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Editorial
Liebe Leserinnen und Leser, an vielen Stellen begegnen uns im Alltag Hinweise, was im Notfall zu tun und zu lassen ist: „Im Notfall Scheibe einschlagen“, heißt es da. Oder man wird aufgefordert, im Notfall Ruhe zu bewahren. Sicher haben wir im Laufe unseres Lebens gelernt, wie wir einen Notfall erkennen können. Doch insgesamt spielen hier viele Aspekte – und auch individuelle Einschätzungen – eine Rolle. Im Gesundheitswesen sind Notfälle und der Umgang mit ihnen ein selbstverständlicher Teil der Arbeit. Schon in der Ausbildung wird das Verhalten in kritischen Situationen gelehrt und eingeübt, medizinische Leitlinien schreiben Handlungsanweisungen fest und regelmäßige Notfallübungen und Fortbildungen sorgen dafür, dass alle Mitarbeitenden souverän agieren können. Die AutorInnen unseres Schwerpunkts wenden sich verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens zu: Es geht um die Arbeit im Rettungsdienst und die rechtlichen Bestimmungen zur Arbeit von NotfallsanitäterInnen. Thematisiert werden zudem der Umgang mit Angehörigen, Unterstützungsmöglichkeiten in psychischen Krisen sowie geburtshilfliche Notfallsituationen. Außerhalb des Schwerpunkts zeigt sich in dieser Ausgabe, wie viele Themen rund um die Pflege aktuell zur Diskussion stehen: Neben dem hausgemachten Fachkräftemangel werden etwa die Schließung der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der PhilosophischTheologischen Hochschule Vallendar (PTHV) sowie die Auflösung der Pflegekammer
Schleswig-Holstein kommentiert. Welche Chancen Community Health Nurses für die Primärversorgung bieten und ob Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Pflegereform noch vor der Bundestagswahl verabschieden kann, fragen unsere AutorInnen in weiteren Artikeln. Ulrich Fey schildert in seiner Reportage, wie Clownsbesuche im Altenheim während der Corona-Pandemie auf digitalem Weg stattfinden können. Und an die „Dreifachkatastrophe“ – Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi –, die sich 2011 in Japan ereignete, erinnert Nevin Altintop in unserer Rubrik „Gesundheit anderswo“. Ein ganz herzliches Dankeschön möchten Hermann Löffler und ich den vielen LeserInnen und WegbegleiterInnen unserer Zeitschrift aussprechen, die uns in zahlreichen E-Mails, Briefen und anderen Mitteilungen zum Jubiläumsheft Nr. 250 gratuliert haben. Einige Rückmeldungen können Sie in den Leserbriefen ab Seite 6 lesen. Ich wünsche eine anregende Lektüre und grüße herzlich aus der Redaktion!
Franca Zimmermann
Dr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021
3
Inhalt Keine Zukunft ohne Pflege ………………………………………… S. 12 Anmerkungen zur Schließung der einzigen universitären Fakultät für Pflegewissenschaft in Deutschland Karin Herrmany-Maus
Kämpfer für eine soziale Medizin ………………………… S. 14 Nachruf auf Bernard Lown Stephan Heinrich Nolte
Rubriken
Gegen die Selbstbestimmung ………………………………… S. 16 Mitglieder der Pflegeberufekammer SchleswigHolstein votieren für deren Auflösung Dorothea Sauter und Michael Mayer
Die Perspektive der Betroffenen
Editorial ……………………………………………………3
……………………………
S. 18
Glückwünsche und Leserbriefe …………………………………………… 6 Buchbesprechungen ………………… 66
Das Sächsische Psychiatriemuseum wird 20 Jahre alt Thomas R. Müller
Neuerscheinungen ……………………… 72
Fachkräftemangel ist hausgemacht ………………… S. 20
Broschüren/Materialien
…………
76
Entwicklungen in der Pflegeausbildung Gerd Dielmann
Zeitschriften ……………………………………… 78
Chance auf Veränderung …………………………………………… S. 22
Kleinanzeigen ………………………………… 80
Kommt die Pflegereform noch vor der Bundestagswahl? Wolfgang Wagner
Impressum ………………………………………… 81
Fortbildung
Patientendaten in Gefahr ………………………………………… S. 46 Warum die elektronische Patientenakte kranken Menschen kaum helfen wird Andreas Meißner
Neue Konzepte gesucht ………………………………………S. 49 Community Health Nurses als Chance für die Primärversorgung Andrea Weskamm
Keine neue Wunderdroge ………………………………………… S. 52 Vier Jahre Cannabis-basierte Arzneimittel Gerd Glaeske
Miteinander auf dem Bildschirm
………………………
S. 53
Digitale Clownsbesuche im Altenheim Ulrich Fey
Abschied vom Schleuderkurs? ……………………………… S. 56 Zur Reform des Infektionsschutzgesetzes Oliver Tolmein
Eine Frage des Geschlechts? …………………………………… S. 57 Gegner und Befürworter von COVID-19-Impfungen Viviane Scherenberg und Melanie Preuß
Medizinpädagogik ……………………………………………………… S. 60 – ein Studiengang mit Zukunft? Sabine Hubbertz-Josat Gesundheit anderswo:
Aufklärung statt Verharmlosung!
……………………
S. 63
Erinnerung an die „Dreifachkatastrophe“ von Fukushima Nevin Altintop
Besser reich und gesund als arm und krank ………………………………………………………… S. 82 Karin Ceballos Betancur Foto: www.martinglauser.ch
………………………………………
79
Schwerpunkt:
Notfälle „Da müssen wir Sie wohl mitnehmen!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 26 Soziologische Dimensionen des Notfalls Nils Ellebrecht
Blaulichtberuf Rettungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 29 NotfallsanitäterInnen im Spannungsfeld zwischen Belastungen und Beanspruchungen Gordon Heringshausen
Mehr Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 32 Gesetzesänderung erweitert Kompetenzbereich von NotfallsanitäterInnen Martin Großmann
Auch im Notfall da sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 34 Angehörige in Krisensituationen begleiten Andrea Schiff
Erste Hilfe für die Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 37 Unterstützung bei Krisen im beruflichen und privaten Umfeld Barbara Knab
„Warum ist es am Rhein so schön?“ . . . . . . . . . S. 40 Eine Geschichte aus dem ärztlichen Bereitschaftsdienst Manfred Schulz
Geburtshilfliche Notfallsituationen . . . . . . . . . . . S. 42 Herausforderung an Souveränität und Kompetenz Sven Hildebrandt
Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 45 Bücher zum Weiterlesen
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Buchbesprechungen
Olivia Dibelius, Gudrun Piechotta-Henze (Hg.)
Menschenrechtsbasierte Pflege Plädoyer für die Achtung und Anwendung von Menschenrechten in der Pflege
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ie kann man Menschenrechte in der Pflege achten und anwenden? Das ist die zentrale Frage der beiden Herausgeberinnen und Professorinnen aus Berlin. Das Fachbuch zur menschenrechtsbasierten Pflege analysiert, welche Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten sowie -verpflichtungen in Menschenrechten und Menschenwürde für die nationale und internationale pflegerische Versorgungspraxis liegen. Die Autorinnen stellen dies in drei Teilen und 19 Kapiteln vor. Dabei stehen nicht nur ethische Themen im Vordergrund: Das Spektrum reicht von Globalisierung, Arbeitsmigration und Flucht (Teil 1) über strukturelle Einbindung von Pflege im globalisierten und ökonomisierten Gesundheitssystem (Teil 2) bis zu Menschenwürde, Menschenbildern und Interaktionen in der Pflege (Teil 3). Bei der Auseinandersetzung mit den Inhalten kann man schon im ersten Teil, wenn es um Migration und Care-Arbeit geht, über den Tellerrand nationaler Pflegearbeit schauen und weiter denken. So untersucht Anne Wihstutz die Lebensverhältnisse junger Geflüchteter in Unterkünften und verhandelt ihr Recht auf Entwicklung, Versorgung, auf Teilhabe und Schutz vor Gewalt als Care-Recht. Im zweiten Teil sind die neun Beiträge sehr weit gefasst: von rechtlich-ethischen Aspekten in der Altenpflege über die schwierige ökonomische Situation im Gesundheitswesen bis zu Personal- und Ausbildungsfragen. Der zweite Teil endet mit einem Beitrag zu Digitalisierung und Partizipation. Deutlich wird in diesen Diskussionen: Menschenrechtsbasierte Pflege lässt sich nicht von menschenwürdigen Arbeitsbedingungen trennen. Dies wird im dritten Teil thematisiert, da Pflege meist in einem Umfeld stattfindet, in dem die eigenen Rechte auf einen würdigen Arbeitsplatz aktuell häufig nicht umgesetzt werden können. Eine menschenrechtsbasierte Pflege ist immer eine intensive Arbeit, wenn nicht nur die Würde, sondern auch
die Förderung der Selbstständigkeit, die Sicherung und Teilhabe, die Wahrung der körperlichen Integrität und Selbstbestimmung von KlientInnen einbezogen werden sollen. Wie funktioniert das bei gleichzeitigen knappen Ressourcen, zum Beispiel beim Personal? Ohne dass die Pflege diese beiden Aspekte selbst in den Mittelpunkt ihrer Entwicklung stellt, ist keine wirkliche Veränderung in Richtung menschenrechtsbasierter Pflege möglich. Obwohl Pflege als unverzichtbar für Politik und Gesellschaft gilt, verschärft sich die Situation von Pflegenden und zu Pflegenden weiterhin. Die Folgen zeigen sich verdeckt oder offen in menschenrechtswidrigen und -unwürdigen Arbeits- und Versorgungsbedingungen. In einem ökonomisierten Gesundheitssystem ist das allerdings nicht allein das Problem der Pflege, sondern das aller Beteiligten. Umso wichtiger ist es, diese Themen in die gemeinsamen Debatten einzubringen. Da mangelt es im Buch leider etwas an zukunftsgewandten Ideen zur Lösung oder einer lösungsorientierten Ausrichtung der Diskussion. Es bietet aber eine wichtige und breite Grundlage zur konstruktiven Neuorientierung und Erweiterung des Diskurses. Einerseits ist es nicht immer ganz einfach, den roten Faden zu behalten, da die Themenpalette sehr breit gefasst ist. Andererseits ist die Auseinandersetzung mit neuen Sichtweisen anregend. Für alle, die sich mit ethischen Themen und Professionalisierung in der Pflege befassen, eine sehr wichtige Lektüre. Sabine Kalkhoff, Hamburg
Hogrefe, Bern 2020, 288 S., 34,95 Euro
Martin Marianowicz
Die Gesundheitslüge Risiken und Nebenwirkungen eines kranken Systems
B
ei der Sache mit der „Lüge“ ist es so: Man unterstellt damit irgendwem, so ungefähr das Gegenteil dessen zu erzählen, was tatsächlich der Fall ist, und verspricht indirekt, die Wahrheit zu enthüllen. Was heißt dann „Gesundheits“lüge? Martin Marianowicz, selbst klassischer Orthopäde und bekannter OP-Kritiker, meint damit die Behauptung, unser Gesundheitssystem zähle zu den besten der Welt. Genau das treffe erstens nicht zu, zweitens könnten es alle wissen und drittens wissen es die meisten auch. Insofern ist diese Behauptung eine Lüge. Dabei geht es nicht um Schönheitsfehler, sondern um strukturelle: Einerseits sind viele medizinische Interventionen hierzulande nicht nur überflüssig, nutzlos und kostenträchtig, viele sind sogar schädlich. Das beginnt bei den künstlichen Gelenken, mit denen nirgends ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung herumläuft wie in Deutschland. Doch auch Mandeln, Blinddarm und Gebärmutter werden hierzulande erheblich häufiger entfernt als in anderen europäischen Ländern. Und während man bei uns 405 von 100.000 Personen Jahr für Jahr einen HerzStent setzt, sind es in Spanien nur 126, nicht einmal ein Drittel. Dafür liegt Spanien in Sachen Lebenserwartung auf Platz 1 in Europa, wir dagegen auf Platz 17. Gleichzeitig wird hier technisch so viel diagnostiziert wie nirgends sonst. PatientInnen hilft das oft genug wenig, manchmal schadet es sogar; einzig die Geräte amortisieren sich. All das wurde schon vielfach kritisiert. Marianowicz fasst es aber gut zusammen, liefert schöne Zahlen und Abbildungen und das Buch liest sich gut. Darüber hinaus kritisiert er Abrechnungssysteme, undurchsichtige Verbindungen und die Lobbys des Gesundheitswesens, von Krankenhausgesellschaften über Pharmaindustrie bis Medizintechnik. Er geißelt die Verwaltungskosten der gesetzlichen Krankenkassen, ignoriert allerdings, dass die privaten pro Kopf erheblich mehr Verwaltungsgeld brauchen. Er plädiert für weniger Geräte und mehr Digitalisierung (braucht die keine Geräte?). Und er fordert, mehr abzuwarten und mehr vorzuDr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021
Buchbesprechungen
Gräfe und Unzer, München 2020, 192 S., 19,99 Euro
Dr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021
Verena Brunschweiger
Die Childfree-Rebellion
www.familiendynamik.de
Warum „zu radikal“ gerade radikal genug ist 46. Jahrrgang a Heft 2 | 2021 2
n Familien dy dynamik k
DOI 10.21706 6/fd-46-2
S
ave the earth, don’t give birth“ – für diesen Schlachtruf sei Deutschland nicht bereit, empört sich Verena Brunschweiger. Als einsame Ruferin in der Wüste prangert sie den Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und Klimakrise an, der doch offensichtlich und gut belegt sei – und dennoch weithin ausgeblendet werde. Ihr neues Buch liefert eine Fülle von Argumenten, reagiert aber vor allem auf die gesellschaftliche Wahrnehmung ihres 2019 erschienenen Manifestes „Kinderfrei statt kinderlos“. Gleich auf den ersten Seiten nimmt die Autorin uns mit in das Lehrerzimmer ihres Gymnasiums, dessen frostige Atmosphäre nach ihrer Publikation ebenso spürbar wird wie ihre emotional aufgeladene Verfolgung im Internet. Dagegen setzt sie Fakten aus vertrauenswürdigen Quellen und Zitate von Philosophen, Wissenschaftlern, Publizisten etc. – interessanterweise fast alle männlich. Rasch taucht das Thema des pronatalistischen Narrativs im Sinne einer durchgängig positiven Bewertung menschlicher Reproduktion auf. An vielen Beispielen wird offenbar, wie das idealisierte Wünschen, Bekommen und Haben von Kindern weite Bereiche unseres gesellschaftlichen Handelns und Wahrnehmens bestimmen, fast schon eine „Staatsreligion“ darstellen. Besonders kritisch erscheinen in dieser Hinsicht die passenden konservativen bis rechtspopulistischen Interessen und die verbreitete Blindheit gegenüber diesem Zusammenspiel. Angesichts der zentralen Bedeutung von Überbevölkerung für die Erderwärmung wettert Brunschweiger gegen die Irreführungen vermeintlich umweltbewussten Konsums („nachhaltige Biobaumwolle für Kinderpopos“), anstatt sich der Option Verzicht auf eigene Kinder und damit dem Vermeiden weiterer Konsumenten ernsthaft zu stellen. Sie holt beeindruckend weit aus bei der Aufzählung feministischer, sozialer, psychologischer, politischer, ökonomischer und philosophischer Gründe für Lebensentwürfe ohne eigenen Nachwuchs zugunsten des Klimas. So seien Frauen (aber auch Männer) ohne Kinder tendenziell glücklicher, frei-
Systemische Praxis a
und Forschungg
Herrausgegeben von Ulrike Borst und Christina Hunger-Schoppe
Abschiede ʟ ÜBER-SICHTEN Therapieende – wie Abschied nehmen? h ?
| IM FOKUS
Abschiednehmen aus systemischer Perspektive Beendigung g von Paartherapien mit i älteren Paaren Verlust durch Tod eines engen Familienmitglieds Bilanz therapeutischer Arbeit
A u s g a b e 2 / 2 0 21
beugen. Zu Recht. Warum passiert das nicht? Es wird zu schlecht bezahlt, sagt Marianowicz – und fordert mehr Geld dafür. Schließlich beklagt er, frei nach der neoliberalen Bertelsmann-Studie von 2019, es gebe in Deutschland viel zu viele Krankenhausbetten. Zum Schluss stellt er 15 Punkte zur „Genesung“ des Gesundheitssystems vor. Da geht es um politische Fragen der Organisation von Gesamtsteuerung bis zu einem nationalen Präventionsplan, die Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung, verpflichtende Begleitforschung und digitale Patientenakten. Er schlägt vor, dass es Rechnungen für alle gibt, die man dann einsehen kann. Und er meint, eine einzige gesetzliche Krankenkasse reiche aus, allerdings nicht „Eine für alle“; denn die Zweiklassenmedizin rührt er nicht an. Das lässt durchaus Fragen offen, genau wie der Punkt „drastisch weniger Krankenhausbetten“: Hielt doch das System der Corona-Pandemie auch deshalb stand, weil wir so viele Betten hatten. Drei wichtige Gesundheitsbereiche lässt Marianowicz außen vor, ein klares Manko in einem Buch über das System an sich: psychische Krankheiten, das öffentliche Gesundheitswesen und Infektionen oder Pandemien. Doch vorn im Buch klebt ein kleines Zusatz-Heftchen: „Nach Corona ist vor Corona“. So erwartet man dort ein paar Worte zu „vor Corona“ im Sinne von „vor der nächsten Pandemie“. Doch Marianowicz bekräftigt dort nur: Die aufgezeigten Probleme sind nicht vorbei, wenn Corona vorbei ist. Was ja auch noch nicht der Fall ist. Dr. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin in München, https://barbara-knab.de
ʟ SEITEN-BLICKE Systemische Schreibtherapie Ambivalenzen spüren
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Buchbesprechungen
er, erfolgreicher und interessanter. Für Rente und soziale Absicherung bedürfe es keines Bevölkerungswachstums, und nicht zuletzt werde jedem neu geborenen Wesen ohne sein Zutun aus narzisstischen Beweggründen seiner Eltern ein tendenziell leidvolles Leben inmitten einer zunehmend beschädigten Welt aufgezwungen. Diese Ansätze stoßen vor allem in Deutschland auf Diskriminierung und Widerstände, welche in einer Vielfalt persönlicher Beobachtungen und Fakten illustriert werden. Insgesamt geht es der Autorin mit ihrem Plädoyer für individuelle Kinderfreiheit unmissverständlich um einen persönlichen verantwortungsvollen Beitrag für eine lebenswerte und langfristig existierende (Um-)Welt. Ungerechtfertigt ist es sicher, ihr Misanthropie zu unterstellen. Schade ist aber, wie sehr sie ihre eigene Opferrolle teils polemisch, teils mit emotionalen Appellen und unterschiedlich gut belegten Behauptungen unter die eigentlich gut strukturierten Kapitelüberschriften vermischt. Insofern ist ihrem Wunsch nach offener und kritischer Auseinandersetzung uneingeschränkt zuzustimmen. Dr. Alice Nennecke, Hamburg
Bilder, die den Blick aufs eigene Leben weiten Dieses Kartenset mit 90 Bildkarten lädt ein zu einem ressourcenorientierten Blick auf die eigene Biografie. Damit können die Schätze des Lebens (wieder-)entdeckt und gewürdigt werden: vergangene Erfahrungen, erlebte Geschichten, soziale Beziehungen, Übergänge und gelungene Neubeginne. Durch die Rückschau ermutigt, wird es leichter, das gegenwärtige Leben zu verstehen und die nächsten Schritte zu gestalten. Die Karten eignen sich sowohl für die Einzel- als auch Gruppenarbeit mit Erwachsenen in den unterschiedlichsten Feldern der Beratungsund Bildungsarbeit und zur Selbstreflexion.
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Susanne Hölzl / Birgit Lattschar (Hrsg.) 90 Impulskarten mit einem ausführlichen Booklet Format: 13,3 x 17,1 x 3,2 cm € 29,95; Bestell-Nr. 590455
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Die Verhaltensanalyse Schritt für Schritt zum individuellen Störungsmodell. Mit Leitfaden und ätiopathogenetischer Tabelle
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sther Bockwyt hat ihr (Übungs-)Buch zum grundlegenden diagnostischen Verfahren der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) stark überarbeitet und beschreibt das konkrete Vorgehen der Verhaltensanalyse sehr praxisnah und leitfadenorientiert. Auf wenigen Seiten werden zunächst der theoretische Hintergrund und wesent-
liche Begriffe komprimiert erläutert. Die Verhaltensanalyse gilt als „Kernelement“ der KVT, da sich aus der präzisen Beschreibung der Symptomatik und der Ressourcen, der Funktions- und Bedingungsanalyse die Behandlungsziele und die Interventionen ableiten. Sie besteht aus Problemanalyse (Was ist das Problem?), Situationsanalyse (In welcher Situation tritt das Verhalten auf?), Verhaltensanalyse (Welche Reaktionen treten auf?), Bedingungsanalyse (Was geht dem Verhalten voraus bzw. folgt ihm?) und Funktionsanalyse (Wozu dient das Verhalten?). Gemeinsamkeiten, etwa mit der Planund Schemaanalyse werden skizziert. Die klassische Mikroanalyse mittels S-O-RK-C-Schema bezieht sich bekanntermaßen auf eine umschriebene, beobachtbare (und gegenwärtige) Situation. Heute werde eher gefragt, in welcher Lebenssituation ein Mensch eine psychische Störung entwickelt – wie auf der Mikroebene geht es um kurz- und langfristige Konsequenzen sowie Organismusvariablen. Bei allen PatientInnen sind solchermaßen ihre Lerngeschichten und ihre aktuellen Lebensbedingungen einzubeziehen, wenn wir erklären wollen, weshalb sich gerade in einer ganz bestimmten Lebenssituation genau diese Störung entwickelt hat. Bedeutsam können zudem Ressourcen/ Verhaltensaktiva, Bewältigungsfähigkeiten, ungestörte Verhaltensbereiche und das subjektive Krankheitsverständnis sein. Im Anschluss an grundsätzliche Überlegungen zur Entstehung psychischer Störungen wird eine „ätiopathogenetische Tabelle“ vorgestellt, die aus entwicklungspsychologischer Perspektive und unter Brückenschlag zu psychodynamischen und schematherapeutischen Konzepten „Entstehungspfade“ nach übergeordneten Kategorien wie zum Beispiel Vernachlässigung/Missbrauch oder Zwang/Autonomiebehinderung zu unterscheiden versucht. Ausführliche und anschaulich formulierte Fallbeispiele werden exemplarisch vorgestellt, um das verhaltensanalytische Vorgehen auch praktisch einüben zu können. Anzuerkennen sind unter anderem die durchweg hohe Güte des psychischen (psychopathologischen) Befunds, die klare Gliederung und das – sieht man von der seitenweise doch recht kleinen Schriftgröße ab – nutzerfreundliche Layout. Insbesondere die ätiopathogenetische Tabelle erweist sich – nach erstem „FremDr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021
Buchbesprechungen
deln“ mit der „komplexitätsreduzierenden Kategorisierung“ – als sehr hilfreich in der Erstellung des gutachterlichen Berichts. Zu Recht hebt die Autorin hervor, diese könne auch generell von Nutzen für das psychotherapeutische Arbeiten sein, indem sie zu einem tieferen Verständnis psychischer Erkrankungen anrege. Hasso Klimitz, Potsdam
Schattauer, Stuttgart 2020, 224 S., 35 Euro
Helmut Schaaf
Hilfe bei Schwindel Gleichgewichtsstörungen erkennen und verstehen
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un hat also auch der Schwindel Einzug in die Mabuse-Welt gefunden, diesmal selbst bestellt für das 14. Buch in der Reihe „Erste Hilfe“. Gewonnen werden konnte dabei ein Autor, der sich seit vielen Jahren mit den organischen und psychosomatischen Grundlagen des Schwindels beschäftigt, begonnen aus eigenem Erleben einer Innenohr-Erkrankung und inzwischen professionell als Leiter einer neurootologisch-psychosomatischen Gleichgewichtsambulanz in der Mitte Deutschlands. Aus diesem Erleben und Verständnis heraus schildert er zunächst, was für die Abwesenheit von Schwindel notwendig ist, nämlich ein funktionierendes Gleichgewichtssystem. Das ist nicht gerade wenig, ebenso wie es vielfältige Möglichkeiten gibt, das Gleichgewicht durcheinanderzubringen, sei es auf der organischen, psychischen oder gesellschaftlichen Ebene. „Nirgendwo wird so viel geschwindelt wie beim Schwindel“ lautet eine hausärztliche „Weisheit“ – und sie stimmt, wenn man den Ursprung des Wortes Schwindel hinzuzieht. So wird der Begriff Schwindel benutzt für das – meist passiv erlebte – Gefühl des Schwankens, der Unsicherheit und des Taumelns hinsichtlich des Körpererlebens und des Schwindens der Sinne. Es wird aber auch benutzt hinDr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021
sichtlich des aktiven Erzählens der Unwahrheit. So ergeben sich schon aus der Etymologie drei verschiedene Bedeutungen, wie Lamparter 1995 dies beschrieben hat: erstens ein körperlicher Vorgang, zweitens ein gefühlhaftes Erleben und drittens ein sozialer Tatbestand, zum Beispiel des Betrügens. So ist „der Schwindel“ nach „dem Schmerz“ eines der häufigsten Krankheitssymptome. Dennoch ist das Wissen um Diagnostik und Behandlung doch beschränkt, oder vielleicht besser gesagt, es liegt bei den jeweiligen Behandlern nur bruchstückhaft und jeweils „abgespalten“ vor. Integrierte Ansätze sind selten und scheinen paradoxerweise wenigen Spezialisten überlassen zu sein. Für die gängigen Gesundheitsstrukturen jedenfalls scheint es schwer zu sein, Klarheit und Struktur bei diesem Krankheitssymptom herzustellen. Dies liegt wohl auch daran, dass es in seiner ganzen Komplexität sicher ernsthaft von niemandem alleine beherrscht werden kann. Hilfreich ist es dann, sich selbst so schlau wie möglich zu machen. Dazu zählt ganz sicher zu wissen, dass gut 30 % aller Schwindelformen psychogen zu verstehen sind. Zumindest weisen 30 bis 50 % der an Schwindel Leidenden eine relevante psychogene Mitbeteiligung auf. Patienten mit psychogen verursachtem Schwindel sind meist stärker beeinträchtigt als Patienten mit organischem Schwindel. Aber auch bei einer primär organischen Erkrankung entscheidet der sich oft entwickelnde reaktive psychogene Schwindelanteil über den weiteren Verlauf bis hin zu Fragen der partiellen oder kompletten Berufsunfähigkeit. Gerade wegen dieser Berücksichtigung organischer und psychosomatischer Anteile des Schwindels kann man das Buch, das speziell für das Verstehen und Umsetzen beim Patienten geschrieben ist, empfehlen. So werden nach einer grundlegenden Einführung mit zahlreichen Abbildungen die verschiedenen Krankheitsbilder mit Symptomen, Diagnostik und Therapie verständlich erklärt. Das
beinhaltet unter anderem, dass kein Satz mehr als zwei Zeilen einnimmt. In aller Regel werden medizinische Begriffe und Sachverhalte möglichst „auf Deutsch“ beschrieben. Dabei nimmt auch der psychosomatische und – manchmal zutreffender – der somato-physische Schwindel ausreichend Raum ein. Darüber hinaus wird erklärt, welche Medikamente im Anfall hilfreich sein können und welche (danach) nicht. So liegen die Verbesserungspotenziale in aller Regel nicht im „mehr Medikament“, sondern in der Aufgabe der Vermeidung und Aufnahme von Aktivitäten, weswegen im Buch auch praktische Gleichgewichtsübungen beschrieben werden. Insgesamt ein gelungenes, gut verständliches Buch zu einem komplexen Thema, dass nicht nur für Ärzte, sondern auch für Psychotherapeuten hilfreich ist und aufgrund seiner Ansprache an den Patienten die Chance hat, auch von Betroffenen verstanden und genutzt zu werden. Detlef Kranz, Mülheim an der Ruhr
Mabuse, Frankfurt am Main 2021, 134 S., 16,95 Euro
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Buchbesprechungen
Lehren und Lernen in den Gesundheitswissenschaften Ein Praxishandbuch
I
Neuerscheinung im Mabuse-Verlag
n den vergangenen zwei Jahrzehnten sind in Deutschland über 600 Studiengänge in den Gesundheitswissenschaften entstanden. Ebenso divers wie die Studienangebote ist die Studierendenschaft im Hinblick auf Vorerfahrung und vorherige Abschlüsse, aber auch in Bezug auf Fähigkeiten, Herkunft und Beeinträchtigungen. Nicht zuletzt kommen auch die Lehrenden aus unterschiedlichen Disziplinen. Die HerausgeberInnen wollen mit dem vorliegenden Buch neuen Dozierenden den Weg in die Lehre erleichtern sowie erfahrene KollegInnen zur Reflexion anregen und ihnen frischen Input geben. Die meisten AutorInnen verfügen über langjährige Lehrerfahrung. Bemerkenswert und innovativ ist jedoch, dass auch Studierende ihre Perspektive zu diesem Band beigetragen haben. Es geht dabei nicht um intuitives Befinden, sondern um Bedarfe und Bedürfnisse, die in einer Befragung erhoben wurden. Damit agieren die Studierenden auf akademischem Niveau und tragen auf Augenhöhe mit den Lehrenden zum Buch und zur Entwicklung der Lehre in den Gesundheitswissenschaften bei.
Im Einführungskapitel werden grundsätzliche Überlegungen zur akademischen Verortung der Gesundheitswissenschaften und den AdressatInnen präsentiert. Daran schließen Kapitel zu Diversität, zur Barrierefreiheit in der Lehre, den Rollen von Lehrenden und Lernenden und den zu erwerbenden Kompetenzen an. Besonders das Kapitel zu barrierefreier Lehre würde ich gerne Handbüchern zur Didaktik in allen gesundheitsbezogenen Fächern zur Übernahme empfehlen. Kapitel 4 (Lehrveranstaltungen planen und didaktisch umsetzen) und 6 (Veranstaltungsformate in gesundheitswissenschaftlicher Lehre: Vorlesung, Seminar und Tutorien) dürften das stärkste Interesse bei NeueinsteigerInnen in die Lehre wecken. Hier werden lehrpraxisnahe Einführungen und Hinweise gegeben. Da wir alle derzeit pandemiebedingt vor neuen didaktischen Herausforderungen stehen, können diese Abschnitte auch erfahrenen Lehrenden Denkanstöße geben, Online- und hybride Lehre innovativ und an den Studierenden orientiert zu gestalten. Das fünfte Kapitel demonstriert, wie Studierende an das wissenschaftliche Arbeiten herangeführt werden können, und das Schlusskapitel befasst sich mit Evaluation und Qualitätsentwicklung. Erfreulicherweise ist hier auch ein kurzer historischer Rückblick enthalten. Auch in diesen Kapiteln orientieren sich die AutorInnen konsequent an den Voraus-
setzungen und Bedürfnissen der Studierenden. In einem gelegentlich selbstreferenziellen Hochschulsystem ist allein dieser Ansatz ein möglicher Auslöser für nachhaltige Reflexion. In seinen grundsätzlichen Ausführungen ist der Band ein hervorragendes und für den Einstieg ausreichendes Handbuch. Um in die einzelnen Methoden wirklich einzusteigen, ist weiterführende Literatur, auf die reichlich verwiesen wird, notwendig. Hervorzuheben ist die hervorragende Lesbarkeit. Insgesamt ein Praxishandbuch, das zur Vereinheitlichung der Lehrstandards in den Gesundheitswissenschaften beitragen wird, aber auch eine Bereicherung für benachbarte und verwandte Disziplinen ist. Dr. Anja Katharina Peters, Hochschule Neubrandenburg
Hogrefe, Bern 2020, 208 S., 39,95 Euro
Christina Kuhn, Anja Rutenkröger, Magdalena Czolnowska
Oma Luise und die Schmetterlinge Ein Kinderfachbuch über Demenz 58 Seiten, 16,95 Euro ISBN 978-3-86321-453-1 Mit ihrer Oma erlebt Karla lustige Geschichten. Aber oft erzählt Oma Luise, dass sie Schmetterlinge im Kopf hat, die einen Namen oder eine Geschichte davontragen. Deswegen macht Oma statt Salz Zucker in die Suppe. Die Bildergeschichte erklärt Kindern in leicht verständlichen Worten die Krankheit Demenz. Zudem animieren Fragen, die direkt an die Kinder gestellt werden, zum interaktiven Vorlesen. Der anschließende Fachteil gibt Hintergrundinformationen zum Krankheitsbild. Für Kinder ab 4 Jahren
www.mabuse-verlag.de
Ansgar Gerhardus, Petra Kolip u. a. (Hg.)
Dr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021