsmanagement“. Zunächst werden zwei Pilotprojekte beschrieben: ein Pflegeberatungs- und ein Pflegekonsiliardienst. Im Anschluss werden Ergebnisse von fünf unterschiedlichen Projekten zum „Einsatz akademisch qualifizierter Pflegender“ dargestellt, die alle sehr unterschiedlich sind und sich beispielsweise mit der Integration von Bachelorabsolventen in die Pflegepraxis oder Konzepten zur Personalentwicklung befassen. Unter dem Punkt „Behandlungskoordination und Versorgungsmanagement“ finden sich Projektdarstellungen zum Entlass-, Versorgungs- und Case-Management, zur sektorenübergreifenden Versorgung von Menschen mit Knochenmarktransplantationen sowie zu Epilepsie Nursing bzw. zur Behandlungskoordinatorin Epilepsie. Das Buch ist allen Lesern unbedingt zu empfehlen, die sich mit Fragen des Einsatzes akademisch qualifizierter Pflegefachkräfte und einer möglichen Neuverteilung von Aufgaben in Krankenhäusern beschäftigen. Es ist bislang die umfassendste Publikation zu dieser Thematik in Deutschland, die nicht nur mit theorie-, sondern auch mit forschungsgeleiteten Erkenntnissen darstellt, dass Pflegefachkräfte mit einem akademischen Abschluss patientennah in Krankenhäusern eingesetzt werden können und damit zu einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung beitragen. Leider befinden sich die meisten der präsentierten Projekte noch in der Pilotphase und sind nicht nachhaltig umgesetzt. Für eine angemessene Implementierung neuer Aufgabenfelder sowie Verantwortlichkeiten von professionellen Pflegefachkräften müssen ähnliche Maßnahmen und Interventionen in ihrer Wirksamkeit untersucht werden. Am Ende des Buches vermisse ich lediglich ein zusammenfassendes Fazit, in dem die vielfältigen Projekte und Ergebnisse kritisch reflektiert sowie in ihrer Bedeutung eingeordnet werden. Martina Hasseler, Oldenburg

medhochzwei Verlag, Heidelberg 2016, 384 Seiten, 59,99 Euro Dr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017


Buchbesprechungen

Martin Teising

Selbstbestimmung zwischen Wunsch und Illusion Eine psychoanalytische Sicht

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n zwölf Abschnitten erläutert der Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie Martin Teising die folgende, auf dem Klappentext des Buches zu lesende These: „Jeder Mensch möchte möglichst weitreichend über sich selbst verfügen. Doch unterliegen wir Naturgesetzen und vielfältigen gesellschaftlichen Bedingungen. Die Behauptung eines autonomen Individuums verschleiert sein gleichzeitiges Beherrschtwerden: intrapsychisch durch das Unbewusste, aber auch gesellschaftlich durch die Gesetze des Marktes und die technologische Entwicklung in einer digitalisierten Welt. Die Wirkmächtigkeit des Einzelnen hängt von der Anerkennung seines Eingebundenseins ab. Dies gilt für das Individuum, seine Selbstbestimmung und deren Grenzen, aber auch für die Begrenzung des technisch Machbaren in einem bedrohten Ökosystem.“ Entwicklungspsychologisch naheliegend setzt er beim Säugling an und hört bei dem seinem Lebensende entgegensehenden Menschen auf, wenngleich er das nicht streng chronologisch abarbeitet. Anschaulich beschreibt er die existenziellen äußeren Abhängigkeiten des Säuglings und die zunehmenden Äußerungen der Selbstbestimmung beim (Klein-)Kind. Ausführlich geht er auf die, wie er konstatiert, Illusion der Selbstbestimmung des er-

wachsenen Menschen ein, der er die vielfältigen Fremdbestimmungen der modernen Lebenswirklichkeit entgegenhält. In diesem Zusammenhang kritisiert er deutlich die fetischgleiche, narzisstische Überhöhung des Individualismus in unserer Gesellschaft. Nachdrücklich weist Teising auch die Vorstellung zurück, das Lebensende selbstbestimmt in die eigenen Hände nehmen zu können, sei es durch Suizid oder Patientenverfügungen. Die Selbsttötung des alten Menschen sei vielmehr ein verzweifelter Ausdruck seelischer Not. Patientenverfügungen seien somit kein Ersatz für das von ihm geforderte Einlassen aufs Loslassen-Können, das Akzeptieren der Realität des Alters mit all seinen Einschränkungen und das Annehmen der Abhängigkeit und Bedürftigkeit in „generationaler Gebundenheit“. Aber er gesteht auch ein, dass die „Abhängigkeit von anderen Menschen, von eigenen Kindern, Partnern, Freunden, Pflegekräften oder Wohlfahrtseinrichtungen (…) häufig als Ausgeliefertsein empfunden [werde], und zwar umso mehr, als der Betroffene mit der ‚Illusion der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit‘ (Mieth, 2008) gelebt hat.“ Nicht zuletzt weil er einen zunehmenden Bedeutungsverlust für zwischenmenschliche Solidarität und die Entwertung des menschlichen „Beziehungs- und Bindungsbedürfnisses“ erkennt, plädiert Teising nachdrücklich für die Wertschätzung des Generationenvertrags: „In dieser letzten Lebensphase werden Autoritätsbeziehungen zwischen den Generationen

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grundlegend umgestaltet, wenn Hilfebedarf bei Aktivitäten des täglichen Lebens (...) entsteht, wenn der erwähnte Generationenvertrag als Ausdruck menschlicher Zivilisation und Solidarität in Form von Pflege- und Versorgungsleistungen zum Ausdruck kommt.“ Dem Autor hier uneingeschränkt zu folgen, fällt mir angesichts der massiven Defizite im Pflegesektor schwer. Womöglich müsste man an seinem Lob der Pflegeleistungen generationaler Art gewisse Abstriche machen, wenn die menschliche Zuwendung in der Familie auch dem Diktat der Unbezahlbarkeit institutioneller Leistungen geschuldet ist. Teising in seinen Ausführungen zu folgen, setzt zwar nicht zwingend Fachkenntnisse voraus, aber sie sind hilfreich, um seine differenzierte und mit zahlreichen Belegen versehene Darstellung nachzuvollziehen. Die zentrale Frage, ob ein freier Wille existiert oder nicht, hat auch außerhalb der akademischen Wissenschaft eine enorme gesellschaftliche Relevanz: Die Schuld und Verantwortung betreffenden Implikationen für das Moralgebäude, Rechtswesen und die Grundordnung des Rechtsstaates, die auf die Selbstverantwortlichkeit des Individuums wesentlich aufbauen, sind beträchtlich. Wolfgang Liers, Bad Hersfeld

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 82 Seiten, 10 Euro

Älter werden – gesund bleiben Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) e.V. (Hrsg.)

MOSES G. STEINVORTH

Älter werden – gesund bleiben BDP-Bericht 2016

Gebrauchsanweisung für eine ganzheitliche Krebsprävention

Der Bericht thematisiert den Stellenwert der Psychologie u. a. für die Stärkung von pfl egenden Angehörigen und die Gestaltung einer würdevollen letzten Phase.

Moses G. Steinvorth

Was schützt uns vor Krebs?

Die Krebsreise Ein kleiner Reisebegleiter für krebskranke Menschen

Gebrauchsanweisung für eine ganzheitliche Krebsprävention Was schützt uns vor Krebs?

2016, 96 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-942761-42-0, 15,00 EUR

Moses G. Steinvorth

2004, 64 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-931589-63-9, 12,80 EUR

2016, 80 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-942761-41-3, 15,00 EUR

Der Autor wird bei seinen Betrachtungen der essenziellen Forderung nach Berücksichtigung von Körper, Geist und Seele auch beim Krebsgeschehen gerecht.

In verständlicher Sprache zeigt der Autor auf, was Krebs überhaupt ist und wie psychosoziale Faktoren den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen können.

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Zu beziehen über den Buchhandel oder direkt beim Verlag: Deutscher Psychologen Verlag GmbH Am Köllnischen Park 2 · 10179 Berlin · Tel. 030 - 209 166 410 · Fax 030 - 209 166 413 · verlag@psychologenverlag.de


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Wolfgang Oelsner, Gerd Lehmkuhl

Spenderkinder Künstliche Befruchtung, Samenspende, Leihmutterschaft und die Folgen

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Schutzkonzep te konkret umsetz en

Interessierte an Theorie und Praxis des Kinderschutzes in Organisationen finden empirisches Wissen und Praxisanregungen zur Umsetzung von Schutzkonzepten aus der Sicht von Kindern, Jugendlichen und Fachkräften. 2017, 270 Seiten, broschiert, € 19,95; Format: DIN A 4 ISBN 978-3-7799-3470-7 Auch als E-Book erhältlich

Über den Tod

Unter dem Begriff der Transmortalität wird in diesem Band in interdisziplinärer Perspektive der Frage nach dem Umgang mit dem menschlichen Körper im Kontext der Organtransplantation nachgegangen. 2017, 234 Seiten, broschiert, € 29,95; ISBN 978-3-7799-3631-2 Auch als E-Book erhältlich

www.juventa.de

JUVENTA

ie Autoren des Buches sind zwei Kindertherapeuten, die selbst zwar keine praktische Erfahrung mit der Therapie von „Spenderkindern“ haben, dafür aber lange mit Adoptivkindern arbeiteten. Ihr Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten, „Eltern werden heute“, geht es um die Ansichten der Autoren zur modernen Reproduktionsmedizin. Im zweiten werden „Lebensskizzen“ von „Spenderkindern“ kurz vorgestellt, mit dem Fokus auf die abenteuerlichen Umstände der Entdeckung, aus einer Samenspende zu stammen. Hierfür haben die Autoren zehn Personen aus dem Verein „Spenderkinder“ interviewt, die mittlerweile erwachsen sind. Im dritten Teil „‚Kindermachen’ – und die Folgen“ werden die Fallskizzen dieser Menschen kommentiert. Die Autoren machen durchgängig keinen Hehl daraus, dass sie von den neueren Methoden der assistierten Reproduktion mithilfe Dritter nicht viel halten und dass sie selbst als Angehörige einer älteren Generation nicht viel mit der Familiengründung per Samenspende anzufangen wissen. Die erwachsenen Kinder, die Oelsner und Lehmkuhl für das Buch interviewten, erfuhren meist erst im Erwachsenenalter und unter ungünstigen Umständen von dem Familiengeheimnis ihrer besonderen Zeugung. So hatten sie nie die Chance, von Anfang an in ihre besondere Situation hineinzuwachsen, und sie bekamen auch kaum nähere Informationen über den Mann, von dem sie abstammen. LeserInnen, die erfahren möchten, wie sich Menschen fühlen, die von ihren Eltern über die Zeugung qua Samenspende lange Zeit belogen wurden, lesen die Lebensskizzen mit Gewinn. Die Fallvignetten können als abschreckende Erzählungen dienen, die zeigen, wie betroffene Eltern mit dem Thema Samenspende eben nicht umgehen sollten. In den geschilderten Fällen haben die Eltern nicht mit ihren Kindern gesprochen, als sie es hätten tun sollen. Vielmehr gingen sie verdruckst mit dem Thema um und instrumentalisierten ihre „Wunschkinder“ mitunter im Sinne einer Parentifizierung. Diese Eltern waren offensichtlich nicht mit der Nutzung einer Samenspende im Reinen, auch weil man

damals vonseiten der Ärzte dazu riet, besser Stillschweigen über die Angelegenheit zu wahren. Leider versäumen es die Autoren, auf die Situation der Kinder einzugehen, die heute mithilfe einer Samenspende zur Welt kommen. Denn das Verhalten und die Empfindungen moderner Familien nach assistierter Reproduktion fallen oft ganz anders aus als früher, als Samenspende noch ein absolutes Tabuthema war. Insofern hätte dem Buch etwas mehr Recherche nicht geschadet, vielleicht auch ein paar Interviews mit erwachsenen Kindern aus lesbischen Familien. Im Bereich der Reproduktionsmedizin eher feldunkundig scheinen sich die Autoren in einem Sammelsurium von Themen zu verzetteln: Sie wechseln mehrfach zwischen Gesellschaftskritik und verschiedenen Phänomenen wie Leihmutterschaft, Auslandsadoption, In-vitro-Fertilisation (IVF) und Samenspende hin und her und werfen dabei leider einiges durcheinander. Auch die Bilder, die von den betroffenen Familien gezeichnet werden, bleiben oberflächlich und einseitig. Die Väter werden als leidenschaftslose, willfährige „stumme Josefsväter“ charakterisiert und die Mütter kommen auch nicht sehr sympathisch rüber. Beide Elternteile haben scheinbar wenig Vorstellungsvermögen hinsichtlich der psychischen Innenwelt ihres Kindes (dafür umso mehr die Autoren). Was die portaitierten „Spenderkinder“ angeht: Angesichts der ausführlichen Schilderungen dramatischer „Kannbruchstellen“ in ihrem Leben, überrascht es, dass in den Beschreibungen ihrer Persönlichkeiten so wenig „Bruchstellen“ auftauchen. So wirken die Autoren mit den Berichten der „Spenderkinder“ letztlich überidentifiziert. Das Buch verpasst die Chance einer differenzierten Analyse verschiedener, auch unkonventioneller Familienkonstellationen. Die Rollenzuweisung nach dem „Drama-Dreieck“ – Täter (Eltern, Ärzte), Opfer („Spenderkinder“) und Retter (kinderschützende Therapeuten, Adoptionsfachkräfte) – hätte einer tieferen fachlichen Reflexion bedurft. Claudia Brügge, Bielefeld

Fischer & Gann, Munderfing 2016, 257 Seiten, 19,99 Euro Dr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017


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