Dr. med. Mabuse 230_Vorsorge

Page 1

Nr. 230 · November/Dezember 2017 42. Jahrgang · D 6424 F · 8 Euro

www.mabuse-verlag.de

Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe

Vorsorge BeamtInnen in der GKV – Pro/Contra. Cannabis in der Medizin – wenig Evidenz. Berufsflucht von Ergound Physiotherapeuten – Gründe für den Ausstieg.

— Gesundheit & Gesellschaft — Krebs — Gendiagnostik — Kinderschutz


+ en! n re uch a sp uss % a 30 enk ch s Ge

Abo & Geschenk

1

2 Gutsch

Gutsche

ein

Nr.

in des M abuseBuchve Abos D r. med. rsande s verwen Mabus e, CDs, DVDs, Sp dbar für Büch er, iele u.v. m. Eu

über

ro ( in Wo

rten:

für

)

Bitte be

stel

len Sie un Kasseler ter Angabe de Bücher-Gutschein Str. 1 a r Gutsch E-Mai

· 60 l: buchve ei rsand@ 486 Frankfur nnr. beim Mab t · Te mab use-Bu chversa (Mabus use-verlag.de l.: 069-70 79 nd e-Buch 96-16 Frankfur versand · www.mabus t am M --> Büch e-verla ain, de g.de n er) Mabus e-Buch versand

Prämie 1: ein Buch aus dem Mabuse-Verlag www.mabuse-verlag.de

Prämie 2: Büchergutschein im Wert von 10 Euro Einlösbar beim Mabuse-Buchversand

lesen und ... ... Zusammenhänge erkennen ... mit anderen Gesundheitsberufen ins Gespräch kommen ... Fachwissen vertiefen ... sich für ein solidarisches Gesundheitswesen engagieren

"

Ich abonniere Dr. med. Mabuse – Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe und erhalte sechs Ausgaben zum Vorzugspreis von 32 (statt 44) Euro/SchülerInnen und Studierende für 21 Euro (mit Nachweis):*

Name: Straße: PLZ/Ort: Bitte einsenden an:

Tel./Fax:

Fax: 069-70 41 52 E-Mail: abo@mabuse-verlag.de

E-Mail: Datum/Unterschrift: Als Geschenk erhalte ich: ■ Prämie 1: ein Buch meiner Wahl aus dem Mabuse-Verlag: _____________________ (alle Bücher unter www.mabuse-verlag.de/Mabuse-Verlag)

Mabuse-Verlag GmbH Abo-Service Dr. med. Mabuse Postfach 90 06 47 60446 Frankfurt am Main www.mabuse-verlag.de

■ Prämie 2: einen Büchergutschein im Wert von 10 Euro oder ■ Prämie 3: eine Aboprämie von der Webseite: ________________________________ (alle Prämien online unter www.mabuse-verlag.de/Zeitschrift-Dr-med-Mabuse/Abo/) * Zuzüglich einer einmaligen Versandkostenpauschale von 3 Euro (Inland) bzw. 9 Euro (Ausland). Das Schnupperabo zum Vorzugspreis läuft für ein Jahr und geht danach in ein reguläres Abo über (44 Euro pro Jahr, zzgl. Versandkosten), falls Sie es nicht zwei Monate vor Ablauf kündigen. Das Schüler-/StudentInnenabo (nur bei Vorlage eines entsprechenden Nachweises) läuft für ein Jahr und wird jeweils automatisch um ein weiteres Jahr verlängert.


Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, für unsere aktuelle Ausgabe haben wir ein Titelbild gewählt, das zum Thema Vorsorge vielleicht eher im übertragenen Sinne passt. Der erste Begriff, der mir beim Betrachten des Bildes in den Sinn kam, war Lebensfreude. Auch wenn die älteren Damen auf dem Bild offensichtlich Gymnastik machen – möglicherweise als präventive Maßnahme gegen Arthrose – so überwiegt bei mir persönlich der Gedanke: Wenn man in diesem Alter so fröhlich ist und seine Zeit offensichtlich in guter Gemeinschaft verbringen kann, dann hat man ausreichend vorgesorgt. Das Bild, das uns im Alltag von Vorsorge vermittelt wird, ist hingegen häufig ein anderes: Ob in der Werbung, in Zeitungsartikeln, im Fitnessstudio oder in der Arztpraxis, an all diesen Orten finden wir Informationen darüber, wie wir optimal vorsorgen können. Von der Versicherung für den möglichen Pflegefall, über die richtige Ernährung und Bewegung bis hin zu den unzähligen ergänzenden Früherkennungsuntersuchungen, die in vielen medizinischen Fachrichtungen angeboten werden – es scheint kaum einen Lebensbereich zu geben, der sich nicht durch etwas mehr Eigeninitiative und Engagement optimieren ließe. Welche Rolle das Thema Vorsorge in unserem Gesundheitswesen spielt, erläutern die AutorInnen des aktuellen Schwerpunkts: Es geht um Gesundheit als neues Statussymbol der heutigen Leistungsgesellschaft, um Früherkennungsuntersuchungen für Kinder, die Möglichkeiten der Gendiagnostik, Nahrungsergänzungsmittel und kommunale Gesundheitsförderung. Die AutorInnen zeigen, dass den Anforderungen des „präventiven Imperativs“ – ein Begriff des Soziologen Ulrich Bröckling – kaum jemand entsprechen kann. Deshalb regen sie in ihren Beiträgen dazu an,

Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017

sich mit der Frage nach Sinn und Zweck der Vorsorge auseinanderzusetzen, die gemeinhin bedenkenlos positiv bewertet wird. Anlass zum Nachdenken geben auch die Ergebnisse der Bundestagswahl: Wolfgang Wagner fasst zusammen, welche Themen unter der möglichen Jamaika-Koalition verhandelt werden könnten. Wird es eine Finanzreform in der Krankenversicherung geben? Und wie kann man den immer steigenden Arzneimittelausgaben begegnen? Zudem hat Oliver Tolmein einen Blick auf die gesundheitspolitische Agenda der AfD geworfen: Demnach ist das deutsche Gesundheitswesen in Gefahr – Fallpauschalen und Migranten sind die Ursache. Nicht zuletzt finden Sie auf den Seiten 14 und 15 einige Impressionen von unserer Feier zum 40. Jubiläum von Dr. med. Mabuse, das wir am 22. September mit 200 Gästen im Frankfurter Ökohaus gebührend gefeiert haben. Vielen Dank für all die Glückwünsche und Geschenke, die uns in den vergangenen Wochen erreicht haben. Und natürlich auch ein herzliches Dankeschön an alle, die mit uns gefeiert, getanzt und uns einen so tollen Abend ermöglicht haben! Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und grüßen herzlich aus der Redaktion!

Franca Liedhegener

Ann-Kathrin Roeske

3


Inhalt BeamtInnen in der GKV

............................

S. 16

Pro: Freie Wahl ist zeitgemäß und gerecht Cornelia Prüfer-Storcks

Editorial

...............................

3

Leserbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Contra: Gleichheit um jeden Preis? Klaus Dauderstädt

LebensNarben, LebensKräfte

Rubriken Nachrichten

.........................

8

Cartoon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

...................

S. 18

Ein Fachtag zur traumasensiblen Begleitung alter Menschen Franca Liedhegener

Pflege-News . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Kongressbericht

..................

13

Momentaufnahme . . . . . . . . . . . . . . 14 Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . 60

Unklare Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 20 Gesundheitspolitik unter einer Jamaika-Koalition Wolfgang Wagner

Broschüren/Materialien . . . . . . . 72 Zeitschriftenschau . . . . . . . . . . . . . . . 73

Hanfblüten vom Nikolaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 45 Wenig Evidenz für die Verschreibung von Cannabis in der Medizin Norbert Schmacke

Termine

..............................

Fortbildung

........................

75 78

Kleinanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Fallpauschalen und Migranten . . . . . . . . . . . . . . S. 48 AfD identifiziert Gefahren für das Gesundheitswesen Oliver Tolmein

Caring and Healing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 49 Ein Begleitstudium für Medizinstudierende und ÄrztInnen Klaus-Dieter Platsch und Stefanie Marcks Gesundheit anderswo:

Ein kleines Land im Aufbruch

Neuerscheinungen . . . . . . . . . . . . . 66

.................

S. 52

Bericht über eine Reise nach Nepal Helmut Forster und Marcel Forster Gesundheitsexperten von morgen:

Berufsflucht in der Ergo- und Physiotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 56 Eine qualitative Befragung in Zeiten des Fachkräftemangels Cornelia Schübl

Besser reich und gesund als arm und krank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 82 Karin Ceballos Betancur

Foto: Eisermann/laif


Schwerpunkt:

Vorsorge Und jetzt wird in die Hände gespuckt . . . . . . S. 24 Gesundheitliche Vorsorge in der Leistungsgesellschaft Bettina Schmidt

Von der Freiwilligkeit zur Pflicht –

............

S. 27

(fast) 50 Jahre Früherkennungsuntersuchungen für Kinder und zehn Jahre hessisches Kindergesundheitsschutzgesetz Stephan Heinrich Nolte

IGeL oder nicht IGeL? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 30 Nutzen und Schaden von Untersuchungen zur Krebsfrüherkennung Klaus Koch

Ein Blick auf die Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 34 Möglichkeiten von Gentests als Vorsorgeinstrumente Kirsten Achtelik

Routine ohne Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 37 Warum Nahrungsergänzungsmittel nur selten notwendig sind Gerd Glaeske

Mehr Lebensqualität und Gesundheit . . . . . . . S. 40 Gemeinden im Fokus von Gesundheitsförderung – ein kommunales Forschungsprojekt Maren Albrecht, Ursula Goldberger und Joachim E. Fischer

Vorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 43 Bücher zum Weiterlesen


24 Schwerpunkt: Vorsorge

Gesundheit und Gesellschaft

Und jetzt wird in die Hände gespuckt ...

Gesundheitliche Vorsorge in der Leistungsgesellschaft

Foto: istockphoto.com/praetorianphoto

Bettina Schmidt Mein Haus, mein Auto, meine Gesundheit? In der heutigen leistungsorientierten Gesellschaft wird auch Gesundheit mehr und mehr zum Statussymbol: Ein Herzfrequenzmesser am Handgelenk, eine Mitgliedschaft im teuren Fitnessclub oder eine optimierte Ernährung verhelfen dem „präventiven Selbst“ zur wirksamen Außendarstellung des eigenen Bemühens. Unsere Autorin fasst die Entwicklungen unter vier Stichpunkten zusammen.

1. Bitte bleiben Sie gesund – freundlicher Wunsch oder dezidierter Auftrag? Jahrhundertelang sollten die Menschen für ihre Gesundheit nichts weiter tun, als dem lieben Gott oder dem günstigen Schicksal für einen guten Gesundheitszustand dankbar zu sein und die Ratschläge der medizinischen Obrigkeit zu befolgen. Seit einigen Jahren genügt das nicht mehr. Heute soll jeder Mensch gesundheitlich vorsorgen, es gilt

als normal und normativ erwünscht, dass jeder präventiv aktiv ist.1 Das Ideal vom „präventiven Selbst“2 ist Teil der neoliberalen Gesellschaftsidee, der zufolge eine Gesellschaft am besten funktioniert, wenn staatliche Zuständigkeiten möglichst minimiert und private Zuständigkeiten möglichst maximiert sind. Der neoliberale Minimalstaat braucht emsige BürgerInnen, die ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und möglichst unabhängig von staatlicher Unterstützung bleiben.3 Gesundheit unter neoliberaler Perspektive wurde vom schicksalhaften Glück zum individuellen Potenzial, das in jedem Menschen schlummert und sich voll entfaltet, wenn man sich genügend anstrengt.4 Gesundheitsvorsorge als private Pflicht – mit der klassischen WHO-Gesundheitsförderung, die auf biopsychosoziales Wohlbefinden und gesamtgesellschaftliche Verantwortung setzt, hat das nur noch wenig gemein. Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017


2. Das präventive Subjekt als erfolgreicher Zukunftseroberer Der Präventionist bewirtschaftet seine Gesundheit passend zur 24/7-Leistungsgesellschaft. Er beginnt den Tag mit gesunden Wechselduschen, frühstückt vollwertig, radelt zur Arbeit und anschließend ins Fitnessstudio. Nach einer bekömmlichen Abendmahlzeit geht er frühzeitig zu Bett und befolgt die Schlafhygieneregeln. „Gesundheit ist … was ich selbst daraus mache“ titelte die Mitgliederzeitung der Techniker Krankenkasse vor einiger Zeit: „Ein glückliches und gesundes Leben besteht nicht nur aus dem richtigen Maß an Bewegung und gut durchdachter Ernährung. Auch eine positive Grundeinstellung hilft der Gesundheit auf die Sprünge“5. Man ist inzwischen so gewöhnt an diese Binsenweisheit von der Gesundheit als Resultat präventiver Eigenanstrengung und positiver Grundeinstellung, dass man kaum noch realisiert, wie empörend solche Behauptungen sind. Sie ignorieren, dass zahlreiche Gesundheitsfaktoren nur leidlich zu kontrollieren sind (z.B. Arbeitsund Wohnbedingungen oder Erholungsmöglichkeiten), und umso leidlicher, je schlechter die soziale und damit die gesundheitliche Lage ist. Das präventive Subjekt ist im dauerhaften Gesundheitsmodus, es kontrolliert und reguliert beständig seine Gesundheitsaktivitäten.6 Wie diese auszusehen haben, ist bekannt: Die PubMed-Datenbank weist im August 2017 knapp 800.000 Hinweise zu den Stichworten health behavior/behaviors auf. Konkrete Zielthemen sind unter anderem diet (450.000 Hinweise); smoking (240.000); drug consumption (170.000). Zweifellos ist die Vermeidung des Rauchens gesundheitsnützlich, doch das gilt für die Vermeidung von Gewalt, Unfällen oder Arbeitslosigkeit auch. Allerdings finden sich dazu deutlich weniger Hinweise: violence (98.000), traffic accident (44.000), unemployment (12.000). Gutes Gesundheitsverhalten ist sinnvoll, doch stressige Arbeits- oder lärmbelastete Wohnbedingungen lassen sich nicht durch Birchermüsli zum Frühstück und heiße Milch mit Honig zum Schlafengehen kompensieren. Niemand kann wissen, ob und welche Präventionsaktivitäten dem Einzelnen nützen, denn Gesundheitswissenschaft ist Wahrscheinlichkeitswissenschaft – auf Durchschnittswerte gegründet, ohne sigDr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017

nifikante Aussagekraft für den Einzelfall. Das präventive Subjekt agiert also nicht aus guten Gewissheitsgründen, sondern eher aus Furcht vor künftiger Reue7: „Falls ich an Krebs erkranke, will ich mir nicht vorwerfen müssen, Früherkennungsuntersuchungen versäumt zu haben“. Die Prävention kolonialisiert die Gegenwart mit der Zukunft, die besser oder zumindest nicht schlechter werden soll. Das Heute wird zur wirkmächtigen Drohkulisse, die alle zur präventiven Pflichterfüllung aktiviert.8

3. Das präventive Subjekt als stilvoller Gesundheitsperformer In der modernen „Gesundheits-LeistungsSport-Gesellschaft“9 dient die individuelle Gesundheitsvorsorge nicht nur der Gesundheit, sondern auch der Inszenierung von Gesundsein. Analog zum „Doing Gender“ zielt „Doing Prevention“10 darauf ab, nicht nur gesund zu sein, sondern dies auch nach außen zu demonstrieren. Während das „richtige“ Geschlecht durch kulturelle Geschlechtsmerkmale11 (z. B. Lippenstift) sichtbar wird, wird die „richtige“ Gesundheit durch kulturelle Gesundheitsmerkmale sichtbar: Die Mineralwasserflasche wird zum ständigen Begleiter gesundheitsbewusster Zeitgenossen, die die Dehydrierungsgefahr der hiesigen Breitengrade für unterschätzt halten. Zum gelungenen Selbstbranding gehören Gesundheit und Gesundheitsverhalten: Das gesunde Ich ist ein Qualitätsprodukt, das sich durch Powerfrühstück, Pausen-Yoga, Feierabend-Workout offenbart. Die gute Gesundheit ist das „positive Kainsmal“12, das bezeugt, dass man alles richtig macht, richtig ist. Ob der regelmäßige Gesundheits-Check-up, der jährliche Marathon, die better-sleep-App wirklich die Gesundheit verbessern, ist zweifelhaft. Doch das ist zweitrangig, erstrangig nützt die Gesundheitsperformance dem erwünschten Impression-Management: Man ist nicht klammheimlich gesund, sondern für alle sichtbar in Bestform.13 Der Klassemann und die Klassefrau sind keine dicken Dichter und Denker mehr, sondern drahtige Triathleten, die Pulsstatt Platin-Uhr tragen. Das präventive Subjekt strebt nicht nur nach gesundheitlicher, sondern auch nach ästhetischer und moralischer Vollkommenheit. Das ist nicht neu, schon in der Antike beschäftigten sich die Mitglieder der ehrenwerten Gesellschaft damit,

144 Seiten. DIN-A4 Format. Kartoniert € 12,90 | ISBN 978-3-406-71790-1

Jetzt neu!

Damit sind Sie auf der sicheren Seite Alles in einem Ratgeber ■

Vorsorgevollmacht

Sorgerechtsverfügung

Patientenverfügung

Erbfall-Regelungen

Meine Daten für den Ernstfall

Mit rechtssicheren Formularen ■

Die von Gerichten anerkannte Verbindung der Formulare zu einem Dokument verhindert Täuschungsmanöver effektiv.

In höchster Qualität ■

Von Deutschlands führendem juristischen Fachverlag C.H.BECK

Herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz

Jetzt im Buchhandel oder bei: www.beck-shop.de/bkfwpc

Verlag C.H.BECK oHG · 80791 München kundenservice@beck.de | Preise inkl. MwSt. | 168188


26

Schwerpunkt: Vorsorge

Gesundheit und Gesellschaft

die eigene Existenz zu verfeinern und die eigene Ästhetik zu vervollkommnen: „Es ist das Kostbarste, sich um sich selbst zu kümmern, nicht um die Reichtümer, nicht um die Ehre, sondern um das Selbst und seine Seele“14. Gesundheitsvorsorge als selbstherrliche Tat: Alles dreht sich nur um mich.

4. Lebendige Menschen brauchen Gesundheitsförderung statt Präventionspflichten Die Geschichte vom präventiven Subjekt ist ein Heldenepos, das mit dem Leben von Menschen aus Fleisch und Blut nur

„Jeder Mensch balanciert überall zwischen redlichem Bemühen und regelmäßigem Ungenügen.“ wenig gemein hat: Etwa 30 Prozent der Bevölkerung (21 % Männer, 39 % Frauen) halten sich häufig an die Regeln einer gesunden Lebensweise.15 Die übrigen 70 Prozent kümmern sich „situationsabhängig mal mehr um die eigene Gesundheit und mal weniger“16. Ein leibhaftiger Mensch pflegt einen polyvalenten Lebensstil, der gekennzeichnet sein kann durch regelmäßigen Süßigkeitengenuss und regel-

mäßiges Zähneputzen, engagiertes Fußballspielen bei gleichzeitigem Vermeiden kürzester Fußwege, geschützten Geschlechtsverkehr, von leidenschaftlichen Ausnahmen abgesehen. Und die Alltagserfahrung lehrt, dass das in der Regel für einen akzeptablen Gesundheitszustand ausreicht. Jeder Mensch balanciert überall zwischen redlichem Bemühen und regelmäßigem Ungenügen. Dieser Widerspruch ist unauflösbar und lässt sich nur mit Akzeptanz für das Durchwursteln bewältigen.17 Ein Durchwurstler akzeptiert die herrschenden Regeln gesundheitsgerechten Lebens, akzeptiert jedoch gleichzeitig, dass die Regeln nicht immer kompatibel mit dem Alltagsleben sind18: „Auch mal eine Woche keinen Alkohol zu trinken. Oder mal eine Woche kein Fleisch zu essen […]. Mehr Salat. Ich mein, das weiß ich alles, aber … (lacht)“19. Ein Durchwurstler mäandert situativ passend zwischen Mit- und Nichtmittun, gelegentlich simuliert er das von ihm erwartete Engagement und beweist Mut zur Lücke bei der Realisierung all seiner Potenziale.20 Das ist die nachvollziehbare Antwort auf den Aktivierungsfuror der neoliberalen Leistungs-Förderer und -Forderer, und es ist womöglich die einzige Option, sich zumindest zeitweilig von den permanenten Präventionspflichten zu erholen.21 Das Durchwursteln ist weder unvernünftig noch charakterlos, sondern angemessen.

Denn angemessenes Handeln ist genau nicht dadurch gekennzeichnet, möglichst gehorsam das zu tun, was man tun soll, sondern fähig zu sein, in unterschiedlichen Situationen flexibel und praktisch weise zu handeln.22 Wer sein Leben meistern will, muss Abstriche machen beim Richtigen und Gesunden und sich begnügen können mit dem Halbrichtigen und Halbgesunden.23 Gesundheitsförderung sollte sich davor hüten, haufenweise Gesundheitsregeln wie Felsblöcke – um einen Ausdruck von Papst Franziskus zu verwenden – auf das Leben von Menschen zu werfen, sondern ist dazu aufgefordert, unterschiedlichen Menschen die Realisierung ihrer unterschiedlichen Gesundheitspotenziale zu ermöglichen. ■

In meinem Leben habe ich schon früh erkannt, dass ... „... das, was generell für richtig gehalten wird, längst nicht immer richtig ist, sondern oft nur Gewohnheit, Tradition oder Herrschaftsregel und darum zuweilen überdacht und überarbeitet werden sollte.“

Bettina Schmidt geb. 1967, ist Professorin für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. bettina.schmidt@ evh-bochum.de

Literatur 1 Wolf, M. (2012): Prävention als Praxis. In: Kirch, W./Hoffmann, T./Pfaff, H. (Hg.): Prävention und Versorgung. Stuttgart: Thieme, S. 213–225.

8 Kappeler, M. (2016): Prävention als Verhinderung selbstbestimmten Lebens in der Gegenwart im Namen der Zukunft. In: Widersprüche 36, S. 53–69.

16 Koch, K./Waltering, A. (2012): Was wir in unsere Gesundheit investieren und mit welchen Motiven wir es tun. In: Gesundheitsmonitor 1, S. 1–10, S. 9.

2 Lengwiler, M./Madarász, J. (2010): Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik. In: Lengwiler, M./Madarász, J. (Hg.): Das präventive Selbst. Bielefeld: Transcript, S. 11–30, S.16.

9 Bette, K.-H./Gugutzer, R. (2013): Sportsucht – soziologische Annäherungen. In: Hoefert, H.-W./Klotter, C. (Hg): Gesundheitszwänge. Lengerich: Pabst, S. 288–306, S. 292.

17 Bröckling, U. (2012): Der Ruf des Polizisten. In: Keller, R./Schneider, W./Viehöver, W. (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Wiesbaden: VS, S. 131–144.

10 Wolf, M. (2012): Prävention als Praxis. Kulturanthropologische Überlegungen zum vorbeugenden Handeln. In: Kirch, W./Hoffmann, T./ Pfaff, H. (Hg.): Prävention und Versorgung. Stuttgart: Thieme, S. 213–225, S. 213.

18 Grauel, J. (2013): Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen. Bielefeld: Transcript.

3 Bröckling, U. (2012): Der Ruf des Polizisten. In: Keller, R./Schneider, W./Viehöver, W. (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Wiesbaden: VS, S. 131–144. 4 Lupton, D. (1995): The Imperative of Health. London: Sage. 5 TK – Techniker Krankenkasse (2015): TK aktuell: Glück – wie Körper und Seele unser Wohlgefühl beeinflussen. Heft 2: Hamburg: TK, Titelthema Glück und Gesundheit S. 6–15, S. 6.

6 Niewöhner, J. (2010): Über die Spannungen zwischen individueller und kollektiver Intervention. In: Lengwiler, M./Madarász, J. (Hg.): Das präventive Selbst. Bielefeld: Transcript, S. 307–324. 7 Aronowitz, R.A. (2010): Die Vermengung von Risiko- und Krankheitserfahrungen. In: Lengwiler M./Madarász, J. (Hg.): Das präventive Selbst. Bielefeld: Transcript, S. 355–384.

11 Villa, P.-I. (2007): Der Körper als kulturelle Inszenierung und Statussymbol. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 18, S. 18–26, S. 21. 12 Zick Varul, M. (2004): Geld und Gesundheit: Konsum als Transformation von Geld in Moral. Berlin: Logos, S. 319. 13 Brunnett, R. (2009): Die Hegemonie symbolischer Gesundheit. Bielefeld: Transcript. 14 Foucault, M. (2013/1986): Die Hauptwerke – Die Sorge um sich. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 1365–1578, S. 1409. 15 Braun, B./Marstedt, G. (2015): Gesundheit – ein käufliches Produkt? In: Böcken, J./ Braun, B./ Meierjürgen, R. (Hg.): Gesundheitsmonitor 2015. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, S. 98–118.

19 Wolf, M. (2012): Prävention als Praxis. In: Kirch, W./Hoffmann, T./Pfaff, H. (Hg.): Prävention und Versorgung. Stuttgart: Thieme, S. 213– 225, S. 220. 20 Busch, K. (2013): Elemente einer Philosophie der Passivität. In: Busch, K./Draxler, H. (Hg.): Theorien der Passivität. München: Wilhelm Fink, S. 14–31. 21 Bröckling, U. (2012): Der Ruf des Polizisten. In: Keller, R./Schneider, W./Viehöver, W. (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Wiesbaden: VS, S. 131–144. 22 Halbig, C. (2013): Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik. Berlin: Suhrkamp. 23 Schmidt, B. (2017): Exklusive Gesundheit: Gesundheit als Instrument zur Sicherstellung sozialer Ordnung. Wiesbaden: Springer VS. Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017


Eine Ausgabe von

verpasst?

Bestellen Sie einfach nach!

Nr. 229 (5/2017)

Nr. 228 (4/2017)

Nr. 227 (3/2017)

Nr. 226 (2/2017)

Nr. 225 (1/2017)

Nr. 224 (6/2016)

Hospizarbeit

Aus- & Weiterbildung

Würde

Arbeit & Gesundheit

Interkulturalität

Gesundheit & Medien

außerdem: Besuch mit Nebenwirkungen – Pharma-Lobbyismus • Physician Assistance – kein Karrieresprung für Pflegende • Demenzdiagnostik – neue Wege?

außerdem: Cannabis – eine besondere Heilpflanze • Impfpflicht und Bürgerversicherung in der Diskussion • Beteiligtsein von Menschen mit Demenz

außerdem: Das System auf den Kopf gestellt – Zuzahlungen von Kranken entlasten die Gesunden • Kinderwunsch im Ethikrat – Reproduktionsmedizin in Deutschland

außerdem: Präventionsgesetz – Hoffnung oder Ernüchterung? • Generalistik und Bürgerversicherung • Selbsmedikation – Behandlung in Eigenregie

außerdem: Pflegestärkungsgesetz II • Gerechte Rollenverteillung bei Medikationsplänen • Kommentar zum rechtlichen Umgang mit Straftaten gegen PatientInnen

außerdem: Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Patienten – Pro/Contra • Teure Arzneimittel – ein Politikum • Humor in der Psychiatrie – angemessen und authentisch

Nr. 223 (5/2016)

Nr. 222 (4/2016)

Nr. 221 (3/2016)

Nr. 220 (2/2016)

Nr. 219 (1/2016)

Nr. 218 (6/2015)

Berührung

Psychosomatik

Familie

Resilienz

Flucht

Kunst & Gesundheit

außerdem: Fehlverteilung von Arztsitzen – AOKInstitut sieht keinen Ärztemangel • Offene Besuchszeiten – Pro/Contra • Voneinander Lernen – trotz Demenz

außerdem: „Die Altenpflege wird nicht abgeschafft.“ Interview zur generalistischen Pflegeausbildung • Sterbefasten – Ein persönlicher Fallbericht

außerdem: Wahl oder Pflicht? Schwangere zwischen Selbst- und Fremdbestimmung • Ökonomie vor Patientenwohl. Kritik an Kliniken • Nutzen von Nichtraucher-Apps

außerdem: Schneller zum Facharzt. Servicestellen vermitteln Termine • Prävention im Blick. Das Gesundheitssystem Kubas • Arzneimittelrückstände im Wasser

außerdem: Interview mit IPPNW-Gründervater Dr. Bernard Lown • Interprofessionelle Ausbildungsstationen in Schweden • Neuregelungen zu Sterbehilfe und Pflegereform

außerdem: Über die Anziehungskraft der Alternativmedizin • Entscheidungshilfe bei der Früherkennung • Ergebnisse aus dem Hessischen Pflegemonitor

Eine Gesamtübersicht finden Sie auf unserer Homepage www.mabuse-verlag.de Mabuse-Buchversand, Kasseler Str. 1 a, 60486 Frankfurt am Main E-Mail: buchversand@mabuse-verlag.de Tel.: 069-70 79 96 16, Fax: 069-70 41 52

Die Hefte 229 bis 219 kosten je 8 Euro, die übrigen je 7 Euro. Heftbestellungen im In- und Ausland liefern wir ➟ versandkostenfrei!

Sie wollen zukünftig keine Ausgabe mehr verpassen und Dr. med. Mabuse abonnieren? Unter ➟ www.mabuse-verlag.de/Zeitschrift-Drmed-Mabuse/Willkommen/ finden Sie die Bezugsbedingungen und ➟ attraktive Abo-Prämien!


60

Buchbesprechungen

Christian Pross

„Wir wollten ins Verderben rennen“ Die Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg

M

acht kaputt, was euch kaputt macht!“ Dieser Song der Rock-Band „Ton Steine Scherben“ drückte unsere Stimmungslage aus. Damals, als wir nach 1968 gegen die gesellschaftlichen Sklerosen anstürmten und um eine bessere Medizin kämpften. Ein Leuchtturm des Aufbruchs in unserer damaligen Wahrnehmung war das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) Heidelberg. Die psychiatrischen Anstalten bezeichneten wir als Schlangengruben, die Kranken wurden unter teils menschenunwürdigen Bedingungen verwahrt. Das Anschnallen in den Betten, Zwangsjacken, eiskalte Bäder, Elektroschocks und andere martialische „Therapiekonzepte“ waren Alltag. In Italien machte sich Franco Basaglia an die Auflösung der Anstalten. Und in Heidelberg versuchte Professor Walter von Baeyer, die Psychiatrische Universitätsklinik zu reformieren. Der Internist Heinrich Huebschmann interpretierte Krankheit als einen Körperstreik gegen desolate Lebensverhältnisse. Es waren wilde Zeiten der Veränderung und die Tradition der psychosomatischen Medizin in Heidelberg beförderte gerade dort ein offenes Reformklima für eine humane Medizin. 1971 setzte der Deutsche Bundestag die Expertenkommission „PsychiatrieReform“ ein und 1978 erschien dann im

Psychiatrie-Verlag das Buch von Uschi Plog und Klaus Dörner „Irren ist menschlich“. 1980 demonstrierten in Bonn über 10.000 Menschen für eine menschliche Psychiatrie. Die von Christian Pross unter Mitarbeit von Sonja Schweitzer und Julia Wagner vorgelegte Studie zur Geschichte des SPK Heidelberg analysiert wissenschaftlich exzellent die dramatischen Ereignisse von damals: Der Arzt Wolfgang Huber machte sich zum Außenseiter der medizinischen Institutionen und zum Liebling seiner Patienten. Als die Universitätsklinik den ebenso rebellischen wie selbstgerechten und fleißigen wie patientennahen Kollegen kündigte, wagten seine Patienten den Aufstand. Die Basisgruppe Medizin, viele Medizinstudenten und reformorientierte Psychiater, auch renommierte Gutachter wie beispielsweise der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, unterstützten und begleiteten wohlwollend das Experiment einer psychiatrischen Selbsthilfegruppe, eines kooperativen Bündnisses von Arzt und Patient und einer beziehungsbasierten Heilkultur für psychiatrisch Kranke. Von Februar 1970 bis Juli 1971 versammelte der charismatische Doktor Huber etwa 500 Patienten um sich und entfaltete eine ideologisch verblendete, paranoide und selbstzerstörerische Psychodynamik. Es endete mit einer Hausdurchsuchung, Waffenfunden und der Verurteilung von Wolfgang Huber wegen „Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“. Das historische Forschungsprojekt arbeitet nun die Psycho- und Soziodynamik der Ereignisse um das Heidelberger Pati-

entenkollektiv detailliert auf. Das daraus entstandene Buch berichtet in zwölf Kapiteln über die Hintergründe und Zusammenhänge des Geschehens, verbindet das Schicksal einzelner Patienten mit der Lebenswelt des Kollektivs und seinem Scheitern. Es ist ein einzigartiges Werk entstanden, das sich spannend, mitreißend und lehrreich liest. Gerade heute, wo die gesellschaftlichen Widersprüche erneut als individuelle Krankheitssymptome zum Ausdruck kommen, ist ein „Lehrbuch“ über die Risiken und Gefahren einer politischen Medizin wertvoll und hilfreich. Es zeigt auf, wie die „Revolution ihre eigenen Kinder fressen“ oder wie eine Gruppe im Kampf gegen böse Verhältnisse selbst böse werden kann. Wir lernen, wie sich humanistische Idealisten zu zynischen Despoten, bewunderte Hoffnungsträger zu egomanen Fundamentalisten oder gute Absichten zu schrecklichen Entgleisungen wandeln können. Das Buch ist aus meiner Sicht eine lehrreiche „Pflichtlektüre“ für Psycho- und Soziotherapeuten, Public Health-Mediziner und Gesundheitspolitiker. Wenn reformierte Versorgungssysteme unter die Zwänge von Bürokratie und Ökonomie geraten, müssen wir wissen, was dabei auch passieren kann. Ellis Huber, Berlin

Psychiatrie Verlag, Köln 2016, 500 Seiten, 39,95 Euro

Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017


Buchbesprechungen

Maria Kotulek

Seelsorge für Angehörige von Menschen mit Demenz

G

ibt es Aspekte, die in den zahllosen Ratgebern, Schulungskursen und Gruppenangeboten für Demenzerkrankte und ihre begleitenden, betreuenden und pflegenden Nächsten keine oder zu wenig Beachtung finden? Maria Kotulek, ihres Zeichens Fach-Pastoralreferentin für Demenz im erzbischöflichen Ordinariat München, bejaht dies und verweist auf Spiritualität. Eine interessante, lohnenswerte und sicherlich komplexe Fragestellung, zumal mit dem praktischen Bezug zur Seelsorge. Allerdings geht es dem schlanken Buch nur kurz und einführend um einen differenzierten Einstieg in das Thema. Vielmehr legt die Autorin einen Reader zu einem liturgisch geprägten Angebot für pflegende Angehörige von Demenzerkrankten in einem kirchlich-christlichen Gemeinde-Kontext vor. Sie konzipierte den sogenannten IKS-Kurs (informativ, kommunikativ, spirituell) und evaluierte ihn im Rahmen ihrer Dissertation. Wie in einem Kochbuch werden Hinweise für Zutaten, Zeitplanung und Zielgruppe gegeben, Psalm- und Bibeltexte als Kopiervorlagen mitgeliefert und detaillierte Ablaufpläne für fünf etwa eineinhalbstündige Kurstermine dokumentiert. Einzelheiten sind bis hin zur Farbe der Tücher, die vor Erscheinen der TeilnehmerInnen in der Raummitte um eine Osterkerze zu drapieren sind, beschrieben. Die vorangestellte Einführung ist knapp, aber informativ, der Theorie-Abschnitt über Demenz und die spezifische Situation der begleitenden, betreuenden und pflegenden Nächsten ansprechend. So erfährt man, dass fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann ab 65 Jahren bei der aktuellen Lebenserwartung im Laufe der Zeit an einer Demenz erkrankt, welche Formen gemeinhin unterschieden werden und in welcher Weise Kommunikation im Krankheitsverlauf gelingen kann. In Deutschland überwiegt die häusliche Pflege, entsprechend groß ist die Zahl der betroffenen Angehörigen. Überdurchschnittlich häufig entwickeln sie psychische und physische Beschwerden. Die Betroffenen stehen vor den spezifischen Herausforderungen abnehmender Sozialkontakte, Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017

des Rollentausches vor allem bei ElternKind-Beziehungen und des ständigen Gefühls von Abschiednehmen-Müssen und Trauer um Lebende sowie um die gemeinsame Biografie. Dem Thema „Spiritualität“ nähert sich die Autorin zunächst offen mit Verweisen auf die Wortherkunft, auf die historische Wandlung des Begriffs von „Geistlichem“ in christlich-kirchlichen Bezügen zu einem später vor allem im gesundheitlichen Kontext von Religion und Konfession losgelösten Konzept. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umfasse Spiritualität demnach Kraftquelle(n), Sinngebung und das lebendig Erhaltende eines Menschen sowie seine lebenslange Beziehung dazu. Religiosität beziehe sich hingegen auf institutionelle Glaubens- oder theologische Ideensysteme, wobei Überschneidungen häufig seien. Zentral erscheint hier das Zitat, nach dem religiöse und spirituelle Bezüge dem Erkrankten „Sicherheit bei der Erhaltung des Selbst“ geben können. In anschaulicher Weise werden Musik, Kunst, Natur und Biografie in den Zusammenhang der Spiritualität gestellt. Es ist dann fast bedauerlich wie sich anschließend der Fokus auf eine christlich-kirchlich-liturgische Situation verengt. Die Abschnitte zu den sogenannten Grundvollzügen von Kirche und die Theologie der Gottesdienstfeier richten sich offensichtlich an entsprechend vorgebildete LeserInnen – wer sonst kann ohne Weiteres die Bedeutung der biblischen Emmaus-Erzählung und das Pascha-Mysterium Christi einordnen? Und was meint schließlich „Seelsorge“, dieser etwas altmodisch und betulich, nach kirchlich bemühtem Balsam und einer leicht verstaubten Idee klingende Begriff? Er schafft in erster Linie Räume, in denen Fragen und Sehnsüchte artikuliert werden können, und zwar durch Mithören, -gehen, -suchen und -deuten. Hier wird es noch einmal spannend, wird doch die SeelsorgerIn mit dem Zusatz „mystagogisch“ versehen. Umschrieben wird damit die Begleitung eines Menschen auf dem Weg zu „seinem Geheimnis“, im Weiteren gleichbedeutend mit dem „in Berührung mit Gott bringen“. Leider bleibt die „diakonisch-mystagogische Seelsorge im Kontext von Spiritual Care“ hier nur vage angedeutet. Unter dem Strich erscheint der Titel etwas groß geraten für den Inhalt des Buchs, das weniger die Bandbreite von

Seelsorge im Zusammenhang mit Demenzerkrankten und ihren begleitenden Angehörigen als vielmehr eine einzelne konkrete Handreichung in einem spezifischen Pfarrgemeinde-Setting beschreibt. Alice Nennecke, Hamburg

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 104 Seiten, 20 Euro

Reimer Gronemeyer, Charlotte Jurk (Hg.)

Entprofessionalisieren wir uns! Ein kritisches Wörterbuch über die Sprache in Pflege und sozialer Arbeit

E

in lesenswertes, spannendes Buch, an einigen Stellen akademisch verschwurbelt, das aus einem „Gefühl des Widerwillens, ja Ekels angesichts einer zunehmend abstrakten, kalten und gleichmacherischen Sprache in allen Zweigen des Sozialen“ entstanden ist. Es regt zum Nachdenken über den Sprachgebrauch an, wenn „das Soziale“ nur noch verwaltet wird, fordert aber auch zum Widerspruch heraus. Etwa wenn die Herausgeber in ihrer Einleitung „Über die Sprache der Versorgungsindustrie: Wie Plastikwörter die Sorge um andere infizieren und warum wir uns davon befreien müssen“ das neue Bundesteilhabegesetz anführen. An dem lässt sich wirklich Vieles bemängeln. Gronemeyer und Jurk kritisieren, es sei „geradezu infiziert von Sozialraumbezogenheit. Der Sozialraum soll retten, was durch die gezielte Zerschlagung solidarischen Miteinanders angerichtet worden ist.“ Da greifen die Autoren zu kurz: Ginge es nur um das „Plastikwort“, könnte man es einfach vermeiden und vielleicht durch die Vokabel „solidarisches Miteinander“ ersetzen. Gewonnen wäre dadurch aber nichts. Zu kritisieren ist – und die Autoren meinen das wohl auch – nicht das Wort, zu kritisieren sind die Verhältnisse, die es verbergen soll. Zu Recht attackieren die Herausgeber „die Sprache sozialer Expertise“, die „ihre Herkunft aus der industriellen Sphäre nicht verleugnen“ kann. Sie sehen diese Sprache als Ausdruck der Professionali-

61


Buchbesprechungen

Traumatisierungen Traumatisierungen im Kontext medizinischer Behandlungen

+BISHBOH ) FGU /PWFNCFS +BISHBOH )FGU /PWFNCFS

%0* UH %0* UH

5 53"6." (&8"-5 3 " 6 . " (&8"-5 '034$)6/( 6/% 13"9*4'&-%&3

5IFNFOIFGU 5IFNFOIFGU 5SBVNBUJTJFSVOHFO JN ,POUFYU TDIXFSFS LÂżSQFSMJDIFS 5SBVNBUJTJFSVOHFO JN ,POUFYU TDIXFSFS LÂżSQFSMJDIFS &&SLSBOLVOHFO VOE NFEJ[JOJTDIFS #FIBOEMVOH SLSBOLVOHFO VOE NFEJ[JOJTDIFS #FIBOEMVOH

0MN\ ÂŽ Â?

0 0SHBO EFS %FVUTDITQSBDIJHFO (FTFMMTDIBGU GĂ…S 1TZDIPUSBVNBUPMPHJF VOE EFS (FTFMMTDIBGU GĂ…S 1TZDIPUSBVNBUPMPHJF 5SBVNBUIFSBQJF VOE (FXBMUGPSTDIVOH SHBO EFS %FVUTDITQSBDIJHFO (FTFMMTDIBGU GĂ…S 1TZDIPUSBVNBUPMPHJF VOE EFS (FTFMMTDIBGU GĂ…S 1TZDI IPUSBVNBUPMPHJF 5SBVNBUIFSBQJF VOE (FXBMUGPSTDIVOH

)FSBVTHFHFCFO WPO (Ă…OUFS ) 4FJEMFS )BSBME + 'SFZCFSHFS )FJEF (MBFTNFS 4JMLF # (BIMFJUOFS

62

TRAUMA & GEWAL LT l OMP\ LMV ?MO ^WV LMZ 3TQVQS LWZ \PQV _W /M_IT\ MV\[\MP\ l LQ[S]\QMZ \ LQM 8ZĹť^MV\QWV ^WV /M_IT\ ]VL LQM -V\OMOV]VO I]N /M_IT\ l ^MZJQVLM\ LQM STQVQ[KPM ;QKP\ UQ\ OM[MTT[KPIN\TQKPMV 8MZ[ X M S \ Q ^M V

Probeabo! Jetzt testen im die Die aktuelle und e Ausgabe nur de nd en ge follg fo

4 24 â‚Ź 22 / sFr 2

BestellmĂśglichkeiten unter www.traumaundgewalt.de www.traumaundgewalt.de

sierung, „die unter dem Vorwand der Optimierung sozialer Dienstleistung tatsächlich eine radikale Verdinglichung mitmenschlicher Zuwendung betreibt“. Die findet sich etwa unter dem Stichwort der „AngehĂśrigenarbeit“, in der aus Anteilnahme und Zuwendung ein abhakbarer „Gegenstand der professionellen Betreuungskonzepte“ wird. Aber auch das liegt nicht an der Vokabel „AngehĂśrigenarbeit“, sondern daran, dass – wie der Autor es benennt – sogar noch die Einbeziehung der AngehĂśrigen in die Sorge um einen kranken, leidenden Menschen zu einem marktgängigen Produkt verunstaltet wird. So grasen die AutorInnen das breite Feld des oft seltsam anmutenden Vokabulars ab. Wie Hans Bartosch das „Management“ durchleuchtet, ist geradezu komisch – auch wenn diejenigen, die es in ihrem Sozialverwaltungsalltag anwenden (mĂźssen), das sicherlich nicht komisch finden. Der Autor amĂźsiert sich beim sogenannten „Qualitätsmanagement“ Ăźber die „teilweise hochreligiĂśse Ganzhingabe an solche Systeme“ und fragt beim Begriff „Wundmanagement“, hinter dem er die anspruchsvollen Seiten der Pflege sieht: „Aber, um Himmels Willen, wie hieĂ&#x; das denn frĂźher, das mit den Wunden und deren Behandlung?“ Alles ist irgendwie Management. Da sind wir bei den industriellen Organisationsprinzipien, die dem Sozialen ĂźbergestĂźlpt werden: „Was fĂźr Toyota gut war, kann doch fĂźr Diakonie, Arbeiterwohlfahrt und kommunale Jugendhilfe nicht das Leitmedium werden, oder?“ An dieser Stelle – wie an zahlreichen anderen – wird klar, dass die Herausgeber oder der Verlag einen falschen, sogar ärgerlichen Titel gewählt haben. Der ganze Zauber um das Management und die aus der Industrie Ăźbernommenen Methoden ist „ein BĂźndel klassischer (...) innenrevisorischer Mittel, die nunmehr von externen Kostenträgern (...) aufgestellt werden, um Finanzmittelzuweisungen zu regulieren“. Sich diesem Diktat zu unterwerfen, ist nicht Ausdruck einer Professionalisierung, sondern gerade des Gegenteils. Die Forderung „Entprofessionalisieren wir uns!“ hat schon erfĂźllt, wem diese modernen Managementmethoden wichtiger sind als das Wissen, das KĂśnnen und die Ethik seiner Profession. Wenn man der Ansicht ist, dass es diese Berufe braucht, weil deren Aufgaben in Pflege und Sozialer Ar-

beit nicht Jede und Jeder zum Wohle der Umsorgten erledigen kann, muss die Forderung lauten: Lassen wir uns die Professionalität nicht nehmen! Burkhard Plemper, Soziologe, Hamburg

Transcript Verlag, Bielefeld 2017, 260 Seiten, 29,99 Euro

Ralph-Christian Amthor (Hg.)

Soziale Arbeit im Widerstand Fragen, Erkenntnisse und Reflexionen zum Nationalsozialismus

D

er Aufsatzband stellt sich erstmals in der Professionsgeschichtsforschung der Sozialen Arbeit der Aufgabe, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus innerhalb der Berufsgruppe zu untersuchen und anhand zahlreicher biografischer Skizzen darzustellen. Dabei erhebt der Herausgeber nicht den Anspruch einer vollständigen Abhandlung; vielmehr hält er bereits in der EinfĂźhrung fest, dass Forschungsdesiderate bestehen. Neben der Präsentation berufshistorischer Erkenntnisse ist es das Ăźbergeordnete Anliegen der AutorInnen, diejenigen KollegInnen zu wĂźrdigen, die sich unter Lebensgefahr dem nationalsozialistischen System entgegenstellten. Im ersten Teil des Buchs – Allgemeine Grundlagen der Widerstandsforschung – skizziert der Herausgeber den aktuellen Forschungsstand, offene Fragen und den Aufbau des Buchs. Daran schlieĂ&#x;t sich eine Darstellung Sozialer Arbeit im nationalsozialistischen Deutschland von Carola Kuhlmann an sowie der Beitrag von Christa Paulini Ăźber die Entwicklung der Berufsverbände ab 1933. Diese beiden Kapitel eignen sich hervorragend fĂźr berufshistorische Lehrveranstaltungen. Adriane Feustel legt mit ihren AusfĂźhrungen zu Verfolgung, Flucht und Exil in der Sozialen Arbeit die Grundlage zum Verständnis der zahlreichen Biografien im Buch. Im zweiten Teil – Hauptrichtungen und Orte des Widerstands – beleuchten Martin Biebricher (Progressive Jugendarbeit Dr. med. Mabuse 230 ¡ November / Dezember 2017


als Motiv), Sven Steinacker (Linkssozialistischer/kommunistischer Widerstand), Gudrun Maierhof (Jüdischer Widerstand), Sabine Toppe (Bürgerliche soziale Arbeit), Birgit Bender-Junker (bekennende Kirche und Innere Mission) und Andreas LobHüdepohl (Caritas und katholische Kirche) widerständiges Verhalten in der Sozialen Arbeit anhand zahlreicher Einzelbeispiele und in verschiedenen Settings. Als roter Faden zieht sich die Frage durch die Texte, ob diejenigen Berufsangehörigen, die Widerstand leisteten, dies aufgrund ihrer beruflichen oder ihrer weltanschaulichen Sozialisation taten. Ich finde die Frage wichtig. Gleichwohl scheint sie mir in ihrer Vehemenz in diesem Buch übertrieben. Unabhängig von ihrer primären Motivation können die widerständig handelnden Frauen und Männer als positive Rollenvorbilder in der Sozialen Arbeit vorgestellt werden. Dies gilt umso mehr, als ein weiteres wiederkehrendes Thema die Feststellung ist, dass sich der Beruf insgesamt angepasst und systemstabilisierend verhielt, viele Berufsangehörige die eugenische, rassistische und antisemitische Sozialgesetzgebung des NS-Staates befürworteten und aktiv unterstützten. Im dritten Teil – Weiterführende Reflexionen und Ausblick – wird mit Aufsätzen von Beate Kosmala (Widerstand gegen die Judenverfolgung), Susanne Zeller (Berufsethiken jenseits der NS-Ideologie) sowie Juliane Sagebiel und RalphChristian Amthor (Widerstand in der Sozialen Arbeit in den besetzten Gebieten) der Blick auf die Shoah, grundlegende ethische Fragen und über Deutschland hinaus gelenkt. Er schließt mit Auszügen aus einem Gespräch zwischen drei SozialarbeiterInnen verschiedener Altersgruppen über die Frage nach Widerstand an sich. Das Gespräch hebt sich stilistisch sehr vom übrigen Buch ab. Erfreulicherweise enthält das Buch ein Abkürzungsverzeichnis und ein kurzes biografisches Lexikon sowie ein Verzeichnis relevanter Archive und Gedenkstätten. Hiermit hebt es sich von anderen vergleichbaren Publikationen ab. Ärgerlich und dem Lektorat anzulasten sind die Schreibfehler. Manche sind lässlich, aber wenn aus Bernburg Brandenburg wird, ist der Fehler sinnentstellend. Insgesamt ist der Band eine Bereicherung der Literatur zum Nationalsozialismus und ein wertvoller Beitrag zur Ge-

schichte der Sozialen Arbeit. Ich kann es sowohl für das Studium der Sozialen Arbeit wie auch zum Erwerb für Einrichtungen und Fachbibliotheken sehr empfehlen. Dr. Anja K. Peters, Neubrandenburg

Beltz Juventa, Weinheim/ Basel 2017, 356 Seiten, 34,95 Euro

Christiane Steinert, Falk Leichsenring

Psychodynamische Psychotherapie in Zeiten evidenzbasierter Medizin Bambi ist gesund und munter

P

sychodynamisch orientierte Forscher haben es schwer, wissenschaftlich hochwertig zu veröffentlichen. Das hat – in Zeiten evidenzbasierter Medizin – auch etwas mit einer Methodik zu tun, die eher zu (testpsychologisch) messbaren Symptomen passt als zu Therapiemodellen, die auf bewusste und unbewusste Konflikte wie Beeinträchtigungen in Ich-Funktionen fokussieren. Dabei zielen diese auf ein tieferes Verständnis des Selbst und des Anderen sowie auf die Fähigkeit, befriedigende Beziehungen zu führen und Affekte besser zu steuern – auch in der Annahme, dass sie seine Symptome und Probleme mitbedingen oder aufrechterhalten. Es hat aber auch etwas mit der Fehlannahme „alter“ Psychodynamiker zu tun, dass manche ihrer Grundannahmen und Konzepte empirisch kaum überprüfbar seien. Steinert und Leichsenring postulieren im Gegenteil, dass man mithilfe klinischer Studien durchaus überprüfen kann, ob es aufgrund von Therapien, die auf nachvollziehbaren Konzepten beruhen, zu messbaren Veränderungen kommt. Unabhängig vom Konzept sollte eine Psychotherapie der Linderung eines wie auch immer gearteten Problems dienen und zumindest diese Linderung sollte empirisch überprüft sein. Dazu schildern die AutorInnen lesbar und verständlich die relevante Methodik. Man lernt, wie man mit „Statistik“ zu sehr unterschiedlichen Aussagen kom-

Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Die Reihe Fluchtaspekte unterstützt psychosoziale Fachkräfte, Sprachmittler und ehrenamtlich Engagierte in ihrer Begegnung und Arbeit mit geflüchteten Menschen mit theoretischem Hintergrund- und nützlichem Praxiswissen. Die kompakten Handreichungen rüsten die in der Geflüchtetenarbeit Tätigen für ihre vielfältigen, oft ganz neuen Aufgaben und setzen Impulse in diesem Arbeitsbereich. Jeder Band ca. 104 Seiten, kartoniert je € 12,– D eBook: je € 9,99 D Weitere Titel sind in Vorbereitung. www.v-r.de/fluchtaspekte -r.de www.v liche

Ausführ en, b Lesepro enfreie t s o k versand erung! Lief

Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht


64

Buchbesprechungen

men kann, vor allem, wenn eine zur Fragestellung nicht passende Methode eingesetzt wird. Dabei gehen sie auch auf die Reproduzierbarkeit klinischer Forschung ein. Zu den Faktoren, die zu der mit unter 50 Prozent geringen Replizierbarkeit beitragen, gehören unter anderem kleine Stichproben, selektives Berichten und der Druck, „etwas“ publizieren zu müssen. Als nicht zu unterschätzenden Risikofaktor benennen sie die „Allianz der Forschergemeinschaft“, die auch dank des sogenannten Peer-Review-Verfahrens – durchaus interessengebunden – in der Lage ist, Publikationen anzunehmen, zu modifizieren oder abzulehnen. Dies hat möglicherweise auch dazu geführt, dass dieses Büchlein notwendig wurde, um im Konzert der Forscher, die sich allein richtig fühlen, die Stimme zu erheben. Dann führen Steinert und Leichsenring „evidenztauglich“ und störungsbezogen eine Vielzahl an methodisch sauberen Untersuchungen an, die den Wert des psychodynamischen Vorgehens belegen können. Gleichzeitig zeigt sich wieder einmal, dass das Heil nicht im Entwederoder, sondern im Sowohl-als-auch liegt, und vor allem in dem, was passt: zum Patienten und zum Therapeuten. Als allgemeine Wirkfaktoren werden dargestellt: eine gute Therapeuten-Patienten-Beziehung; ein vertrauensvolles, den Heilungserfolg begünstigendes Therapiesetting; ein Therapeut, der eine psychologisch abgeleitete und kulturell eingebettete Erklärung für das emotionale Problem des Patienten zur Verfügung stellt, die für diesen realisierbar, glaubhaft und akzeptierbar sein muss; Methoden, Techniken oder Rituale, auf die sich Therapeut und Patient einlassen können und die den Patienten dazu bringen, etwas Positives in Gang zu setzen. Darüber hinaus bilanzieren die AutorInnen aufgrund der Erfahrung von mehr als 2.000 berücksichtigten Studien sowohl verhaltenstherapeutischer wie psychodynamischer Art als übergreifendes Ergebnis: das Hervorrufen von Emotionen in expositionsbasierten, verhaltenstherapeutischen Behandlungen von Angststörungen, konkrete Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie bei der Depression und Zuwächse im Selbstverständnis in den psychodynamischen Verfahren. Letztlich ist dieses gut lesbare Buch eine Einladung zur kritischen Auseinandersetzung mit Publikationsergebnissen

und eine Ermunterung zum schulenübergreifenden Denken und auch Handeln. Dr. med. Helmut Schaaf, Bad Arolsen, www.drhschaaf.de

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 83 Seiten, 10 Euro

Diana Auth

Pflegearbeit in Zeiten der Ökonomisierung Wandel von Care-Regimen in Großbritannien, Schweden und Deutschland

D

ie Bundestagswahl lieferte eine gute Gelegenheit, um darüber nachzudenken, wie es in gut zehn Jahren in der Altenpflege aussehen wird. Dann komme ich, wie so viele aus der Baby-BoomerGeneration, langsam ins Rentenalter. Welche Probleme wird die Altenpflege dann haben? Über welche Ressourcen dürfen wir nachdenken? Wie können Ziele formuliert werden, die in der deutschen Gesellschaft mehrheitsfähig wären? Und welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, um diese Ziele zu erreichen? Auf der Suche nach Überlegungen zur Zukunft der Pflege stoße ich auf das Buch von Diana Auth. Die Politikwissenschaftlerin analysiert darin die Entwicklungen in der Pflegewirtschaft über die letzten Jahrzehnte. Dabei nimmt sie nicht nur die professionelle Pflege in den Blick, ihr Thema ist die Gesamtheit der in unserer Gesellschaft nötigen Pflegearbeiten. Dazu muss sie die Leistungen der pflegenden Angehörigen einbeziehen. Sie reflektiert auch die Situation von ArbeitsmigrantInnen, die hier als Angestellte in Krankenhäusern und Altenheimen arbeiten oder sich in den Grauzonen der „24-StundenHaushaltshilfe“ verdingen. Die Autorin vergleicht die Entwicklung in Großbritannien, Schweden und Deutschland. Seit dem 1. Januar 2017 gilt in Deutschland ein neues Konzept von Pflegebedürftigkeit. Auth beschreibt anschaulich, dass in Schweden und Großbritannien weniger auf nationale Regeln gesetzt wird. Die Zuständigen haben sehr viel größere Entscheidungsspielräume, wenn über den

Hilfebedarf der Menschen entschieden wird. Seit den 1990er Jahren wurde etwa in Schweden die Verantwortung für die Zuweisung pflegerischer Unterstützung in die Kommunen verschoben. Zudem liefert Auth Antworten auf folgende Fragen: Entstehen neue Pflegearbeitsformen zwischen beruflicher und familiärer sowie zwischen bezahlter und unbezahlter Pflege? Zeichnen sich Präkarisierungstendenzen ab oder sind die Pflegearbeitsformen im Laufe der Zeit besser abgesichert worden? Seit mehr als zehn Jahren verfolge ich die medialen Debatten zur Pflege. Da ist definitiv eine Lücke, in die Auths Arbeit stößt. „Ökonomisierung“ lässt sich für die Altenpflege in Deutschland in „Minutenpflege“ übersetzen. Viel Kritik an Entscheidungen der Pflegekassen und am Alltagsleben in Pflegeheimen ranken seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 um diesen Begriff. Viele Altenpflegeprofis haben den Beruf verlassen und sprechen rückblickend von Frühdiensten als „Waschstraße“. An vielen Stellen liefert Auth wichtige Hintergrundinformationen zu den Rahmenbedingungen, die zu „Burn-out“ und Berufsausstieg führen können. Aber es bleiben auch Fragen offen, die in der aktuellen pflegepolitischen Debatte wichtig sind: Welche Rolle könnten Pflegekammern bei der Sicherstellung verlässlicher pflegerischer Versorgung der BürgerInnen spielen? In welchem Umfang trüge eine einheitliche Pflegeausbildung dazu bei, mehr Pflegeprofis auszubilden? Welche Fördermaßnahmen machen es pflegenden Angehörigen möglich, auf Dauer ihre Lieben zu versorgen? Welche Maßnahmen laufen eher ins Leere? Schade ist, dass dem Buch kein Stichwortregister gegönnt wurde. Dennoch sollte das Buch jeder lesen, der in Deutschland mehr Verantwortung der Städte und Gemeinden für die (Alten-)Pflege fordert. Und auch darüber hinaus, wünsche ich dem Buch viele aufmerksam Lesende! Georg Paaßen, www.pflegegrad.info

Westfälisches Dampfboot, Münster 2017, 500 Seiten, 44 Euro

Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017


Buchbesprechungen

Peter Lehmann, Volkmar Aderhold u. a.

Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika Risiken, Placebo-Effekte, Niedrigdosierung und Alternativen

D

ie Autoren haben sich umfassend mit den aktuellen psychiatrischen Behandlungsmethoden befasst. Peter Lehmanns Eingangsartikel zeigt übersichtlich die Wirkungsweisen, (Gegen-)Indikationen und unerwünschten Wirkungen neuer Antidepressiva sowie atypischer Neuroleptika. Er informiert über von Herstellern eingestandene Probleme in Schwangerschaft und Stillzeit, deren Warnhinweise an Ärzte, bei welchen Symptomen die Mittel sofort abzusetzen seien, und die mangelhaften und damit verantwortungslosen Vorgaben, wie diese abzusetzen seien. Es folgt ein Abschnitt über sehr seltene sowie chronische und lebensbedrohliche Störungen und deren frühzeitige Ankündigung. Das Abhängigkeitsrisiko wird ebenfalls thematisiert. Zuletzt informiert Lehmann über die beängstigende Wiederkehr des Elektroschocks, die uferlose Ausweitung von dessen Indikationen (auch bei Schwangeren oder Menschen mit Demenz und Down-Syndrom) und über Behandlungsalternativen. Im zweiten Kapitel setzt sich der Schweizer Arzt und Psychotherapeut Marc Rufer mit dem relativen Wert „evidenzbasierter Wirksamkeitsstudien“ auseinander. Placebo-Effekte und erwartete therapeutische Wirkungen könnten im Prinzip nicht auseinandergehalten werden. Anschließend beschreibt der Münchner Allgemeinarzt und Psychotherapeut Josef Zehentbauer in langer Praxis erprobte Hilfestellungen, angefangen bei naturheilkundlichen Mitteln und weniger schädlichen Psychopharmaka über Ernährungsmaßnahmen bis hin zu psychotherapeutischen Gesprächen. Volkmar Aderhold, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, gibt im vierten Kapitel eine Anleitung zur Minimaldosierung von Neuroleptika, sollten Menschen partout nicht ohne sie zurechtkommen oder sie nicht mehr vollständig absetzen können. Er listet die notwendigen Kontrolluntersuchungen auf, um Risiken in Grenzen halten und bei ersten Anzeichen sich entwickelnder Schäden rechtzeitig Konsequenzen zu ziehen. Im gemeinsamen Schlusskapitel folgen Ratschläge für MenDr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017

schen, die ihre Psychopharmaka absetzen wollen. Es gelte, sich über Entzugsprobleme zu informieren, bei längerer Einnahmezeit schrittweise vorzugehen und sich mit dem Sinn der Depression oder Psychose auseinanderzusetzen, um nicht bald in die nächste Krise zu stolpern. Bei entzugsbedingten, absolut nicht anders zu bewältigenden Schlafstörungen empfehlen die Autoren unter Abwägung des Abhängigkeitsrisikos eine zeitlich eng begrenzte Einnahme von Benzodiazepinen mit mittellanger Halbwertszeit. Wie viele Wiedereinweisungen ließen sich verhindern, würden Ärzte solche Ratschläge berücksichtigen! In einem medizinjuristischen Nachwort fordert die Oberstaatsanwältin Marina Langfeldt einen Bewusstseinswandel bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortung und zivilrechtlichen Haftung der Hersteller und Anwender von Psychopharmaka. Mein Fazit: Endlich gibt es ein kritisches und unabhängiges Buch zu den Risiken neuer Psychopharmaka und Elektroschocks. Es kommt ohne Zeigefinger daher und basiert auf reiner Faktenlage. Die Ausführungen der Autoren, die zusammen auf 150 Jahre Praxiserfahrung zurückblicken, in denen sie „Menschen (...) helfen, ernste psychische Krisen ohne den Einsatz riskanter Psychopharmaka zu bewältigen und den Weg aus den therapeutischen Sackgassen zu finden, in die sie Mainstream-Psychiater mit großem finanziellen Aufwand hineinmanövrierten“, sind so überzeugend, dass sogar Andreas Heinz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenheilkunde und Psychosomatik, in seinem Geleitwort allen psychosozial Tätigen die Lektüre dieses Buchs nahelegt. Ich kann mich der Empfehlung nur anschließen. Iris Heffmann, Berlin

Peter Lehmann Publishing, Berlin/Shrewsbury 2017, 241 Seiten, 19,95 Euro

Ein Buc h gegen Barriere n

Zwanzig kurze Biografien porträtieren behinderte Frauen und Männer vom Mittelalter bis in die Gegenwart mit unterschiedlichen körperlichen, geistigen oder psychischen Einschränkungen. Das Buch stellt zum ersten Mal die historische und bis heute wirkende Opferrolle behinderter Menschen ‚auf den Kopf‘. 2017, 174 Seiten, broschiert, € 16,95 ISBN 978-3-7799-3611-4 Auch als E-Book erhältlich

Erschütt erung der Demok ratie

Der Angriff der Antidemokraten erschüttert die Demokratie. Was sind Ziele und Methoden der neurechten Feinde der Demokratie, wer ihre Verbündeten? Und: wie können wir ihren Angriff abwehren? 2017, 224 Seiten, broschiert, € 14,95 ISBN 978-3-7799-3674-9 Auch als E-Book erhältlich www.juventa.de

JUVENTA

65


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.