Ich fühle mich zum ersten Mal lebendig ...
Dieses Buch gibt praxisnahe Beschreibungen erfolgreicher traumasensibler Unterstützung an die Hand – unter anderem in Psychotherapie und Beratung, durch Ergotherapie und Yoga, pflegerische Versorgung, Schreibwerkstätten und Erzählcafés, ambulante und gerontopsychiatrische Dienste. Professionelle, aber auch Angehörige und FreundInnen erhalten hilfreiche Anregungen für die Stärkung und Stabilisierung.
Paula e. V., Martina Böhmer, Karin Griese (Hrsg.)
Ich fühle mich zum ersten Mal lebendig ...
Traumasensible Unterstützung für alte Frauen
Paula e. V., M. Böhmer, K. Griese (Hrsg.)
Viele alte Frauen waren in ihrem Leben traumatischen und belastenden Ereignissen ausgesetzt, wie etwa Kriegserfahrungen, sexualisierter und häuslicher Gewalt oder erzwungener Migration. Alterstypische Belastungen, Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit und der Verlust von körperlicher und kognitiver Selbstständigkeit können Erinnerungen an frühere Ohnmachtserfahrungen wachrufen.
9 783863 212988 www.mabuse-verlag.de
ISBN 978-3-86321-298-8
Mabuse-Verlag
Ich fßhle mich zum ersten Mal lebendig ‌
gefördert von:
Martina Böhmer, geb. 1959, ist Referentin und Beraterin in der Altenhilfe sowie Fachberaterin für Psychotraumatologie. Die Expertin für geriatrische Psychotraumatologie ist tätig als Geschäftsführerin von Paula e. V., der Beratungsstelle für Frauen ab 60 in Köln (www.paula-ev-koeln.de). Ihr Fachbuch „Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen“ erschien im Mabuse-Verlag. Karin Griese, geb. 1964, ist Soziologin, Traumaberaterin (zptn) und Fachbuchautorin. Sie leitet den Fachbereich Traumaarbeit bei der Frauenrechts- und Hilfsorganisation medica mondiale e.V. und ist Mitbegründerin und Vorstandsfrau von Paula e. V. Paula e. V. ist eine Kölner Beratungsstelle für Frauen ab 60 Jahren, die Traumata, Gewalt und andere belastende Lebenssituationen erlebt haben oder aktuell erleben. Die Beratungs-, Fortbildungsund Supervisionsangebote des Vereins zum Umgang mit älteren bis hochaltrigen Frauen richten sich zudem an Angehörige sowie Fachkräfte.
Paula e. V., Martina Böhmer, Karin Griese (Hrsg.)
Ich fühle mich zum ersten Mal lebendig … Traumasensible Unterstützung für alte Frauen
Mabuse-Verlag Frankfurt am Main
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Inhalt Vorwort Luise Reddemann Vorwort Monika Hauser
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I Einleitung Traumasensible Unterstützung für alte Frauen
Martina Böhmer, Karin Griese ....................................................... 19 II Herausforderungen durch Langzeitfolgen von Gewalt und Traumatisierung Projektergebnisse – Entwicklung von Pflegeanleitung und -dokumentation, Schulungskonzept sowie einem Gütesiegel zur traumasensiblen Pflege alter Frauen Martina Böhmer ...................................................................................... 33 Unsichtbare Wunden? – Die Pflege und Versorgung von ZeitzeugInnen des Zweiten Weltkriegs Inka Wilhelm ............................................................................................ 47 Transgenerationale Folgen von mütterlicher Traumatisierung – Auswirkungen auf das Beziehungsgeflecht zwischen Müttern (Vätern) und Töchtern sowie auf das Pflegeumfeld Maria Zemp.................................................................................................. 72
Frauenspezifische ambulante gerontopsychiatrische Dienste für Frauen aus unterschiedlichen Kulturen aufbauen – trotz Defiziten in den Hilfesystemen Polina Hilsenbeck, Eva Gebhardt . ................................................. 103
III Psychosoziale Beratung und Psychotherapie
Ein Modell für die Behandlung kriegstraumatisierter alter Menschen Luise Reddemann . .................................................................................. 119 Mit gezielten Traumatherapiegesprächen Entlastung schaffen – Lebensrückblicktherapie und traumatherapeutische Ansätze Tomris Grisard ......................................................................................... 138 Die Ressourcen meines Lebens – Fallgeschichte zu Rückschau und Ressourcensammeln mit systemischer Methode Lydia Handtke ......................................................................................... 144 Psychologische Begleitung traumatisierter alter Frauen mit der Diagnose Demenz Brigitte Merkwitz ................................................................................... 154 Gewalt und Trauma im Leben heute alter Frauen – Vorstellung der Kölner Beratungsstelle Paula e. V. Martina Böhmer ..................................................................................... 163
Ältere Frauen sind wenig damit vertraut, eine Beratung in Anspruch zu nehmen – Erfahrungen der Opferhilfe Sachsen e. V. Anett Große, Silvia Mader (Opferhilfe Sachsen)
.................... 182
IV Biografiearbeit, Schreiben, Erzählen Traumasensible Biografiearbeit als Suizidprävention im Alter Ingrid Reich (Frauennotruf München)
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„Dass es dafür Worte gibt …!“ – Geschützte Gesprächsräume und biografisches Schreiben für (Nach-)Kriegstöchter Kathleen Battke ....................................................................................... 200 „Wir sind keine Zeitzeugen, wir waren mittendrin …“ – Beistand für ältere Menschen mit belastenden Lebensereignissen durch Erzähl- und Begegnungscafés mit NS-Verfolgten Sonja Schlegel ........................................................................................... 221
V Ergotherapie und Yoga
THEAmobil – ein ergotherapeutisches Projekt für ältere Frauen vom FrauenTherapieZentrum München Karoline Mayer, Polina Hilsenbeck .............................................. 227 Traumasensible Stabilisierung und Harmonisierung durch Kundalini Yoga Astrid Ewers . ............................................................................................. 236
Hinweise zu den Autorinnen Danksagung
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Anhang Themenbezogene Literaturhinweise und -empfehlungen ............................................................................. 255 Interessante Webseiten
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Vorwort Prof. Dr. Luise Reddemann, Professorin für Psychotraumatologie
Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter. Heute 60-jährige und ältere Frauen sind in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld geboren, als viele jüngere TherapeutInnen wissen oder ahnen. Denn zu jener Zeit waren Frauen noch viel weiter von der Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen entfernt als heute. Nachdem 1949 im Grundgesetz festgehalten wurde: Männer und Frauen sind gleichberechtigt, wurde die volle Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau erst 1993 im Grundgesetz verankert: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Die Aussage im Grundgesetz von 1949 und andere Regelungen zum Schutz der Frauenrechte wurden erst Jahre später durchgesetzt: So z. B. wurde erst 1957 der Grundsatz der Gleichberechtigung auch ins Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) übernommen. Im BGB wird das „Privatrecht“ geregelt. Im BGB stand bis 1957, dass der Vater das Familienoberhaupt ist und sowohl in Erziehungsfragen als auch in Eheangelegenheiten das letzte Sagen hat; konkret hieß das z. B., dass das Vermögen der Frau letztlich dem Mann gehörte. Die Vergewaltigung in der Ehe ist sogar erst seit 1997 strafbar und erst seit 2004 wird sie nicht ausschließlich auf Antrag des Opfers strafrechtlich verfolgt. Man sollte auch wissen, dass das gesellschaftliche Idealbild der Frau in den 1950er-Jahren die Mutter als fleißige und aufopferungsvolle Hausfrau war. Auch in den 60er-Jahren wurden Frauen noch geprägt durch die Vorstellung, sie bräuchten keine Schulbil-
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Vorwort Luise Reddemann
dung, Berufsausbildung oder gar ein Studium, denn „Du heiratest doch sowieso“. Viele Frauen erlebten sich z. B. ihren Brüdern gegenüber somit als benachteiligt. Eine weitere Quelle von Gewalterfahrungen waren die Erziehungsgewohnheiten, die man heute als „Schwarze Pädagogik“ kennt. Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass sehr viele Kinder, die wir heute als Kriegskinder bezeichnen, eine „Erziehung“ genossen haben, die als hochgradig vernachlässigend und emotional traumatisierend beschrieben werden kann. Noch ältere Frauen litten ebenfalls unter diesen Erziehungspraktiken. Dies sind nur einige Beispiele für strukturelle Gewalt, denen Frauen ausgesetzt waren und die sie von Geburt an geprägt haben. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtig, in Therapie und Beratung auch die historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten mit zu bedenken. Die in diesem Buch beschriebenen Gewalterfahrungen können also zusätzlich auf der Folie vielfältiger struktureller Gewalt betrachtet und verstanden werden. Das hier vorgelegte Buch ist von großer Bedeutung, da hier auf vielfältige Weise Gewalterfahrungen von alten und hochaltrigen Frauen thematisiert werden und wie sie beraterisch oder ggf. auch therapeutisch begleitet werden können und sollten. Eine an Gender und geschlechtsspezifischen Bedürfnissen von Frauen orientierte Psychotherapie ist hierzulande nicht die Regel. Stets scheinen für Männer und Frauen die gleichen Interventionen zu gelten. Aber die jahrzehntelange Ungleichbehandlung – auch nach dem zweifellos innovativen Engagement der Frauen und Männer, die das Grundgesetz gestaltet haben – hat Spuren hinterlassen, die häufig dazu beitragen, dass gerade ältere Frauen, geprägt durch die sie betreffenden Stereotypen, eine sensible und auf ihre Bedürfnisse hin
Vorwort Luise Reddemann
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ausgerichtete Begleitung benötigen, damit sie sich innerlich – und ggf. äußerlich – Freiräume schaffen können. Dass in diesem Buch gerade auch den Folgen von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg Rechnung getragen wird, halte ich für wichtig; denn wenn Frauen, die davon betroffen sind – und es sind deren viele – sich von den „dunklen Schatten der Vergangenheit“ befreien können, kommt das nicht nur ihnen, sondern auch ihren Töchtern und Enkelinnen zugute. Nicht zuletzt, das ist meine Hoffnung, auch denjenigen Frauen, die jetzt aus Krisengebieten zu uns kommen. Ich bin dankbar, dass jüngere Frauen als ich, die ich heute 72 Jahre alt bin, den Mut haben, sich um die Älteren in Beratung und Praxis zu kümmern und so Solidarität zu zeigen, die in der Frauenbewegung ihren Ursprung hat und die ein klares Signal dafür ist, patriarchalen Strukturen den Rücken zu kehren.
Vorwort Dr. Monika Hauser, medica mondiale e. V. Gründerin und geschäftsführendes Vorstandsmitglied „Machen Sie Ihre Arbeit bitte weiter, damit die bosnischen oder afghanischen Frauen nicht auch in 50 oder 60 Jahren sagen müssen, sie hätten nie darüber sprechen können!“ Diese oder ähnliche Aussagen von älteren deutschen Frauen – bei Veranstaltungen oder in Briefen – höre ich seit Beginn unserer Arbeit. Oder auch: „Hätte ich damals eine solche Unterstützung bekommen, wäre mein Leben bestimmt anders verlaufen!“ Die Parallelen der Arbeit von Paula und medica mondiale liegen auf der Hand: geschützte Räume zum Sprechen schaffen, die Realitäten von Überlebenden wahr- und ernstnehmen, entsprechende therapeutische Angebote konzipieren, die politische und soziale Verantwortung von Gesellschaft und Politik aufzeigen. Martina Böhmer und mich treibt die Empörung um! Meine Empörung über die Massenvergewaltigungen an bosnischen Frauen im Krieg setzte mich Ende 1992 in Bewegung, ich konnte und wollte nicht mehr untätig nur die Fernsehnachrichten verfolgen. Als junge Gynäkologin war ich überzeugt, mit meiner Solidarität Berge versetzen zu können. Daraus entstand die feministische Frauenrechts- und Hilfsorganisation medica mondiale. Wir setzen uns seit mehr als 20 Jahren für traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten ein. Auch wenn der Krieg in betroffenen Ländern beendet ist, das Trauma ist für die Frauen dann noch lange nicht vorbei. Wie mit dem Thema sexualisierte Gewalt und ihren Folgen
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Vorwort Monika Hauser
umgegangen wird, aber auch mit jenen, die sich damit beschäftigen, zeigt, wie schwer sich die deutsche Nachkriegs-Gesellschaft immer noch damit tut! Hier erleben diejenigen, die mit Klarheit auf die Missstände hinweisen, immer wieder Widerstände, und es wird ihnen häufig genug mit großer Ignoranz begegnet. Als weiteren Indikator für den Zustand dieser deutschen Gesellschaft, die sich hoch entwickelt nennt, können wir auch den Umgang mit ihren Alten nehmen – vor allem auch jenen, die aufgrund früherer Gewalterfahrungen ganz besonders unter erneutem Kontrollverlust leiden. Eingedenk der langfristigen Folgen von Gewalt an Frauen spricht alles dafür, in hohem Maße Konzepte, Pilotprojekte, die Entwicklung von Standards und Curricula zu fördern und zu institutionalisieren, um gerade auch entsprechendes Fachpersonal zu sensibilisieren und zu schulen. Immer wieder ist zu betonen, wie systemisch nicht nur die gesellschaftliche Ausgrenzung der Überlebenden von sexualisierter Gewalt ist, auch das schwierige Sprechen über diese Form der Gewalt ist bedeutsam. Doch Verschweigen, Ignorieren oder gar aktives Verdrängen machen auf die Dauer krank. Eine Frau, die als Jugendliche auf der Flucht mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt wurde, gewann als 16-Jährige einen Schreibwettbewerb „Mein schlimmstes Erlebnis“. Gleichzeitig mit der Überreichung des Preises, einem Füller, bekundete ihr die Lehrerin, „sie solle sich nie mehr über das äußern“. Dieses Schweigegebot zog sich wie ein roter Faden durch ihr späteres privates und berufliches Leben – viele Frauen berichten davon, dass sie in stinktiv wussten, wie existenziell wichtig es ist, zu schweigen. Frauen, die Gewalt erlebt haben, nennen wir Überlebende, da wir damit betonen wollen, mit wie viel Kraft sie trotz allem für das Überleben für sich und ihre Kinder gesorgt haben.
Vorwort Monika Hauser
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Ein Leben lang versuchen sie zu funktionieren, und niemand fragte je nach ihren Kriegserfahrungen. Doch im Alter geraten viele der Frauen aufgrund von Pflegebedürftigkeit und chronischen Krankheiten in neue Abhängigkeiten, was Gefühle von Ausgeliefertsein reaktiviert. Und mittlerweile wissen wir, dass das Gift der nie bearbeiteten Traumata bis in die nächsten Generationen hineinwirken wird. Dieses Schweigegebot hat also vielfältige Gründe: Sexualisierte Gewalt führt in patriarchalen Gesellschaftsordnungen als Konsequenz auch immer zur Tabuisierung, zur sozialen Ausgrenzung und gar zur Schuldumkehr, die Schuld fällt auf die Frau zurück. „Wie konntest du mir das antun?“ fragte ein Mann seine Frau noch Jahrzehnte später, als sie ihm von ihren Erfahrungen berichtete. Doch haben deutsche Männer ihre Frauen vielleicht auch nicht nach ihren Erlebnissen in jenen dramatischen Zeiten des Kriegsendes gefragt, um nicht selbst gefragt zu werden, was sie denn in den okkupierten Gebieten oder an der Front getan haben? Darüber hinaus kommen wir nicht umhin, den jeweiligen politischen Kontext des gesamten Geschehens mit einzubeziehen. Denn dieser definiert den Rahmen, innerhalb welchem sich die Möglichkeiten für das Sprechen und auch für die Auf- oder Verarbeitung abspielen. In West-Deutschland wollte lange kaum jemand etwas von den leidvollen Erfahrungen der Vertriebenen hören; zu sehr waren alle damit beschäftigt, die ungeheuerlichen Verbrechen der Nationalsozialisten und ihre eigene Verantwortung zu verdrängen. Auch gab es die Sorge um einen möglichen Geschichtsrevisionismus, wenn ob der Darstellung deutscher Opfererlebnisse die Kausalität des Zweiten Weltkrieges in den Hintergrund geraten oder gar negiert werden könnte. Auch sollte nicht über die Verbrechen der alliierten Armeen geredet werden, im Westen nicht und nicht im Osten. In der DDR gab es das
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politische Gebot, nicht das positive Bild des „großen Bruders“ Sowjetunion zu beschädigen. Doch das Sprechen ist elementar für jegliche Trauma-Bearbeitung, für eine würdige Lebensbewältigung, für das soziale Zusammenleben, für die nächsten Generationen. Allerdings ist aus dem Gesagten bereits deutlich geworden, dass es dazu begleitende Aufklärungsprogramme braucht. Und auch, wie wichtig fachliche solidarische Unterstützung für Überlebende ist – daher müsste diese Gesellschaft allen Mutigen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, volle Unterstützung zusagen. Wie bereits gesagt, erleben wir viel Widerstand auch bei der Thematisierung von Kriegs-Vergewaltigungen und ihren sozialen Folgen. Aus jahrelanger Erfahrung wissen wir, wie tabuisiert dieses Thema immer noch ist. Es besteht also Grund genug, eindeutige Botschaften in die Welt zu senden. Und diese Probleme können wir eben nicht nur an Gesellschaften in Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo oder nach Afghanistan delegieren, es ist auch zutiefst ein europäisches, ein deutsches Nachkriegs-Problem. Wie zerstörerisch und oft lebenslang im Erleben der Frauen die Folgen sind, dazu möchte ich die Süd-Koreanerin Ok-Seon Lee zitieren. Sie sagt über ihre schwere Zeit als Gefangene in den Zwangsbordellen der kaiserlich-japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg und danach: „Der Krieg ist längst zu Ende, die anderen sind befreit worden, aber ich nicht.“ Diese alten Frauen, in Deutschland wie in Japan und anderswo, haben nie irgendeine Form von sozialer Anerkennung oder gar Gerechtigkeit erhalten. Noch nie gab es in Deutschland eine Würdigung, zum Beispiel durch die Rede des Bundespräsidenten zum Volkstrauertag oder einer Kanzlerin zum 8. Mai – für einige der Frauen wäre es noch nicht zu spät.
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Doch das Mindeste, was heute alten Frauen zuteilwerden sollte, ist fachlich auf sie ausgerichtete Begleitung und nicht Pathologisierung, Medikalisierung und neuerliche Verletzungen. So verstehe ich die Arbeit von Paula e. V. auch als eine Form der Gerechtigkeit. Es geht darum, diese Zusammenhänge darzustellen, wie z. B. die beim Auftreten von Traumasymptomen bei alten Frauen oft vorschnell getroffene Diagnose Demenz, die Auswirkungen der Folgen von transgenerationaler Traumatisierung auf das Pflegesystem oder auch die positiven Auswirkungen von Therapie und Beratung gerade im hohen Alter. Dazu dient auch dieses Buch. Ich freue mich vor allem für alle überlebenden alten Frauen, die davon wirklich noch profitieren können.
I Einleitung – Traumasensible Unterstützung für alte Frauen Martina Böhmer, Karin Griese Paula e. V. ist eine Kölner Beratungsstelle für Frauen ab 60 Jahren, die Traumata, Gewalt und andere belastende Lebenssituationen erlebt haben oder aktuell erleben. Beratungs-, Fortbildungs- und Supervisionsangebote zum Umgang mit älteren bis hochaltrigen Frauen richten sich zudem an Angehörige sowie Fachkräfte aus dem Gesundheitsbereich und dem Frauenberatungskontext. Im Rahmen eines vom Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen (MGEPA NRW) und der EU finanzierten zweieinhalbjährigen Projektes hat Paula e. V. Konzepte zur traumasensiblen Unterstützung von alten und hochaltrigen Frauen entwickelt und erprobt. Im Rahmen dieses Projektes wurden darüber hinaus Beispiele zu erfolgreichen frauenorientierten und traumasensiblen Arbeitsansätzen in der Therapie und Beratung von alten bis hochaltrigen Frauen, die Gewalt und Traumatisierung erlebt haben, zusammengetragen. Diese möchten wir nun zusammen mit Hintergrundtexten und den Projektergebnissen interessierten Leserinnen und Lesern zugänglich machen. Das vorliegende Buch soll BeraterInnen und PsychotherapeutInnen, z. B. aus SeniorInnen-, Frauen- oder Migrationsarbeit, Gesundheitsfachkräften, aber auch Angehörigen und FreundInnen hilfreiche und ermutigende Anregungen für spezifische Formen der Unterstützung geben, die zur Stärkung und Stabilisierung von alten Frauen beitragen.
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Einleitung
Gewalterfahrungen alter Frauen in den Blick nehmen Die erste, vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegebene repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland1 belegt 2004, dass 40 Prozent der befragten Frauen körperliche oder sexualisierte Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr erfahren haben; jede siebte Frau ist von strafrechtlich relevanter sexualisierter Gewalt betroffen. Andere Studienergebnisse2 zeigen, dass fast ein Viertel aller Frauen in Deutschland unterschiedlichste Formen von Gewalt erfahren hat, die Folgen für ihre Gesundheit haben. Demnach müssen „ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen, Pflegekräfte (…) davon ausgehen, dass jede fünfte Frau, mit der sie wegen gesundheitlicher Probleme in Kontakt kommen, geschlechtsbezogene Gewalt erlebt hat oder erleben wird.“ Lange Zeit wurden bei der Thematik häusliche und sexualisierte Gewalt kaum ältere und hochaltrige Frauen mitgedacht. Die in den verschiedenen Studien angeführten Zahlen gelten mit großer Wahrscheinlichkeit auch für die heute alten Frauen unterschiedlichster Herkunft, die jetzt pflegebedürftig sind oder noch werden. Es ist davon auszugehen, dass diese Frauen u. a. durch eine Gesetzgebung3, die Gewalt in der Ehe gefördert hat („eheliche Pflichten“) und mangelnden Schutz und Aufklärung noch häufiger und im Besonderen von sexualisierter Gewalt betroffen sind 1 Schröttle, Monika; Müller, Ursula: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Repräsentative Untersuchung. Herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2004. 2 Hagemann-White, Caroline; Bohne, Sabine in: Versorgungsbedarf und Anforderungen an Professionelle im Gesundheitswesen im Problembereich Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Expertise für die Enquêtekommission „Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in NRW“, Universität Osnabrück. Februar 2003. 3 Erst seit 1997 ist erzwungener ehelicher Beischlaf als Vergewaltigung strafbar und erst am 1.7.1977 gab es die Reform des Eherechts, nach der der Begriff „eheliche Pflichten“ nicht mehr existiert. Die alten Frauen sind jedoch mit diesem Rechtsbegriff aufgewachsen, daher definieren viele der heute alten Frauen die erlebten Übergriffe auf sie nicht als Gewalttat.
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als bisher angenommen und erforscht. Sie konnten diese Gewalt nicht immer als solche wahrnehmen oder benennen. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass viele heute alte und hochaltrige Frauen im Kontext des Zweiten Weltkrieges, aber auch in aktuellen Kriegen und Konflikten, Flucht und Verfolgung, Vergewaltigungen und anderen traumatischen Erfahrungen ausgesetzt waren oder sind. Wenn Frauen pflegebedürftig werden, sind viele von ihnen von Gewalt im Pflegekontext betroffen.4 Auch Frauen mit Beeinträchtigungen – wie u. a. Demenz5 – und Behinderungen erleben besonders häufig körperliche, psychische und sexuelle Gewalt.6 Darüber hinaus sind die in Deutschland lebenden Migrantinnen und die aus Kriegs- und Krisengebieten geflohenen Frauen laut der repräsentativen Studie des BMFSFJ noch stärker als die deutschen Frauen von körperlicher und sexualisierter Gewalterfahrung betroffen. Viele der Frauen dieser Gruppe haben inzwischen ein Alter erreicht, in dem sie pflegebedürftig werden. Nur allmählich verändert sich die Wahrnehmung der Lebensumstände und Bedarfe von alten Frauen. Dazu haben die Fachbuchveröffentlichung der Autorin Martina Böhmer zu „Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte heute alter 4 In einer Befragung von 503 Pflegekräften gab mehr als ein Drittel an, innerhalb von 12 Monaten wenigstens eine Form von Gewalt bei Pflegebedürftigen angewendet zu haben durch personale und strukturelle Gewalt. Siehe Ergebnisse repräsentative ZQP-Befragung „Aggression und Gewalt in der Pflege“, 1. Juli 2014. 5 Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft, Berlin, geht von 320.290 Alzheimer-Kranken in NRW aus, auch hier sind mehrheitlich Frauen, nämlich 70%, betroffen. 6 Fast 50% der Frauen mit Behinderung erleben sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit, Jugend oder im Erwachsenenalter. Siehe: Schröttle, Monika et al. (2013): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
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Einleitung
Frauen“ im Jahre 20007 und die entsprechende Öffentlichkeitsarbeit beigetragen. Mit diesem veränderten Blick könnten (und sollten) vermehrt auch alte Frauen in die bestehenden Unterstützungsangebote für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder aktuell erleben, miteinbezogen werden. Folgen von Gewalt und Traumatisierung Die geschilderten Erlebnisse sind in der Summe hoch belastende bis traumatische Erfahrungen. Erfahrungen sind dann traumatisch, wenn sie eine ernsthafte Bedrohung der körperlichen und psychischen Unversehrtheit bedeuten, außergewöhnliche Furcht auslösen, ihnen aber weder durch Flucht noch durch Kampf begegnet werden kann. Betroffene erleben extreme Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ein Psychotrauma ist eine Überlebensreaktion auf lebensbedrohliche Ereignisse. Auch das Mitansehen von Gewalt oder der plötzliche Tod eines Angehörigen kann traumatisierend sein. Einzelne traumatische Ereignisse wie einen Verkehrsunfall oder eine Naturkatastrophe verarbeiten viele Menschen bei guter Unterstützung und sozialer Einbettung oft erfolgreich, ohne sich langfristig durch das Ereignis beeinträchtigt zu fühlen. Dagegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich psychische, körperliche oder soziale Belastungen in Folge von Traumatisierungen chronifizieren und auch langfristig nur schwer verarbeitet werden können, bei anderen Erfahrungen sehr hoch, wie z. B. nach Vernichtungslager und Folter, Vergewaltigungen, Kriegserfahrungen oder Misshandlungen in der Kindheit.8 Auch langandauernde häusliche Gewalt führt bei mehr als der Hälfte aller Betroffenen zu Langzeitbelastun 7 Böhmer, Martina: Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte heute alter Frauen. Ansätze für eine frauenorientierte Altenarbeit. Mabuse-Verlag, Frankfurt/Main. 2000. 8 Siehe Kessler, Ronald C. et al. (1995): Posttraumatic stress disorder in the National Comorbidity Survey. Archives of General Psychiatry, 52, 1048-1060. Repräsentative amerikanische Stichprobe, bisher größte Untersuchung (fast 6000 Personen wurden befragt).
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gen. Dazu gehören Antriebslosigkeit und Rückzug aus dem sozialen Leben, chronische Schmerzen oder massive Schlafstörungen. Viele berichten auch von einer chronischen Stressreaktion mit Konzentrationsschwierigkeiten, innerer Unruhe oder Reizbarkeit.9 Vielen Menschen gelingt es, diese Erlebnisse mit zeitlichem Abstand zu den Ereignissen mehr oder weniger erfolgreich über Jahrzehnte zu verdrängen und die – nur teils bewussten – Belastungsreaktionen10 durch vielschichtige Bewältigungsstrategien zu kompensieren.11 Im Alter können jedoch verschiedene Faktoren dazu beitragen, dass zurückliegende Traumatisierungen reaktiviert werden. Eine wichtige Rolle spielen hier u. a. das Ende des aktiven Berufslebens, schwere Erkrankungen und der Tod naher Angehöriger, zunehmende soziale Isolation, aber auch der Abbau des Kurzzeit-Gedächtnisses, der Erinnerungen aus dem Langzeit-Gedächtnis mehr Raum gibt.12 Bei älteren Frauen können durch alterstypische Belastungen, Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit und Verluste von körperlicher und kognitiver Selbstständigkeit Gefühle von Hilflosigkeit, Kontrollverlust und dadurch verstärkt Erinnerungen an frühere Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen wachgerufen werden. Die be 9 medica mondiale (2015): Ein solidarischer traumasensibler Ansatz zur multi-sektoriellen Unterstützung von Gewaltüberlebenden. Köln; www.medicamondiale.org 10 Wir möchten hier bewusst nicht von posttraumatischen Belastungs-„Störungen“ sprechen – es handelt sich in unserem Verständnis um Traumafolgereaktionen. „Störungen“ im Leben der heute alten Frauen waren die erlittenen Belastungen bis hin zu Gewalterlebnissen. Die Reaktionen der Frauen darauf verstehen wir als Ressource, wir sehen die Kraft der Frauen, mit dem Erlebten weiterleben zu können. Wir können davon ausgehen: Je schlimmer die Lebensereignisse waren, desto stärker sind die Folgen ausgeprägt und umso mehr mussten die Frauen Strategien finden, um sie zu bewältigen. Das kann bis hin zu schwersten dissoziativen Zuständen führen. 11 FAZ.net vom 20.7.2011 zitiert aus einer Studie der Universitätsmedizin Leipzig zu den Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs: 12 % der befragten über 60-Jährigen zeigen Anzeichen einer Traumatisierung, zwischen 40 und 50 % der heutigen Älteren berichten über mindestens ein traumatisches Ereignis, vor allem aus Kriegszeiten, und bei 3,4 % der Befragten der über 60-Jährigen lag eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vor. 12 Maercker, Andreas (Hrsg.) (1997): Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen. Berlin, Springer Verlag.
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Einleitung
troffenen Frauen sind durch die damit oft verbundenen – für sie oft unerklärlichen – belastenden Symptome in hohem Maße verunsichert und verängstigt. Gesundheitsfachkräfte und auch (pflegende) Angehörige stehen dieser besonderen Vulnerabilität meist hilflos gegenüber. Gerade in der medizinischen Versorgung und in der Pflege kann es durch bestimmte Trigger (Auslöser), die – oft unwillkürlich – mit zurückliegenden traumatischen Erlebnisse assoziiert werden, zu Retraumatisierungen oder Trauma-Reaktivierungen kommen, d. h. zu akuten psychischen und körperlichen Belastungen wie unmittelbar im Zusammenhang mit einer früheren Traumatisierung. Auch können sich bereits vorhandene posttraumatische Belastungsreaktionen verschlimmern. Hinzu kommt die Gefahr einer primären Traumatisierung durch – gewollte oder ungewollte – Gewaltausübung13. Auch medizinische Diagnostik und Behandlungen, besonders invasive (eindringende) Methoden wie z. B. das Legen eines Katheters oder die Körperpflege, die per se grenzüberschreitend ist, können einen retraumatisierenden Charakter haben. Selbst ganz alltägliche Situationen, die entstehen, wenn die betroffenen Frauen ihre Umgebung, die Art und Durchführung der Hilfestellungen und die Personen, die diese Hilfestellungen durchführen, nicht selbst bestimmen können, können psychisch als höchst belastend wahrgenommen werden. Traumatisierungen können zudem die zugrunde liegende Ursache oder mitauslösender Faktor bei unterschiedlichsten Formen von psychischen Problemen und Krankheitsbildern sein, z. B. bei veränderter Wahrnehmung, Apathie, Depression, Angst- und Panikzuständen, regressivem Verhalten, Aggressivität, Zwangshandlungen und auch bei Halluzinationen. Im somatischen Bereich kann es zu chronischen Schmerzen, Schlaf 13 Böhmer, Martina (2000): Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte heute alter Frauen, a.a.O.
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störungen, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Essstörungen, Atemstörungen und zu extremen Schwankungen aller Vitalwerte kommen. Auffällig ist, dass diese und andere Symptome oft z. B. erst durch eine einsetzende Pflegebedürftigkeit (wieder) auftreten. Und da diese Symptome u. a. auch als Symptome einer Demenz gelten, besteht die Gefahr, dass sie von Angehörigen, Gesundheitsfachkräften und anderen nicht als Traumafolgereaktionen, sondern fälschlicherweise z. B. als Demenz diagnostiziert werden. Generell ist zu beobachten, dass bei alten Frauen mehrheitlich und häufig per se Alterserkrankungen, wie z. B. Demenz, HOPS (hirnorganisches Psychosyndrom) oder eine Altersdepression diagnostiziert werden und übersehen wird, dass deren Verhaltensweisen und Symptome auch mit möglicherweise erlebten Gewalterfahrungen in Verbindung zu bringen sind und nicht unbedingt mit der Erkrankung in Zusammenhang stehen. Dies kann dann zu entsprechenden Behandlungsmaßnahmen führen, die die Ursachen nicht mit einbeziehen und so den alten Frauen möglicherweise weiteren Schaden zufügen. Die Konsequenz für die Betroffenen ist dann meist eine Symptombehandlung mit Psychopharmaka, Realitätsorientierungstraining, Beschäftigungstherapien und speziellen Methoden im Umgang mit „Dementen“. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Demenzerkrankung – und auch nur die Verdachts-Diagnose Demenz – für die Betroffenen ebenso eine sehr intensive Ohnmachtssituation darstellt. Traumasensible Unterstützungsangebote für alte Frauen – Herausforderungen begegnen Im Umgang mit alten, möglicherweise von (zurückliegender) Gewalt betroffenen Frauen geht es immer darum, traumasensibel und wachsam zu sein, um sowohl psychische als auch physische Verhaltens- oder Reaktionsweisen in Zusammenhang mit möglichen
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Einleitung
aktuellen oder vergangenen Belastungen zu sehen. So können Formen der Unterstützung gefunden werden, die ihnen so viel Autonomie und (Mit-)Bestimmung wie möglich eröffnen. Dabei berücksichtigt ein traumasensibler Ansatz bestimmte Grundprinzipien im Umgang mit Menschen, die Gewalt erfahren haben. Es geht dabei darum, zusätzlichen Stress für die Betroffenen zu vermeiden, einer Reaktivierung von Trauma-Symptomen vorzubeugen und die alten Frauen zu stärken und zu stabilisieren.14 Dabei ist es wichtig, auch die mögliche Auswirkung der Traumadynamiken auf das HelferInnensystem mit in den Blick zu nehmen. Hier braucht es themenspezifische Fortbildungen, die auch Ansätze zur Selbstfürsorge einbeziehen sowie Angebote zur Angehörigenberatung. Die Autorinnen befassen sich in diesem Buch aus verschiedenen fachlichen Perspektiven mit den speziellen Herausforderungen, aber vor allem mit den Chancen für positives Erleben und Veränderung für Frauen im höheren Lebensalter – auch nach schweren Traumatisierungen. Es wird deutlich, dass es wichtig ist, kreative Wege zu finden, um alten und hochaltrigen Frauen den Zugang zu Beratung und ggf. Psychotherapie zu ermöglichen und zu erleichtern. Die Autorinnen geben wichtige Hinweise zum Umgang mit möglichen kognitiven Einschränkungen wie z. B. durch eine demenzielle Erkrankung und zeigen, dass zum Teil schon wenige Beratungsstunden große Erleichterung und Beruhigung bringen und einen grundlegenden Perspektivenwechsel ermöglichen können. Als sehr positiv beschrieben werden Angebote, die den regelmäßigen Austausch unter den TeilnehmerInnen fördern und so auch einer zunehmenden sozialen Isolation im Alter entgegenwirken können. So kann die Lebensqualität durch adäquate trau 14 Siehe dazu ausführlich medica mondiale (2015): Ein solidarischer traumasensibler Ansatz, a.a.O.
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ma- und kultursensible Unterstützungsangebote gesteigert oder erst wiederhergestellt werden. Überblick zu den Beiträgen dieses Buches Nach dieser Einleitung zur traumasensiblen Unterstützung alter Frauen in Kapitel I beschäftigt sich das Kapitel II mit den Langzeitfolgen von Traumatisierungen. Im ersten Artikel werden von Martina Böhmer die aktuellen Projektergebnisse vorgestellt: Die im Rahmen eines interdisziplinären Qualitätszirkels entwickelte Pflegeanleitung „Traumasensible Pflege alter Frauen“ sowie ein dazu gehöriger Handlungsleitfaden, Schulungskonzept und Gütesiegel. Inka Wilhelm beschreibt mögliche Spätfolgen von Kriegstraumatisierungen und ihre Konsequenzen für die Pflege und Versorgung Betroffener. Sie gibt u. a. konkrete Handlungsempfehlungen, um Retraumatisierungen zu vermeiden und im Pflegealltag zu Sicherheit und Stabilisierung beizutragen. Maria Zemp schildert anhand einer Fallvignette exemplarisch die Auswirkungen mütterlicher Traumatisierung auf das Familiensystem sowie die Dynamik, die das für die von den Töchtern begleitete institutionelle Pflege einer demenziell erkrankten Mutter mit sich brachte. Eindrücklich zeigt sie auf, wie es im Zusammenspiel zwischen Angehörigen und Pflegekräften im Altenheim des Heimatortes gelingen konnte, noch im hohen Alter traumatische Verstrickungen aufzuweichen und der alten Frau gelöste, ruhige letzte Lebensmonate zu ermöglichen. Im letzten Artikel dieses Kapitels erörtern die Autorinnen Polina Hilsenbeck und Eva Gebhardt vom FrauenTherapieZentrum München den hohen Bedarf an interkulturell ausgerichteten, frauenspezifischen ambulanten gerontopsychiatrischen Diensten für alte Frauen mit und ohne Migrationshintergrund. Sie geben Beispiele aus ihrem Praxisalltag – u. a. aus ihrem gerontopsychiatrischen Projekt „Vielfalten“ – und beschreiben die Herausforderun-
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gen, vor die sie sich in der Arbeit gestellt sehen; u. a. mangelt es in den Hilfesystemen an Wissen über Gewalterfahrungen und an traumakompetenter psychiatrischer Behandlung, Betreuung und Pflege. In Kapitel III geht es um psychotherapeutische und psychosoziale Behandlungs- und Beratungsansätze für alte und hochaltrige Frauen. Dr. Luise Reddemann beschreibt exemplarisch die therapeutische Arbeit mit einer Klientin, die im Krieg als Kind traumatisiert wurde, mit dem von ihr entwickelten Behandlungsansatz der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT)15. Sie erläutert zudem, was in der Psychotherapie eines heute alten „Kriegskindes“ berücksichtigt werden sollte. In zwei weiteren Artikeln werden von den Autorinnen Erfahrungen in der erfolgreichen Anwendung verschiedener psychotherapeutischer Methoden in der Arbeit mit alten bis hochaltrigen Frauen beschrieben. Tomris Grisard schildert die Anwendung einer Kurzzeittherapie von zehn bis zwölf Sitzungen, die einen strukturierten Lebensrückblick und bei Bedarf auch traumatherapeutische Ansätze wie EMDR beinhaltet. Lydia Handke gibt eine praktische Anleitung zur Durchführung der systemisch orientierten Übung: „Die Ressourcen meines Lebens“. Sie eignet sich für die versöhnende Rückschau mit alten Menschen und solchen, die sich auf den Tod vorbereiten oder sich in einer schweren Krankheit von einer wichtigen Strecke des Lebens verabschieden wollen. Brigitte Merkwitz zeigt anhand von zwei Fallgeschichten exemplarisch die erfolgreiche Anwendung von stabilisierenden Elementen der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT)16 mit demenziell erkrankten alten Frauen. 15 Reddemann, Luise (2014): Imagination als heilsame Kraft – Zur ressourcenorientierten Behandlung von Traumafolgen. Klett-Cotta, 17. Auflage. 16 Ebd.
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Martina Böhmer stellt in ihrem Artikel – illustriert durch mehrere Fallbeispiele – die frauenorientierte und traumasensible Arbeitsweise von Paula e. V. vor, einer Beratungsstelle für Frauen ab 60 Jahren (s. o.). Sie beschreibt darüber hinaus systematisch die Besonderheiten in der Beratung mit älteren oder alten Frauen. Silvia Mader und Anett Große, zwei Mitarbeiterinnen der Opferhilfe Sachsen, beschreiben ein spezielles Veranstaltungsformat, das älteren Frauen als eine Art Zugangsstrategie das Aufsuchen der Beratungsstellen erleichtert. Darüber hinaus erörtern sie ein von ihnen entwickeltes Konzept zur stabilisierenden und angstreduzierenden Vorbereitung für ZeugInnenaussagen und beschreiben erfahrungsbasierte Parameter für die Beratung von alten Frauen. Kapitel IV beschäftigt sich mit Unterstützungsansätzen für alte Frauen, die unterschiedliche Formen der Biografiearbeit beinhalten. Ingrid Reich schildert die positiven Erfahrungen des Frauennotrufs München mit fortlaufenden, einmal wöchentlich stattfindenden traumasensiblen Biografie-Frühstücksgruppen für Frauen ab 60 Jahren. Die regelmäßige Teilnahme an den Gruppen bricht die altersbedingte Isolation auf, wirkt sinnstiftend und stabilisierend und erleichtert alten Frauen bei Bedarf auch den Zugang zu Einzelberatungen. Kathleen Battke beschreibt, wie sich „Kriegskinder“ und auch „Kriegsenkel“ durch wertschätzenden Austausch in Gesprächsgruppen und durch das angeleitete Aufschreiben von „Mosaiksteinen aus der eigenen Lebens- bzw. Kriegskindheitsgeschichte“ deutlich entlastet und neu mit anderen Menschen, die ähnliches erlebt haben, verbunden fühlen. Sonja Schlegel schildert ihre Erfahrungen mit den 2005 von ihr in Köln gegründeten Begegnungs- und Erzählcafés für Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes. Die Cafés und viele gemeinsame Unternehmungen haben nach eigenen Aussagen einen sehr hohen Wert für die TeilnehmerInnen und führen zu einem Gefühl der Verbundenheit – trotz
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aller Heterogenität. Dabei bringt das wiederholte Erzählen der eigenen Geschichte gerade mit zunehmendem Alter auch hohe psychische Belastungen bis hin zu Trauma-Reaktivierungen mit sich. Kapitel V befasst sich mit Ergotherapie und Yoga als stabilisierenden Unterstützungsangeboten für alte Frauen, die Gewalt oder Traumatisierung erlebt haben. Karoline Mayer und Polina Hilsenbeck vom FrauenTherapieZentrum München beschreiben das häufig von Frauen mit psychischen Erkrankungen genutzte ergotherapeutische Angebot „THEAmobil – Therapie und Hilfe im Alltag für ältere Frauen“. Ziel des Angebots ist es, die größtmögliche Eigenständigkeit in der Lebensführung zu erhalten und Pflegebedürftigkeit und Klinikunterbringung weitgehend zu vermeiden. Es zeigt sich, wie die aufsuchende Ergotherapie mit ihren spezifischen Methoden einen heilenden Effekt hinsichtlich Belastungen durch Traumafolgen erreichen kann, ohne die komplexen Gewaltund Verlust-Traumata direkt ansprechen zu müssen. Schließlich legt Astrid Ewers in ihrem Artikel dar, warum und unter welchen Bedingungen sich Kundalini Yoga gut dazu eignet, bei Menschen unterschiedlichen Alters mit einer posttraumatischen Belastung oder auch einer Demenz die Selbstregulation zu fördern und das Selbstvertrauen zu stärken. Im Kapitel VI haben wir themenrelevante Buchempfehlungen sowie interessante Webseiten zusammengestellt. Ausblick Bisher unterscheiden sich häufig noch Beratungs-, Behandlungsund Therapieangebote für jüngere und ältere bis hochaltrige Frauen. Für ältere Frauen und ihre Belange sind in der Regel die Senioren-, Altenhilfe- und Altenpflegehilfesysteme zuständig. Diese Einrichtungen legen ihren Schwerpunkt auf Angebote für SeniorInnen, also auf alte Frauen. Dies bedeutet häufig eine unzureichende
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Wahrnehmung der realen Lebensumstände und entsprechenden Lebensbedürfnisse von alten Frauen, da hier die geschlechtsspezifischen Belange von Frauen oft nicht in dem Maße miteinbezogen werden, wie es notwendig wäre. Dies betrifft in besonderem Maße Frauen, die in ihrer psychischen oder physischen Gesundheit eingeschränkt sind bzw. sich eingeschränkt fühlen, was manchmal bereits eine Folge unzureichender Unterstützungsangebote ist. Das drückt sich zum Beispiel auch aus in der Wahrnehmung aktueller Gewalt gegen pflegebedürftige Frauen. Hier wird bisher in der Regel von „Gewalt in der Pflege“ gesprochen. Dies hatte bisher mehrheitlich lediglich zur Folge, dass nur Pflegende sich mit dieser Thematik auseinandersetzen mussten. Es war und ist ein „Pflegethema“ in der öffentlichen und auch feministischen Wahrnehmung. Dabei wird übersehen, dass es sich um häusliche Gewalt gegen Frauen handelt – hier häufig im Pflegekontext; das heißt, dass sowohl innerfamiliäre Gewalt als auch Gewalt von Pflegenden gegen die Frauen ausgeübt wird, wenn sie entweder selbst hilfeoder pflegebedürftig sind oder aber pflegebedürftige Angehörige versorgen, die ihnen Gewalt antun. Wir wollen in den Beratungs- und Unterstützungsangeboten von Paula e. V. und auch mit diesem Buch bewusst einen Schwerpunkt auf ältere bis hochaltrige Frauen legen. Das hat dann bei dem genannten Beispiel einen Perspektivenwechsel zur Folge: weg von „Gewalt in der Pflege“ und hin zu „Gewalt gegen Frauen“. Diese veränderte Wahrnehmung führt dazu, dass es eine Kooperation und Vernetzung zwischen Unterstützungsangeboten der Altenhilfe und -pflege und Unterstützungsangeboten aus dem Frauenberatungs- und Frauenhilfekontext geben kann und muss. Letztere haben seit vielen Jahren Erfahrung mit dem Thema Gewalt gegen Frauen, entsprechenden Präventionsmaßnahmen, Beratungs- und
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Therapieangeboten. So können Kompetenzen zum Thema ALT und FRAU synergetisch verknüpft werden. Profitieren von einer veränderten Wahrnehmung und einem Perspektivenwechsel von ALT hin zu FRAU werden die heute älteren bis hochaltrigen Frauen mit all ihren vielfältigen und bunten Lebenserfahrungen, Bedürfnissen, geschlechtsspezifischen Biografien, Gesundheitszuständen, Beeinträchtigungen, Sozialisationen, ihrer jeweiligen Herkunft, ihren finanziellen, religiösen, politischen und sexuellen Orientierungen. Profitieren werden aber auch UnterstützerInnen sowohl aus der Alten- und Frauenarbeit als auch ehrenamtliche BegleiterInnen, FreundInnen, Angehörige, pflegende Angehörige. Wie in den Beiträgen dieses Buches deutlich wird, ist es oftmals sehr entlastend und erleichternd in der Arbeit mit den alten Frauen, deren Traumafolgereaktionen als solche zu erkennen und so wirklich individuelle bedürfnisgerechte Unterstützungsmaßnahmen entwi ckeln und anbieten zu können. Das vereinfacht die Pflege und Begleitung sehr häufig und schafft Vertrauen zwischen denen, die Hilfe benötigen, und denen, die sie geben. Sie alle profitieren aber auch von einem anderen Blick auf die alten Frauen, weil auch sie so die Möglichkeit haben, sich mit durch die Generationen weitergegebenen Traumatisierungen und deren Folgen zu beschäftigen und sich im besten Falle davon zu lösen. So soll es also eine Selbstverständlichkeit sein, dass auch ältere bis hochaltrige Frauen mit ihren möglicherweise erlebten Gewaltgeschichten gesehen werden und Unterstützung erfahren. Im besten Falle können sie sich davon befreien und sich noch einmal unbelastet dem Leben und ihren Wünschen zuwenden. Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten.