Nr. 228 · Juli / August 2017 42. Jahrgang · D 6424 F · 8 Euro
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Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe
Aus- und Weiterbildung
Cannabis – eine besondere Heilpflanze. Alle Jahre wieder – Impfpflicht und Bürgerversicherung in der Diskussion. Beteiligtsein von Menschen mit Demenz – Projektvorstellung.
— Generalistik — Pflegepädagogik — Kooperation — Hebammenkunde im SkillsLab
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Editorial
Liebe Leserinnen und Leser, die Aus- und Weiterbildung in den Gesundheitsberufen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vielfach gewandelt: Auf die Akademisierung der Pflege folgte die Etablierung anderer gesundheitsbezogener Studiengänge: Physio-, Ergo-, Logopädie oder Hebammenkunde werden heute an vielen deutschen Hochschulen gelehrt. Mit der Berufsbezeichnung Gesundheits- und (Kinder-)KrankenpflegerIn wurde die Hinwendung zu einem gesundheitsorientierten Leitbild in den Vordergrund gestellt, weg von der Konzentration auf Krankheit. Nicht zuletzt versuchen aktuell die Verantwortlichen in der Medizinerausbildung mit dem Masterplan 2020, künftige ÄrztInnen auf die Erfordernisse einer alternden Gesellschaft vorzubereiten. Neben dem demografischen Wandel sind viele andere Aspekte ausschlaggebend dafür, dass die Aus- und Weiterbildung kontinuierlich an den sich ändernden Bedingungen im Gesundheitswesen ausgerichtet werden muss. So leiden immer mehr Menschen unter verschiedenen Krankheiten gleichzeitig, ebenso gibt es zunehmend chronisch Kranke. Auf struktureller Ebene sind es die Anforderungen der europäischen Gesetzgebung (etwa in Hinblick auf die Pflegeausbildung) oder die Verteilung der Bevölkerung auf städtische und ländliche Regionen, die alle Menschen, die in der Gesundheitsversorgung arbeiten, vor Herausforderungen stellen. Und auch das Streben der Pflegenden nach einer neuen – gesellschaftlich anerkannten – Identität spielt eine wichtige Rolle für berufspolitische Forderungen an die Aus- und Weiterbildung.
Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017
Im Schwerpunkt dieser Ausgabe beleuchten unsere AutorInnen einige dieser Faktoren. Sie geben spannende Einblicke in zukunftsweisende Modelle und Lehrformate, machen aber ebenso deutlich, an welchen Stellen es aktuell noch einigen Reformbedarf gibt. Welche Bedürfnisse unterschiedliche Patientengruppen – gerade auch abseits der medizinischen Versorgung – haben können, thematisieren drei Artikel außerhalb des Schwerpunkts: So werden Projekte vorgestellt, die sich darum bemühen, die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Demenz zu sichern. Ein weiterer Blick gilt der besonderen Situation von jungen Parkinsonerkrankten. Hier zeigen sich Versorgungsbrüche, die das Leben der Betroffenen unnötig einschränken. Ein weiterer Beitrag untersucht Strategien, mit denen die Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas im Gesundheitswesen reduziert werden soll. Wir wünschen wie immer eine erkenntnisreiche Lektüre und senden sommerliche Grüße aus der Redaktion!
Franca Liedhegener
Ann-Kathrin Roeske
3
Inhalt Cannabis – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 16 eine besondere Heilpflanze Franjo Grotenhermen
Nicht-invasive Pränataltests
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S. 18
Möglichkeiten und Grenzen zivilgesellschaftlicher Einflussnahme Maximiliane Hädicke und Sabine Könninger
Alle Jahre wieder ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 20 Impfpflicht und Bürgerversicherung in der Diskussion Wolfgang Wagner
Nachts allein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 40 ver.di-Befragung zeigt Folgen des Personalmangels im Nachtdienst Niko Stumpfögger
Keine friedfertige Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 42 Margarete Mitscherlich-Nielsen zum 100. Geburtstag Christiane Schrader und Ingrid Moeslein-Teising
Eine natürlich weibliche Gabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 44 Charité-Serie vermittelt ein verzerrtes Bild vom Pflegeberuf Susanne Kreutzer und Karen Nolte
Eine für alle –
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S. 46
Polypille statt Polypharmazie? Gerd Glaeske
Beteiligt werden, beteiligt sein, beteiligt bleiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 47 Wie gelingt das bei Menschen mit Demenz? Peter Wißmann
„Wehe man hat da irgendwas dazwischen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 50 Versorgungsbrüche aus der Sicht junger Menschen mit Parkinson Manuela Lautenschläger, Ulrike Höhmann und Karen Kolsmann
Ärzte gegen Eltern
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Rubriken Editorial
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Leserbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Nachrichten
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Cartoon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Momentaufnahme . . . . . . . . . . . . . . 12
S. 54
Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . 61
Das Recht auf Leben von Baby Charlie Gard Oliver Tolmein
Neuerscheinungen . . . . . . . . . . . . . 68
Gesundheit anderswo:
Zeitschriftenschau . . . . . . . . . . . . . . . 73
Krabben im OP bringen Unglück
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Broschüren/Materialien . . . . . . . 72
S. 55
Famulatur auf Kiribati Michel Bringenberg und Elisabeth Debold
Termine
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Stellenmarkt/Fortbildung
...
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Kleinanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Gesundheitsexperten von morgen:
Gewichtsstigmatisierung im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 58 Bedeutung von Vorurteilen und Stereotypen Beatrice Haberger
Besser reich und gesund als arm und krank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 82 Bernd Hontschik Foto: www.martinglauser.ch
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Schwerpunkt:
Aus- und Weiterbildung Ein unauflösbarer Widerspruch . . . . . . . . . . . . . .S. 24 Das Dilemma der Pflegeausbildung Karin Kersting
(K)ein Luxusthema? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 27 Kooperation in der Ausbildung der Gesundheitsberufe Heidi Höppner und Ronja Behrend
Ein „Kümmerer“ für junge Ärzte . . . . . . . . . . . .S. 30 Mehr Zeit und flexible Lösungen für die ärztliche Weiterbildung Hans-Albert Gehle
Die Generalistik kommt – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 32 die Differenzierung der Pflegeberufe bleibt bestehen Ingrid Darmann-Finck und Sabine Muths
Der dritte Lernort
S. 35
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Hebammentätigkeit im Skills-Lab erlernen Babette Müller-Rockstroh und Hanna Schroeder
Aus- und Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 39 Bücher zum Weiterlesen
24 Schwerpunkt: Aus- und Weiterbildung
Pflegepädagogik
Ein unauflösbarer Widerspruch
Praxisanleiter müssen die Balance halten: zwischen dem pflegefachlichen Anspruch und den Zwängen im Berufsalltag. Foto: www.martinglauser.ch
Das Dilemma der Pflegeausbildung Karin Kersting Die Ansprüche an die Pflegeausbildung sind hoch: Auszubildende sollen lernen, ihr Handeln an den individuellen Bedürfnissen der Kranken auszurichten, ohne Theorie und Wissenschaft aus dem Blick zu verlieren. Aber wie lässt sich dies in einem Praxisalltag umsetzen, der von Zeit- und Personalmangel geprägt ist? Wie können Pflegepädagogen1 ihre Schüler auf diese Situation vorbereiten? Und welche Lösungen gibt es, um diesen Widerspruch aufzulösen?
J
eder, der im Bereich der Pflegeausbildung tätig ist, kann sich die folgende Situation vorstellen: Eine Pflegeschülerin schildert im Unterricht, wie sie während ihres Praxiseinsatzes auf einer Station bei einem halbseitig gelähmten Patienten eine aktivierende, bedürfnisorientierte Pflege umgesetzt hat. Sie beklagt, dass ihre Arbeitsweise vom Stationspersonal kritisiert wurde, weil ihre Pflegemaßnahmen sehr viel Zeit in Anspruch nahmen und sie keinen ausreichenden Beitrag zur Sicherung der Arbeitsabläufe leisten konnte. Ein anderer Schüler erwidert, es gebe auf der Station ja noch mehr Patienten und auch andere Arbeiten müssten zeitgerecht erledigt werden, damit die Station „läuft“ – man müsse sich eben beeilen.
Die Schüler des Kurses schauen ihren Lehrer erwartungsvoll an. Er soll nun darauf reagieren.2
Widersprüchliche Anforderungen Hier zeigt sich ein unauflösbarer Widerspruch in den Anforderungen an Pflegepädagogen. Einerseits soll Pflege theoriegeleitet, wissenschaftsbasiert und orientiert an den jeweiligen individuellen Bedürfnissen des einzelnen Kranken durchgeführt werden. An diesen Kriterien bemisst sich im Wesentlichen die Professionalität. Dieser hohe Anspruch ist im Krankenpflegegesetz sowie in der Krankenpflegeausbildungs- und Prüfungsverordnung fixiert und wird in den zu vermittelnden Ausbildungsinhalten und Kompetenzen konkretisiert.3 Andererseits sollen Schüler lernen, mit materiellen und personalen Ressourcen ökonomisch umzugehen und ihr Handeln an wirtschaftlichen Prinzipien auszurichten. Sie müssen „praxistauglich“ für den Pflegealltag ausgebildet werden, der sich durch Personalknappheit, steigende Arbeitsverdichtung, hohe Belastung der Pflegenden und chronischen Pflegemangel auszeichnet.4 Wie aber sollen Pflegepädagogen ihren Schülern – unter Beachtung der knappen Ressourcen Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017
Pflegepädagogik
und der Forderung nach ökonomischem Handeln – vermitteln, ihr pflegerisches Handeln jeweils an der individuellen Situation der Betroffenen auszurichten? Wenn sie sich im Unterricht am pflegefachlichen Anspruch orientieren, können sie nicht gleichzeitig auch das funktionale Handeln im Arbeitsalltag stärken – der Bereich, in dem die Schüler aber schon während der Ausbildung bestehen müssen. Orientieren sich Lehrende hingegen an den Erfordernissen der realen Versorgungspraxis, nach der mit den zur Verfügung stehenden Mitteln alle Patienten versorgt werden müssen, so legitimieren sie damit die Unterwanderung des pflegefachlichen Anspruchs. Durch diesen Widerspruch in den Anforderungen laufen Pflegepädagogen Gefahr, entweder die Schüler mehr oder weniger offenkundig zur Verletzung des pflegefachlichen Anspruchs anzuleiten und ihnen entsprechende Strategien zu vermitteln oder aber bei der Vermittlung des pflegefachlichen Anspruchs die Zwänge des Alltags auszublenden. Im ersten Fall, der Unterwanderung der Norm, tragen sie dazu bei, den Einfluss der Funktionalität auf die berufliche Sozialisation in der „Praxis“ zu stärken. Im zweiten Fall, einer Orientierung am pflegefachlichen Anspruch, besteht das Risiko, dass die Schüler den Anspruch nicht ernst nehmen, da sie die Erfahrung machen, diesen in ihrem Arbeitsalltag nicht umsetzen zu können.
Ungünstige Rahmenbedingungen Einem vergleichbaren Widerspruch sind auch Praxisanleiter ausgesetzt: Die Mehrheit von ihnen ist nur zu etwa fünfzig Prozent, bisweilen sogar überhaupt nicht für die Anleitungstätigkeiten freigestellt.5 Sie
arbeiten als „normale“ Pflegende im Stationsalltag und bewegen sich genau wie alle anderen Kollegen im Widerspruch zwischen normativem Anspruch und Funktionalität: Sie sollen ihre pflegerische Tätigkeit an den Bedürfnissen der Patienten ausrichten und erleben, dass dies keineswegs durchgängig möglich ist. Als Mitglieder des Pflegeteams tragen auch sie Verantwortung für die Sicherung des Stationsablaufes und die Bewältigung aller Aufgaben bis zum Ende einer Schicht. Zugleich muss es ihnen – in enger Kooperation mit der Schule – gelingen, die Schüler bis zum Examen in verschiedenen Kompetenzbereichen zu unterrichten.6 Das ist ihr pädagogischer Auftrag und folgende Kompetenzen sollen Schüler im Rahmen der Ausbildung erlangen: — Fachkompetenz, damit sie bedürfnisorientierte Pflege fachlich korrekt durchführen können, — soziale Kompetenz, damit sie etwa ihr Handeln an den Gefühlen von Patienten ausrichten können, — Methodenkompetenz, damit sie ihre tägliche Arbeit ökonomisch gestalten können.7 Wie können PraxisanleiterInnen diese widersprüchlichen Inhalte und Kompetenzen in einer Praxis vermitteln, die sich durch schlechte Rahmenbedingungen und Zeitmangel auszeichnet? Was bedeutet es für sie, in Anleitungssituationen zunächst die sach- und fachgerechte Durchführung von Maßnahmen vorzuführen und Schüler dazu anzuleiten, wenn im Anschluss an solche pädagogischen Settings beide ihre Arbeit unter den realen Versorgungsbedingungen fortsetzen müssen und gezwungen sind, sich dem ökonomischen Druck zu beugen? Praxisanleiter haben eine Modell- und Vorbildfunktion8 – aber
Bewegungskompetenz fördern Informationen zu Grund- und Aufbaukursen und berufsbegleitende Ausbildungen zur Kinaesthetics-TrainerIn unter:
www.kinaesthetics.de Das Arbeitsfeld der Kinaesthetics-TrainerIn
Schwerpunkt: Aus- und Weiterbildung
in welcher Weise können sie dieser gerecht werden? Der Widerspruch in den Anforderungen an Pflegepädagogen und Praxisanleiter nimmt sowohl Einfluss auf die Vermittlung der Ausbildungsinhalte und Kompetenzen als auch auf die Sozialisation der Schüler. Jedes Zugeständnis in der Vermittlung des pflegefachlichen Anspruchs, wie klein und wie legitim es angesichts der ökonomischen Zwänge auch sein mag, ist aber strukturell regelverletzend. Es führt dazu, dass Verletzungen des fachlichen Anspruchs toleriert und letztlich selbst zur Normalität werden. So besteht die Gefahr, bereits in Unterricht und Praxisanleitung – nahezu unmerklich und unbeabsichtigt, entgegen der Intention der pädagogisch Tätigen – die Verletzung des pflegefachlichen Anspruchs zu legitimieren. Die Befähigung zur Regelverletzung ist damit ein konstitutiver Bestandteil der Ausbildung.9
Kompetenzstärkung als Lösung? Die Rettung des pflegefachlichen Anspruchs nun in einer Fokussierung des „Guten“, in Sollensforderungen, motivierenden oder moralisierenden Appellen in der Ausbildung zu suchen, ist angesichts der Widersprüchlichkeit in den Anforderungen zum Scheitern verurteilt.10 Das gilt auch für die Bestrebungen in der Pflegepädagogik, bei den Schülern eine Fülle von Kompetenzen anzubahnen, mit denen ihnen dann die Umsetzung des pflegefachlichen Anspruchs gelingen soll. Die Schüler sollen „mit Kompetenz in Form personaler Stärke“11 ausgestattet werden. Pflegende müssten zur eigenen Weiterentwicklung bereit sein – das ist das pädagogische Anliegen, ja die Forderung. Damit, so die Idee, könnten sie dann ak-
25
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Schwerpunkt: Aus- und Weiterbildung
tiv-ethisch handeln, und das heißt, sich für die Patienten, ihre Rechte, Würde und Bedürfnisse im Stationsalltag einsetzen. Sie müssten „Persönlichkeit[en] mit sicherer Identität“12 werden. Schüler sollen darüber hinaus folgende Kompetenzen erwerben: „Kritik- und Urteilsfähigkeit; Kommunikationsfähigkeit; Fähigkeit, einen eigenen Standpunkt zu vertreten und diesen aufgrund besserer Einsicht korrigieren zu können; Empathiefähigkeit; Handlungs- und Verantwortungsfähigkeit; soziale Beziehungs- und Behauptungsfähigkeit; Fähigkeit, sich dynamisch, jedoch kritisch, d.h. nicht opportunistisch, auf neue Situationen und Anforderungen einstellen zu können; Fähigkeit, aus gewohnten Denk- und Einstellungsmustern auszubrechen und neue Lösungen finden zu können, begriffen als Fähigkeit zur Kreativität; Fähigkeit zur Vorwegnahme des heute oder in absehbarer Zeit Möglichen, verstanden als Fähigkeit zur ‚realen Utopie‘; Selbstvertrauen, Selbstidentität und Frustrationstoleranz (Wittneben 2003, S.198).“13 Sie sollen zudem zum generalisierten Rollenhandeln befähigt werden, das heißt zur Übernahme der unterschiedlichen Perspektiven. Ziel ist es, ein moralisches Bewusstsein auf der höchsten Ebene der moralischen Urteilsfähigkeit zu erwerben.14 Auf diesem Wege könnten die Pflegeschüler dann eine ausgeprägte „Ich-Identität bzw. Ich-Stärke“15 erlangen. Das wiederum soll sie in die Lage versetzen, ihr Denken und Handeln an allgemeinen ethischen Prinzipien auszurichten. So eine Handlungskompetenz zu vermitteln, ist ein Ziel in der Pflegedidaktik.16
Stabilisierung statt Veränderung Mit der Umsetzung derartiger pädagogisch-didaktischer Konzepte soll dann das gelingen, was bislang nicht gelingt. Die Verantwortlichkeit für die Verwirklichung des „Guten“ im Sinne des pflegefachlichen Anspruchs wird so den Pflegepädagogen
Pflegepädagogik
und Praxisanleitern und letztlich darüber den Schülern zugewiesen: Die einen sind dafür verantwortlich, dass die anderen kompetent und stark genug werden. Mit diesen Konzepten wird suggeriert, dass dies auch gelingen kann. Die strukturellen Bedingungen müssen dabei nicht angetastet beziehungsweise gar nicht grundsätzlich infrage gestellt werden, denn die pflegepädagogisch-didaktischen Konzepte sind innerhalb der bestehenden Verhältnisse anzuwenden. Das macht sie interessant und attraktiv, denn sie geben den Pflegepädagogen und Praxisanleitern direkt umsetzbare Empfehlungen zur vermeintlichen Auflösung des Widerspruchs an die Hand. Sie stabilisieren damit aber latent das, was sie verändern oder verbessern wollen. Das heißt nicht, dass nicht in bestimmten Situationen, bei bestimmten Patienten auch positive Auswirkungen möglich sind. Dies aber bleibt zum einen eher dem Zufall beziehungsweise dem einzelnen Schüler und der individuellen Situation überlassen. Zum anderen wird damit die Aufmerksamkeit auf einzelne Schüler gerichtet und so von den Ursachen, nämlich den strukturellen Bedingungen, abgewendet. Diese werden als unveränderbar hingenommen. Würde man sie indessen zum Gegenstand der Kritik erheben, so ließen sich daraus keine unmittelbar praktischen Verbesserungsvorschläge ableiten. Eine solche Kritik, ohne im Anschluss konstruktive Vorschläge zu formulieren, ist zunächst schwer auszuhalten.17
aber, die systemimmanente Verhinderung des pflegefachlichen Anspruchs stets mitzudenken und in der Ausbildung zu thematisieren. Das ist die Folie, vor der Pflegeausbildung stattfinden muss, damit sie nicht Gefahr läuft, zur Täuschung über die Wirklichkeit und zur Überforderung der Schüler zu führen. Das setzt letztlich voraus, dass Pflegepädagogen und Praxisanleiter sich mit dem Widerspruch in den Anforderungen und der je eigenen Verstrickung darin auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund müssen pädagogisch-didaktische Konzepte analysiert und um diese Perspektive erweitert werden. Dies wäre eine gute Voraussetzung, um in Unterricht und Praxisanleitung offen und souverän mit dem Widerspruch umzugehen. Im besten Fall könnten daraus ein differenzierter Blick auf Anspruch und Wirklichkeit, mündige Kritik und berufspolitisches Engagement resultieren. Dies wiederum könnte letztlich zur Einsicht führen, dass es in praktischer Hinsicht darum geht, aufgeklärt und kontrafaktisch an der Geltung des pflegefachlichen Anspruchs festzuhalten und zu versuchen, ihn situativ umzusetzen.18 ■ Die vollständige Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Mein alternativer Traumberuf ist ... „... mein jetziger Beruf.“
Künftige Herausforderungen
Dr. Karin Kersting
Mit der in diesem Beitrag dargestellten Perspektive soll keine radikale Abkehr von jeglichen Verbesserungsvorschlägen demonstriert werden. Denn jede Anstrengung, die dazu führt, dass Pflegeschüler in die Lage versetzt werden, Patienten tatsächlich bedürfnisorientiert zu pflegen, ist aufzunehmen und zu fördern. Es heißt
ist Krankenschwester, Lehrerin für Pflege, Dipl.-Pädagogin und Professorin für Pflegewissenschaft/Pflegeforschung an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein. karin.kersting@ hs-lu.de
Literatur 1 Bei sämtlichen personenbezogenen Bezeichnungen sind beide Geschlechter gemeint. 2 Vgl. die Forschungsprojekte von Löw, Spingler, Siebenborn 2007 sowie Flocken u.a. 2011 in Kersting 2016b. 3 Vgl. Bundesgesundheitsministerium 2003. 4 Vgl. Isfort/Weidner 2010:5ff., Kersting 2016b:25ff. 5 Vgl. Blum u.a., 2006:136, Kersting, 2016a:94 ff. 6 Vgl. Mensdorf 2019:35 f. 7 Vgl. ebd.; vgl. Kersting 2016b:83 ff.
8 Vgl. Quernheim, 2004:64 sowie ders. 2013:49, Olbrich 2009:124, Mensdorf 2010:48f., Kersting 2016b:88 ff.
14 Gemeint ist das postkonventionelle Niveau der Entwicklung nach Kohlberg, vgl. Kersting 2016a:55ff.
9 Vgl. Oevermann 1999:257, Kersting 2016b:69 f.; vgl. auch die Strategien der Pflegepädagogen und Paxisanleiter im Umgang mit dem Widerspruch in Kersting 2016b.
15 Wittneben 2009:113.
10 Vgl. Giese, 2013:74, vgl. Kersting 2016b:171ff., 221ff.
17 Vgl. Kersting 2016b:242f.; vgl. Gruschka 2015:42.
11 Olbrich 2009:128.
18 Vgl. Kersting 2016a:302; vgl. dazu auch die Hinweise zu einer „Bildung im Medium des Widerspruchs“ in Kersting 2016b:239 ff.
12 Ebd.:129. 13 Wittneben 2009:115.
16 Vgl. ebd.; zur ausführlichen Kritik vgl. Kersting 2016a:55ff., Kersting 2016b:232 ff., Heinrich 2000:70.
Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017
Buchbesprechungen
Maximilian Schochow u. a. (Hg.)
Inter* und Trans*identitäten Ethische, soziale und juristische Aspekte
S
ich mit Inter* und Trans*sexualitäten zu beschäftigen und diese als Identitäten zu bezeichnen, kann in heutigen Zeiten als gewagt und provozierend betrachtet werden. Doch nicht nur um Agitatoren vom rechten Rand, die Identität durch Heimat und Nationalität begründen, eine Alternative zu bieten, lohnt sich die Lektüre dieses Sammelbandes. Im Rahmen einer Klausurwoche in Halle/Saale haben sich 2014 Wissenschaftler*innen und Interessensvertreter*innen zu den aktuellen Entwicklungen um Trans- und Intersexualität zusammengefunden und gemeinsam diskutiert. Als Ausgangspunkte dienten aktuelle Entwicklungen und Veränderungen: die Stellungnahme des nationalen Ethikrates von 2012 zu Intersexualität, die Veränderungen im Personenstandsgesetz, die im November 2013 wirksam wurden, und die S3-Leitlinie „Geschlechtsdysphorie: Diagnostik, Beratung und Behandlung“, die bis Dezember 2017 erstellt werden soll. Es ist nicht selbstverständlich, dass intersexuelle und transidente Menschen gemeinsam um etwas ringen und miteinander diskutieren. Vielleicht weil sie von Außenstehenden häufig verwechselt werden, sind die Tendenzen zur Abgrenzung umso stärker. Den Herausgeber*innen ist zu verdanken, dass sich aus der vorliegenden Publikation ein konzises Bild ergibt. Der Band gliedert sich in vier Bereiche. Im ersten werden selbstbestimmte und naturwissenschaftliche Perspektiven gewählt: Livia Prüll zeichnet ihr Bild einer transidenten Frau, die Kinderärztin Ursula Kuhnle-Krahl referiert über biologische Faktoren, die Männer von Frauen unterscheiden. Der zweite Teil behandelt ethische Fragen: Laura Münker widmet sich dem angemessenen Umgang mit frühen medizinischen Eingriffen bei intersexuellen Kindern, die ex post von vielen Betroffenen abgelehnt würden. Friederike Maaßen betrachtet Kinder als Akteure in der medizinischen Behandlung und zeigt, weshalb diese angemessen einbezogen werden sollten. Der pensionierte Kinderarzt Jörg Woweries denkt in seinem Beitrag über Geschlechtsidentitäten und Rollenzuschreibungen nach. Die binäre Gleichsetzung von männlich und weiblich lehnt er ab und schlägt vor, auf den Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017
Geschlechtseintrag im Geburtenregister zu verzichten. Hieran knüpft im dritten Teil die renommierte Jura-Professorin Konstanze Plett in ihrer Darstellung des veränderten Personenstandsgesetzes an. Sie verweist auf das Preußische Landrecht, in dem mit Erreichen der Volljährigkeit der Mensch selbst entscheiden konnte, welchem Geschlecht sie/er sich zuordnete. Im vierten Teil wird auf die individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen sexueller Identitäten eingegangen. Erwähnt sei noch der Beitrag zu einer Studie über transidente Kinder „unsicher. klar. selbstbestimmt“ aus Sachsen-Anhalt. Denn gesellschaftliche Veränderungen in der Wahrnehmung und im Ausleben finden nicht nur in den Metropolen statt, sondern auch dort, wo national-konservative Meinungen wieder erstarken. Insgesamt gelingt den Herausgeber*innen ein aktueller Beitrag nicht nur zu Inter* und Trans*identität, sondern zur Identitätsfrage überhaupt. Der Psychosozial-Verlag hat in seinen „Beiträgen zur Sexualforschung“ in den vergangenen Jahren mehrere wichtige Publikationen zu Inter- und Transsexualität veröffentlicht, die in dem kontrovers diskutierten und oft durch Unkenntnis oder auch Überinterpretation geprägten Feld fruchtbare, wenn auch polyvalente Erkenntnisse bieten – etwa der Band Intersexualität kontrovers von Richter-Appelt und Schweizer (2012), die zu dem hier rezensierten Buch ein Vorwort beigesteuert haben. Die Standards of Care der Transgender-Gesundheitsversorgung, 2014 übersetzt und kommentiert von Richter-Appelt und Nieder, sind in diesem Verlag erschienen; ebenso Intergeschlechtlichkeit – Impulse für die Beratung von Manuela Tillmanns (2015) oder die Dokumentation einer Tagung der Organisation TIAM, Trans-Inter-Aktiv in Mitteldeutschland, Geschlechtliche Vielfalt (er)leben. Trans*- und Intergeschlechtlichkeit in Kindheit, Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter. Wer sich mit Inter* oder Trans* identität beschäftigen will, kommt am Psychosozial-Verlag nicht vorbei! Dr. Marion Hulverscheidt, Medizinhistorikerin und Ärztin, Kassel
333 erprobte Vorschlä ge
Anregung ist Zuwendung, gerade auch für Menschen mit fortgeschrittener Demenz. Aber woher die Ideen nehmen? Die Autorin leitet seit vielen Jahren eine Tagesstätte für Demenzpatienten, in der sich die Patienten wohlfühlen, weil ihre Lebensqualität durch Angebote für Kopf, Hand und Herz erhöht wird. 2017, 96 Seiten, broschiert, € 19,95 ISBN 978-3-7799-3164-5 Auch als E-Book erhältlich
Übergä ng gestalte e n Konzep , te vermitte ln
Die praxisnahe Darstellung des Bandes stellt Konzepte zum biografischen Lernen und zu biographiesensibler Alltagsbegleitung vor und ordnet sie in den Kontext der Erwachsenenund Altenbildung ein. 2017, 238 Seiten, broschiert, € 19,95 ISBN 978-3-7799-3153-9 Auch als E-Book erhältlich
Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, 409 Seiten, 39,90 Euro
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JUVENTA
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Buchbesprechungen
Andreas Brandhorst u. a. (Hg.)
Kooperation und Integration – das unvollendete Projekt des Gesundheitssystems
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eichte Kost sieht anders aus – auf 610 klein bedruckten Seiten zu einem nicht gerade einfach zu verdauenden Thema des deutschen Gesundheitswesens folgt das Buch dem Leitbild des interdisziplinären Diskurses. Folglich kommen sehr verschiedene Protagonisten der Gesundheitsgemeinschaft zu Wort. Das nicht gerade neue Thema wird von vielen Seiten beleuchtet, zum Teil mit bekannten Argumenten, aber auch mit überraschenden, originellen und am Ende dann doch ganz optimistischen und mutigen. Die bisherigen Bemühungen um eine umfassende Kooperation und Integration der verschiedenen Sektoren und Berufsgruppen des deutschen Gesundheitswesens sind auf halbem Weg stehen geblieben, nicht weil es ein Erkenntnis-, sondern weil es ein Umsetzungsproblem gibt, stellt Luthe im Vorwort richtig fest. Wozu aber dann noch ein weiteres Buch, mag man sich angesichts dessen fragen. Nach einem Überblick über Stand und Entwicklung der Integrierten Versorgung befassen sich verschiedene Vertreter der Wissenschaft mit dem Thema. Der systemtheoretische Blick von Baecker auf das Krankenhauswesen ist absolut empfehlenswert, zumal für alle, die in einem Kran-
kenhaus arbeiten. Der Nährwert für die Fragestellung Kooperation und Integration scheint auf den ersten Blick begrenzt. Aber so manches, was im Krankenhaus nicht vernünftig gestaltbar erscheint, wird leichter verständlich – auch, warum die Zusammenarbeit im Alltag dann doch immer wieder funktioniert. Im dritten Teil kommen die Akteure zu Wort und wenig überraschend sind alle für mehr Kooperation und Integration. Einige Beiträge unterliegen allerdings eher der Versuchung der Eigenreklame, als dem Drang zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem bis dato eher kümmerlichen Stand im deutschen Gesundheitswesen. Im vierten Teil werden die Schlüsselbereiche und Ansatzpunkte für mehr Kooperation und Integration beleuchtet. Auf den ersten Blick gleicht dieser Abschnitt eher einem Flickenteppich aus lose nebeneinander stehenden Themen und Vorschlägen. Hier werden die Dilemmata des deutschen Gesundheitswesens besonders schmerzhaft spürbar: die Beharrungskraft der gut organisierten und bestens artikulationsfähigen Interessengruppen im Gesundheitswesen sowie die ständig gegenwärtige Kollision zwischen Wettbewerb und Gemeinwohl. Die Idee, die Integrierte Versorgung finanziell besser auszugestalten und über mehr Transparenz und eine konsequente Evaluation sichtbarer zu machen, erscheint an dieser Stelle nicht übermäßig originell. Die Vorstellung, dass dadurch die Integrierte Versorgung für Versicherte
bei der Kassenwahl zum wichtigen Kriterium wird, erinnert schon ein wenig an das berühmte Pfeifen im Wald. Ausführlich widmen sich im fünften Teil mehrere Autoren den Accountable Care Organizations (ACO) als neue Form der Kooperation, die in den USA in kurzer Zeit schon rund 25 Millionen Versicherte umfassen. Die neue Versorgungsform setzt auf regionale, populationsorientierte Modelle der Gesundheitsversorgung mit einer Werte-basierten Vergütung. Dass die ACOs als zentraler Bestandteil von „Obamacare“ nun unter dem neuen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump wieder Gefahr laufen, zurückgedreht zu werden, konnten die Autoren noch nicht ahnen. Das Modell findet zwischenzeitlich über die Grenzen der USA hinweg Beachtung und Nachahmer, was wiederum Anlass zur Hoffnung auf einen dauerhaften Impuls in Richtung Kooperation und Integration gibt – vielleicht ja auch in Deutschland. Den letzten Teil haben die Herausgeber zwar mit „Befund“ überschrieben, sie gehen aber über die reine Befunderhebung hinaus und entwickeln zwei Perspektiven für die Zukunft: zum einen die Struktur einer kooperativen und integrativen Ausrichtung des Gesundheitswesens über den Weg der Regionalisierung und Kommunalisierung. Und zum anderen die Idee einer Sprunginnovation mit Sprengkraft für das derzeitige deutsche Gesundheitswesen. Bei einer solchen Sprunginnovation wird es zugleich Voraussetzung und Ergebnis sein, die „eingefrore-
Psychologie studieren – und dann? Claudia Rockstroh, Ulrich Winterfeld
Psychologie: Dein Start in den Traumberuf Karriereplanung für Studierende 2017, 200 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-942761-44-4, 22,00 EUR
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Dieses Lern- und Arbeitsbuch enthält alle wichtigen Informationen und konkrete Übungen, um nach dem Psychologiestudium im Arbeitsleben erfolgreich Fuß fassen zu können.
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nen“ Versorgungs- und Versicherungsorganisationen aufzutauen. Ob das gelingen wird? In Artikel 31 des Buches wird es recht schlüssig bejaht. Ganz mutig und optimistisch meinen die Herausgeber hier: „Die Zeit regionaler Netzwerkorganisationen und Systemanbieter wird kommen – und das eher schneller als gedacht.“ Insgesamt erfüllt das Werk seinen eigenen Anspruch, einen Beitrag zur Fortentwicklung des Gesundheitssektors zu leisten – so es denn die Leser findet, die über die Bereitschaft und die Möglichkeit verfügen, das Umsetzungsproblem, das derzeit noch prägend für das deutsche Gesundheitssystem ist, zu verkleinern. Dr. Karlheinz Jung, Freiburg
Springer VS, Wiesbaden 2017, 624 Seiten, 69,99 Euro
Hans Wedler
Suizid kontrovers Wahrnehmungen in Medizin und Gesellschaft
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er Autor Hans Wedler ist als lehrender Professor und praktizierender Psychiater ein seit Jahrzehnten bekannter und ausgewiesener Experte der Suizidforschung. Das Buch belegt in kurzer Fassung, was der Titel verspricht: Suizid und Suizidalität bleiben in Wissenschaft und Gesellschaft sehr kontrovers wahrgenommene Themen. Ich finde es sehr sympathisch, wie der Autor die Thematik mit der Begegnung einer suizidalen Patientin in seinen ersten Berufsjahren beginnt. Schon damals stößt ihm die moralische Bewertung der suizidalen Handlung als äußerst problematisch auf. Auch bei der weiteren Lektüre sind die Darstellungen der „Fälle“ wesentlich. Die wissenschaftlichen Daten werden also immer wieder durch konkrete Erfahrungen ergänzt. Überhaupt ist die Darstellung vielstimmig: Neben die Experten treten die von Suizidalität Betroffenen sowie Literaten, Künstler, Musiker, die in diesem Kontext eine sensible Wahrnehmung haben und teilweise auch direkt betroffen sind. So Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017
werden die Motive und Nöte der Suizidenten anschaulich. Zahlreiche Hinweise auf die Fachliteratur machen deutlich, dass sich das vorliegende Buch auf die zusammenfassende Übersicht konzentriert. Einen Schwerpunkt bildet die Problematik des begleiteten Suizids, der Sterbebeschleunigung, der Palliativmedizin und der Euthanasie. Diese und weitere Begriffe beziehungsweise Sachverhalte werden geklärt und die medizinischen sowie individuell psychologischen Bedingungen erläutert. Hier wird deutlich, wie kontrovers in verschiedenen Ländern mit Suizidalität umgegangen wird. Eine Beurteilung oder Bewertung muss dringend und entscheidend die Befangenheiten der Urteilenden bedenken. Ein weiterer Schwerpunkt am Ende des Buches ist der Umgang mit Suizidalität zwischen Akzeptanz und Präventionsbemühen. Als hilfreich gilt das Angebot der Kommunikation bei gleichzeitigem Respekt vor der letztendlichen Autonomie des Gegenübers. Die psychiatrisch Tätigen haben hier eine begrenzte Verantwortung. „Im Umgang mit Suizidpatienten kommt es mehr auf die Haltung an als auf Maßnahmen“, so ein Zitat aus Irren ist menschlich von Klaus Dörner und Ursula Plog. Die Ausführungen zum Scheitern im menschlichen Leben machen dies besonders deutlich. Die Leser werden nach der Lektüre einen differenzierten Einblick bekommen haben mit dem wichtigsten Hinweis auf die „Verführung zum Leben“. Dies gelingt Hans Wedler nicht zuletzt auch mit einer Verführung zum Lesen seiner favorisierten Autorenauswahl. Zuletzt: Irritierend ist gleich am Anfang des Buches die einzige Abbildung – eine gerupfte Gans mit der Schlinge um den Hals und an einem Strick aufgehängt. Eine Radierung von Hans Fuglsang mit dem Titel „Selbstmörder“. Warum diese „seltsame Besonderheit“ von Hans Wedler solch eine exponierte Darstellung erhält, klärt sich auch in der sehr knappen Ausführung zu „Suizid und bildender Kunst“ eher nicht. Rolf Brüggemann, Göppingen
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2016, 148 Seiten, 26 Euro
In der Ruhe liegt die Krafft. er wied nfach llafen Ein h c s gut en! könn
H HERBST ERBST 20 2017 17 99 , , 7 ca. € (D) 9,95 ISBN 978-3-8497-0200-7 auch als eBook erhältlich Zusatzmaterial online
H HERBST ERBST 20 2017 17
5 , , 7 ca. € (D) 29,95 ISBN 978-3-8497-0185-7 auch als eBook erhältlich Zusatzmaterial online
FRÜHJAHR FRÜ HJAH R 2017 2017
7
, , 7 € (D) 177,,95 ISBN 978-3-8497-0188-8 auch als eBook erhältlich
a Carl-Auer Verlag e Auf www.carl-auerr.de . bestell bestellt – deutschlandweit portofrei geliefert! eBooks finden Sie hier Unsere eBooks hie : www.carl-auerr.de/e ebooks
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Peter und Sabine Ansari
Unglück auf Rezept Die Anti-Depressiva-Lüge und ihre Folgen
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aben wir nicht den Siegeszug der evidenzbasierten Medizin erlebt? Wie kann es sein, dass laut des Autorenpaars Ansari die Psychiatrie seit 2.000 Jahren und weiterhin im Trüben fischt und Experimente sowie bloße Annahmen als Mittel der Wahl an die Betroffenen weitergibt? Oder werden in dieser Arbeit eines Humanbiologen und einer Heilpraktikerin ausschweifend Verschwörungstheorien gepflegt? Sabine und Peter Ansari legen ein sehr gut recherchiertes, teilweise reißerisch formuliertes Werk vor, das die medikamentöse Depressionsbehandlung in seine Einzelteile zerlegt und als unbrauchbar zurückweist. Antidepressiva werden ihnen zufolge in Deutschland viel zu leicht verordnet und unwilligen Patienten regelrecht aufgezwungen. Ganze Branchen profitierten von der schnellen und dauerhaften Verschreibung von Antidepressiva. Mit einer Vielzahl von Fakten stimmen die Autoren den Leser auf die deutlichen Missstände ein. 2014 beispielsweise wurden siebenmal so viele Antidepressiva wie noch 1990 verordnet. Frühberentungen von Menschen mit Depressionen haben sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Die Autoren schließen daraus, dass Antidepressiva nicht helfen, mit ihren Fehl- und Nebenwirkungen sogar dauerhaft krank machen. Viele Personen entwickeln bezeichnenderweise unter der Einnahme dieser Medikation erste Depressionen. Es wird sogar eine Verbindung zwischen Gewaltdelikten und der Einnahme bestimmter Medikamente gezogen. An dieser Stelle fragt man sich unweigerlich, was eine ganze Branche den Menschen antut, wie die verordnenden und behandelnden Ärzte so blind sein können – und ob sie es tatsächlich sind. Die Autoren behandeln nach einer Einführung in Krankheit und Behandlung ausführlich die chemischen Zusammensetzungen und Wirkungen der Psychopharmaka. Das Urteil fällt erwartungsgemäß eindeutig aus: Antidepressiva sind unwirksam. Seitenlang werden Pharmaskandale aufgeführt, im Mittelpunkt stehen vorwiegend das Medikament Prozac® und die Praktiken der Herstellerfirma Eli
Lilly, die aggressiv die Unterstützung zahlreicher Akteure auf dem Markt erkauft. In dem sehr informativen Kapitel „Pillenhistorie“ zeigen die Autoren nicht nur die historische Entwicklung der medikamentösen Depressionsbehandlung, sondern auch die Entwicklung der Therapieverfahren seit Hippokrates auf. Da erfährt man manches über Mythen und Ideen, die große Rolle der „schwarzen Galle“ oder „melan cholie“, abgeleitet aus der sogenannten Viersäftelehre. Dieser historische Überblick ist hervorragend recherchiert und sehr aufschlussreich. Zum Abschluss des Buches werden alternative Behandlungsmethoden dargestellt – leider auf nur zwanzig Seiten. Davon entfallen bereits acht Seiten auf ein ausführlich dargestelltes Fallbeispiel. Als empfohlene Methoden werden unter anderem Psychotherapie, Bewegung, Biofeedback, Kräuterextrakte, Massagen, das Schreiben eines Tagebuchs, Meditation und spirituelle Ansätze vorgestellt. Die Kürze dieses Kapitels ist nach der langen sehr tief gehenden vorherigen Argumentation etwas enttäuschend, da das Ehepaar Ansari in der gemeinsamen Praxis Betroffene begleitet und unterstützt. Vielleicht ist aber auch die eher populärwissenschaftlich gehaltene Auseinandersetzung mit den Medikamenten die Vorarbeit für ein Behandlungsbuch mit den von ihnen präferierten Methoden. Patrick Nieswand, Köln
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016, 300 Seiten, 16,95 Euro
Gerd Reuther
Der betrogene Patient Ein Arzt deckt auf, warum Ihr Leben in Gefahr ist, wenn Sie sich medizinisch behandeln lassen
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s ist schlimm, dass ein solches Buch geschrieben werden muss – aber es muss sein! Die detaillierten und gut belegten Fakten rund um die Gesundheitsindustrie decken die Verkommenheit des Medizinbetriebs und die fortlaufenden Vorspiegelungen falscher Tatsachen durch deren Akteure schonungslos auf. Obwohl die einzelnen Erkenntnisse weder
neu noch sensationell sind, und die daraus resultierenden Thesen zur Verbesserung in kritischen Fachkreisen schon lange, wenn auch verhalten, diskutiert werden, ist es immer wieder wichtig, die Finger in die Wunden der allmächtigen Gesundheitswirtschaft zu legen. Diese ist, mit einem Anteil von zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, inzwischen zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig gewachsen. Kranke, die früher als Bremse des Fortschritts empfunden wurden, bedeuten heute nicht weniger, sondern mehr Wertschöpfung im System. Die Gesundheitsindustrie erzeugt, verlängert und verwaltet Krankheiten, und das zu einem Preis, der in keinem Verhältnis zur allgemeinen Gesundheit steht. Von Heilen kann nicht die Rede sein. Entgegen den geleisteten Heilsversprechen heilen die meisten Behandlungen nicht, sondern verlängern ein Leben, das oft genug verlängertes Leiden ist. Denn wer länger lebt, ist länger Patient: Frauen waren im Durchschnitt 14, Männer elf Jahre Patient, wenn sie das Rentenalter erreicht haben. Gewidmet ist das Buch allen, die ernstlich krank werden könnten, und denen, die sich in einem Gesundheitsberuf unsinniger Medizin verweigern und notwendige Behandlungen empathisch vornehmen. Auch dieses Buch wird an der expandierenden medizinischen Unvernunft nicht viel ändern, aber man kann froh sein, dass es immer mal Gegenstimmen gibt und nicht alle Ärzte an der Ausweitung medizinischer Unvernunft teilhaben. Letztlich werden es aber nicht die Ärzte, schon gar nicht die Gesundheitsindustrie sein, die dem Treiben Einhalt gebieten, sondern die Patienten, die den Betrug an ihrer Gesundheit und an ihrem Geld merken müssen und sich diesem allumfassenden Gesundheitsdenken verweigern. Man kann viel für die Gesundheit tun, aber Gesundheit kann man nicht kaufen. Gesundheit ist keine Ware, auf die man Anspruch und Garantien bekommt. Gesundheit geschieht im Verborgenen, wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer es ausdrückte. Stephan Heinrich Nolte, Kinderarzt, Marburg
riva Verlag, München 2017, 400 Seiten, 19,99 Euro Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017
Barbara Baumeister, Trudi Beck (Hg.)
Schutz in der häuslichen Betreuung alter Menschen Misshandlungssituationen vorbeugen und erkennen – Betreute und Betreuende unterstützen
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as ist das Besondere an dem Buch „Schutz in der häuslichen Betreuung alter Menschen“, das sich einmal mehr mit Aggressionen und herausforderndem Verhalten beschäftigt? In erster Linie ist der qualitative Zugang zu Misshandlungssituationen und deren Prävention eine seltene Herangehensweise. Betreuende und Betreute kommen zu Wort. Dies führt dazu, dass man im Nachempfinden dessen, was zur Sprache kommt, ganz nahe an den Kern wichtiger Fragen gelangt. Ein Beispiel für eine abgrenzende Beziehung: Die Unterstützungsleistung durch einen betreuenden Menschen ist nach Einschätzung der AutorInnen an Erwartungen geknüpft. Wertschätzung und Dankbarkeit werden seitens der Helfenden erhofft, um daraus Motivation für weitere Pflegeleistungen zu schöpfen. Bekommen sie diese Anerkennung nicht, findet eine Abgrenzung statt, in deren Rahmen die Frage gestellt wird, wieso sie sich aufopfern sollen. Andererseits wagen die AutorInnen eine Schlussfolgerung, die aufhorchen lässt. Eine betreuende Person habe hohe Ansprüche an die Qualität einer Betreuung durch Drittpersonen und nehme Hilfeleistung eher als Belastung, denn als Entlastung wahr. In Positionierungen dieser Art liegt eine Menge Konfliktstoff verborgen. Sie deuten Antworten auf Fragen an, wie und warum alte Menschen in der Betreuung misshandelt werden. Sie gewähren Einblicke in die Dynamiken zwischenmenschlichen Geschehens. Vor allem zeigen sie, wo Unterstützungsleistungen für betreuende Menschen weiterentwickelt werden müssen, um Aggressionen und Tendenzen zur Misshandlung vorbeugend begegnen zu können. Das Phänomen der Selbstvernachlässigung bei alten Menschen ist in der psychosozialen Fachdiskussion bislang vernachlässigt worden. Der Pflegewissenschaftler Jürgen Georg nimmt es daher näher unter die Lupe. Er identifiziert die Selbstvernachlässigung als Kernfrage zu einem Selbstschutz alter, betreuter Menschen. In seiner Betrachtung geht er zwar Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017
nicht so weit, mit einem Nachdenken über den Eigensinn alter Menschen die Selbstvernachlässigung als bewusst gewolltes Ergebnis anzusehen, deutet aber Interventionen an, die eine Selbstvernachlässigung vermeiden könnten. Ein weiterer Mehrwert des Buchs „Schutz in der häuslichen Betreuung alter Menschen“ ist die Multiperspektivität, mit der auf die Misshandlung alter Menschen geblickt wird. Dass die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) und die Polizei in Überlegungen zur Prävention einbezogen werden, hat Seltenheitswert. Umso wichtiger sind die Hoffnung auf Sensibilisierung und die Erwartung auf eine Vernetzung, „um dadurch das große Dunkelfeld sichtbarer zu machen“. Das Buch ist ein Meilenstein. Denn es ist nicht nur ein Schatz, den verschiedene psychosoziale Dienstleister im Kanton Zürich gemeinsam gehoben haben. Es zeigt auch eine Tiefgründigkeit, die nur wenige Veröffentlichungen zu Aggressionen gegenüber alten Menschen und deren Prävention bieten. Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Bornheim
Hogrefe Verlag, Bern 2017, 216 Seiten, 29,95 Euro
Ursula Henzinger
Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit Humanethologische Perspektiven für Bindungstheorie und klinische Praxis
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er meint, alles über Bindung zu wissen, wird aller Voraussicht nach beim Lesen dieses Buches überrascht sein. Es bietet erstaunliche Einblicke in die Welt frühkindlichen Verhaltens. Jedes Kapitel schließt mit einer prägnanten Zusammenfassung – stufenförmig aufgebaute Übersichten erläutern Entwicklungsverläufe der Stammes- und Kulturgeschichte sowie der Individualentwicklung. Im ersten Teil beschreibt Ursula Henzinger die Methoden der vergleichenden Verhaltensforschung (Humanethologie) und lädt zu einer wertungsfreien Beob-
AUTOBIOGRAFIE DES GROSSEN PSYCHOLOGEN
224 Seiten, gebunden, € 16,95 D ISBN 978-3-407-86460-4 erhältlich Auch als
In seiner Autobiografie erzählt der weltberühmte Psychologe von den entscheidenden Erfahrungen, die jene innere Haltung formten, die ihn zum Vordenker der Resilienz und Begründer der sinnzentrierten Psychotherapie machten. Zahlreiche Fotografien aus dem Familienarchiv ergänzen Frankls Autobiografie, die trotz Leid und Verlusten von Heiterkeit, Optimismus und Menschenliebe geprägt ist. »Wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt. Und diese Lebensfragen können wir nur beantworten, indem wir unser Dasein selbst verantworten.« Viktor E. Frankl
Leseprobe auf www.beltz.de
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achtung dessen ein, was zwischen Eltern und Kindern in den ersten Jahren in verschiedenen Kulturen passiert. Dabei geht es um Unterschiede und deren Auswirkungen, aber vor allem auch um Kultur und Epochen übergreifende Gemeinsamkeiten, ohne dass es dabei zu romantisierenden Verallgemeinerungen kommt. Im zweiten Teil, der gut zwei Drittel des Buches umfasst, wird im Anschluss an einen Theorieteil zur Bindungstheorie und dessen Erweiterung im Zürcher Modell die Nähe-Distanz-Regulierung in vier Phasen von der Geburt bis zum Alter von vier Jahren beschrieben. Der inhaltliche Fokus liegt auf dem spontanen, selbst gesteuerten Sozialverhalten und den unglaublichen Kompetenzen von Säuglingen und Kleinkindern. Genauso wie in anderen Settings zeigt sich auch in der familiären Umgebung, dass sich gesundes und sozial kompetentes Verhalten ohne Druck und ohne aufwendige Motivationsmaßnahmen, die im Gegenteil oft eher kontraproduktiv wirken, von selbst entfalten kann, wenn die Rahmenbedingungen gut genug sind. Dabei muss nicht alles reibungslos verlaufen – Trotz- und Aggressionserlebnisse gehören zur Persönlichkeitsreifung und bieten für beide Seiten, Kinder und Eltern, Chancen zur Weiterentwicklung. Neben anderen Faktoren ist Gelassenheit im Umgang miteinander ein wesentliches Element guter familiärer Rahmenbedingungen. Dieses Buch kann zu etwas mehr Gelassenheit beitragen, indem es dabei hilft, kindliches Verhalten besser zu verstehen und einzuordnen. Im Geleitwort schreibt der Körperpsychotherapeut Thomas Harms: „Ursula Henzinger verkörpert das, was sie in diesem Buch beschreibt: den Glauben an die ungeheuren Wachstums- und Entfaltungspotenziale von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Ihr Blick ist stets auf das Gesunde gerichtet, auf das Mögliche und das, was das Kind verwirklichen möchte.“ Diese Haltung zieht sich konsistent von der ersten bis zur letzten Seite des Buches durch. Aus diesem Grund und
Psychosozial-Verlag, Gießen 2017, 462 Seiten, 44,90 Euro
wegen der gelungenen Verknüpfung von wissenschaftlichen Modellen und anschaulichen, oft liebevoll-lustigen Beispielen aus der humanethologischen Feldforschung ist es allen zu empfehlen, die beruflich oder privat mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Dr. Brigitte Borrmann, Bielefeld
Miriam Funk
Tabuthema Fehlgeburt Ein Ratgeber
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nter 100 Schwangerschaften sind 80 erfolgreiche und 20 Fehlgeburten. Mindestens. Offiziell. Die Dunkelziffer ist jedoch wesentlich höher, sagt Autorin Miriam Funk in ihrem Buch Tabuthema Fehlgeburt. Frauen, die in den ersten Schwangerschaftswochen ihr Kind verlieren, wird die Erlaubnis zu trauern abgesprochen. Sie hören den Satz: „Sei froh, dass es so früh und nicht später passiert!“ (S. 14) Doch ein Verlust ist immer schwer zu ertragen, egal zu welchem Zeitpunkt. Ich gebe zu, dieses Buch war harte Kost, denn es behandelt ein Thema, mit dem sich vermutlich niemand gerne beschäftigt. Umso wichtiger ist die Aufklärung, damit man dazu beitragen kann, das Leid der Betroffenen zu vermindern, anstatt es durch unüberlegte Aussagen noch zu verstärken. Ich kann mich an kein anderes Sachbuch erinnern, das mich so berührt hat und in mir den Wunsch hervorgerufen hat, fast von jeder Seite ein Zitat zu bringen. Schon allein die Vorarbeit, die Miriam Funk geleistet hat, war unglaublich aufwendig: Sie hat 430 betroffene Frauen befragt und ihre Antworten in dieses informative Buch eingebaut. Ich habe viel gelernt. Mir war nicht klar, wie viele Wahlmöglichkeiten betroffene Eltern haben. Aus dem Buch geht hervor, dass es nicht nur mir so geht. Mütter haben zum Beispiel die Wahl, zu warten und das Kind selbst zur Welt zu bringen, anstatt sich überrumpeln zu lassen und die Schwangerschaft sofort nach der schockierenden Nachricht von medizinischer Seite beenden zu lassen. Sie haben die Wahl, die schwierige Situation mit Unterstützung einer Hebamme durchzustehen, sie haben ein Recht auf Mutterschutz und Wochenbett und sie haben die Wahl, das Kind bestatten zu lassen – sei es auch noch so klein. Die Re-
gularien zur Bestattung variieren übrigens von Bundesland zu Bundesland. Wichtig ist in dem Zusammenhang das Thema Schuldgefühle. Oft wird der Mutter bewusst oder unbewusst eingeredet, Schuld an der Fehlgeburt zu haben. So gut wie alle Frauen stellen sich in so einer Situation die Frage, was sie falsch gemacht haben. Die Autorin hat tröstende Worte für sie, denn: Sie haben nichts falsch gemacht! In den meisten Fällen musste das Kind gehen, weil es in seinem Körper nicht überlebensfähig gewesen wäre – unabhängig von dem, was die Mutter getan oder auch nicht getan hat. Was mich am meisten betroffen hat, ist der lieblose Umgang vonseiten des Fachpersonals. Ja, für einen Gynäkologen mag eine Fehlgeburt natürlich und zu erwarten sein, aber für die Frauen ist sie das nicht. Auch die zitierten Kommentare von Schwestern und anderen Krankenhausangestellten haben mir Tränen in die Augen getrieben. Die Autorin betont aber bei allem, was sie bespricht, dass es auch eine andere Seite gibt – und auch dafür gibt es immer Beispiele. Was sollte geschehen, wenn es mehrmals hintereinander zu einer Fehlgeburt kommt? Warum kann es besser sein abzuwarten, anstatt gleich das durchzuziehen, was im Fachjargon lieblos als Ausschabung bezeichnet wird? Welche Trauerrituale können helfen? Darf man das Kind auf dem Standesamt melden? Wie geht es betroffenen Frauen, aber auch Männern, und wie kann man sie unterstützen? Miriam Funk hat unfassbar viele Tipps für direkt und indirekt Betroffene – auch Tipps für Ärzte gibt es. Manche gehen sogar mit einem beispielhaften Informationsflyer voran, der ebenfalls im Buch abgedruckt ist. Den Abschluss bilden Zitate der befragten Frauen. Sie verraten, was sie sich von ihrem Umfeld gewünscht hätten. Das Buch finde ich uneingeschränkt empfehlenswert. Es ist eine große Stütze für alle, egal, ob sie diese schmerzliche Erfahrung machen mussten oder nicht. Sandra Schindler, Kinderbuchautorin, www.sandra-schindlerschreibt.de
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2017, 119 Seiten, 16,95 Euro Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017