Dr. med. Mabuse Nr. 247

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Nr. 246 (4/2020)

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Nr. 244 (2/2020)

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Pflege

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Komplementäre Therapien

Impfen

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Nr. 240 (4/2019)

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Editorial

Liebe Leser*innen, „der heutige Umgang mit der Kategorie Geschlecht in der Medizin ist noch sehr geprägt durch Vorstellungen, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gebildet und im Laufe des 19. Jahrhunderts verfestigt haben“, schreibt die Medizinhistorikerin Karen Nolte. Und auch die anderen Autor*innen unseres Schwerpunkts zeigen sehr eindrücklich, dass sich das (deutsche) Gesundheitssystem noch immer an Annahmen orientiert, die in vielen Bereichen längst überholt erscheinen. Dabei könnten Prävention, Diagnostik und Behandlung verbessert werden, wenn die bestehenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern konsequent mitgedacht würden – und anerkannt würde, dass es Menschen gibt, die sich in unserer zweigeschlechtlich organisierten Gesellschaftsstruktur nicht wiederfinden. Die Bedürfnisse von inter* und trans* Personen müssen in der alltäglichen medizinischen Praxis stärker berücksichtigt werden, was unter anderem mit Leitlinien der AWMF künftig erreicht werden soll.

Außerhalb des Schwerpunktes bleibt unter anderem COVID-19 ein Thema: Eine Hebamme beschreibt, wie sie den schwierigen Umgang mit dem Infektionsschutz unter der Geburt erlebt, von einem Gesundheits- und Krankenpfleger kommt die Forderung, allen Beschäftigten in der Pflege einen CoronaBonus zu zahlen. In der Rubrik „Gesundheit anderswo“ berichtet Katja Maurer von den Auswirkungen der Pandemie in Haiti, Chile und Brasilien.

Wir wünschen eine anregende Lektüre und grüßen herzlich aus der Redaktion!

Franca Zimmermann

Damaris Schlemmer

Information zur Frankfurter Buchmesse 2020: Normalerweise finden Sie an dieser Stelle eine Einladung zum Besuch unseres Standes auf der Frankfurter Buchmesse und zu unserem beliebten DonnerstagsEmpfang. Doch wir haben dieses Jahr – wie fast alle anderen Verlage – unsere Teilnahme abgesagt. Angesichts der akuten Bedrohungslage erschien uns eine Messe mit 300.000 Teilnehmer*innen, engen Gängen und Rolltreppen wirklich nicht gerade geeignet, um unsere Bücher zu präsentieren.

Alle Informationen zu unseren Neuerscheinungen finden Sie natürlich in unserem Verlagsprospekt: Ab Mitte Oktober in gedruckter Form und jetzt schon unter www.mabuse-verlag.de Es sind schwierige und unsichere Zeiten, aber wir hoffen, dass wir uns bald wieder ohne Maske und Desinfektionsspray auf Kongressen und Tagungen, von Angesicht zu Angesicht, gesund, diskutierend und lachend wiedersehen werden!

Dr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020

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Inhalt Nachruf auf Gerhard Baader ……………………………… S. 13 Peter Reeg

Corona im Norden ………………………………………………………… S. 14 Russisch Roulette im Kreißsaal

Weltweiter Austausch

S. 16

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23. Internationale Welt-AIDS-Konferenz 2020 Theresa Kresse und Peter Wiessner

Corona-Prämie für Pflegekräfte

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S. 18

Haben denn nicht alle viel mehr verdient? Santosh Mahindrakar

Zeit für Digitalisierung?…………………………………………… S. 20 Spahn will die elektronische Patientenakte voranbringen Wolfgang Wagner

„Gute Medizin braucht Können und Zuwendung“ ……………………………………………………… S. 44 Ein Interview mit Giovanni Maio Laurens Dillmann

Die forensisch-psychiatrische Pflege stärken ………………………………………………………S. 47 Forderungen für den Maßregelvollzug Michael Hechsel, Gitte Herwig, Christel Nolan, Daria Olsen, Andreas Teuschel und Andrea Trost

Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben …………………………………………………… S. 50 Zu Besuch in einer Demenz-WG Monika Herrmann

Volle Schaufenster, leere Regale

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S. 53

Digitalisierung in der Pflegepraxis Katrin Grüber und Tobias Kley

Rubriken Editorial ……………………………………………………3

Schwächung von Patientenrechten

……………

S. 56

Bundessozialgericht fingiert Genehmigungen nicht mehr Oliver Tolmein Gesundheit anderswo:

Es gibt kein Zurück …………………………………………………… S. 59

Ich lese Mabuse, weil ... ……………… 7 Nachrichten ………………………………………… 8 Cartoon ………………………………………………… 10 Buchbesprechungen

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Neuerscheinungen ……………………… 70 Zeitschriften ……………………………………… 75

Oder warum sich die Pandemie nur global bekämpfen lässt Katja Maurer

Broschüren ………………………………………… 76

Gesundheitsexperten von morgen:

Fortbildung

Palliative Notfallsituationen ………………………………… S. 62 Warum pflegende Angehörige bei familialer Sterbebegleitung den Notruf wählen Annika Gebauer

Besser reich und gesund als arm und krank ……………………………………………………… S. 82 Karin Ceballos Betancur Foto: istockphoto.com/Eskemar

Termine ………………………………………………… 77 ………………………………………

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Kleinanzeigen ………………………………… 80 Impressum ………………………………………… 81


Schwerpunkt:

Gender & Medizin Kein kleiner Unterschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 24 Warum Frauen eine andere Medizin brauchen Stefanie Schmid-Altringer und Vera Regitz-Zagrosek

Ein Prozess des Umdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 28 Zum Umgang mit Intersex und Varianten der kĂśrperlichen Geschlechtsentwicklung Katinka Schweizer

Medizinische Standards hinterfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 31 Genderorientierte Gesundheits- und Arzneimittelversorgung Gerd Glaeske

Angemessen behandelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 34 Gesundheitsversorgung von trans* und nichtbinären Menschen K* Stern

Medizin und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 37 Eine historische Perspektive Karen Nolte

Was Gendermedizin mit reproduktiven Rechten zu tun hat . . . . . . . . . . . . . . . S. 40 Vorstellung des Vereins Doctors for Choice e. V. Marion Hulverscheidt und Christiane von Rauch

Gender & Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 43 BĂźcher zum Weiterlesen


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Kirsten R. Müller-Vahl, Franjo Grotenhermen (Hg.)

Cannabis und Cannabinoide in der Medizin

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nzwischen geht es nicht mehr um die Frage, ob Cannabis medizinisch sinnvoll ist oder sich die Risiken im Verhältnis zum erwarteten Nutzen in Grenzen halten. Das hat lange gedauert. So wurde über kaum eine Medikamentengruppe so kontrovers diskutiert wie über Cannabis-basierte Medikamente. Während die BefürworterInnen auf eine Jahrtausende währende Tradition und Behandlungserfolge bei ansonsten zum Teil therapieresistenten PatientInnen verwiesen, hielten die KritikerInnen Cannabis für eine obsolete Droge, die auch im Rahmen einer ärztlichen Behandlung kaum steuerbar sei und häufig zu schwerwiegenden und persistierenden Nebenwirkungen führe. Dass jeglicher Gebrauch von Cannabis durch die Einordnung in das internationale Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel im Jahr 1961 verboten wurde, beruht nach Ansicht der Herausgeber vorwiegend auf politischen und weltanschaulichen Ansichten, nicht auf medizinischem Sachwissen. 1998 wurde der Cannabiswirkstoff Dronabinol (Tetrahydrocannabinol, THC), 2007 der Cannabisextrakt Sativex® verschreibungsfähig. Seit 2007 können PatientInnen eine Ausnahmeerlaubnis durch die Bundesopiumstelle zur Verwendung von Cannabisblüten aus der Apotheke erhalten. Seit Inkrafttreten des Cannabisgesetzes im Jahr 2017 müssen die Kosten für eine Therapie mit Cannabis-basierten Medikamenten – immer noch unter bestimmten Voraussetzungen – von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Diese gesetzlichen Änderungen haben zu einer deutlichen Zunahme der Verschreibungszahlen geführt, sodass aktuell in Deutschland schätzungsweise 50.000 PatientInnen mit Cannabis-basierten Medikamenten behandelt werden – mit weiterhin steigender Tendenz. Nun fragen sich viele, wie Cannabis richtig eingesetzt werden kann und welche (nicht unerheblichen) Formalitäten eingehalten werden müssen. In diesem praxisorientierten Fachbuch für „Health Professionals“ werden die wichtigsten Fragen beantwortet, etwa: Wann ist eine Verschreibung überhaupt erlaubt? Welche Dr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020

Indikationen bestehen? Welche Nebenwirkungen sind klinisch relevant? Welche Wechselwirkungen können auftreten? Welche Präparate sind verschreibungsfähig? Was ist sonst bei der Verschreibung zu beachten? Wie gehe ich im konkreten Einzelfall vor? Gesondert behandelt werden der Einsatz von Cannabinoiden bei Kindern und die großen Themen Abhängigkeitspotenzial, psychische Nebenwirkungen und Fahrsicherheit. Das Buch profitiert nicht nur von der langjährigen praktischen Behandlungserfahrung der HerausgeberInnen, sondern auch von ihrem Detailwissen zu nahezu allen Aspekten zum Thema „Cannabis als Medizin“, die in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren verhandelt wurden. Zudem ist es ihnen gelungen, zu vielen relevanten Spezialthemen die bekanntesten ExpertInnen, darunter ApothekerInnen, JuristInnen und GrundlagenforscherInnen aus dem deutschsprachigen Raum, zu gewinnen. So bleibt nach der Lektüre keine aktuell relevante Frage unbeantwortet. Das Buch schafft eine ausreichende Sicherheit auch in Rechtsfragen im Umgang mit einem noch immer kontrovers diskutierten Medikament. Helmut Schaaf, Bad Arolsen

mwv, Berlin 2019, 359 S., 59,95 Euro

Bettina Hitzer

Krebs fühlen Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts

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uch wenn die Therapiemöglichkeiten in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht haben, geht mit der Diagnose Krebs noch immer eine direkte Angst vor dem Tod einher. Diesem Umstand geht Bettina Hitzer in ihrem mit dem Sachpreis der Leipziger Buchmesse gekrönten Buch „Krebs fühlen“ aus historischer Perspektive nach. Am Beispiel des Gefühls der Angst macht die Autorin zunächst deutlich, dass Emotionen als historische Kategorie verstanden werden müssen. Denn Angst ist nicht gleich Angst. Zu jeder Zeit verstand man

Neu im Mabuse-Verlag

Miriam Funk

Ungewollt kinderlos – und jetzt? Ein Ratgeber zum Umgang mit unerfülltem Kinderwunsch 112 S., 16,95 Euro, 2020 ISBN 978-3-86321-446-3 Wer sich ein Kind wünscht, bekommt auch eins? Leider sieht die Realität für etwa jedes zehnte Paar und viele allein lebende Menschen in Deutschland anders aus. Ungewollte Kinderlosigkeit ist so elementar, dass sie die Menschen in ihrem Innersten trifft. Sie müssen sich ihren Wünschen und Sehnsüchten stellen, sich neuen Lebenswegen öffnen. Die Autorin hat über 60 Menschen interviewt, die aus den unterschiedlichsten Gründen ungewollt kinderlos sind.

www.mabuse-verlag.de

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darunter etwas Spezifisches, fühlte sich Angst anders an und brachte andere Implikationen mit sich. Um der Geschichte von Krebs umfassend gerecht zu werden, nähert sich Hitzer dem Untersuchungsgegenstand in vier Kapiteln von je einer anderen Seite. Zunächst steht die Erforschung von Krebs als Krankheit im Mittelpunkt. Heute gilt es als erwiesen, dass es durch die Vermittlung des Immunsystems eine Verbindung zwischen Gefühlen und dem Wachstum eines Tumors gibt. Bis zu dieser Erkenntnis war es jedoch ein langer Weg, den Hitzer am Aufstieg der Psychosomatik zur medizinischen Disziplin nachzeichnet. Im nächsten Kapitel steht das Erkennen von Krebs und damit allem voran die Entwicklung der Früherkennung im Zentrum des Interesses. Erste Früherkennungsuntersuchungen wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beworben. Dabei ging es zunächst darum, unspezifische Symptome zu erkennen und danach von einem Arzt abklären zu lassen. Später sollten dann bereits Check-ups durchgeführt werden, bevor überhaupt Symptome auftraten. Auch wenn sich die Früherkennungsuntersuchungen und die Werbung hierfür im Laufe des 20. Jahrhunderts änderten, blieb die Kernbotschaft doch dieselbe: Rechtzeitig erkannt ist Krebs heilbar. Das Kapitel „Über Krebs sprechen“ stellt die Mitteilung der Diagnose in den Mittelpunkt und widmet sich damit einem wichtigen Punkt in der Arzt-PatientenKommunikation. Die Autorin deckt hier ein heute kaum mehr vorstellbares Verhaltensmuster aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Demnach vermieden Mediziner es, im Patientengespräch konkret von Krebs zu sprechen, vielmehr umschrieben sie die Diagnose. Dies war eine paradoxe kommunikative Strategie, denn man ging vonseiten der Ärzte davon aus, dass der Patient verstand, dass er Krebs hatte. Nichtsdestotrotz sollte immer noch ein Fünkchen Ungewissheit und damit Hoffnung bleiben. Das änderte sich ab den 1970er-Jahren bis hin zur Etablierung von Patientenrechten in den 1990er-Jahren. Im letzten Kapitel wird die Geschichte der Krebstherapie fokussiert. Hitzer schildert nacheinander detailliert den Ablauf von Krebsoperationen, Bestrahlungen und Chemotherapie und geht dabei auch stark auf die Patientenperspektive ein. Dadurch

erfährt man nicht nur etwas über ärztliche Praktiken, sondern auch etwas über die Gefühlswelt der Patienten. So war bei Operationen am Anfang des 20. Jahrhunderts oftmals zu Beginn noch nicht klar, wohin sie letztendlich führten. Bei Brustkrebs wurde erst zu Beginn der OP der Tumor histologisch untersucht und wenn es Krebs war, die ganze Brust entfernt. Oftmals erfuhren die PatientInnen erst beim Verbandswechsel das ganze Ausmaß der Operation. In ihrem innovativen emotionsgeschichtlichen Ansatz beleuchtet Bettina Hitzer die Krankheit von vielen Seiten, kommt aber immer wieder auf die Frage zurück, welche Gefühle bei den PatientInnen in ihrem Alltag mit der Krebserkrankung ausgelöst wurden. Das macht das Buch nicht nur für HistorikerInnen, sondern auch für Laien oder gar Betroffene zu einer äußerst lohnenswerten Lektüre. Pierre Pfütsch, Stuttgart

Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 540 S., 28 Euro

Kathy L. Kain, Stephen J. Terrell

Bindung, Regulation und Resilienz Körperorientierte Therapie des Entwicklungstraumas

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athy Kain und Stephen Terrell sind erfahrene Traumatherapeuten und praktizieren auch „Somatic Experiencing“. Gemeinsam haben sie ein Buch über frühkindliche Traumatisierung und den Weg zur Heilung geschrieben, sowohl für die Arbeit mit Kindern als auch mit Erwachsenen. Ihr Ziel ist es, fundiertes Wissen darüber zu vermitteln, wie man Menschen über ihre Entwicklungstraumata hinweghelfen kann, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. In der ACE-Studie, in der Mitte der 1990er-Jahre Versicherungsdaten von mehr als 17.000 US-AmerikanerInnen bezüglich des Zusammenhangs von belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, kurz ACEs) und dem Gesundheitszustand im Erwachsenenalter ausgewertet wurden, konnte

nachgewiesen werden, dass frühe Traumata erschreckend weit verbreitet sind. Sie stellen eine häufige Ursache für chronische Erkrankungen und unerklärliche Symptome im Erwachsenenalter dar, weil sie zu einer grundlegenden Dysregulation in der Funktion des autonomen Nervensystems führen. Ein frühes Trauma wird häufig als Resultat chronischer Vernachlässigung oder Misshandlung durch die Bezugspersonen verstanden. Nach Ansicht von Kain und Terrell greift dies allerdings zu kurz: Komplexe Traumafolgen können genauso gut von medizinischen Verfahren, Geburtskomplikationen, katastrophalen Ereignissen oder institutionellen Versäumnissen herrühren. Das Buch lässt sich grob in drei Teile gliedern: Im ersten wird sehr anschaulich beschrieben, wie die Eckpfeiler einer gesunden Entwicklung entstehen: durch Bindung, Regulation sowie die Wahrnehmung von Geborgenheit und Sicherheit. Eine zentrale Rolle spielt hier die Regulation. In den ersten Jahren ist die Entwicklung des Kindes ausgerichtet auf eine einfühlsame und zuverlässige Co-Regulation: Der Erwachsene muss dem Kind helfen, seine Erregungszustände, seine Gefühle und sein Verhalten zu regulieren und grundlegende Bedürfnisse zu erfüllen. Hierdurch wird das grundlegende Fundament für die gesamte weitere Entwicklung des Kindes in allen Bereichen gelegt. Im zweiten Teil geht es darum, was passiert, wenn „es nicht glatt läuft“ – also wie Traumatisierungen in der frühen Kindheit entstehen, welche Auswirkungen und Langzeitfolgen sie haben und welche kompensatorischen Anpassungsmechanismen Betroffene entwickeln. Besonders viel Zeit verwenden die AutorInnen darauf, sehr sorgfältig auch die somatischen und neurophysiologischen Auswirkungen aufzuschlüsseln. Dabei beziehen sie sich vor allem auf die Polyvagaltheorie von Stephen Porges – ein ganzes Kapitel befasst sich mit den neuronalen Plattformen für Regulation und Verbundenheit und den tief greifenden Veränderungen, die hier durch Traumatisierungen in der frühen Kindheit entstehen. Im dritten Teil schließlich geht es um Vorgehensweisen bei der Arbeit mit Entwicklungstraumata. Deren Kern fassen die AutorInnen mit einem Zitat der Psychologin Ann Bigelow zusammen: „Hauptsache, man gibt ihnen das, was sie nicht bekommen haben.“ Im Dr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020


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Mittelpunkt steht eine therapeutisch unterstützte Regulation, die die Arbeit mit dem Körper einbezieht. Hierfür bieten sie eine Fülle von Gesichtspunkten und Strategien an. Kain und Terrell gelingt es in ihrem Buch, neue Erkenntnisse und neues Wissen aus unterschiedlichen Bereichen (Bindungstheorie, Polyvagaltheorie und andere neurowissenschaftliche Ansätze, Traumaforschung, Somatic Experiencing und Entwicklungspsychologie) zu einer Landkarte zusammenzufügen, die eine wertvolle Navigationshilfe für das Verständnis und die Arbeit mit frühen Traumatisierungen darstellt. Die teilweise sehr komplexen Zusammenhänge sind sorgfältig und anschaulich erklärt und werden mit Praxisbeispielen konkretisiert. Unbedingt lesen! Das Buch wird Ihre Sichtweise auf schwierige Verhaltensweisen grundlegend verändern – egal, ob Sie mit Erwachsenen, mit Kindern mit Entwicklungs- und Verhaltensproblemen oder mit Eltern-Kind-Beziehungen arbeiten. Steffi Reinders-Schmidt, www.reinders-schmidt.de

Junfermann, Paderborn 2020, 248 S., 34 Euro

Maria Beckermann

Wechseljahre – was muss ich wissen, was passt zu mir?

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iele Frauen erleben die Wechseljahre als Zeit des Übergangs und des Wandels. Die körperlichen Veränderungen sind spürbar, hinzu kommen oft emotionale Veränderungen, die Kinder ziehen aus, viele Frauen fühlen das „Empty-Nest-Syndrom“ oder den „Mütterblues“. Oft ist es auch die Lebensphase, in der Tranquilizer, Schlafmittel und Antidepressiva verordnet werden – schnelle Lösungsmittel für die Lösung von der bisherigen Lebensphase. Eine Pharmafirma „dichtete“ einst: „Keine Scheinlösung für Probleme, sondern Lösung für Scheinprobleme.“ Es gab schon immer diskriminierende Begleitkommentare gegenüber Frauen. Frauen holen sich an vielen Stellen Rat und Unterstützung, wenn es um die FraDr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020

ge geht, welche Möglichkeiten sinnvoll sind, um mit bestimmten Symptomen der Wechseljahre umzugehen – mit Hitzewallungen, depressiven Verstimmungen oder Schlafstörungen, Problemen mit der Sexualität oder anderen gesundheitlichen Beschwerden. Die Frauenärztin Maria Beckermann aus Köln kennt all dies aus ihrer langjährigen Praxis und hat daher ein Buch zu diesem Thema geschrieben. Auf 231 Seiten werden alle Themen angesprochen, die aus ihrer Erfahrung von besonderer Wichtigkeit sind und bei denen es leider auch viele dubiose Angebote gibt, die weit ab von jeder Begründbarkeit, sprich Evidenz, sind. Aber auch bei infrage kommenden Mitteln ist Vorsicht geboten: Nicht alles, was in den Praxen von GynäkologInnen verordnet wird, basiert auf guten Daten und aussagekräftigen Studien, die einen Nutzen für Frauen in den Wechseljahren zeigen. Da schafft Beckermann nun die notwendige Transparenz – sie hat selbst an entsprechenden Leitlinien mitgearbeitet und kennt die Studien und die allgemeine Literatur zu diesem Thema. Es kann daher auch nicht erstaunen, dass die Hormontherapie in den Wechseljahren nach dem umfangreichen Kapitel mit der Überschrift „Gut zu wissen, was ich selbst tun kann“ unter der Überschrift „Gut zu wissen, wie die Medizin helfen kann“ einen breiten Raum im Buch einnimmt. Dabei geht es um Nutzen und Risiken einer Hormontherapie, um die Frage, welche Hormone für die jeweilige Frau die richtigen sind, was Hormone mit Anti-Aging zu tun haben. Die Autorin räumt auch mit dem Mythos auf, dass pflanzliche Hormone aus der Yams-Wurzel als „naturidentisches Östradiol oder Progesteron“ die bessere Alternative zu den synthetisch hergestellten Wirkstoffen seien. Und es wird erläutert, wie die publizierten Zahlen und Daten zu den Risiken einer Hormontherapie verstanden werden sollten und welche unerwünschten Nebenwirkungen vor allem zu beachten sind. Neben den typischen Hormonen werden auch andere Medikamente besprochen, so Tibolon, Clonidin und Psychopharmaka. Das Buch zeigt, dass Frauen nicht weniger Informationen benötigen, sondern andere und verständliche. Insofern bietet es eine Verbraucherinnenfreundliche „Übersetzung“ entsprechender wissenschaftlicher Leitlinien an, die immer wieder von Fragen und Antwor-

Neu im Mabuse-Verlag

Annett Büttner, Pierre Pfütsch (Hrsg.)

Geschichte chirurgischer Assistenzberufe von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart 284 S., 39,95 Euro, 2020 ISBN 978-3-86321-527-9

Sylvia Wagner

Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975 243 S., 34,95 Euro, 2020 ISBN 978-3-86321-532-3

www.mabuse-verlag.de

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ten in einem gelungenen SprechblasenLayout unterbrochen wird. Beckermann hat eindrucksvoll die Fragen zusammengetragen, die für Frauen in den Wechseljahren relevant sind. Die Antworten können Frauen helfen, sich für oder gegen bestimmte Therapien oder Aktivitäten zu entscheiden. Es ist damit eine Art „Kursbuch“ für eine Lebensphase von Frauen, die auch durch ökonomische Interessen von Herstellern von Arzneiund Nahrungsergänzungsmitteln gekennzeichnet ist. Das Buch sei allen empfohlen, die mit dem Thema „Wechseljahre“ zu tun haben: den Frauen selbst, die sich unabhängigen und neutralen Rat wünschen, den Beratungsstellen, aber auch den ÄrztInnen und ApothekerInnen, die mit dem Buch ein evidenzbasiertes Kompendium über die in Frage kommenden therapeutischen Maßnahmen erhalten. Gerd Glaeske, Bremen

hogrefe, Bern 2020, 232 S., 19,95 Euro

Christina Meyer

Alkoholgenuss im Alter Konsummotive und Risikobewusstsein

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hristina Meyer hat ein interessantes Buch vorgelegt, in welchem sie ein gesellschaftliches Massenphänomen untersucht, das bisher in der Forschung vorrangig aus pathologischer Perspektive betrachtet wurde. Es soll hier aber nicht darum gehen, welche schädlichen Auswirkungen der Konsum von Alkohol – gerade auch im höheren Lebensalter – hat, sondern um die grundsätzliche Bedeutung des Alkoholgenusses aus der Perspektive älterer Menschen. Alkohol ist zwar ein Suchtmittel für den Menschen, ist jedoch auch ein Elixier, das bei vielen kulturellen Entwicklungen eine entscheidende Rolle gespielt hat. Denn wer in der Gruppe trinkt, tut dies aus Gründen der Sicherheit, das sagen uns kulturwissenschaftliche Erkenntnisse. Wir spüren diese Bedeutung bis heute, vielleicht schwingt sie auch nur fernab des Bewusstseins mit, wenn wir wichtige Er-

eignisse mit Sekt, Wein oder Schnaps begießen. Je wichtiger der Anlass, desto exklusiver das alkoholische Getränk, mit dem wir das Belohnungszentrum im Gehirn stimulieren. Seit jeher bringt Alkohol Menschen zusammen. Gemeinsames Trinken schafft Vertrauen – es signalisiert Sicherheit. Was man anbietet und selber mittrinkt, kann nicht vergiftet sein. Um sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern, hat sich Christina Meyer für ein qualitatives Forschungsdesign entschieden, das in einem mehrstufigen Vorgehen angelegt ist. Sie orientiert sich dabei vorrangig an Elementen der Grounded Theory, was einen offenen, flexiblen und unvoreingenommenen Zugang zum Forschungsfeld ermöglicht. Als erster Schritt fanden episodische Interviews mit 16 Personen statt, anhand derer eine umfangreiche Ergebnisfülle erzielt werden konnte, die in vier Hauptund zugehörigen Subkategorien präsentiert wird – gelungen ist hier vor allem auch das geschickte Anbringen von erklärenden Ankerbeispielen. Als eines der zentralen Ergebnisse ging aus den Interviews hervor, dass das Trinken von Alkohol oftmals mit einem sozialen Genuss verknüpft wird. Deswegen lag es nahe, als folgenden Forschungsschritt diesen sozialen Aspekt näher zu beleuchten. Das war in Form einer Beobachtungsstudie in Gasthäusern geplant. Dieser Schritt musste aber abgebrochen werden, da aus ethischen Gründen eine offene Beobachtung angestrebt wurde und keine Einwilligung potenzieller TeilnehmerInnen zu erhalten war. Deshalb schien es zielführend, eine Gruppendiskussion durchzuführen; befragt wurden vier Gruppen älterer Menschen, die sich regelmäßig treffen. Die Diskussionen wurden anhand der dokumentarischen Methode ausgewertet, was für die LeserInnen in der Aufbereitung und der Nachvollziehbarkeit etwas gewöhnungsbedürftig ist. Es resultieren aber neun klare Kategorien aus dieser Auswertung, die übersichtlich dargestellt werden. Um die breit angelegten Forschungsergebnisse dieser beiden Schritte zu validieren, wurde zuletzt ein ExpertInnen-Interview gewählt, in welchem vier ExpertInnen die Ergebnisse der vorangegangenen Schritte kommentierten. So ergibt sich ein umfassendes und facettenreiches Bild des Alkoholgenusses im Alter, abseits von allen schädlichen und negativen Auswirkungen. Eine Reihe

persönlicher, sozialer und gesellschaftlicher Faktoren sind mit dem Alkoholkonsum älterer Menschen verbunden. Mit der Pensionierung erhält der Alkoholkonsum eine neue Bedeutung. In Gruppen beeinflusst die soziale Einbindung – gemeint Gruppenkonformität – den individuellen Alkoholkonsum. Ältere Menschen zeigen hinsichtlich ihres Alkoholkonsums eine Ambivalenz zwischen Alkoholgenuss und Risikobewusstsein. Besonders zu würdigen ist das hohe Engagement beim Finden des Zugangs zum Forschungsfeld. Gerade bei Themen, die mit persönlicher Scham besetzt sind, ist es oftmals schwierig, eine ausreichende Anzahl an bereitwilligen Personen zu finden; dies ist hier vorbildlich gelungen. Auch die ausgesprochen kreative und umsichtige Herangehensweise an dieses Thema bereitet beim Lesen Spaß. Und natürlich sind vor allem die Ergebnisse selbst interessant und relevant, da ein soziologisch-gerontologisches Vorgehen hier einen neuen Blickwinkel öffnet, der das Phänomen des Alkoholgenusses im Alter verständlich werden lässt. Martin Pallauf, Tiroler Privatuniversität UMIT

Mabuse, Frankfurt am Main 2020, 224 S., 34,95 Euro

Antje Schrupp

Schwangerwerdenkönnen Essay über Körper, Geschlecht und Politik

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enschen unterscheiden sich darin, ob sie schwanger werden können oder nicht – und diese Unterteilung ist nicht deckungsgleich mit der Geschlechtszuordnung. Denn es gibt Frauen, die noch nicht, nicht mehr oder gar nicht schwanger werden können. Und es gibt zum Beispiel trans* Männer, denen dies möglich ist. Seit 2011 müssen sie sich in Deutschland nicht mehr sterilisieren lassen, um offiziell als männlich anerkannt zu werden. Welchen Erkenntnisgewinn bietet nun dieser Blick aufs Schwangerwerdenkönnen? Die feministisch-christliche Autorin und Bloggerin Antje Schrupp zeigt: Die Dr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020


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280 Seiten, 22, 2 00 € (D), ISBN 978-3-95803-250-7

vermeintlich banale biologische Tatsache, dass nicht alle Menschen schwanger werden können, bedeutet eine fundamentale „reproduktive Ungleichheit“. Diese Differenz wird jedoch kaum thematisiert, sondern vom Gleichheitsdiskurs verdeckt. Schwangersein lässt sich aber weder gerecht aufteilen wie die Haus- und Erziehungsarbeit noch ist es sozial verhandelbar. Die Zeugung ist noch ein egalitärer Akt – eine Person steuert Sperma bei, eine die Eizelle. Mit dem Beginn der Schwangerschaft ist es damit vorbei. Für die schwangere Person ist die Schwangerschaft eine biologische Tatsache, die sich nicht mit einer anderen Person teilen lässt, die mit körperlichen Veränderungen und gesundheitlichen Risiken einhergeht. „Was in jeder anderen Beziehung möglich ist – ‚to walk away‘, wegzugehen –, ist hier nicht möglich.“ (S. 40) Erst nach der Geburt kann die Person sich wiederum entscheiden, die Elternrolle anzunehmen oder nicht. Mutterschaft zu leben, ist eine sozial geformte Tätigkeit und nicht biologisch bestimmt. Schrupp spricht explizit da von „Frauen“ und nicht von „schwangeren Personen“, wo es um deren gesellschaftliche Wahrnehmung und Benennung als Frauen geht. Ihre Begriffe richten sich also nach dem jeweiligen Kontext und sie erhofft sich, damit freiheitlichere Narrative zu entwickeln. Denn: „Zu sagen, dass ‚Frauen schwanger werden können‘ ist genauso falsch, wie zu sagen, dass ‚Frausein und Schwangerwerdenkönnen nichts miteinander zu tun hat.‘“ (S. 26) Sie befasst sich auch mit dem Schwangerschaftsabbruch. In Deutschland ist es immer noch prinzipiell strafbar, wenn eine schwangere Person nicht gebären, sondern die Schwangerschaft beenden will.

Schwangere „werden nicht als autonome Individuen gesehen, sondern im Schwangersein fließen nach dieser Logik Weiblichkeit und Opferbereitschaft prinzipiell ineinander.“ (S. 38 f.) Die schwangere Person hat ihre Interessen gegen das „Lebensrecht“ des Embryos zurückzustellen. Eine schwangere Person und das in ihr entstehende Wesen sind jedoch „nicht eins, nicht zwei“ – ein werdender Mensch ist gleichzeitig ein Teil des Körpers der schwangeren Person. Ein Embryo ist frühestens nach 22 Schwangerschaftswochen ohne die schwangere Person lebensfähig (und auch dies nur mit hoch technisierter medizinischer Unterstützung). Wieso kann also die schwangere Person nicht selbst über dieses mit ihr verbundene Wesen entscheiden? Die bildliche Darstellung des Embryos ohne diese enge Verbundenheit mit der schwangeren Person ist auch eins der zentralen Motive von Abtreibungsgegnern. Eine solche Darstellung löscht die schwangere Person aus und tut so, als ob sie völlig irrelevant sei. Schrupp befasst sich in weiteren Kapiteln mit der heterosexuellen Matrix, die unsere Gesellschaft bestimmt, mit der (Un-)Möglichkeit sowie den biologischen Bedingungen des Schwangerwerdenkönnens. Sie schreibt über das Patriarchat als Folge der narzisstischen Kränkung des Nicht-Gebären-Könnens, die körperliche Selbstbestimmung schwangerer Menschen, Leihmutterschaft und Reproduktionsmedizin sowie schwangere Männer. Auch wenn vieles nur angerissen wird, ist ihre schwungvolle und gut verständliche Darstellung unbedingt lesenswert. In der Betonung der Biologie der Schwangerschaft geht Schrupp allerdings zu weit, wenn sie sagt, dass in einer Schwangerschaft Körperliches und So-

ziales ineinanderfalle, und etwa schreibt: „Die Beziehung der Schwangeren zu dem Wesen in ihrem Körper ist im Kern eine biologisch-materielle. Kulturtechniken, die für sozial vermittelte Beziehungen gültig sind, sind hier nicht anwendbar.“ (S. 40) Auch diese Beziehung ist aber kulturell geformt – die Medizinhistorikerin Barbara Duden hat etwa dargelegt, wie die Einführung des Ultraschalls sie fundamental verändert hat. Aktuell entstehen (zum Beispiel in Internetforen) immer neue Konventionen der Beschreibung der Beziehung zum ungeborenen Wesen, die unter anderem von der Reproduktionsmedizin geformt werden. Auch die pränatale Bindungsforschung beeinflusst diese Praktiken. Hier hätte ich mir eine differenziertere Analyse gewünscht – die Schrupp an anderer Stelle auch vornimmt, etwa wenn sie mit der Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler schreibt, dass alle unsere Zugänge zu biologischen Tatsachen bereits selbst sozial konstruiert sind. Davon unberührt fügt Antje Schrupp der Debatte über den Zusammenhang von Biologie und Geschlecht sowie über Geschlechterrollen mit ihrem Buch eine wichtige Facette hinzu. Denn dass ein Teil der Menschen schwanger werden kann und ein anderer nicht, ist eine biologische Tatsache – was wir als Gesellschaft daraus machen, liegt in unseren Händen. Es besser zu machen als bisher, dafür liefert dieses Buch wichtige Werkzeuge. Sonja Siegert, freie Journalistin, Köln

Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf 2019, 192 S., 17 Euro

Der kleine, aber relevante Unterschied Die Gesch hlechter reagieren auff Krankheiten und Medikamente off t verschieden. Lange wurde dieserr Fakt igno orier t. Zeit, dass sich das änder t. Die beide en renommierten Ärztinnen nne Proff. Vera Regitz-Zagrosek und Dr D . Stefanie Schmid-Altringer erklären anschaul cha ich, warum eine geschlechtersensible Medizin vor allem für Frauen lebenswichtig sein kann. nn. Selbst beii gleicher Krankheit sind Risikofaktoren, Symptome und das Ansprechen auf Medikamente nicht immer ide entisch. Warum ist das so? o Welche medizinischen Unterschiede lassen sich eindeutig belegen? n? Damit Pattientinnen das Wissen de er Gendermedizin aktiv einfordern n und nutzen können, erhalten sie in diesem Bu uch praktische Tipps und nd Informationen an die Hand. www. scorpi co o-verlag.de

Dr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020

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