Dr. med. Mabuse Nr. 256

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Nr. 255 (1/2022)

Nr. 254 (6/2021)

Nr. 253 (5/2021)

Psychiatrie

Ambulante Pflege

Zwang

außerdem: Diskussion um Achtsamkeit • Zwei Jahre mit COVID-19 • Kommentar zur Pflegekammer • Krankenpflege im Südsudan

außerdem: Ein Defizit auf Dauer: In Heimen fehlen Ärzte • Kommunikation im Krankenhaus • Depressionen bei Pflegeheimbewohnern

außerdem: Es geht um Macht. Vernachlässigte Frauengesundheit • Schwanger als trans* Mann • AlzheimerForschung – Opium fürs Volk?

Nr. 252 (4/2021) Klima & Gesundheit

Nr. 251 (3/2021)

außerdem: Pränatale Prävention • Empathie in der Pflege. Das Projekt empCARE • Zehn Jahre AMNOG – eine Erfolgsgeschichte ?

außerdem: Risiken der elektronischen Patientenakte • Community Health Nursing als Chance • Cannabis-basierte Arzneimittel

Notfälle

Bezugsbedingungen für unsere Abos: Dr. med. Mabuse erscheint viermal im Jahr. Die Jahres- und Schüler:innen-/Student:innen-Abos verlängern sich um ein Jahr, falls sie nicht mit Erhalt der vierten Ausgabe gekündigt werden. Geschenkabos laufen automatisch aus. Für das Schüler:innen-/Student:innenAbo ist bei Abschluss des Abos ein entsprechender Nachweis vorzulegen. Für den Versand ins Ausland fallen Portokosten in Höhe von 6 Euro pro Jahr an.

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, es bleibt zu hoffen, dass eine diplomatische Lösung für den Krieg in der Ukraine gefunden sein wird, wenn Sie diese Ausgabe in den Händen halten. Doch während dieses Editorial geschrieben wird, sind noch immer Kampfhandlungen im Gange, sind Tausende Menschen auf der Flucht und viele Bürger:innen weltweit in Angst vor einer möglichen Ausweitung des Krieges. Da sich die Lage tagtäglich ändert, werden Sie keine Beiträge in dieser Ausgabe finden, die sich konkret mit dem aktuellen Geschehen in der Ukraine auseinandersetzen. Oliver Tolmein beschäftigt sich in seinem Beitrag gleichwohl mit der Situation der Geflüchteten und der sogenannten EU „Massenzustrom-Richtlinie“, die nun erstmals seit ihrem Bestehen zur Anwendung kommt. Zudem möchten wir Sie auf die besondere Situation einer psychiatrischen Klinik in der Westukraine aufmerksam machen und um Spenden bitten – alle Informationen und Hintergründe dazu finden Sie auf den Seiten 10/11. Sich mit Ausbildung und Studium im Gesundheitswesen zu befassen, mag gerade nicht die höchste Priorität haben – doch klar ist: Ohne ausreichend fachlich geschultes Personal können keine Patient:innen versorgt werden. Und das ist ein Problem, das unter dem Stichwort „Pflegenotstand“ seit Jahrzehnten diskutiert wird. Mit einer Reform der Pflegeausbildung hat der Gesetzgeber versucht, die Ausbildung – nun zur Pflegefachfrau bzw. zum Pflegefachmann – attraktiver zu gestalten und an die aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen anzupassen. Für unseren Schwerpunkt haben wir verschiedene Menschen nach ihren Erfahrungen

mit der neuen generalistischen Ausbildung gefragt – Kritik und Verbesserungsvorschläge gibt es durchaus. Daneben befassen sich die Autor:innen auch mit der akademischen Ausbildung im Gesundheitswesen. Sie zeigen etwa verschiedene Wege zum Hebammenberuf, die große Bedeutung interprofessionellen Lernens oder die Auswirkungen der Reform der Psychotherapeutenausbildung auf. Einige spannende Fortbildungen in unterschiedlichen Bereichen werden ebenso vorgestellt. Außerhalb des Schwerpunkts lesen Sie unter anderem Artikel, die sich mit der aktuellen Gesundheitspolitik befassen: Welche Dauerbaustellen muss Gesundheitsminister Lauterbach in Angriff nehmen? Wie ist die Lage in der Altenpflege nach zwei Jahren Pandemie? Wieso werden medizinische Einrichtungen im ambulanten Bereich zunehmend zu Investitionsmöglichkeiten für private Anleger? Und welche gesetzlichen Rahmenbedingungen verhindern, dass schwangere Frauen Vorsorgeuntersuchungen sowohl bei Hebammen als auch bei Ärzt:innen in Anspruch nehmen? Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und grüße herzlich aus der Redaktion!

Franca Zimmermann

Wir unterstützen die Initiative des International Council of Nurses (ICN) und deren ICN Humanitarian Fund. Spenden sind möglich unter www.shop.icn.ch/collections/donations/ products/icn-humanitarian-fund

Dr. med. Mabuse 256 · 2. Quartal 2022

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Inhalt 10 Spendenaufruf für eine psychiatri-

sche Klinik in der Ukraine Hartmut Berger und Hermann Löffler 14 Der Europäische Pflegerat Hintergründe und Ziele Astrid Barrera 18 Altenpflege in Schieflage

Zur Situation nach zwei Jahren Pandemie | Sabine Kalkhoff 20 Wie geht’s weiter? Dauerbaustellen des deutschen Gesundheitswesens beschäftigen die Politik | Wolfgang Wagner 66 Herausforderung angenommen! Assistiertes Schreiben als Form der Selbstartikulation Peter Wißmann 70 Psychotherapie für Geflüchtete? Ansprüche durch die „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU Oliver Tolmein 72 Dem Krebs sind Himbeeren egal Komplementäre Methoden bei Krebserkrankungen | Kirsten Achtelik 75 Gewinnabsichten statt Gemein-

nützigkeit Eigentumsstrukturen im ambulanten Bereich | Jochen Dahm-Daphi und Kai-Uwe Helmers 80 Ein Schicksal zwischen

den Stühlen Der Pädiater Berthold Epstein (1890 – 1962) | Stephan Heinrich Nolte und Vera Trnka 84 Psychologen statt Ärzte? Folgen grundlegender Veränderungen in der Psychiatrie | Dirk K. Wolter 86 Von der Reflexion zur Qualitäts-

entwicklung Die Good Practice-Kriterien des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit Jennifer Hartl und Marion Amler 89 Gemeinsam unterwegs zum

Wohl der Schwangeren? Interprofessionelle Schwangerenvorsorge durch Hebammen und Ärzt:innen | Dagmar Hertle und Nikolaus Schmitt

Pflegefachpersonen im Ausbildungszentrum. Foto: www.martinglauser.ch

Gesundheit global:

93 Die medizinische Situation

in Nordostsyrien Eindrücke einer Reise | Birgit KochDallendörfer und Simon Becker 96 Sozialpharmazie – für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst Esther Luhmann 114 Besser reich und gesund

Rubriken 03

Editorial

07

Nachrichten

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Neues aus dem Mabuse-Verlag

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Bitte zur Anamnese

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Buchbesprechungen

102 Neuerscheinungen 107 Broschüren/Materialien

als arm und krank

108 Zeitschriften

Jörg Stanko

109 Termine 111

Fortbildungen/Stellen

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Fortbildungen/Kleinanzeigen

113 Impressum Dr. med. Mabuse 256 · 2. Quartal 2022


Schwerpunkt:

Ausbildung & Studium 52 Viele Wege zum Beruf 24 Alles besser mit der Generalistik? Eindrücke aus der Praxis

29 Mit- statt nebeneinander lernen Die Zusammenarbeit auf interprofessionellen Ausbildungsstationen üben | Mira Mette

32 Auf Kosten der Pflegebedürftigen Finanzierung der generalistischen Pflegeausbildung | Stefan Block

35 Mit beiden Beinen im Berufsleben

38 Einen gelungenen Start ermöglichen Bedeutung von Aus- und Weiterbildung rund um das Stillen Elien Rouw

41 Coolout verstehen – in Widersprüchen denken lernen Karin Kersting

46 Praxisanleitung in Therapieberufen – ein Erfahrungsbericht Renate Feldtkeller und Ute Sonnenkemper

und trotzdem noch studieren? (Weiter-)Entwicklung interprofessioneller Kompetenzen in Gesundheitsfachberufen Eva-Maria Beck Dr. med. Mabuse 256 · 2. Quartal 2022

49 Die Augenhöhe fehlt Was die deutsche Pflegewissenschaft klein hält Sandra Bensch

Erfahrungen aus der Hebammenausbildung

56 Transkulturelle Kompetenz ist gefragt Weiterbildung für eine gelingende betriebliche Integration | Lars Arendt, Eckhard Geitz und Tatiana Graf

60 Reform der Psychotherapeutenausbildung – die Unvollendete | Dietrich Munz

63 Droht die Einheitstherapie? Zur Ausbildungsreform in der Psychotherapie | Ilka Quindeau 65 Ausbildung & Studium Bücher zum Weiterlesen


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Spendenaufruf

Die psychiatrische Klinik in Iwano-Frankiwsk. Alle Fotos: privat

Spendenaufruf für eine psychiatrische Klinik in der Ukraine Hartmut Berger und Hermann Löffler

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ach monatelangen Drohungen und einem gigantischen Truppenaufmarsch an der Grenze überfiel die russische Regierung unter Wladimir Putin das Nachbarland Ukraine. Was er spätestens seit 2020 klar skizziert hatte, wollten allzu viele von uns nicht glauben. Viele, die ihn ernst nahmen, wurden in der hiesigen Öffentlichkeit als Kriegstreiber oder Rechte diffamiert, und selbst als Putins Truppen die ersten Häuser und Kliniken zerstört hatten, war allerseits zu hören und zu lesen, man solle „der Diplomatie eine Chance geben und die Gesprächskanäle offenhalten“. Mittlerweile sind nicht nur Mariupol in Schutt und Asche gelegt worden und Millionen Menschen auf der Flucht, sondern laut WHO auch 62 Einrichtungen des Gesundheitswesens militärisch angegriffen worden (Stand 22.3.2022).

nen Stadt Iwano-Frankiwsk leben derzeit mehrere Tausend Binnenflüchtlinge mit zum Teil schweren Traumatisierungen. Raketenangriffe in der Region verschärfen die Situation tagtäglich. Die dortige psychiatrische Universitätsklinik behandelt deshalb vor allem kriegstraumatisierte Patient:innen und organisiert zusätzlich medizinische Hilfsgüter, die von Ehrenamtlichen unter Lebensgefahr in die Kriegsgebiete transportiert werden. Das Engagement der Menschen zu gegenseitiger Unterstützung und zur Verteidigung des eigenen Landes ist außerordentlich und wird auch an einer Straßenszene deutlich. Einer der Freiwilligen berichtete folgende Szene: „Wir waren dabei, Molotowcocktails zur Verteidigung herzustellen, als ein Obdachloser dazukam und Pfandflaschen, die er gesammelt hatte, als Spende zur Verfügung stellte.“

Lage im Westen des Landes Der Überfall Russlands auf die Ukraine fordert zunehmend Opfer und ein unermessliches menschliches Leid. In der im Westen des Landes gelege-

Kooperation mit der psychiatrischen Klinik In Friedenszeiten versorgt die Klinik mit 311 Betten die Stadt Iwano-Frankiwsk und den zugehöDr. med. Mabuse 256 · 2. Quartal 2022


Spendenaufruf

Historische Hintergründe Einige fragmentarische Stichpunkte der leidvollen Geschichte der Ukraine und der russischen Militäraktionen in der Vergangenheit, die helfen können, um das Grauen etwas besser zu begreifen und den mutigen Abwehrkampf der Ukrainer zu verstehen: 1932 – 34: Holodomor (ukrainisch für Tötung durch Hunger): Gewollt von Stalin und auch durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft verhungerten schätzungsweise fünf Millionen Menschen. Der Ärztliche Leiter der Klinik Prof. Dr. Mikhaylo Pustoyot (li.). Mitarbeiter der Klinik und Ehrenamtliche bringen Hilfsgüter und Spenden in die Kriegsgebiete (re.).

rigen Landkreis mit 1,4 Millionen Einwohner:innen. Ärztlicher Leiter der Klinik ist Prof. Dr. Mikhaylo Pustoyot. Er hat seine Ausbildung zum Teil in Deutschland absolviert und ist seit 2010 Partner einer deutsch-ukrainischen Kooperation zur Verbesserung und Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in der Ukraine. Diese Zusammenarbeit wurde von deutschen Sozialpsychiater:innen um Prof. Hartmut Berger aus Frankfurt am Main ins Leben gerufen und bis zum Beginn des Krieges in der Donbass-Region vom Bundesgesundheitsministerium finanziert. Seitdem wird die Arbeit ehrenamtlich fortgesetzt. Mit der psychiatrischen Klinik besteht eine enge Kooperation auf verschiedenen Ebenen: Zweimal im Jahr finden gemeinsame Weiterbildungsveranstaltungen statt, zu denen Psychiater:innen aus Deutschland und Europa eingeladen werden. Zudem werden Hospitationen in deutschen Kliniken vermittelt. Es bestehen weiterhin gemeinsame Forschungsprojekte, u. a. zu Traumafolgestörungen und zur Psychoedukation von Menschen mit schizophrenen Störungen und ihren Angehörigen. Es wurden Kooperationen mit Stiftungen vermittelt, die Inventar und medizinische Ausrüstung für die Klinik zur Verfügung stellten. Die derzeit für die Kriegsopfer erforderlichen Ressourcen übersteigen die bisherige Unterstützung bei Weitem, weshalb Geldspenden dringend notwendig sind, die es der Klinik ermöglichen, Hilfsgüter zu erwerben. Die Mabuse-Redaktion hat bereits eine Summe überwiesen und bittet alle Leser:innen großzügig für die psychiatrische Klinik in der Ukraine auf folgendes Konto von Hartmut Berger, der die Gelder weiterleitet, zu spenden: Dr. med. Mabuse 256 · 2. Quartal 2022

IBAN: DE70 5096 1206 0301 2290 44 BIC: GENODE51 RBU Raiffeisenbank Ried e. G. Stichwort: Ukrainehilfe

Kritik am sowjetischen Regime Auch in Russland protestieren viele Menschen gegen den Überfall auf die Ukraine, was Tausende von Verhaftungen nach sich zieht. Diese reihen sich ein in die jahrzehntelange brutale Unterdrückung politischer Kritiker:innen des Regimes in der Sowjetunion. Zu ihnen gehört auch Semyon Gluzman (* 1946), Menschenrechtsaktivist und Exekutivsekretär der Vereinigung der Psychiater der Ukraine, der 1972 vom sowjetischen Geheimdienst inhaftiert und zehn Jahre im Arbeitslager interniert wurde. Ein zentraler Vorwurf gegen ihn war, er habe Informationen über den politischen Missbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke („antisowjetische Propaganda“) verbreitet. Das ins Deutsche übersetzte Buch von Semyon Gluzman erschien 2020 in unserem Verlag und enthält seine Memoiren sowie Texte aus seiner Zeit im Gulag. Alle Erlöse aus dem Verkauf des Buches werden wir ab sofort an das o. g. Spendenkonto überweisen. Semyon Gluzman: Angst und Freiheit. Vom Überleben eines ukrainischen Psychiaters im Gulag. 242 Seiten, ISBN 978-3-86321-432-6 Bestellbar unter https://kurzelinks.de/ 202432

1939: Nazi-Deutschland überfällt Polen und teilt sich das Land mit der Sowjetunion Stalins. 1941–45: Nazi-Deutschland überfällt die Sowjetunion. Die Soldaten werden von der ukrainischen Bevölkerung nicht selten freudig als Befreier von der stalinistischen Herrschaft empfangen. Ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung, auch psychisch Kranke in den Kliniken, fällt dem Nazi-Terror zum Opfer. 29./30.9.1941: In der Schlucht von Babyn Jar bei Kiew geschieht das größte Einzel-Massaker an Juden: 33 000 Männer, Frauen und Kinder werden innerhalb von 48 Stunden ermordet. Während einerseits Teile der ukrainischen Bevölkerung bei den Partisanen und in der Sowjetarmee für die Befreiung ihres Landes von der Nazi-Herrschaft kämpften, gab es andererseits auch Freiwillige, die sich den Nazi-Truppen anschlossen, um gegen die Sowjetunion und für eine unabhängige Ukraine zu kämpfen. Bis Anfang der 1950erJahre wurde der Kampf in Partisanen-Einheiten fortgesetzt. 1999: Im zweiten Tschetschenien-Krieg zerstört Russland unter Putin die Hauptstadt Grosny – ohne Rücksicht auf zivile Ziele. 2015: Die syrische Stadt Aleppo erleidet unter russischen Luftangriffen das gleiche Schicksal, kein Krankenhaus bleibt unbeschädigt. 24.2.2022: Putin ordnet „spezielle militärische Aktionen“ an, um die Ukraine „vom Nazismus zu befreien“. 2.3.2022: Bei einem russischen Raketenangriff auf Kiew wird die Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar beschädigt. 18.3.2022: Putin benutzt in Bezug auf seinen Krieg gegen die Ukraine das Wort „Endlösung“. 21.3.2022: Der 96-jährige Boris Romantschenko, einer der letzten Holocaust-Überlebenden, wird bei einem russischen Raketenangriff in Charkow ermordet.

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Buchbesprechungen

Stefanie Schniering

Sorge und Sorgekonflikte in der ambulanten Pflege Eine empirisch begründete Theorie der Zerrissenheit

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ich selbst wertschätzen und gleichzeitig Sorgearbeit leisten zu können, das ist nach meiner Erfahrung die Basis für Zufriedenheit in der Pflegetätigkeit. Die hier vorliegende Promotionsarbeit setzt sich speziell mit den Herausforderungen und Bedingungen der ambulanten beruflichen Pflege auseinander. Die Idee der Fürsorge und der schützenden Selbstsorge werden intensiv und mit vielen praktischen Einblicken erarbeitet. Die aus dem täglichen Leben in der Pflege entstehenden Sorgekonflikte werden ausgesprochen praxisnah beschrieben und theoretisch beleuchtet. In markanten Kernaussagen werden Probleme aufgezeigt: „Dennoch ist Sorgearbeit, egal ob im Privaten oder als Beruf zumeist unsichtbar und wenig wertgeschätzt.“ (S. 95) Mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurde auch in der Pflege älterer Menschen der kommerzielle Gedanke verstärkt einbezogen. Der Text beschreibt punktgenau die zentralen Probleme, die daraus entstehen: „Den prägenden Einfluss der Marktlogiken auf die ambulante Pflege verdeutlicht der Blick in das Arbeitsfeld: An isolierten Verrichtungen ausgerichtete Arbeitsaufträge in Arbeitsteilung von Pflegefachpersonen und Pflegehelfer*innen, niedrige Löhne, hoher Teilzeitanteil und Schicht- und Teildienste dominieren. Der Frauenanteil ist in der ambulanten Pflege sogar noch höher als in anderen Pflegesettings.“ (S. 64) Frau Schniering setzt sich intensiv mit dem Spannungsfeld zwischen den notwendigen Sorgeherausforderungen und der Ökonomisierung der Pflegearbeit auseinander. „Die hier beklagte Standardisierung setzt Kalkulierbarkeit von Handlungen voraus. [...] In der zunehmenden Kontrolle und umfassenden Rationalisierung der Pflegearbeit nach Maßgabe zeitlicher Effizienzkriterien zeigt sich die Tendenz, Prinzipien des Taylorismus aus der Industriearbeit zu importieren. [...] Gesetzliche Vorgaben und sachfremde Interessen sind für die Pflege heute bestimmender als originär pflegerische Themen.“

(S.274) Beeindruckend scharf werden die Probleme hier erfasst. In einer ungewöhnlich tiefen und qualitativ spannenden Literaturrecherche werden viele Ideen zum Thema aufgegriffen und speziell auf das Thema der ambulanten Pflege ausgerichtet. Gerade dieser ambulante Ansatz ist in der Fachliteratur eher selten und bekommt über diese Arbeit ein angemessenes Gewicht. „Fürsorge, Autonomie der zu pflegenden Menschen und Selbstsorge der Pflegenden bilden damit moralische Prinzipien, die in der Pflege gleichwertig zum Tragen kommen müssen.“ (S.19) Das kann als Zusammenfassung der Idee erfasst werden. In einer breit angelegten Befragung über episodische Interviews von beruflich Pflegenden und einem intensiven Dialog zur Sorgearbeit werden nun einzelne Felder genauer analysiert und bewertet. Die Idee der „Zerrissenheit“ bei der Arbeit oder die Theorie der „Resonanz“ (H. Rosa) bieten eine beeindruckende Basis für den Umgang mit Sorgekonflikten in der Pflegearbeit. Die „Zerrissenheit“ wird präzise erfasst: „Pflegende sind fortwährend gefordert, sich bewusst oder unbewusst zwischen Fürsorge, Selbstsorge und Gerechtigkeit zu positionieren. Als zentral [...] hat sich die Zerrissenheit Pflegender in der beruflichen Pflegebeziehung zwischen persönlichem Involviertsein und Verdinglichung herausgestellt.“ (S. 172) Verdinglichung als Schutz, als Selbstsorge – ein in der Praxis realer Ansatz, bedenkt man die Situation im häuslichen Umfeld der pflegebedürftigen Menschen, die Einflussnahme der persönlichen, meist familiären Pflegepersonen sowie die extrem engen Leistungsbeschreibungen in den Pflegeverträgen. „Die zu pflegenden Menschen richten vielfältige Erwartungen an die Pflegenden.“ (S. 243) Da werden möglichst kostengünstige Leistungspakete „eingekauft“ und dann in der Praxis weit mehr an Leistung erwartet. Die abstrakte Logik einer „kleinen Morgentoilette“ in der Abgrenzung von eventuell notwendigen umfangreicheren Pflegemaßnahmen stellen Tag für Tag für die Pflegekräfte eine große Herausforderung dar. „Das enorme Maß an emotionaler Beteiligung, das zu pflegende Menschen von Pflegenden einfordern, zeigt sich in Äußerungen wie du bist meine allerbeste Mama, die an die Pflegenden adressiert werden und Ausdruck der en-

gen Bindung aber auch der enormen Verantwortungsübertragung von zu pflegenden Menschen auf Pflegende sind.“ (S. 243) Im Schlussabschnitt der Arbeit geht die Autorin umfassend auf Forderungen an die Politik, die Kassen und „uns alle“ ein. „Eine Auflösung der Zerrissenheit Pflegender kann [...] nur auf systemischer und gesellschaftlicher Ebene langfristig gelingen, indem Verhältnisse geschaffen werden, die pflegende und zu pflegende Menschen anerkennen und damit auch ihre wechselseitige Anerkennung nachhaltig ermöglichen. Individuelle Lösungsversuche der Anerkennungsvergessenheit, das zeigen die Ergebnisse dieser Studie, sind dagegen nicht dauerhaft erfolgreich.“ (S. 269) Sie positioniert die Idee von Primary Nursing und dem im Quartier verankerten Buurtzorg-Modell und empfiehlt eindringlich, dass Pflegenden substanzielle Entscheidungskompetenzen überlassen werden. Die beschriebenen „Schutzreaktionen“ der Pflegenden im Selbstsorgekonflikt sind kurzfristig für die Betroffenen eine Lösung, langfristig jedoch eine untragbare Last, die mit der Aufgabe des Berufes und der eigenen Ideale sowie psychischen Belastungen einhergehen. Ich bin beeindruckt von der Komplexität der bearbeiteten Ideen und praktischen Bezüge dieser Promotionsarbeit. Manche Texte muss ich mehrfach lesen und durchdenken. Manche Aussagen und Theorien haben mich neugierig auf vertiefende Texte gemacht. Auf jeden Fall hat Frau Schniering mich auf eine abenteuerliche Reise durch die Herausforderungen der ambulanten Pflege mitgenommen. Das Ergebnis ist eine tolle Grundlage für den politischen Dialog auf allen Ebenen und für die eigene Reflektion der Pflegearbeit in der ambulanten Unterstützungsarbeit. Stefan Block, Bremen

Nomos, Baden-Baden 2021, 317 S., 64 Euro

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Buchbesprechungen

Marita Metz-Becker

Drei Generationen Hebammenalltag Wandel der Gebärkultur in Deutschland

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rztinnen und Ärzte sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass bei einer Geburt eine Hebamme zugezogen wird“ – so heißt es im § 4 Abs. 3 des deutschen Hebammengesetzes. Damit soll gewährleistet werden, dass in Deutschland keine Frau ihr Kind ohne die Hilfe einer Hebamme bekommen muss. Die Aufgaben der Hebammen, nämlich die Begleitung von Frauen während der Schwangerschaft und der Geburt sowie die Nachsorge bei Mutter und Kind, haben eine lange Tradition, veränderten sich jedoch auch immer mit wechselnden Rahmenbedingungen. Marita Metz-Becker betrachtet diese Veränderungen vor einem ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Hintergrund. Anhand von 30 narrativen Interviews mit Hebammen (25), Müttern (3) und Expert:innen (2) arbeitet sie heraus, wie sich die Arbeit seit den 1960er-Jahren in Westdeutschland verändert hat. Ziel der Analyse ist es, einen Einblick in die persönlichen Erfahrungen der Befragten zu bekommen und diese kontextuell zu verorten. Die Interviews wurden zum einen Teil in den Jahren 2015/2016 von Studierenden der Ethnologie und zum anderen Teil 2018 von ihr selbst geführt. Das Buch beginnt zunächst mit einem Kapitel zur Geschichte des Hebammenberufs im 19. Jahrhundert; ein Kapitel zum Hebammenberuf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließt sich an. Die weiteren Kapitel thematisieren die Erfahrungen der Befragten. Zwei weitere Kapitel, nämlich die Diskussion um die sichere Geburt sowie verbandspolitische Forderungen, greifen aktuellere Diskurse zu den Rahmenbedingungen auf. Im Epilog fasst die Autorin ihre Analyseergebnisse zusammen. Die ältesten der befragten Hebammen sind Ende der 1920er-Jahre geboren, die jüngsten Befragten in den 1990er-Jahren. Das Buch deckt die Erfahrungen seit den 1960er-Jahren ab. Wie im Titel des Buches erkennbar, handelt es sich hier um die Veränderungen des Berufs von drei Generationen. Während in den 1950er-Jahren Dr. med. Mabuse 256 · 2. Quartal 2022

die Hausgeburt der Normalfall war, verlagerte sich die Geburt in den 1960er-Jahren zunehmend in die Krankenhäuser. Nachdem Ende der 1960er-Jahre die Krankenkassen in Westdeutschland die Kosten für Krankenhausgeburten übernahmen, wurde die Klinikgeburt zum Normalfall, zunehmend standen jetzt auch technische Hilfsmittel im Vordergrund. Die Hausgeburt wurde zur Ausnahme und geriet erst in den 1980er-Jahren wieder in den Blick. Die Veränderungen in der Berufsarbeit über die Jahrzehnte zeigen sich in den Interviews sehr deutlich. Zum Teil äußern sich die Frauen kritisch zu den Arbeitsbedingungen. Gerade auch die lange im Beruf tätigen Befragten sind stolz auf ihr Expertinnenwissen und berichten, wie sie darunter litten, nach dem Wechsel ins Krankenhaus nicht mehr selbstständig arbeiten zu können. Die im Krankenhaus übliche gleichzeitige Versorgung mehrerer Frauen wird ebenso problematisiert wie die Ausbildung angehender Hebammen, die die Praxis unter eher schlechten Ausbildungsbedingungen erleben. Das Buch ist gut strukturiert und es macht auch Freude, es einfach beliebig aufzuschlagen und zu schmökern. Die Aussagen der Interviewten bilden in langen Auszügen das Gerüst des Buches, die Widersprüche, die Probleme, die Erfolge der befragten Frauen werden dadurch gut nachvollziehbar. Der Anhang liefert weitere Details zu den befragten Frauen. Schade ist, dass die Studierenden, die immerhin 14 der Interviews durchgeführt und transkribiert haben, nicht namentlich im Anhang genannt sind. Das Buch eignet sich hervorragend für die Lehre zur Hebammengeschichte, kann aber auch allen anderen Interessierten empfohlen werden. Nicht zuletzt regt es geschichtlich Forschende der Gesundheitsberufe dazu an, Erfahrungen von Berufsangehörigen stärker zu berücksichtigen. Mathilde Hackmann, Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie, Hamburg

Mathias Jung Hundeliebe Vom Kopf bis zur Pfote Der Mensch führt eine Art Weltkrieg gegen Tiere. Er massakriert sie in den Schlachthöfen. Aber er liebt sie auch. Darum geht es in diesem Büchlein: Um die Liebe zu unseren Seelengefährten auf vier Pfoten. Frauen, Männer und Kinder berichten über Treue, Zärtlichkeit und Trauer im Leben und Sterben ihres unvergesslichen Hundes. Dankbar erkennen sie, was sie von ihm lernten. 176 Seiten, 12,80 Euro ISBN 978-3-89189-231-2

Psychosozial, Gießen 2021, 291 S., 34,90 Euro

www.emu-verlag.de

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Buchbesprechungen

Hendrik Streeck

Unser Immunsystem Wie es Bakterien, Viren & Co. abwehrt und wie wir es stärken

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eit Corona beschäftigen sich mit Krankheitserregern und deren Bekämpfungen nicht nur Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen, sondern zwangsläufig fast alle: Viren, Spike-Proteine, Antikörper, Inzidenzen, R-Werte, RNA-Impfstoffe, die STIKO und das RKI sind in aller Munde. Da ist es folgerichtig, ein Buch für die Öffentlichkeit zu schreiben, welches das Immunsystem, das ubiquitäre Organ ohne festen Sitz im Körper, in verständlicher, geradezu einfacher Sprache beschreibt. Eingebettet wird dies geschickt in eine fiktive Rahmenerzählung, in der der junge Medizinstudent den Mitbewohnern seiner WG das Immunsystem erklärt. Nicht nur das Immunsystem, sondern auch die gesamte Mikrobiologie wird in etwas saloppen Ton, mit zum Teil drastischen Beispielen, erläutert. Wichtige Botschaft ist die Komplexität der gesamten Mikroökologie, das Zusammenspiel von Erregern und Immunsystem für eine erfolgreiche Symbiose, für das Wohlergehen des ganzen Organismus. Nicht allein ein Erreger, sondern ein gestörtes Gleichgewicht macht die Krankheit, ein weiteres Bekenntnis zum zurückhaltenden Einsatz nicht nur von Antibiotika, sondern auch von Seifen und Desinfektionsmitteln – heute geradezu ein Tabubruch. Das Kapitel zu Corona ist von einer erfrischenden Unaufgeregtheit und entspricht dem, was Hendrik Streeck in den Medien äußert: Wir werden und können mit dem Virus leben. SARS-CoV-2 ist ein normaler, für die meisten Menschen ungefährlicher saisonaler Erreger von Atemwegserkrankungen. Hendrik Streeck, aus den Medien gut bekannt, ist der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Nach einem Studium in Berlin und Bonn war er Postdoc Fellow an der Harvard Medical School, Assistant Professor am Massachusetts General Hospital der Harvard Medical School und leitete eine Abteilung im US Military HIV Research Program. 2015 folgte er einem Ruf nach Essen, wo er den Lehrstuhl für medizinische Biologie übernahm und im selben Jahr das Institut für HIV-Forschung gründete. Im August 2020 wurde Streeck in die COVID-

19 Expert Group der InterAcademy Partnership (IAP) gewählt. Dass es der vielgefragte und -beschäftigte Experte geschafft hat, in diesen Zeiten das Buch nicht nur allgemeinverständlich zu schreiben, sondern eigenhändig noch mit vielen launiglustigen Illustrationen zu versehen, wird auch an der im Nachwort kurz erwähnten Co-Autorin Heike Wolter gelegen haben. Manche Überschriften sind sehr schlagwortartig, manche Formulierungen sind etwas drastisch und reißerisch, aber das Ergebnis, komplexe Zusammenhänge einfach und beispielhaft zu erklären, ist gelungen. Ich selbst hatte schon während meines Studiums Mühe, das Immunsystem auch nur annähernd zu verstehen und ein gutes Lehrbuch der Immunologie zu finden. Seitdem hat sich das Wissen exponentiell vermehrt. So konnte ich dann aus diesem einfachen, schlicht illustrierten Büchlein auch noch etwas lernen; es sei durchaus nicht nur Laien, sondern allen Heilberufen, auch Medizinstudent:innen, als gut lesbare Einführung anempfohlen. Dr. Stephan Heinrich Nolte, Marburg

Piper, München 2021, 224 S., 22 Euro

Astrid Habiba Kreszmeier

Natur-Dialoge Der sympoietische Ansatz in Therapie, Beratung und Pädagogik

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ach „Systemische Naturtherapie“ ist das nun vorgelegte Buch bereits die zweite Publikation von Astrid Habiba Kreszmeier in der Reihe „Systemische Therapie und Beratung“. Mit dem sympoietischen oder auch natur-dialogischen Ansatz unternimmt sie eine erweiterte Neuordnung der fachlichen Grundlegung langjähriger naturtherapeutischer Praxis und Weiterbildung. Das Buch plädiert dafür, den gesamten Lebenskontext von Menschen in das the-

rapeutische Wirken einzubeziehen, das heißt, sie in ihrer konkreten Verortung zu sehen und die Aufmerksamkeit auch auf all das zu lenken, was sie umgibt. Entsprechend gilt es in Therapie und Beratung, forschend, fragend, intervenierend zu handeln und neue Perspektiven zu erschließen. Das vorgestellte Modell prägt dafür die drei Oberbegriffe Erdverbindung, Erinnerungspraxis und Resonanzkultur. Sie werden im Zusammenhang mit der sympoietischen Grundidee anschaulich ausgeführt und mit Praxisbeispielen sowie Auszügen aus Fallgeschichten angereichert (Kap. 4–6). Einleitend loten die ersten drei Kapitel mit der Skizzierung des eigenen Arbeitsansatzes wesentliche systemische Begriffe aus und stellen Bezüge zu umweltverbundenen und politisch-soziologischen Argumentationen her. Das siebte Kapitel gibt über Interviews Einblick in das Wirken von Kolleg:innen. Mit dem Begriff der Sympoiese wird gegenwärtig das Verhältnis von System und Umwelt oder Mensch und Kontext neu gewichtet und ausgefüllt. Schon immer haben systemische Herangehensweisen nach den Möglichkeiten der Gestaltung förderlicher Umgebungen für die Selbstorganisationskräfte (Autopoiesis) gesucht. Doch verschiebt Kreszmeier den Fokus nun zu einer wechselseitigen Wahrnehmung und Wirklichkeitserschaffung, wobei sie ausdrücklich auch nicht-menschliche Akteur:innen und menschengemachte Dinge einbezieht. Damit erfährt der Kontextbezug eine gewichtige Aufwertung und Umdeutung innerhalb systemischer Therapie, Beratung und Pädagogik. Zugleich wird der systemische Anteil des naturtherapeutischen Arbeitsansatzes prägnant herausgearbeitet. Das Buch ist auch als Angebot zu lesen, den Arbeitsansatz über die therapeutischberatende Praxis hinaus für weitere Anwendungsbereiche anschlussfähig zu machen, etwa in der Bildung oder im Bereich gemeinschaftlich-gesellschaftlicher Gestaltungsinitiativen. Die Interdisziplinarität, die systemische Naturtherapie und Beratung ohnehin auszeichnet, wird somit unter dem Label „sympoietisch“ oder „natur-dialogisch“ deutlicher. Die Anknüpfung an den Zeitgeist und Publikationen aus unterschiedlichen Fächern trägt dazu bei, eine positive Vision gelingenden Lebens im Kontakt mit der mehr-als-menschlichen Natur wie auch der von Menschen gemachten Welt zu entDr. med. Mabuse 256 · 2. Quartal 2022


Buchbesprechungen

werfen. Durch den Rekurs auf jüngere anthropologische Arbeiten einerseits und langjährige Praxiserfahrung in Seminaren und Beratungen anderseits werden grundlegende menschliche Ressourcen benannt wie etwa Liebe, Fürsorge, Kooperation. „Natur-Dialoge“ schreibt damit ein positives Menschenbild in die systemische Therapie, Beratung und Pädagogik ein. Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass fachliche Gedankenstränge und Bezüge zu Inspirationsquellen und Freund:innen im Geiste durchgängig mit praxis- und lebensbezogenen Beschreibungen verwoben sind. Es vermittelt anschaulich und verständlich, was in einer solchen Therapie und Beratung geschieht, die die Menschen für einige Zeit in ein DraußenLeben führt, und was die therapeutische Praxis leitet. So wird der Arbeitsansatz im Detail greifbar, gerade auch für ein breites Publikum. Die aufwendige Gestaltung des Buches mit Illustrationen, farblich hervorgehobenen Erfahrungsberichten und Übungsanleitungen sowie Stimmen von Klient:innen lädt zum Blättern, Lesen und Verweilen ein. Alles in allem: ein gelungenes Fach-Lesebuch! Dr. Bettina Grote, Systemische Prozessgestaltung, Berlin

Carl-Auer, Heidelberg 2021, 269 S., 34,95 Euro

Sabine Ursula Nover, Birgit Panke-Kochinke (Hg.)

Qualitative Pflegeforschung Eigensinn, Morphologie und Gegenstandsangemessenheit

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as zentrale Ziel der Pflegeforschung ist die Schaffung handlungsleitenden Wissens für die Pflegepraxis, für bestmögliche Entscheidungen in der individuellen Ausrichtung der Pflege. Für die forschenden Wissenschaftler:innen ist der Prozess der Forschung, vor allem der der qualitatiDr. med. Mabuse 256 · 2. Quartal 2022

ven Forschung, wie ein Wagnis oder eine Reise, bei der nicht genau klar ist, was alles passieren wird und das Ergebnis nicht von vornherein feststehen kann. Das vorliegende Buch enthält dementsprechend sehr viele spannende und authentische Forschungs-(Reise)berichte. Folgende Fragen bilden den roten Faden für die facettenreichen Beiträge: Was ist der Gegenstand einer qualitativ ausgerichteten Pflegeforschung? Welche Methoden sind geeignet, um den Gegenstand der Forschung passgenau zu erschließen? Welche methodologischen Fragen und Probleme ergeben sich? Wie ergeht es Forschenden im Feld der Pflege? Darf man über Verunsicherungen und Fehler sprechen? Wie lassen sich durch qualitative Forschung positive Veränderungen in der Praxis erreichen? Eine Theorieentwicklung zu unterstützen, die eine hinreichende empirische Grundlage aufweist und dabei diskussionsfähig bleibt, sei das zentrale mit dem Buch verbundene Interesse, erklären die Herausgeberinnen in der Einführung. Das erste Kapitel beginnt mit Grundlagen qualitativer Pflegeforschungen. Im zweiten und beitragsreichsten Kapitel berichten Forschende über ihre konkreten Erfahrungen in der Praxis. Im dritten Kapitel liegt der Schwerpunkt auf der Methodologie und auf Forschungsprogrammen. Das letzte Kapitel ist eine inhaltliche Zusammenfassung der beiden Herausgeberinnen. Die inhaltlich vielfältigen Beiträge sind nicht nur wegen der unterschiedlichen Autor:innen und ihrer verschiedenen Perspektiven abwechslungsreich. Im Zentrum steht dabei nicht die theoretische Auseinandersetzung mit Forschungsansätzen und -methoden, sondern die Auseinandersetzung mit den beteiligten Menschen, den Forschenden und Erforschten. Im zweiten Kapitel geht es in zwei beeindruckenden Beiträgen um die Verstrickungen der Forschenden in den Forschungsprozess und ihren Umgang damit. Birgit Panke-Kochinke beschreibt in ihrem Beitrag „Der Subjektivität einen Raum geben“ die Widersprüche und Konflikte zwischen der eigenen Perspektive und der Realität. Sie nutzt ein Forschungs- bzw. Feldtagebuch, um sich über ihre eigene Beteiligung am Forschungsprozess klarer zu werden und die eigene Perspektive kritisch hinterfragen zu können. Dies setzt ihrer Meinung nach, die Bereitschaft vo-

raus, sich mit den eigenen Schwächen kritisch auseinanderzusetzen. Eine in der Forschung nicht unbedingt geübte Tugend, merkt sie an. Partizipative Forschung wird in mehreren Beiträgen thematisiert. Dieser Forschungsstil kann durch die aktive Beteiligung der Beforschten zu deren Selbstbefähigung und Ermächtigung (Empowerment) führen. Sie werden praktisch zu Co-Forscher:innen. In dem Beitrag „Partizipative Forschung praxisnah und exemplarisch“ wird zudem deutlich, wie wichtig Wertschätzung gegenüber den Beteiligten ist. Beteiligung, Prozessorientierung, Offenheit und Kreativität kennzeichnen die vorgestellten partizipativen Forschungsprozesse, die auch viel Potenzial für partnerschaftliche Forschungen zu Themen wie Migration und Gender bieten. Das komplexe Zusammenspiel zwischen Forschungsthemen, verwendeten Methoden, beteiligten Personen und situativen Rahmenbedingungen in den Forschungsbeiträgen machen sie zu einem lebendigen Werk über qualitative Pflegeforschung. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Beiträge nicht unnötig überfrachtet und in einer verständlichen Sprache verfasst sind. Albert Einstein sagte: „If you can’t explain it simply, you don’t understand it well enough.“ Die Autor:innen scheinen ihre Forschung gut zu verstehen und tragen damit zum gemeinsamen Verständnis bei. Den Herausgeberinnen kann man zu diesem fundierten, anregenden Buch gratulieren. Alle Leser:innen mit Interesse zu Pflegeforschungsthemen werden diesem spannenden und vielfältigen Forschungsfeld durch die Lektüre dieses Buches näherkommen. Sabine Kalkhoff, Hamburg

Nomos, Baden-Baden 2021, 438 S., 94 Euro

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