Dr. med. Mabuse Nr. 257

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Nr. 257 · Ausgabe 3/2022 · 47. Jahrgang · D 6424 F · 13 Euro · www.mabuse-verlag.de

Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe

Schwerpunkt

Sterben, Tod, Trauer

Leben mit „kaputtem Akku“ Biografien von Menschen mit ME/CFS und Long Covid Großer Bedarf, wenig Ressourcen Folgen des Ukraine-Krieges für die psychiatrische Versorgung Gewagter Fortschritt Neue Regeln für reproduktive Selbstbestimmung und Leihmutterschaft Scheitern ist keine Option Kommentar zum Pflegebudget


Sterben, Tod und Trauer Verena Gärtner, Melanie Gräßer, Annika Botved

Leben ohne Mama Maus

Elke Barber, Anna Jarvis

Kommt Papa gleich wieder?

Ein Kinderfachbuch über Suizid in der Familie

Ein Kinderfachbuch über den plötzlichen Tod eines geliebten Menschen

2022 • 104 Seiten • 27 Euro ISBN 978-3-86321-600-9 Format 17 x 24 cm, gebunden Für Kinder ab 4 Jahren

2. Aufl. 2021 • 46 Seiten • 22 Euro ISBN 978-3-86321-551-4 Format 21 x 29,7 cm, gebunden Für Kinder ab 4 Jahren

Mama Maus hat eine schwere Depression und sie sieht nur noch den Hieb der Katze als Ausweg. Dieses Kinderfachbuch widmet sich ohne Tabuisierung dem Thema Suizid in der Familie. Im Fachteil für Kinder berichtet eines der Mäusekinder, wie die Familie ihren Weg zurück ins Leben gefunden hat.

Alex ist drei Jahre alt, als sein Vater einen schweren Herzinfarkt erleidet und verstirbt. Im Fachteil, der sich an die autobiografische Bildergeschichte anschließt, erläutert der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Hans Hopf, wie Kinder trauern. Mit hilfreichen Adressen und Buchtipps.

Britta Honeder, Mirella Herzina-Rusch

Andrea Hendrich, Bernadette Schmitt

Tante Tillys Tod

Bens Sonnenblumen

Ein Kinderfachbuch übers Abschiednehmen und Zu-Hause-Sterben-Dürfen

Ein Kinderfachbuch zum Thema Trauer 2018 • 55 Seiten • 16,95 Euro ISBN 978-3-86321-394-7 Format 24 x 17 cm, gebunden Für Kinder ab 5 Jahren

2021 • 51 Seiten • 21 Euro ISBN 978-3-86321-595-8 Format 24 x 17 cm, gebunden Für Kinder ab 5 Jahren

Tante Tilly ist sterbenskrank. Eigentlich furchtbar traurig, gäbe es da nicht ihre Nichte Lisa und die ganze Familie. Bei ihr darf Tante Tilly leben bis zuletzt. Ein Kinderfachbuch über das Abschiednehmen und Sterben zu Hause, das auch bunte Momente haben kann.

Für Familie Wittmann ist plötzlich alles anders. Sohn Ben hat einen Unfall und stirbt. Die Familie erlebt ein Wechselbad der Gefühle. Zusammen, auch mit Hilfe von außen, beginnen sie Schritte in ein Leben ohne Ben … der immer Teil der Familie bleiben wird.

Sarah Braun, Udo Lakovits, Andrea Strachota

Christiane zur Nieden, Hans-Christoph zur Nieden

Leben und gleichzeitig sterben

Umgang mit Sterbefasten

Diagnose ALS

Fälle aus der Praxis

2. Auflage 2020 • 296 Seiten • 29,95 Euro ISBN 978-3-86321-452-4

2. Auflage 2020 • 190 Seiten • 19,95 Euro ISBN 978-3-86321-428-9

auch als E-Book (PDF) erhältlich: ISBN 978-3-86321-512-5 • 21,99 Euro

auch als E-Book (EPUB) erhältlich: ISBN 978-3-86321-493-7 • 15,99 Euro

Sarah Braun erhält im Alter von 24 Jahren die Diagnose ALS, amyotrophe Lateralsklerose. Es ist ein Todesurteil, denn ihre Lebenserwartung beträgt noch drei bis fünf Jahre. Dieses Buch liefert Einblicke in Krankheitsverlauf und Sterbeprozess aus Sicht einer Betroffenen.

Wie individuell der Sterbeprozess bei freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ablaufen kann, zeigen die Fallgeschichten, die die Autor:innen beschrieben und kommentiert haben: alleine, im Kreis der Familie, in Heimen, im Hospiz.

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, als wir vor über einem Jahr einen Schwerpunkt „Sterben, Tod, Trauer“ planten, war noch nicht absehbar, wie nah uns diese Themen auch persönlich kommen würden: Vor rund vier Wochen ist unser langjähriger Autor und Pharma-Experte Gerd Glaeske nach langer Krankheit verstorben. Trotz unseres Wissens um seine Erkrankung kam die Nachricht überraschend. Auf den Seiten 12/13 lesen Sie einen Nachruf, den unser Geschäftsführer Hermann Löffler geschrieben hat. Gleichzeitig bleibt die Öffentlichkeit tagtäglich mit dem Leid, dem Sterben und der Trauer der Menschen in der Ukraine konfrontiert, die nun schon seit Monaten dem russischen Angriffskrieg ausgesetzt sind. Die Folgen für die geflüchteten Angehörigen wie für die im Land Gebliebenen sind kaum auszudenken: Einen Einblick in die Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Versorgung gibt in dieser Ausgabe Hartmut Berger, der auch über die Verwendung der großzügigen Spenden vonseiten der Dr. med. Mabuse-Leser:innen informiert. Die Autor:innen unseres Schwerpunktes stellen ganz unterschiedliche Perspektiven auf Sterben, Tod und Trauer vor: Im Einführungsbeitrag wird gezeigt, wie schwierig es für die meisten Menschen ist, mit der eigenen Sterblichkeit umzugehen. Nicht weniger herausfordernd ist der Umgang mit dem Verlust eines Elternteils oder einer nahestehenden Person. Und was ist, wenn eine pränatale Diagnose zeigt, dass das Leben mit dem Ende beginnen wird? Der Begleitung von Kindern in Trauergruppen, der Diagnose „anhaltende Trauerstörung“ sowie den Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen der Kinderpalliativ-

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versorgung widmen sich drei Beiträge. Die Debatte um die gesetzliche Neuregelung der Suizidbeihilfe sowie regionale Leitlinien, die helfen sollen, die Versorgung von Sterbenden zu verbessern, werden ebenfalls vorgestellt. Ebenso Möglichkeiten, um Sterbende wie auch Verstorbene empathisch und würdevoll zu begleiten. Schließlich werden die mentale Gesundheit von Sterbebegleiter:innen und die sich wandelnde Bestattungskultur in Deutschland in den Blick genommen. Außerhalb des Schwerpunkts lesen Sie unter anderem ein Interview mit der Whistleblowerin Andrea Würtz, die die Missstände in einem bayerischen Pflegeheim in Schliersee öffentlich machte, einen eindrücklichen Bericht über das Leben mit Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue Syndrom und Long Covid sowie einen Debattenbeitrag zu den neuen Regeln für reproduktive Selbstbestimmung und Leihmutterschaft, die auf Bestreben der Ampelkoalition künftig gelten sollen. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre sowie schöne Sommertage und grüße herzlich aus der Redaktion!

Franca Zimmermann

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Inhalt 12 Ein furchtloser Visionär Nachruf auf Gerd Glaeske Hermann Löffler 14 Alle(s) unter einem Dach!? Familienorientiertes Arbeiten im Team in der Primärversorgung Vera Kalitzkus und Stefan Wilm 18 ... mehr als du denkst

Aktuelles zum Thema Schwangerschaftsabbruch | Marion Hulverscheidt 20 Scheitern ist keine Option Warum das Pflegebudget weiterentwickelt werden muss Sandra Mehmecke 22 Wer soll das bezahlen? Steigende Kosten belasten Versicherte und Leistungserbringer Wolfgang Wagner 60 Eine neue Chance? Musiktherapie in der S3-Leitlinie Demenzen | Dorothea Muthesius 63 Leben mit „kaputtem Akku“ Biografien von Menschen mit Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue Syndrom und Long Covid | Johanna Krapf 66 Wer schützt hier wen? Kommentar zur „Planungshilfe deeskalierende psychiatrische Akutstationen“ | Christoph Müller 68 Erfahrung sexualisierter Gewalt – Beobachtungen und Folgerungen für die therapeutische Praxis Margarete Baumann 72 „Angst, Überforderung, Resignation“ Ein Gespräch mit Andrea Würtz Melanie Klimmer

Wall-Art im ukrainischen Lwiw, aufgenommen 2019. Foto: Darya Tryfanavva | unsplash.com

87 Zweite Hilfe Das Potenzial humorvoller Interventionen | Ulrich Fey

Gesundheit global:

77 Großer Bedarf, wenig Ressourcen Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen für die psychiatrische Versorgung | Hartmut Berger 80 Gewagter Fortschritt Neue Regeln für reproduktive Selbstbestimmung und Leihmutterschaft | Monika Knoche 84 COVID-19 und Einsamkeit Soziale Beziehungen und Freundschaften im digitalen Zeitalter Viviane Scherenberg und Ceren Dogan

Ausbildung & Studium:

90 Gesundheitskompetenz im

Schulalltag Zur Bedeutung von Schulgesundheitsfachkräften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie | Arabella Kaffenberger und Florian Schiel

114 Besser reich und gesund

als arm und krank Karin Ceballos Betancur

Rubriken 03

Editorial

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Leserbriefe

08 Nachrichten 11

Neues aus dem Mabuse-Verlag

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Bitte zur Anamnese

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Buchbesprechungen

100 Neuerscheinungen 105 Broschüren/Materialien 106 Zeitschriften 107 Termine 112 Fortbildungen/Kleinanzeigen 113 Impressum Dr. med. Mabuse 257 · 3. Quartal 2022


Schwerpunkt:

Sterben, Tod, Trauer 49 Der Tod gehört dazu 26 Verdrängte Gewissheit Umgang mit der eigenen Sterblichkeit | Thomas Hax-Schoppenhorst

30 Selbsttötung und Selbstbestimmung Die Bundestagsdebatte um ein neues Gesetz verläuft nicht entlang der Fraktionsgrenzen | Oliver Tolmein

33 Wenn der Anfang mit dem Ende beginnt Hebammenarbeit in der Kinderpalliativversorgung Theresia Rosenberger

36 Zu Hause sterben Wie äußere Anwendungen alle Beteiligten unterstützen können Gerda Zölle

52 Kreuze, Steine, Tänze Die Bestattungskultur verändert sich Stephan Hadraschek

39 Zu viele Verlegungen am Lebensende Regionale Leitlinien für eine bessere Versorgung von Sterbenden Wolfgang George

43 Diagnose: anhaltende Trauerstörung Prof. Dr. Rita Rosner im Gespräch Barbara Knab

Ausbildung & Studium:

90 Mentale Gesundheit von Sterbebegleiter:innen Interviews zu psychischer Widerstandskraft, inneren Ressourcen und Bewältigungsstrategien Michaela Burger, Valerie Hertwig, Carina Pfab, Johanna Schmidt, Julia Seifried, Catherine Wieland

46 Wenn der Tod ins Leben bricht Kinder durch die Trauer begleiten Damaris Schlemmer

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Plädoyer für einen anderen gesellschaftlichen Umgang mit Verstorbenen | Ajana Holz

59 Sterben, Tod, Trauer Bücher zum Weiterlesen


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Buchbesprechungen

N. O. Body

Aus eines Mannes Mädchenjahren

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arl M. Baer wird 1884 mit uneindeutigem Geschlecht geboren. Die Eltern entscheiden sich dazu, ihn als Mädchen Martha großzuziehen. 23 Jahre später, 1907, veröffentlicht Baer erstmals seinen autobiografischen Bericht „Aus eines Mannes Mädchenjahren“ unter dem Pseudonym N.O. Body, der 2021 überarbeitet im Verlag Hentrich & Hentrich erschien. Es handelt sich um den Reprint einer Version von 1993, deren historisches Vor- und Nachwort durch aktuelle Kommentare gerahmt werden. Neben seinem Namen anonymisiert N.O. Body im Bericht auch seinen Geburtsort und weitere persönliche Details. Dies tut der Eindrücklichkeit der Schilderungen jedoch keinen Abbruch. Das beklemmende elterliche Haus steht im Kontrast zu N. O. Bodys lebhafter Art, die jedoch seit der frühen Kindheit immer wieder von dem Gefühl getrübt wird, anders zu sein als die anderen Mädchen. Der Schmerz, ausgegrenzt zu werden, die Angst, dass „das Geheimnis“ herauskommen könnte und die Verzweiflung, sich im falschen Geschlecht zu fühlen, ist besonders unerträglich, weil N.O. Bodys Leid, wie er selbst schreibt, so leicht hätte beendet werden können; hätten die Eltern einfach offen mit ihr/ihm gesprochen. Doch ein offenes Gespräch hat es nie gegeben. So versucht sie/er so gut wie möglich als „ein Mensch unter Menschen“ (S.61) zu leben. Aber erst als N.O. Body kurz vor dem Suizid steht und sich einem Arzt anvertraut, reagiert dieser verständnisvoll und teilt ihm mit, er könne problemlos als Mann leben. Dieser Arzt – Magnus Hirschfeld – schrieb das historische Nachwort zur Erstveröffentlichung. Darin verweist er auf die seelischen Konflikte, die mit einer falschen Geschlechtszuordnung einhergehen und plädiert für die Möglichkeit, die Geburt eines Kindes mit „unbestimmtem Geschlecht“ eintragen lassen zu können – eine Forderung, die erst 2018 gänzlich eingelöst wurde, wie Konstanze Plett in ihrem Nachwort zur rechtlichen Situation bei N.O. Body bemerkt. Neben Plett stammen die neuen Kommentare vom Herausgeber Hermann Simon, der über Jahrzehnte die Lebens-

geschichte von Martha/Karl M. Baer rekonstruierte, und der Medizinhistorikerin Marion Hulverscheidt, die Baers Geschichte historisch einordnet und dabei auch einen Blick auf deren Rezeptionsgeschichte wirft. Die Kommentare sind dabei als Ergänzung zu verstehen, die versuchen, ein Schicksal begreifbar zu machen, aber das Geschriebene nicht zu kommentieren oder infrage zu stellen. Dass Simon die jüdische Herkunft von Baer rekonstruieren konnte, lässt dessen Bericht in einem neuen Licht erscheinen; und auch Hulverscheidt stellt im Anschluss Überlegungen zum Thema Beschneidung bei nicht eindeutigem Geschlecht an. „Es gibt ein Wissen des Körpers, das stärker ist als alle Logik“, schreibt N. O. Body (S.91). Auch wenn man ihm (besonders aus heutiger Perspektive) nicht immer zustimmen mag, so regen seine Gedanken und seine Geschichten doch zum Nachdenken über das komplexe Thema Geschlecht an. Allein aufgrund seiner Einzigartigkeit ist dieser autobiografische Bericht unbedingt lesenswert. Die Nachworte und Kommentare bieten zusätzlich die Möglichkeit, sich näher mit den verschiedenen Fragen zu beschäftigen, die sich im Anschluss an die Lektüre von Baers Text stellen. Anna Domdey, Kulturwissenschaftlerin, Göttingen

Hentrich & Hentrich, Leipzig 2021, 220 S., 22 Euro

Jens Baas (Hg.)

Perspektive Gesundheit 2030 Gesellschaft, Politik, Transformation

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as Buch ist als Handreichung für die Politik nach der Bundestagswahl 2021 konzipiert und adressiert alle Verantwortlichen im Gesundheitswesen. Über 60 Autor:innen konnte der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, gewinnen. Ziel ist, einen vernunftgeleite-

ten Kompass für 2030 zu stellen und den Analysen der Expert:innen Taten folgen zu lassen. Ausgangspunkt ist die These, dass die 2020er-Jahre das Jahrzehnt der größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung für das deutsche Gesundheitswesen darstellen. Dies betrifft sowohl eine kulturelle als auch strukturelle Neuaufstellung. Hintergründe dieser Anpassungsnotwendigkeit sind die demografische Entwicklung, die digitale Transformation, die Finanzierung des medizinischen Fortschritts unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen, die „Wissensexplosion“ und die veränderten Rollenverständnisse von Gesundheitsberufen. Das Buch ist gegliedert in 1. (nicht-widerspruchsfreie) Ziele der Gesundheitspolitik, 2. aktuelle und künftige Herausforderungen, 3. Einblicke in Reformwerkstätten und -perspektiven sowie 4. Einschätzungen der Expert:innen der Techniker Krankenkasse als „Fitnesscheck“ 2021. Die Ziele von Gesundheitspolitik sind aus diversen Perspektiven aufgegriffen: juristisch, historisch, volkswirtschaftlich. Medizinische und ethische Perspektiven werden ergänzt durch die der Gesundheitswissenschaften, der Gesundheitsökonomie und des Gesundheitsmanagements. Das Interview mit dem Theologen Heinrich Bedford-Strohm zu „Barmherzigkeit: Ein Narrativ für das Gesundheitswesen“ macht Mut, die wirklichen Bedürfnisse der Patient:innen als Ausgangspunkt für die Neugestaltung des Gesundheitssystems zu verstehen. Die Autor:innen bauen ihre Beiträge z.T. auf einer Kritik an nicht konkreten Zielen vorheriger Gesundheitspolitik, verfehlten Wirkungen von Maßnahmen bzw. fehlender Zukunftsorientierung auf: Strukturen, Institutionslogiken und tradierte Kulturen. Grundsatzfragen eines gerechten Gesundheitssystems werden theoretisch begründet und ansatzweise auf praktische Politikansätze bezogen (z. B. Graumann & Simon). Der zweite Teil des Buches fokussiert die Herausforderungen unterschiedlicher Art: Digitalisierung, „vorsorgende Demokratie: eine optimistische Staatsform“, COVID-19-Impfpriorisierung, Relaunch des Gesundheitswesens aus rechtspolitischer Perspektive, sektorenübergreifende Versorgung und Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum, Transparenz und Legitimation des Gesundheitswesens, Investitionsförderung, Pflege und AkademisieDr. med. Mabuse 257 · 3. Quartal 2022


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rung therapeutischer Gesundheitsberufe. Die Komplexität und Unsicherheit neuerprobter Ansätze kommen hier exemplarisch zum Ausdruck. Im dritten Teil werden Handlungsoptionen für die gegenwärtige Legislaturperiode vorgestellt. Beschriebene Ansatzpunkte sind: Gesundheitsversorgung und -forschung durch patient-reported Outcomes, Patient:innenenlotsen, Capitationmodelle, ambulante und stationäre Vergütungssysteme, Neuordnung der Krankenhauslandschaft, Accountable Care, interprofessionelle Zusammenarbeit und ein Plädoyer für ein integriertes dezentrales Gesundheitswesen. Deutlich wird, dass es eines „Innovationsspirits“ bedarf, der Neues auch zur Entfaltung kommen lässt. Dies braucht Zeit und klare Rahmenbedingungen, die auch über eine Legislaturperiode hinaus Veränderungsprozesse ermöglichen. „Change, we can believe in“ (Huss). In der Bewertung und den Ausführungen im vierten Teil – „Fitnesscheck 2021“ – wird aus der Perspektive einer gesetzlichen Krankenkasse verdeutlicht, wie das Gesundheitswesen zukunftsfest gemacht werden kann. Fazit: ein sehr breiter Blick auf die „Baustellen“ im deutschen Gesundheitswesen. Das Buch bringt Verantwortliche für die Gesundheitssystemgestaltung auf den neuesten Stand unterschiedlicher Betrachtungen, Einschätzungen der Ist-Situation und Vorstellungen und Ansätze für notwendige Weichenstellung im deutschen Gesundheitssystem. Aus der Perspektive der Sozialwissenschaften/Public Health fällt auf, dass die Bedeutung des „Sozialen“ – wie hinlänglich belegt – für eine effiziente und effektive Systemgestaltung noch weiter ausbuchstabiert werden muss. Begriffe wie Werteorientierung, Bedarfs- und Bedürfnisorientierung sowie Patientensouveränität und -orientierung kommen vor, doch stellt die aktuell stärker gewordene soziale Ungleichheit, die bekanntlich zu gesundheitlicher Ungleichheit führt und umgekehrt, Fragen an die Systemgestaltung. Debatten um Chancen der Verwirklichung von Gesundheit insbesondere vulnerabler und sozial schwächerer Gruppen gilt es wachzuhalten. Die aktuell ablesbaren Folgen der Pandemie (für die Gesundheit) können Lernprozesse im Gesundheitssystem befördern. Hier gilt es, etwa die Gesellschaft gendersensibler und differenzierter wahrzunehmen – was Dr. med. Mabuse 257 · 3. Quartal 2022

auch bei Sprache beginnt. Die Diversität der Bürger:innen und Patient:innen wäre für Handlungsansätze ebenso zu beleuchten wie tradierte und hierarchische Stellungen der Gesundheitsberufe. Ein Blick auf Arbeitsbedingungen in systemrelevanten Berufen ist dabei nicht nur für die Pflegeberufe bedeutsam. Auch neue professionalisierte Partner:innen in der Gesundheitsversorgung (z.B. Gesundheitsfachberufe) stehen für eine Neuausrichtung des Systems zur Verfügung (Borgetto/ Pfingsten). Der Herausgeber legt so ein interessantes, komplexes und detailreiches Buch mit enormer Fachexpertise vor. Es verdeutlicht einmal mehr die Notwendigkeit der gemeinsamen und organisierten Auswahl künftiger – vermehrt digitalisierter – Praxis. Die Umsetzungsverantwortlichen machen Vorschläge, doch benötigen sie verbindliche Zielvorgaben und verlässliche, über Bundestagswahlen hinausgehende legitimierte Experimentierräume. Die Zielperspektive 2030 ist knapp gesteckt und es gilt, jetzt angemessene Weichen für die künftige Gesundheitsversorgung für alle zu stellen – für Patient:innen, Berufe und Institutionen der Selbstverwaltung. Prof. Dr. Heidi Höppner, MPH, Alice Salomon Hochschule Berlin

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Neu bei Mabuse

Christina Pape, Georg Behringer

Mamas MS heißt Moppi Summs Ein Kinderfachbuch über Multiple Sklerose 2022, 54 Seiten, 21 Euro ISBN 978-3-86321-619-1

MWV, Berlin 2021, 382 S., 64,95 Euro

Michael Uhl

Betty Rosenfeld Zwischen Davidstern und roter Fahne. Biographie

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it seiner Veröffentlichung legt der Historiker Michael Uhl die Biografie einer jungen Frau (1907–1942) vor, die in der Zeit der Weimarer Republik in Stuttgart aufgewachsen ist und der faschistischen Verfolgung zum Opfer fiel: Betty Rosenfeld. Ihre Lebensgeschichte wird eingebettet in die politische und gesellschaftliche Entwicklung über 35 Jahre, die die Geschichte Deutschlands nach-

Die Blonskis mögen Wollpullover, grüne Dinge, kitzeln und Schuhe kauen. Die Blonskis, das sind Hilda, Fine und Pedro der Hund. Mama Hilda lebt mit Multipler Sklerose oder MS. Aber was genau macht es, das M und das S oder – wie Fine es nennt – das Moppi Summs? Ernst genommen, aber mit leichtem Herzen beantwortet dieses Kinderfachbuch Fragen zum Thema. Für Kinder ab 4 Jahren.

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haltig geprägt hat. Was aber macht ihre Lebensgeschichte so lesenswert, dass sie in einer Biografie von über 670 Seiten festgehalten wird? Es sind die Wendungen in ihrem Lebenslauf, die sie aus dem Kreis anderer Personen heraushebt und die eine interessante Folie bilden, um die gesellschaftlichen Strukturen und Veränderungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus auf den Ebenen einer Alltagsgeschichte abzubilden: Betty Rosenfeld ist eine von drei Töchtern einer bürgerlichen jüdischen Familie – der Vater ist Kaufmann und Inhaber einer kleinen Putzmittelfabrik –, sie absolviert eine Ausbildung zur Krankenschwester in einem katholischen Krankenhaus, arbeitet dann in einer jüdischen Einrichtung im stationären Bereich und der Gemeindepflege; sie verbringt ihre Freizeit häufig im Kreise der Naturfreunde und kommt dadurch in Kontakt mit emanzipatorischen und kommunistischen Ideen. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege führen dazu, dass sie diesen Beruf bereits sehr früh aufgibt. 1935 emigriert sie mit ihren Schwestern nach Palästina. Hier arbeitet sie zuerst wieder als Krankenschwester in einem Kinder- und Säuglingsheim, später in der Feldarbeit eines Moschaw, einer privaten Landwirtschaft mit genossenschaftlicher Verwaltung. Nach zwei Jahren verlässt sie jedoch den sicheren Zufluchtsort Palästina und reist über Frankreich nach Spanien, um sich dort den Internationalen Brigaden im Kampf gegen das faschistische Franco-Regime zur Unterstützung der spanischen Republik anzuschließen. Sie tritt in den Sanitätsdienst der Brigaden ein, arbeitet in den Krankenhäusern von Murcia und Martaró, später in den Feldlazaretten. Dort heiratet sie auch den Brigadisten Sally Wittelson. Sie ist eine von Hunderten Frauen, die sich aktiv im Spanischen Bürgerkrieg zur Verteidigung der Republik engagierten. In der reichhaltigen Literatur zum Spanischen Bürgerkrieg wird ihnen jedoch nur eine Randstellung eingeräumt – sie werden als Begleiterinnen ihrer Männer wahrgenommen, ohne ihnen eine eigene Rolle zuzubilligen (vgl. hierzu R. Lugschitz 2018). Betty Rosenfeld tritt aus diesem Schatten heraus. Im Juli 1938 nach Paris gereist, kann sie nicht mehr nach Spanien zurückkehren. Die Grenzübergänge sind gesperrt, die Brigaden lösen sich auf, der Faschismus in Spanien hat gesiegt, die Kämpfer

Aufnahme von Betty Rosenfeld. Foto: Archives nationales

müssen über die Pyrenäen nach Frankreich flüchten. In Sévérac-le-Château kann sie sich zusammen mit ihrem Mann niederlassen und arbeitet für knappen Lohn in einer Fabrik. Im Juni 1939 werden sie und ihr Mann – wie viele ehemalige Spanienkämpfer – von der französischen Polizei verhaftet und in einem Lager hinter Stacheldraht interniert. Im August 1942 wird Betty Rosenfeld von Gendarmen abgeholt und in ein Auslieferungslager in der Nähe von Paris deportiert; von dort aus wird sie mit weiteren 1 000 Männern und Frauen in Güterwagen nach AuschwitzBirkenau transportiert und am 9. September 1942, kurz nach dem Eintreffen des Zuges, ermordet. Während seines Geschichtsstudiums suchte Michael Uhl nach deutschen Freiwilligen der Internationalen Brigaden. Bei Recherchen im Militärarchiv der Universität von Salamanca stieß er auf ein vergilbtes Dokument einer Krankenschwester „Betty Rosenfeld“, das Jahre später den Ausgangspunkt zu einer intensiven Quellenrecherche bildete. Von zentraler Bedeutung ist hierbei der Nachlass von Bettys Schwester Ilse in Kalifornien; zahlreiche Studien erfolgten in privaten und staatlichen Archiven in Deutschland, Frankreich, Spanien, Israel und den USA, Gespräche und Interviews mit Zeitzeugen wurden geführt und ausgewertet. Eine Vielzahl zeitgenössischer Dokumente werden als Illustrationen wiedergegeben. Obwohl es sich um eine wissenschaftliche Veröffentlichung handelt – die Quel-

len zu den jeweiligen Kapiteln werden im Anhang angeführt – ist dieses Buch leicht lesbar, die Lebensgeschichte Betty Rosenfelds wird sehr anschaulich und nachvollziehbar erzählt. Wir erfahren viel über den Alltag des jüdischen Lebens in Deutschland, die politischen Entwicklungen in Deutschland, Spanien und Frankreich, über das Leben einer jüdischen Krankenschwester, die ihre politischen Vorstellungen aktiv umsetzt. Im Jahre 2006 wurden in Stuttgart Stolpersteine für die Familie Rosenfeld verlegt, einer auch für Betty. Betty Rosenfeld ist Teil der Geschichte der Pflege, auch wenn oder gerade weil sie nicht dem tradierten Bild einer sich im Beruf aufopfernden Krankenschwester entspricht. Hilde Steppe, die nicht nur zur Pflege im Nationalsozialismus, sondern insbesondere zur jüdischen Pflege in Deutschland geforscht und veröffentlicht hat, formulierte 1993: „Geschichte der Pflege ist immer auch Frauengeschichte und Geschichte von Entwicklungsprozessen, Veränderungen und Enttäuschungen, Hoffnungen und Erfolgen“. Heinrich Recken, Hamburger Fern-Hochschule

Schmetterling, Stuttgart 2022, 672 S., 39,80 Euro Dr. med. Mabuse 257 · 3. Quartal 2022


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Klaus Sejkora, Henning Schulze

Das Ich in der Krise Resilient durch Positive Transaktionsanalyse

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ern des Buches sind Geschichten von vier Menschen: Simone, Madeleine, Severin und Richard. Diese sind sehr detailliert beschrieben, ziehen sich als roter Faden durch, vertiefen die theoretischen Ausführungen und machen sie so verständlicher und leicht lesbar. Es empfiehlt sich, das Buch unbedingt bis zum Ende zu lesen, denn in Kapitel fünf erzählen diese vier Menschen ihre Geschichte nach Therapieende weiter, um deutlich zu machen, wie Menschen resilientes Leben gestalten können. Ebenfalls beschreiben andere, die den vieren sehr nahestehen, ihre Erfahrungen in der Beziehung zum jeweiligen Protagonisten. Gerade dieses letzte Kapitel habe ich beim Lesen als tief berührend empfunden. In Belastungen, Krisen und Traumata erleben wir uns oft als hilflos. Sinn des vorliegenden Bandes ist es, Antworten zu

bieten, indem Resilienz mit den Mitteln der Positiven Transaktionsanalyse veranschaulicht wird. An die vorgestellten Therapieverläufe der vier Protagonisten knüpfen sich theoretische Ausführungen an. So finden sich etliche Transkripte aus den Therapiesitzungen. Der Aufbau des Buches ist durch wiederkehrende Rückbezüge gut nachvollziehbar. Grundlegende Ergebnisse aus der Resilienz-Forschung von Emmy Werner haben die Autoren sehr prägnant zusammengefasst. Das unbewusste Lebensskript in der Entstehung und im Umgang mit Krisen wird ausführlich beschrieben und daran aufgezeigt, wie Menschen dieses Skript zum Umgang mit Belastungen, Krisen und Traumata entwickeln und sinnvoll nutzen können und wo dieses Skript hinderlich ist. Einen weiteren Strang im Buch nennen die Autoren „Persönliche Impulse“. Diese Impulse in Form von Übungen sind als Einladungen an die Leser:innen zu verstehen, anhand der persönlichen Lebensgeschichte eigene Erfahrungen zu machen. Die theoretischen Ausführun-

gen gestalten sich damit noch nachvollziehbarer. Die persönlichen Impulse gehen teilweise recht tief und können in einem Buch lediglich Anregungen sein. Die gewonnenen Erfahrungen sollten dann eher in einer Psychotherapie oder einem Coaching bearbeitet werden. Gerade für Menschen, die sich bisher noch nicht mit Transaktionsanalyse beschäftigt haben, kann dieses Buch ein wunderbarer Einstieg sein. Es ist sowohl für Therapeut:innen, Berater:innen und Coaches als auch für Menschen, die an ihrer eigenen Resilienz arbeiten möchten, sehr zu empfehlen. Christiane Kreis, Systemische Supervisorin, Frankfurt am Main

Junfermann, Paderborn 2021, 208 S., 26 Euro

Immer auf den Punkt informiert! Das Fachmagazin für Hebammen. Aktuell, fachlich, (berufs-)politisch und regional. 12 Monate zum fairen Preis. Print oder Digital.

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Gesine Agena, Patricia Hecht, Dinah Riese

Selbstbestimmt Für reproduktive Rechte

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elbstbestimmung unter dem Vorzeichen der Menschenrechte, hierüber sprechen wir in selbstverliebten Zeiten gerne, das passt gut ins Konzept und zum Zeitgeist. Unter einer Ampelkoalition, die sich trotz Krieg und Bevölkerungsdurchseuchung in Zeiten der Pandemie damit beschäftigt, für Frauen „alles zu tun“, weil sie den sogenannten Werbeparagrafen § 219a abschafft, ist es Mainstream, sich mit reproduktiven Rechten zu befassen. Und – das ist gut so. Zwei taz-Journalistinnen und eine Grünen-Politikerin haben nun eine Streitschrift verfasst, die sich in fünf Kapiteln den Themenfeldern Bevölkerungspolitik, Verhütung, Schwangerschaftsabbruch, Reproduktionstechnologien und Geburt widmen. Mit ihrem Nachwort hat Barbara Unmüßig einen Schlusspunkt unter ihre offizielle Tätigkeit im Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung gesetzt. Den „Report der Magd“ als Einstieg zu verwenden, holt junge Leser:innen ab. Den wichtigeren aktuellen Bezug stellt der Einstieg zum Kapitel „Bevölkerungspolitik“ dar. Dort wird das Manifest des mittlerweile zu lebenslanger Haft verurteilten Christchurch-Terroristen von 2019 zitiert, der sich auf die Geburtenraten bezieht. Auch der Attentäter von Halle im Oktober 2019 gibt dem Feminismus die Schuld an sinkenden Geburtenzahlen. In diesem Bedrohungsszenario, das „den großen Austausch“ heraufbeschwört, zeigt sich die antifeministische Haltung der rechtsextremistischen Positionen. Aber zeitigen bevölkerungspolitische Maßnahmen wie Ermutigung zu Kinderreichtum am einen, und Zwangssterilisation am anderen Ende wirklich messbare Erfolge oder handelt es sich hier um Mythen der Einflussnahme? Das Kapitel zur Bevölkerungspolitik befasst sich im Weiteren mit der bekannten chinesischen Ein-Kind-Politik, deren Auswirkungen im sozialen Bereich nicht so absehbar waren und auch immer noch nicht sind. Erwähnenswert ist, dass in China keine schichtspezifische Vorgabe vorhanden ist. Auch Zwangssterilisationen in Indien und Peru werden thematisiert. Nicht erwähnt wird die perfide bevölke-

rungspolitische Maßnahme in Großbritannien, wo ab dem dritten Kind Strafsteuern zu zahlen sind, um so vorgeblich zu steuern, dass nur Menschen Kinder bekommen, die es sich auch leisten können. Einzuordnen sind auch die Verschränkung von Diskriminierung und Verhütung, insbesondere bei Women of Colour beispielsweise in den USA, die sterilisiert werden, und weiße Frauen, die vom Staat ermuntert werden Kinder zu bekommen, wobei hier der Bezugsrahmen stets die Gruppe und nicht die Einzelperson ist. Verhütungsmittel sind Machtmittel, die als Bedrohung der Gesellschaft und der Paarbeziehung wahrgenommen werden, weil dadurch die Machtverteilung dynamisiert wird. Beim Coitus interruptus scheint der Mann das Zepter in der Hand zu haben, bei der Pille ist es die Frau. Das weltweit am häufigsten angewandte Verhütungsmittel ist hingegen die Sterilisation der Frau. Hormone sind dem Mann nicht zumutbar. „Alle Menschen, die verhüten wollen, sollten es können – doch niemand sollte dazu gedrängt werden“ – so formulieren die Autorinnen ihre Forderung. Die Ausführung zum Schwangerschaftsabbruch zielt auf das Strafrecht in Deutschland. Beispiele aus Brasilien, Irland und Polen, eher religiös geprägte Staaten, werden pointiert dargestellt. Kanada wird als positives Beispiel erwähnt, weil dort die Zahl der Abbrüche seit der Entkriminalisierung vor mehr als 30 Jahren konstant bleibt. Die internationale Perspektive lässt eine Einordnung der deutschen gesetzlichen Regulierungen eher im konservativ-restriktiven Feld zu. Gibt es ein Recht auf Reproduktion? Und wenn ja, für wen? Für heterosexuelle, verheiratete Paare mit gesichertem Lebensunterhalt oder für alle? Hier beginnt das Ringen auch der Linken, Progressiven, Liberalen und Grünen. Denn es gibt keine einfache Lösung, eher diverse Möglichkeiten, eine feministische Haltung zu konturieren. Seit 1967 führt die WHO den „unerfüllten Kinderwunsch“ als eine Krankheit auf, was nicht bedeutet, dass es sich hier um eine Krankheit handelt, sondern vielmehr um einen behandelbaren Zustand. Gleichwohl sind die Erfolgsaussichten gering, was die aggressive und plakative Werbung erklärt. Es wird wohl unterschiedliche feministische Positionierungen geben, die mal mit den Frauen zusammenstehen, die sich für eine Eizellspende oder Leih-

mutterschaft bereit erklären, mal mit den Menschen, deren unerfüllter Kinderwunsch dadurch erfüllt wird. Über Altruismus – das Zauberwörtchen hat die FDP in den Vorschlag des Koalitionsvertrags eingeführt – in Zeiten des neoliberalen Hyperkapitalismus zu diskutieren, weigern sich die Autorinnen. Die in den vergangenen Jahrzehnten überhöhte Bedeutung der Geburt hängt gewiss mit dem überbordenden Einfluss der sozialen Medien zusammen, wo die Mitteilungsschwelle eher niedrig ist. Und da eine Geburt ein Erlebnis ist, fühlen sich viele bemüßigt sich mitzuteilen. Erfrischend ehrlich gehen die Autorinnen auf das bürgerlich-akademische Ideal der natürlichen Geburt ein, wo die Sicherheit für Mutter und Kind gerne mal aus dem Blickfeld gerät. In diesem Kapitel sticht besonders hervor, dass die Autorinnen aus unterschiedlichen Perspektiven schauen und doch vornehmlich aus politisch-journalistischen Standpunkten heraus argumentieren und recherchieren. In den ausführlichen Anmerkungen dominieren Zeitschriftenartikel und Internetquellen – auch bei historischen Aspekten. Barbara Duden hat zu dieser Thematik überaus lesenswerte Bücher geschrieben. Die Autorinnen versuchen sich an begriffskritischen Überlegungen zu Leihmutterschaft und Eizellspende, der Begriff der Fehlgeburt wird hingegen nur kurz reflektiert und keine Alternativbegriffe wie „glücklose Schwangerschaft“ angegeben. Hervorzuheben ist der intersektionale Ansatz, der insbesondere auf die Möglichkeiten des Rassismus und der Diskriminierung in dem sensiblen, körpernahen Feld der Reproduktion hinweist. Doch hinter dem Wunsch nach pluralen feministischen Positionen verbirgt sich ein deutlich parteipolitisches Statement der mitregierenden Grünen. Schön wäre es, wenn auch die anderen Parteien in Deutschland ähnlich fundierte Positionierungen verlauten lassen würden. Marion Hulverscheidt, Ärztin und Medizinhistorikerin, Kassel

Wagenbach, Berlin 2022, 208 S., 22 Euro Dr. med. Mabuse 257 · 3. Quartal 2022


Buchbesprechungen

Erich Schützendorf (Hg.)

Kommunikation mit Menschen mit Demenz Worte, Gesten und Blicke, die berühren

D

emenz – bei diesem Wort assoziieren wir alles Mögliche; bis zu der Frage, ob es uns wohl selbst einmal „treffen“ wird. Vor allem fallen uns Geschichten ein, Geschichten über Betroffene, Angehörige, Pflegende oder Heime. Sie umfassen das ganze Leben und reichen von schrecklich bis wunderbar, von freudig bis ausgebrannt oder von traurig bis gerührt. Da ist der Mann, der in seiner AltenWG erst vergeblich und dann wütend an einer abgeschlossenen Tür rüttelt und schließlich feststellt, „hier“ sei es „wie im Gefängnis“. Da ist die Frau, die ihrer Tochter ein Foto ihres Ehemannes zeigt und fragt, wer das ist. Und die auf die – wahrheitsgemäße – Antwort ihrer Tochter freundlich antwortet: „Das wüsste ich aber, wenn ich verheiratet wäre.“ Wer da „spontan“ reagiert und die Person einfach korrigiert, wird erst Ärger ernten, dann selbst frustriert sein und sich schließlich überfordert fühlen. Es verlangt Einfühlung, Wissen und jede Menge Übung, in solchen Situationen einen offenen Konflikt zu vermeiden. Zu all dem will Erich Schützendorf in diesem Buch beitragen, aus dem die obigen Episoden stammen. Schützendorf, ein alter Kämpfer für die Alten und Gebrechlichen, ehemaliger Volkshochschuldirektor und Autor mehrerer Bücher über Alter und Demenz, hat dafür sieben Kolleg:innen zusammengetrommelt. Die kommen

Dr. med. Mabuse 257 · 3. Quartal 2022

aus Pflege und Sprachwissenschaft, Medien und Medizin, Psychologie und Weiterbildung. Alle verfügen über einschlägige Demenz-Expertise, die einige deshalb erworben haben, weil sie eigene Angehörige versorgten. Kernthema des Buches ist die Kommunikation zwischen Menschen. Die gelingt selten, wenn sie einfach rational sein will, und im Umgang mit Demenzkranken schon gar nicht. Gute Kommunikation erfordert grundsätzlich mehr, als dass ein Sender einem Empfänger eine Information schickt, der sie verarbeitet. Sie setzt voraus, dass man etwa Gestik, Mimik, Gefühle, Assoziationen, Erinnerungen einbezieht. Wer das ignoriert, kommuniziert im normalen Alltag schlecht, mit Demenzkranken gar nicht mehr. Dass Menschen mit Demenz oft nach Worten ringen, ist weithin bekannt. Weniger bekannt ist, wie kreativ sie Füllwörter und Umschreibungen verwenden, die man mit etwas Übung durchaus verstehen könnte. Gleichzeitig verstehen sie gesprochene Sätze oft anders, als das Gegenüber sie meint; so denken sie schon mal an einem einzigen Stichwort weiter. In beiden Fällen verhalten sie sich anders, als man das erwartet. Wer mit Demenzbetroffenen in Kontakt treten will, muss deshalb nicht nur klare Sätze sprechen, die keine Kindersprache sind. Er oder sie muss auch die nicht-sprachlichen Kanäle der Kommunikation verstehen und nutzen: Gefühle etwa, wie sie Stimme, Mimik oder Gestik transportieren. Berührungen, auch zärtliche. Und angenehme Töne wie Kinderlachen, Waldgeräusche, Vogelgezwitscher, alte Automotoren oder Musik – ihre Musik, nicht irgendeine. Gelingende Kommunikation bezieht ein, dass sie Assoziatio-

nen und Erinnerungen weckt. Welche das sind, schätzen wir meist intuitiv ganz gut ein, doch bei Demenzkranken versagt die Intuition schnell: Jederzeit kann nämlich eine Empfindung, ein Erlebnis oder ein Begriff sie in ihre eigene, weit entfernte Vergangenheit versetzen. Dann reagieren sie, als sei diese Vergangenheit jetzt. Das Buch wendet sich an Angehörige wie Profis, man kann es selbst lesen oder in einer Weiterbildung als Basis nutzen. Es gibt erklärende Texte, Erfahrungsberichte und Interviews, alles gut verständlich. Zeichnungen illustrieren einiges, viele Kästen enthalten Beispiele, Tipps, Merksätze, Zusatzinformationen und sogar Anleitungen zur Selbsterfahrung: Wie spricht es sich zum Beispiel, wenn man einen Korken zwischen den Zähnen hält? Oder wie fühlt sich eigentlich Demut an – in Körpersprache? Die abgesperrte Tür in der Alten-WG oben katapultierte den wütenden Mann übrigens in seine russische Gefangenschaft, die freundliche Frau befand sich mental gerade in einer Zeit, als sie noch unverheiratet war. Wer als Gegenüber in einer solchen Situation nicht rechthaben will, sondern einfühlsam nachfragt, hat gewonnen. Dabei kann dieses Buch helfen – und so ist es für alle Beteiligten ein Gewinn. Dr. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin, München

medhochzwei, Heidelberg 2020, 170 S., 24,99 Euro

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