Buchbesprechungen 2023

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Die BlackwellSchwestern

Wie die ersten Ärztinnen der USA die Frauen in die Medizin brachten

Was Dorothea Christiane Erxleben für Deutschland ist, das ist ohne Zweifel Elizabeth Blackwell für die USA: die erste Frau, die Medizin studiert hat und einen medizinischen Doktortitel trug. Ihre jüngere Schwester Emily folgte ihr wenig später. Janice P. Nimura widmet sich in ihrem Buch der Lebensgeschichte der beiden Blackwell-Schwestern und fragt nach ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Frauen in der Medizin.

Aus England stammend übersiedelt die Familie Blackwell 1832 in die Vereinigten Staaten. Der Familienvater stirbt bereits 1838, worauf die Frauen der Familie versuchen, mit einer Privatschule finanziell über die Runden zu kommen. Elizabeth Blackwell gilt bereits früh als rational und zielstrebig. So war ihr selbst durchaus bewusst, dass ihr Ziel, Medizin zu studieren, nur schwer zu erreichen sein würde. Doch ihre Beharrlichkeit gab ihr letztendlich recht.Trotz intensiver Vorgespräche mit Ärzten, Professoren und Dekanen wurde ihre Bewerbung für ein Medizinstudium von zwölf Colleges aufgrund ihres Geschlechts abgelehnt. Jede Abweisung fachte ihren Ehrgeiz jedoch noch mehr an. Erst das Geneva Medical College in New York nahm sie nach einer Befragung der eingeschriebenen Studenten als erste weibliche Medizinstudentin an. Zwar versuchte sie, dort nicht als Besonderheit aufzufallen, doch trat sie immer für ihre Rechte ein, beispielsweise wenn sie ein Dozent von einer Vorlesung ausschließen wollte. Sie arbeitete besonders hart, weil sie unter immerwährender Beobachtung stand und jedes Scheitern Wasser auf den Mühlen ihrer Kritiker gewesen wäre. So überraschte es dann auch nicht, dass sie 1849 beste Absolventin ihres Jahrgangs war.

Zur Vervollkommnung ihrer Ausbildung ging sie im Anschluss nach Europa, sah sich dort aber den gleichen Vorbehalten gegenüber Frauen in der Medizin ausgesetzt wie in den USA. In Paris, der weltweit führenden Metropole im Bereich der Medizin, erkannte man ihre Ausbildung nicht an. Jedoch war sie sich nicht zu fein dafür, auf einer Stufe mit den Hebammen

zu arbeiten, um zumindest auf diese Weise wichtige Einblicke in die Praxis der Geburtshilfe zu bekommen.

Zurück in den USA eröffnete sie in New York eine Krankenstation speziell für Frauen, die zunächst nur spärlich frequentiert wurde. Doch Elizabeth Blackwell gab nicht auf und erarbeitete sich so einen immer größeren Patientinnenstamm. Gemeinsam mit ihrer Schwester Emily, die kurze Zeit nach Elizabeth ebenfalls Medizin studierte und es noch schwieriger hatte als ihre Schwester, baute sie die Krankenstation immer weiter aus. Dort bildeten sie dann auch Frauen in Medizin aus. Zwar entstanden in dieser Zeit in den USA bereits einige Colleges speziell für Frauen, doch diese Entwicklung missfiel den Blackwells, denn sie wollten keine gesonderte Ausbildung für Frauen, sondern sie forderten dieselben Bedingungen, wie sie auch für Männer galten. Die Frauencolleges etablierten jedoch einen Standard unterhalb dem der Männer und das wollten die Schwestern vermeiden. Daher gründeten sie ein eigenes College und trugen damit maßgeblich zur Öffnung des Medizinstudiums für Frauen bei.

Nimura schreibt eine faszinierende und gut lesbare Biografie über zwei Pionierinnen der amerikanischen Medizin und schafft es gleichzeitig, wichtige Einblicke in das amerikanische Gesellschaftssystem des 19.Jahrhunderts zu geben. Eindrucksvoll arbeitet sie an den Blackwells ein Bild der Zeit heraus. Elizabeth und Emily wurden von den fortschrittlich gesinnten männlichen Ärzten als eine erfreuliche Ausnahme in der Welt der Medizin gesehen. Eine grundsätzliche Öffnung des Medizinerstandes für Frauen wurde aber unisono abgelehnt. Zwar deckten sich Elizabeths und Emilys Überzeugungen nicht immer mit denen der Frauenrechtlerinnen, doch auch sie setzten sich für die Rechte von Frauen ein und waren somit ein Teil der Frauenbewegung.

Igor Plohl, Urška Stropnik Šonc, Rogi findet sein Glück

Ein Kinderfachbuch über das Leben mit Rollstuhl

2022, 38 Seiten, 22 Euro ISBN 978-3-86321-622-1

Nach einem schlimmen Unfall ist Rogis Wirbelsäule so kaputt, dass er im Rollstuhl sitzen muss. Er hat Angst, nie wieder die Dinge machen zu können, die er liebt. Doch er findet mit der Hilfe seiner Tierclique heraus, wie er mit den neuen Hürden umgehen kann. Das Kinderfachbuch basiert auf der Lebensgeschichte des Autors und vermittelt dessen optimistische Einstellung, dass auch im Rollstuhl fast alles möglich ist. Für Kinder ab 3 Jahren.

Buchbesprechungen 95 Dr. med. Mabuse 259 1. Quartal 2023 w www.mabuse-verlag.de
Neu bei Mabuse
Nagel & Kimche, Zürich 2021, 336 S., 26 Euro

Kai von Klitzing

Vernachlässigung

Betreuung und Therapie von emotional vernachlässigten und misshandelten

Kindern

Kai von Klitzing, Arzt, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie an der Universität Leipzig, Psychoanalytiker und Lehranalytiker, hat die erste Gesamtdarstellung zum Thema „Vernachlässigung“ verfasst. Das ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass Vernachlässigung weltweit die mit Abstand häufigste Gefährdung des Kindeswohls ist. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Teil eins befasst sich in sieben Kapiteln mit den mannigfachen Problemen, Teil zwei beschreibt in drei Kapiteln die unterschiedlichen Behandlungen der Folgen von Misshandlung.

In seiner Einführung weist von Klitzing darauf hin, dass im allgemeinen Sprachgebrauch von Misshandlung und Vernachlässigung gesprochen wird. Im vorliegenden Buch wird jedoch das Hauptaugenmerk auf die Misshandlungskategorien Vernachlässigung und emotionale Misshandlung gelegt. Sie sind die quantitativ am häufigsten vorkommenden Phänomene, werden jedoch in der Fachliteratur sowie in den Medien kaum behandelt (S.14).

An einem Fall aus der Praxis macht von Klitzing einleitend deutlich, dass eine Misshandlungserfahrung nicht vorwiegend durch aktive Handlungen der für die Fürsorge verantwortlichen Beziehungspersonen zustande kommt, sondern durch eine Unterlassung eines sensitiven und entwicklungsangemessenen Fürsorgeverhaltens. Infolgedessen sind Kinder einem Mangelausgesetzt, den sie passiv erleben (S.26). Das entscheidende Problem: Diese Kinder geben später ihren Opferstatus auf und attackieren die neuen Umfelder, in die sie gebracht werden. Gegenüber Bezugs- und Betreuungspersonen zeigen sie ein höchst destruktives Verhalten. Ihre Entwicklungs- und Beziehungsgeschichten sind kontinuierlich von Abbrüchen und Trennungen geprägt. „Die Wiederholung von Destruktion und Ausstoßung wird zum Muster. Die Kinder nehmen den Zustand von Vernachlässigung und Trennung quasi in sich hinein und versuchen, ihn zu bewältigen, indem sie ihn von sich aus aktiv wiederholen“ (S.27).

An einer solchen Wiederholung von Destruktion und Ausstoßung scheitern mehrheitlich nicht nur Behörden, Heime und andere professionelle Helferinnen und Helfer. Jene Kinder und Jugendlichen mit ihren hassvollen Attacken, die immer zutiefst verletzen, bedeuten für alle Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten wohl allergrößte Herausforderungen. Die Behandlerinnen müssen ständig darauf achten, dass keine der sie überflutenden negativen Gegenübertragungsphänomene ausagiert werden und es nicht zum Abbruch und damit zur Wiederholung vonTrennung kommt.

Im zweiten Kapitel definiert der Autor exakte Kriterien, die Handlungen und Haltungen als „misshandelnd“ beschreiben. Definitorische Eckpunkte für die wesentlichen vier Misshandlungskategorien werden diskutiert und dargestellt: körperliche, sexuelle, emotionale Misshandlung und Vernachlässigung. Diese Misshandlungsformen überschneiden sich, ein zusätzlicher Risikofaktor ist die Dauer von Misshandlungserfahrungen – was kaum verwundert. Die Prävalenzen erlebter Kindesmisshandlungen in der Allgemeinbevölkerung sind aus verschiedenen Gründen nicht leicht zu erfassen. In bildungsfernen sozialen Schichten und unterprivilegierten durch Armut geprägten Bevölkerungsgruppen und Ländern sind die Prävalenzen berichteter Kindesmisshandlungen aber deutlich höher als in privilegierten Schichten westlicher Industrieländer (S.43). Von Klitzing zufolge ist es daher notwendig, einen kultursensitiven Ansatz zu respektieren. Doch er warnt vor einem Kulturrelativismus: Manche zentralen Bedürfnisse von Kindern sind derart entwicklungsrelevant, dass sie nicht durch kulturelle Normen relativiert werden können (S.45).

Im dritten Kapitel geht von Klitzing auf die intuitive Elternkompetenz ein. Diese biologisch angelegte Verhaltensdisposition kann erheblich gestört werden, etwa durch Belastungen oder Traumatisierungen der Eltern, Stresssituationen in der Familie, postpartale Depressionen und andere seelische Katastrophen. Das vierte Kapitel diskutiert die Folgen von Vernachlässigung für die psychische und körperliche Entwicklung: spätere psychiatrische Störungen wie Depressionen und Borderline-Störungen und körperliche Symptome wie Herzkrankheiten, Asthma, Diabetes etc.

Im fünften Kapitel geht der Autor auf neuro- und verhaltensbiologische Aspekte ein, etwa den einschneidenden Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns und die Architektur des Nervensystems. Das sechste Kapitel zeigt die Schwierigkeiten auf, welche die verantwortlichen Systeme von Jugendhilfe und Medizin haben, vernachlässigten und misshandelten Kindern pädagogisch und therapeutisch gerecht zu werden. Die größte Gefahr ist wohl, dass jene Kinder und Jugendlichen im staatlichen Hilfesystem ein Ausstoßungserlebnis nach dem anderen erfahren. Im siebten Kapitel beschreibt von Klitzing differenziert und eindrücklich das psychische Erleben des vernachlässigten Kindes. Die gründliche Lektüre dieses Kapitels würde ich allen empfehlen, die Berichte jedweder Art über Kinder und Jugendliche zu schreiben haben.

Ausgehend von der kritischen Analyse der Ursachen und Folgen von Kindesvernachlässigung entwirft von Klitzing im zweiten Teil therapeutische Ansätze, die dabei helfen, betroffenen Kindern und ihren Familien Entwicklungsperspektiven zu eröffnen. Dieser Abschnitt umfasst mehr als die Hälfte des Buches.

Durch das Buch habe ich viele neue Erkenntnisse gewonnen, nicht nur bei den neuro- und verhaltensbiologischen Aspekten. Mit Anerkennung habe ich die eigenen Forschungen der Universität Leipzig zu Theorie und Therapie zur Kenntnis genommen. Das Buch erfüllt höchste Ansprüche, es ist ein Fachbuch, dennoch in einer klaren, gut verstehbaren Sprache verfasst. Auch dank seiner spannenden, plausiblen Falldarstellungen „liest es sich fast von selbst“. Das Werk ist für jeden psychodynamisch arbeitenden Psychotherapeuten, auch wegen seines Glossars, von größter Wichtigkeit. Ich wünsche diesem Buch in der künftigen Ausbildung von Pädagogen, Psychologen und Psychotherapeuten den Status eines Standardwerkes.

Dr. Hans Hopf, Mundelsheim

Klett-Cotta, Stuttgart 2022, 296 S., 40 Euro

96 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 259 1. Quartal 2023

Annett Büttner, Pierre Pfütsch (Hg.)

Geschichte chirurgischer Assistenzberufe von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart

Mit diesem Sammelband liegt inzwischen eine zweite Veröffentlichung vor, die sich mit der Entwicklung pflegerischer bzw. medizinischer Berufe in der Neuzeit auseinandersetzt. Pierre Pfütsch und Sylvelyn Hähner-Rombach hatten sich bereits mit der 2018 im Mabuse-Verlag erschienenen Veröffentlichung „Entwicklungen in der Krankenpflege und anderen Gesundheitsberufen“ mit diesem Themenfeld auseinandergesetzt. Inzwischen ist die Professionalisierung der Pflegeberufe (u.a. generalistische Ausbildung, Akademisierung) weiter vorgeschritten und die Differenzierung beruflicher Zuschreibungen in neue Berufsfelder nimmt einen breiteren Raum ein.

Büttner und Pfütsch konzentrieren sich als Herausgeber:innen des Sammelbandes auf das Feld der ärztlichen und – über einen langen historischen Zeitraum – pflegerischen Aufgaben- und Zuständigkeitsfelder im Rahmen der operativen medizinischen Versorgung, das in seinen Entwicklungen und Neugestaltungen aufgezeigt und anhand zahlreicher historischer Quellen untersucht wird. In acht Aufsätzen und

zahlreichen dokumentierten Quellen beschäftigen sich neun in der historischen Forschung ausgewiesene Autor:innen mit folgenden Berufsgruppen und Entwicklungen: den Assistenten der frühzeitlichen Handwerkschirurgen, Chirurgiegehilfen und Wundärzten, den Narkose- und Operationsschwestern, dem Vergleich der OPFachpflege mit der OTA-Qualifizierung und der Akademisierung chirurgischer Assistenz.

Diese Veränderungen in den Berufsfeldern münden zum Teil in neue, von der Pflege unabhängige Berufsbilder ein: die chirurgisch-technischen Assistent:innen (CTA), die operationstechnischen Assistent:innen (OTA), die anästhesietechnischen Assistent:innen (ATA) und die Physician Assistants (P.A.). Das Verdienst der Autor:innen ist es, die Bedingungsprozesse der Entstehung unterschiedlicher Aufgabenstellungen, ihre Herauslösung aus dem pflegerischen (z.B. OTA) oder ärztlichen Handlungsfeld (P.A.) und ihre Allokation auf unterschiedlich qualifizierte Personen zu beschreiben. Am weitesten vorangeschritten ist dieser Professionalisierungsprozess inzwischen bei den OTA und ATA, die seit der Verabschiedung des Gesetzes „über den Beruf der Anästhesietechnischen Assistentin und des Anästhesietechnischen Assistenten und den Beruf der Operationstechnischen Assistentin und des Operationstechnischen Assistenten“ 2019 berufsrechtlich auf der gleichen Ebene wie die Berufsausbildung in der

Pflege gestellt sind. Auch in diesen Ausbildungsgesetzen werden eigenständige Aufgaben formuliert, die über eine Assistenztätigkeit hinausgehen und damit einen eigenständigen Gesundheitsberuf begründen. Deshalb handelt es sich nicht nur um Assistenzberufe – wie es der Titel des Buches es suggeriert –, sondern um eigenständige Professionen im Sinne der Heilberufe.

Bei der Konzeption eines dritten Bandes wäre es wünschenswert, auch die Ursprünge anderer Gesundheitsberufe in ihrer Ambivalenz zur Pflege und Medizin zu untersuchen, da hierzu kaum historische Forschungsarbeiten vorliegen: etwa Physio- und Ergotherapeut:innen, Logopäd:innen, Notfallsanitäter:innen.

Die Lektüre dieses Buches ist allen Studierenden in den angesprochenen Gesundheitsberufen zu empfehlen; für Pädagog:innen an den Berufsfachschulen bieten die Autor:innen zahlreiche Grundlagen und Dokumente zur Gestaltung des berufskundlichen Unterrichts.

Heinrich Recken, Hamburger Fern-Hochschule

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VERLAG
ETER MEYER Buchbesprechungen 97 Dr. med. Mabuse 259 1. Quartal 2023
Mabuse, Frankfurt am Main 2020, 284 S., 39,95

Abdi Assadi

Handbuch der Selbstfürsorge

Für Menschen in Heilberufen

Mit seinem „Handbuch der Selbstfürsorge“ will der Autor „Menschen in Heilberufen“ erreichen und in der Ausübung ihrer Tätigkeit unterstützen. Allerdings sind in erster Linie Angehörige jener Heilberufe angesprochen, die sich mit der psychischen Situation ihrer Patient:innen auseinandersetzen.

Für den Autor selbst, der in den USA lebt, stand schon früh fest, dass er im Bereich des Heilens tätig sein wollte. Seit über dreißig Jahren ist er inzwischen als lizensierter Akupunkteur, spiritueller Berater und Heilpraktiker tätig. Dazu hat er sich mit asiatischer Akupunktur beschäftigt, aber auch mit körperzentrierter Psychotherapie, Meditationstechniken, „äußeren und inneren“ Kampfkünsten sowie indigenen, schamanischen Praktiken. Diese Wurzeln seiner Tätigkeit spiegeln sich sowohl in gewählten Beispielen als auch in der verwendeten Sprache wider. Zudem ist sprachlich von Bedeutung, dass es in den USA verschiedene Bezeichnungen für den Heilpraktikerberuf gibt, zum Beispiel „traditional healer“ oder „healing practitioner“, und Begriffe wie „Heilung“ und „Heiler“ entsprechend gedeutet werden müssen.

Im Sinne eines Leitfadens beschreibt der Autor seine eigene berufliche Entwicklung. Dabei stellt er im Laufe der Jahre gewonnene Erkenntnisse in den Mittelpunkt, die ihm in der Ausübung seiner Tätigkeit spirituelle Entwicklung ermöglichten. So ist er beispielsweise der Ansicht, dass Menschen einen Heilberuf (im oben genannten Sinne) ergreifen, weil sie in ihrem bisherigen Leben eine Verletzung erlitten haben. Eine Person, die in einem Heilberuf tätig ist, muss von dieser „Verletzung“ jedoch nicht vollkommen geheilt sein, um heilend tätig sein zu können. Es ist vielmehr bedeutsam, dass sie sich der eigenen Verletzungen bewusst ist (im Sinne Carl R. Rogers: kongruent sein und handeln).

Insofern liegt hier kein klassisches Handbuch vor, das übersichtlich sortiert Methoden und Techniken zur Selbstfürsorge darstellt. Der Autor beschreibt stattdessen seine eigenen Ideen und Strategien, den eigenen Beruf so auszuüben, dass man dabei nicht selber psychisch

dekompensiert. So will er dazu anregen, die eigene innere Haltung stetig zu prüfen und zu reflektieren. Für Personen, die überlegen, einen solchen Beruf zu ergreifen, kann dieses Buch hilfreich sein. Personen, die bereits eine Ausbildung, etwa im psychotherapeutischen Bereich, begonnen oder abgeschlossen haben, werden nicht allzu viel Neues entdecken.

Martin Schieron, Dipl.-Pflegewissenschaftler (FH), Düsseldorf

Ängste bei Kindern und Jugendlichen

Ein psychoanalytischer Ratgeber: verständlich • konkret • alltagsnah

Unsere Vorfahren hätten sich ahnungslos dem Tiger zum Fraß angeboten, wenn sie keine Angst als Warnung registriert hätten.“ Ängste sind im Grunde normal, wesentlich auch für heranwachsende Kinder, haben lebens- und menschheitsrettendes Potenzial. Doch sie können – gar nicht so selten – stören, blockieren, krank und ratlos machen. Wohltuend leichtfüßig lädt der Kinder- und JugendlichenPsychotherapeut Stefan Hetterich in diesem kleinen Ratgeberbuch von der ersten Seite an zum Verstehen dieses Spannungsfeldes ein.

In einfacher Sprache skizziert das Geleitwort des offenbar seelenverwandten Kollegen Hans Hopf die Relevanz von Ängsten für fast alle Störungen im Kindes- und Jugendalter, grenzt sie von angemessener Furcht vor realen Bedrohungen ab und geht auf den Hintergrund unbewusster Konflikte ein. Die folgenden Kapitel sind übersichtlich gegliedert, führen sicher und schnörkellos in die Thematik ein, lebendig ergänzt durch eingestreute Episoden von Laura, Luca, Nicolas etc. Der Autor duzt seine Leser:innen, um ihnen einen direk-

ten Bezug zu ihrer Kindheit zu ermöglichen und sie in Kontakt mit der eigenen Haltung zu bringen. Dabei bleibt er wertschätzend, ruhig und verständnisvoll, beschreibt die Normalität elterlicher Reflexe ebenso wie die „Lösungsversuche“ der kindlichen Psyche.

Am Anfang stehen die Grundzüge der menschlichen Wahrnehmungsverarbeitung und der klassischen Angstreaktionen Kampf, Flucht oder Erstarren sowie typische Ängste vom Säuglings- bis zum Adoleszenzalter. Es folgt eine kleine „Reise“ ins Unbewusste, fast spielerisch lässt sich das psychoanalytische Konzept einschließlich der Verdrängung inakzeptabler Gedanken und folgender Konflikte begreifen. In einem weiteren Abschnitt lernen wir eine Reihe häufiger Angstauslöser kennen, etwa Trennung, Neues, eigene Gefühle oder Entwicklung. Auch wenn der Übergang zu Angststörungen fließend sei, wird ihnen als klar definiertem psychischen Erkrankungsbild ein eigenes Kapitel gewidmet, mit dem deutlichen Hinweis, die entsprechende Diagnose kinder- und jugendpsychiatrischen Fachleuten zu überlassen. Nach diesen immer wieder zum eigenen Nachsinnen und Mitdenken anregenden Erklärungen schließt sich der umfangreichste Teil an zu der Frage, was Eltern tun können bzw. wie sie sich angstmindernd verhalten können. Behutsam aber klar leitet Stefan Hetterich zu den Prinzipien einer Klärung der Situation (Bestandsaufnahme) und dem dann notwendigen konsequenten Öffnen bzw. Stellen gegenüber der eigentlichen Angst. Anstelle des häufig reflexhaften elterlichen Wunsches, Ängste wegzunehmen – und sie damit zu erhalten – geht es schlussendlich vielmehr um die Befähigung des Kindes, mit Ängsten umzugehen und sie selbst zu überwinden.

Dem Autor ist mit diesem Büchlein ein schlichter, inspirierender und praktisch unmittelbar anwendbarer Beitrag gelungen, um Eltern und Kindern einen konstruktiven und entlastenden Umgang mit Ängsten zu ermöglichen.

Dr. Alice Nennecke, Hamburg

98 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 259 1. Quartal 2023
Theseus, Bielefeld 2021, 120 S., 12 Euro
Mabuse, Frankfurt am Main 2021, 122 S., 16 Euro

Beat Ringger

Pharma fürs Volk

Risiken und Nebenwirkungen der Pharmaindustrie

Pharmakonzerne erzielen astronomische Gewinne, erfüllen aber immer weniger ihre Aufgabe, innovative Medikamente für alle zu entwickeln. Der Schweizer Autor Beat Ringger fordert in seinem neuen Buch als Reaktion darauf die gemeinwohlorientierte Medikamentenentwicklung durch die öffentliche Hand.

Ringger attestiert der heutigen Pharmaindustrie ein multiples Systemversagen. Zu den Symptomen einer sich verschärfenden Arzneimittelkrise gehören aus seiner Sicht unter anderem die Zunahme von Lieferengpässen bei Standardmedikamenten, fehlende Antibiotika, ausbleibende Innovationen und vernachlässigte Tropenkrankheiten.

Eine weitere Facette ist die Antibiotikakrise: Jedes Jahr sterben, wie der Autor schreibt, weltweit rund fünf Millionen Menschen an oder mit antibiotikaresistenten Keimen – Tendenz steigend. Antibiotikaresistenzen entstehen, weil Keime lernen, die Wirkung der Antibiotika zu umgehen. Ursachen hierfür sind der viel zu häufige Einsatz von Antibiotika etwa in der Tiermast ebenso wie die Tatsache, dass indische Wirkstoffhersteller ihre Abwässer nicht reinigen. Umso dringender wäre die Entwicklung neuer Antibiotika – doch die Konzerne tun zu wenig, denn Antibiotika werfen finanziell gesehen kaum etwas ab.

Eine andere Facette sind laut Ringger die explodierenden Preise: 2018 lag der Preis eines neuen Medikaments pro Packung in Deutschland noch bei unter 5000 Euro. In nur zwei Jahren ist er auf über 40000 Euro geklettert. Die Profitraten von Big Pharma steigen parallel dazu. Das neue Ziel von Novartis heiße 40 Prozent Umsatzrendite im Jahr.

Ringger, ehemaliger Schweizer Gewerkschaftssekretär und Geschäftsleiter des linken Thinktanks Denknetz, erkennt denn auch im absolut gesetzten Profitdenken den entscheidenden Krisentreiber: Die Konzerne orientierten sich heute in erster Linie an den Finanzmärkten. Sie hätten sich daher in den letzten Jahren von forschenden Arzneimittelherstellern zu finanzgetriebenen Vertriebs- und Marketingkonzernen gewandelt. Beispiel: Im

November 2021 hat Roche eigene Aktien im Wert von 19 Milliarden Schweizer Franken zurückgekauft und vernichtet. Der Konzern wollte so seinen Aktienkurs hochtreiben. Nur wenige Wochen später hat Novartis ebenfalls für 15 Milliarden Dollar eigene Aktien zurückgekauft und genau dasselbe gemacht – anstatt in Forschung und Entwicklung von neuen Medikamenten zu investieren.

Ringger brilliert bei der prägnanten Beschreibung der Defizite und finanziellen Hintergründe der gewinnorientierten Medikamentenproduktion. Schwächer fallen seine Schlussfolgerungen aus. Er fordert logischerweise den Aufbau eines gemeinwohlorientierten Service-Public-Verbunds aus Universitäten, Forschungseinrichtungen und NGOs. Der neue Verbund soll patentfreie und günstige Medikamente auch gegen Krebs oder Immunkrankheiten entwickeln. Zur Finanzierung sollen auch Steuergelder dienen, die heute in die Grundlagenforschung an Universitäten und Universitätspitälern fließen.

Alles andere lässt der Autor offen – angefangen von der Frage, wer die Federführung bei diesem Projekt übernehmen soll, über die Frage, wie sich der Einfluss der Pharmabranche etwa auf Parlamente und Regulierungsbehörden beschränken ließe, bis zum Problem des weltweiten Patentsystems, das Big Pharma Monopolpreise und Macht garantiert. So bleibt die Vision einer anderen Pharmaindustrie vage – eine verpasste Chance. Das Buch liefert dennoch wichtige Anstöße für eine dringend nötige Debatte.

Eric Breitinger, Autor und Redakteur, Pratteln/Schweiz

Rotpunktverlag, Zürich 2022, 232 S., 25 Euro

Einfach drauf los!

Mit Schritt-für-SchrittAnleitungen und großen Fotos

Das Kartenset bietet eine Vielfalt an einfachen künstlerischen Ideen für das an Ressourcen orientierte biografische Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Zur alleinigen Nutzung oder in Begleitung, in Schulen, Ganztag, Heimen und in der Jugendarbeit.

Einfaches Gestalten mit Freude-, Geling- und Staungarantie

80 farbenfrohe Karten zum Spielen, Forschen, Ausprobieren Wenig und einfaches Material nötig 100 und mehr Ideen, die das Leben bunter machen!

Ein Set, das ermutigt, Vielfalt fördert und die eigene Individualität stärkt Biografischer Zugang: Aus eigenen Erfahrungen auf in neue Welten!

Gabriele Neuhaus / Thorsten Neuhaus

Fotografie: Luisa Müller Das eigene Leben gestalten Biografiearbeit und Kunst mit Kindern und Jugendlichen.

80 Impulskarten, Mit einem ausführlichen Booklet, Format 18,3 x 25,8 cm

2023, 80 Karten, € 58,00

GTIN 4019172400118, Bestell-Nr. 540011

www.juventa.de

Buchbesprechungen 95 Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023
JUVENTA

Ein außergewöhnliches Leben in zwei Welten

Der Arzt, Dichter, Forscher und Schriftsteller Martin Gumpert

In doppelter Hinsicht waren es zwei Welten, in denen Martin Gumpert (1897 – 1955) lebte: Eine Welt ist seine Heimatstadt Berlin, aus welcher er, aus einer jüdischen Arztfamilie stammend, 1936 floh. Eine zweite wird sein Exilland USA, von wo er nach dem Ende des Nationalsozialismus nur noch besuchsweise nach Deutschland beziehungsweise Europa zurückkehren sollte, zum Beispiel um 1949 Thomas Mann auf dessen Deutschlandreise zu begleiten. Über sein ganzes Leben hin jedoch zieht sich die Doppelansässigkeit in der Welt der Medizin und in der Welt der Literatur.

Nicht alle, wenngleich die bedeutendsten Schriftsteller seiner Zeit, mit denen er persönlich bekannt war, sahen sich zur Flucht vor den Nationalsozialisten gezwungen. Seinem Kollegen, dem Dichterarzt Gottfried Benn, der eine aktive Rolle bei der Gleichschaltung der Preußischen Akademie der Künste gespielt hatte, kamen erst später Zweifel, was der Wiedererlangung dessen Renommees jedoch keinen Abbruch tat. Ihm wurde später sogar der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Viele emigrierte Schriftsteller zahlten dagegen einen hohen Preis, nicht nur durch die ökonomischen und kulturellen Schwierigkeiten im Exil, sondern auch dadurch, dass sie dem deutschen Publikum im Nachkriegsdeutschland nicht mehr vertraut waren und werden konnten.

Dem jungen, anfangs expressionistischen Lyriker Gumpert gelangen in den 1920er-Jahren hochwertige Veröffentlichungen. Seine Biografin, die Ärztin und Germanistin Ulrike Keim, nennt ihn hier einen Seelisch-Oppositionellen. Als ein weiteres Genre entwickelte Gumpert medizinhistorische Romane, etwa über den „Rebellen“ Samuel Hahnemann und über Henri Dunant. Diese und andere Werke wurden später neu aufgelegt. Insofern wurde Gumpert, entgegen dem Schicksal manch anderer exilierter Kollegen, literarisch eigentlich wiederentdeckt und auch 2018 in der Literaturzeitschrift Sinn und Form gewürdigt. Gumpert wurde als

Zeitzeuge entdeckt, der geradezu exemplarisch für viele seiner Zeitgenossen erscheine.

Beigetragen hat dazu sein autobiografisches Schaffen über die Emigration (z.B. „Hölle im Paradies“ mit einem Vorwort von Thomas Mann, 1939) oder die in englischer Sprache geschriebenen „First papers“(1941) über die Ankunft als Exilant. Politische Literatur ist etwa seine Bloßstellung der Naziideologie vom „gesunden Arier“ in „Health under Hitler“ (1939).

Gumperts enge Freundschaft mit Thomas Mann und der Familie Mann nimmt in Ulrike Keims Biografie eine besondere Stellung ein. Das gilt nicht nur für die literarischen Aspekte, sondern auch für die Liebesbeziehung zwischen Gumpert und Thomas Manns Tochter Erika. Deren langjährige, aber – so Keim – durch zu unterschiedliche Lebensentwürfe letztlich unmögliche Beziehung wird der Leserschaft anhand von Archivmaterialien (Briefe, Tagebuchaufzeichnungen etc.) und Gedichten Gumperts aufgeblättert.

Der als Dermatologe tätige Gumpert behandelt in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs kriegsbedingte Gesichtsentstellungen und im Arbeiterbezirk Wedding mit seinen Armutsbehausungen Geschlechtskrankheiten auch bei Kindern. Er wird zu einem Pionier gesichtschirurgischer Behandlungen und der umfassenden Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Als „Sozialarzt“, in der Funktion als Kassenarzt und als Leiter der Beratungsstelle für Haut- und Geschlechtskrankheiten des Gesundheitsamtes Wedding, propagiert und praktiziert er sexualpädagogischen Unterricht, Jugendpflege und soziale Hygiene. Das dringendste Problem sei die Wohnungsfrage. Er appelliert, „(...) dass es gilt, die wahren Feinde der Jugend zu erkennen und zu vernichten: Den Wucherer und den Bürokraten“. Ähnlich wie Rudolf Virchow sah Gumpert die Medizin als eine soziale Wissenschaft, wird aber selbst nicht zum Politiker. Er nennt seine Forderungen an die Politik „therapeutische Maßnahmen“.

1936 kann Gumpert eine dermatologische Praxis in New York eröffnen. 1952 wird er US-amerikanischer Staatsbürger. Seine oft mageren Einkünfte bessert er mit journalistischen Arbeiten auf. Er gibt eine eigene Monatszeitschrift heraus: Lifetime Living. Später wird er Leiter der Klinik für Geriatrie am New Yorker Jewish Memorial Hospital, stirbt selbst aber im

Alter von 57 Jahren an einem Herzinfarkt.

Auf einem am 13. November 2022 aus Anlass von Gumperts 125. Geburtstag in Berlin abgehaltenen „Kulturheilkundlichen Symposium“ reihte Ellis Huber den Jubilar als Vorläufer der WHO-Gesundheitsförderungs-Philosophie ein. Gumpert sei in diesem Sinne ein Vorbild und aktueller denn je. Die Biografin Keim legt mit ihrem Buch eine umfassende Dokumentation seines außergewöhnlichen Lebens vor und zeichnet ihn dabei ebenfalls rundherum als Vorbild.

Für Hartmut Schröder, Professor für Sprachgebrauch und therapeutische Kommunikation an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), steht aus, Gumpert nicht nur als Schriftsteller dem Vergessen zu entreißen und wiederzuentdecken, sondern auch als medizinischen Kritiker und ‚Reformer‘, der von der Mehrheit der Ärzteschaft in seiner Berliner Zeit mehr als Nestbeschmutzer wahrgenommen worden sei. Schröder reiht im Nachwort zu Keims Biografie Gumperts Vermächtnis im Bereich der „geistigen Medizin“ ein. Vielleicht lasse sich dieses mit einem von Robert Musil stammenden Wort, dem Kompositum Kulturheilkunde zum Ausdruck bringen: Das wäre eine Heilkunde sowohl für unsere erkrankte Kultur als auch eine Ergänzung der modernen Medizin, kranke Menschen mit dem Heilmittel Kultur zu begleiten und zu unterstützen. Eine Renaissance, zu der das Buch sicher beitragen kann, wäre Martin Gumpert zweifellos zu wünschen.

Hentrich&Hentrich, Berlin/Leipzig 2022, 486 S., 29,90 Euro

96 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023

Berthe Arlo

Nachts wach

Es ist schon bezeichnend, dass Berthe Arlo das Pseudonym einer Autorin ist, die ungeschminkt aus dem Alltag eines Pflegeheims in Deutschland berichtet. Der Verrat wird bekanntlich akzeptiert, die Verräter:innen allerdings können mit Verachtung rechnen. Dies geschieht, obwohl Berthe Arlo inzwischen selbst berentet ist. Ihre Schilderungen stehen nicht bloß als Pars pro Toto, viele andere Kolleg:innen könnten vergleichbare Erfahrungen erzählen. Ihr Buch zeigt auch, dass Missstände in der täglichen Pflege nicht in aller Deutlichkeit zur Sprache gebracht werden, sondern eher ein gesellschaftliches Schweigegebot für ein Aufrechterhalten bedauerlicher Zustände zu herrschen scheint.

Was müssen Pflegende denn befürchten, wenn sie transparent machen, was hinter den Türen von Kliniken und Pflegeheimen geschieht? Müssen sie etwa Angst davor haben, dass sich etwas zum Positiven verändert? Wenn dies passieren würde, hätten sie wahrscheinlich deutlich weniger Möglichkeiten, über Belastungen und Unterversorgung zu klagen.

Berthe Arlo gelingt es, in tagebuchartigen Episoden viele Szenen und Erfahrungen zu beschreiben, die sie in vielen Jahren pflegerischen Arbeitens gemacht hat. In Nächten hat sie meist gearbeitet. Wie unter einem Brennglas spitzt sie die

Situationen zu. Die Leser:innen bekommen es dabei mit der Angst zu tun, sollte ihnen oder ihren Angehörigen eine Pflegebedürftigkeit und professionelle Versorgung drohen.

Pflegerische Praktiker:innen grinsen, wenn sie die Einschätzung Arlos aufnehmen, dass bei Dienstbesprechungen erst das mangelnde Einfühlungsvermögen diensthabender Nachtwachen beklagt wird, bevor über strukturelle Defizite nachgedacht wird. Das Buch nimmt die Leser:innen mit – in die Abgründe von menschlichen Seelen, an den Rand ganz individueller Hilflosigkeiten und Ohnmachtserlebnisse.

„Denn jeder Nachtwache wird in jeder Nacht eine Verantwortung aufgebürdet, die sie eigentlich überhaupt nicht tragen kann“, schreibt Berthe Arlo. Damit dies den Leser:innen deutlich wird, schreibt Berthe Arlo unglaublich konkret. Sie berichtet beispielsweise plastisch von Menschen, die aufgrund demenzieller Entwicklungen die Nacht zum Tage machen, dabei die Ordnung einer Einrichtung aus den Angeln heben. So schildert sie einen alt gewordenen Pfarrer, der häufiger die Grenzen der Pflegeeinrichtung austestet. Trotz zunehmender Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit zeigt er sich wohl noch agil: „Außerdem spricht der Pfarrer dem Wein zu, nicht mäßig, das ist schon oft übermäßig. Von Zeit zu Zeit sitzt er pudelnackt auf der Bettkante unter Kruzifix, Matterhorn und Madonna, um die Taille den unvermeidlichen breiten Ledergür-

2023. 85 Seiten, 2 Abb. Kartoniert. € 29,–

ISBN 978-3-17-041318-4

Das Buch ermöglicht den gesetzlich geforderten Praxisnachweis für den berufspraktischen Teil des Hebammenstudiums und kann in der Praxisanleitung eingesetzt werden, um die Handlungskompetenz der Studierenden zu fördern.

Leseproben und weitere Informationen:

tel, an den Füßen sorgfältig geschnürte Stiefelettchen und pichelt direkt aus der Flasche genüsslich vor sich hin“ (S.35).

Natürlich neigen Menschen dazu, solche Situationen zu verhöhnen. Andere werden fragen, wieso sich professionell Pflegende dies freiwillig antun. Letztendlich stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Ethik, es stellt sich die Frage nach der Akzeptanz skurriler Verhaltensweisen schwächer werdender Menschen.

Berthe Arlos Buch „Nachts wach“ kann als Mahnmal verstanden werden. Es bringt zur Sprache, was kommuniziert werden muss. Es stellt die individuelle wie kollektive Frage nach dem Umgang mit Menschen am Rande der Gesellschaft.

Mikrotext, Berlin 2022, 240 S., 20 Euro

Ca. 140 Seiten, 50 Abb., 7 Tab. Kartoniert. € 39,–

ISBN 978-3-17-038020-2

Dieses Buch vermittelt das Grundlagenwissen zu Diagnostik, therapeutischen Verfahren und Prophylaxen der Kinderheilkunde. Die wichtigsten Krankheitsbilder und Therapieoptionen sind übersichtlich dargestellt.

Kohlhammer
Bücher für Wissenschaft und Praxis Neu! In Kürze! Buchbesprechungen 97 Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023
www.kohlhammer.de
Christoph Müller, Wesseling

Sabine Conti

Der neue Fisch in mir Krebs – und ein anderes Leben beginnt

Sabine Conti, die 1963 in Freiburg im Breisgau geborene Autorin und Illustratorin dieser autobiografischen Geschichte, ist eine von über 70000 Frauen, die jährlich in Deutschland neu an Brustkrebs erkranken. Schon in ihrer Kindheit begann sie zu zeichnen, und als sie im Februar 2021 mitten in der Corona-Pandemie die Diagnose Brustkrebs erhält, ist es für sie eine natürliche Reaktion, viele Momente der darauffolgenden Therapie visuell festzuhalten. Aus den überwiegend schwarz-weißen Bildern, die sie in der Zeit zwischen Diagnose und Behandlung in Warteräumen, Betten und Therapieeinrichtungen auf einem elektronischen Notebook zeichnete, entstand eine mobile Wanderausstellung, die im Oktober 2021, zum Brustkrebsmonat, in der Westhalle des Universitätsklinikums Göttingen gezeigt wurde. Ihre Zeichnungen sind ihre Erfahrungen, Gefühle, Ängste, Behandlungen – kurz: ihr Innerstes. Sie geben den Betrachtenden einen Einblick in die Welt einer Krebspatientin – auch wenn selbstverständlich jede Diagnose anders und individuell ist und subjektiv erlebt wird.

Das Buch zur Ausstellung beginnt mit dem Zitat: „Ein Gespenst, das man versteckt, wird größer.“ (Sprichwort aus Grönland). Genau das ist auch das Motto von Conti und mit ihrer ungeschönten Ehrlichkeit, Offenheit, Humor, inneren Stärke und Verletzlichkeit zieht sie die Leserschaft vom ersten Moment an in den Bann. Mit dem Gesundheitscheck für ihre Reise ins Südpolarmeer – zwei Jahre vor ihrer offiziellen Krebsdiagnose – geht’s los, und wir erfahren im Laufe des Buches einiges von ihrem ungewöhnlichen Segelabenteuer, denn oft vergleicht sie genau diese Reise mit der ihrer Behandlung: das Gefühl des Ausgeliefert-Seins, die Gefahren, die überall lauern, aber auch die Verbundenheit mit ihren Mitreisenden und die schönen, starken Momente. Sie führt uns durch Mammografie, Gewebeprobeabnahmen, Papierkrieg, Port-gesetztBekommen, Chemotherapie, Krankenhausaufenthalte, einsames Warten (denn wegen Corona sind nicht einmal mehr Begleitpersonen erlaubt), Maskenpflicht,

MRT und vieles mehr. Auch erfahren wir, was ihr in schwierigen Situationen hilft, etwa sich vorzustellen, eine Astronautin zu sein, die auf den Marsanflug vorbereitet wird, sich in ihrer Fantasie auf eine Südseeinsel an den Strand zu beamen und auf den sanften Wellen des Ozeans zu schaukeln oder tatsächlich mit ihrem geliebten Hund durch den Wald zu laufen, um sich wieder zu erden und sich mit der Natur und dem Jetzt zu verbinden.

Da ich selbst vor 11 Jahren – mit 37 –eine Brustkrebsdiagnose bekam, war ich mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich es schaffen würde, dieses Buch komplett zu lesen, oder ob es zu viele Erinnerungen in mir aufwühlen würde. Aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen, denn die innere Stärke der Autorin erhellt jedes Wort ihres sehr persönlichen Berichtes. Wie sie – trotz Masken und Corona – die Verbundenheit („sisterhood“) ihrer Mitpatientinnen spürte, wie sie trotz – und/oder vielleicht gerade wegen – ihrer Diagnose das volle Leben in jedem Moment lebt und wie sie würdevoll und kraftvoll durch die Behandlungen und Ängste reist.

Ein tolles Buch mit tollen Illustrationen, von und über eine tolle Frau, welches sowohl Ärzt:innen als auch Patientinnen, Freunden und Familienangehörigen helfen kann und wird.

„Alle drei Wochen stelle ich mich der Krankheit in der Uniklinik. Aber dazwischen! Dazwischen passiert das pralle Leben und ich erlebe die Augenblicke weit intensiver, umschlinge, was mir in den Weg kommt, sauge es ein. Egal ob hell oder dunkel. Ich bin da. Das ist was zählt.“

Ein lesenswertes Buch, welches ich aus vollstem Herzen empfehlen kann. Danke, Sabine.

Elke Thompson, Autorin, www.elkethompson.com

Pia Lamberty, Katharina Nocun

Gefährlicher Glaube

Die radikale Gedankenwelt der Esoterik

Pia Lamberty und Katharina Nocun nehmen die Leser:innen mit auf eine Reise in die Abgründe esoterischer Heilsversprechen und Irrglauben. Sie gehen dazu verschiedenen Fragen nach: Weshalb interessieren sich Menschen für esoterische Weltanschauungsmodelle? Was haben Esoterik und Ernährung miteinander zu tun? Hierzu wird etwa über „entstörtes“ Mineralwasser gegen die „Barcode-Verschwörung“, Brot aus „belebtem“ Wasser in der Bio-Bäckerei nebenan, Homöopathie in der Nutztierlandwirtschaft und allerlei Skurriles aus der Demeter-Welt berichtet Wie kann es sein, dass wissenschaftlich nicht fundierte Pseudo-Therapien (etwa Ryke Geerd Hamers „Germanische Neue Medizin“ oder der Versuch einer „Ausleitung“ von Radioaktivität durch Lichtarbeit) v. a. Menschen mit einer schweren Krankheitsdiagnose Hoffnung geben? In vielen Fällen verschlimmerten diese „Therapien“ den Krankheitsverlauf nur oder zogen sogar tödliche Folgen nach sich.

Die Autorinnen werfen einen schonungslosen Blick auf viele gegenwärtige und vergangene esoterische Bewegungen (wie etwa den Heaven’s Gate-Kult und die Moon-Bewegung) und beleuchten die Nähe von Esoterik zu politisch extremen Gruppierungen. Die historische Grundlage für die Rassenlehre der Nationalsozialisten, so klären Nocun und Lamberty auf, wurde nicht zuletzt von Helena Blavatskys okkulter „Theosophie“ gebildet. Auch Rudolf Steiners Anthroposophie wird kritisch untersucht: Seine Texte erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit. Die Waldorf-Schulen, die allein in Deutschland 80000 Kinder und Jugendliche besuchen, tragen Steiners Gedankenwelt intergenerationell weiter. Ein Text wie „Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie“ darf aber aufgrund antisemitischer und rassistischer Passagen in Deutschland nur mit einer Beilage ausgeliefert werden, die besagt, dass dazu alsbald eine kommentierte Ausgabe folgt.

Der Bereich der Esoterik ist ein riesiger Markt. Die Teilnehmer:innen wollen Geld verdienen und nutzen hierzu die individuelle Lebenssituation der Nachfragenden

98 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023 AG SPAK, Neu-Ulm 2022, 106 S., 14 Euro

Liselotte Kuntner

Die Gebärhaltung der Frau

Schwangerschaft und Geburt aus geschichtlicher, völkerkundlicher und medizinischer Sicht

Gut, dass der Klassiker in seiner 5. Auflage wieder auf dem Markt verfügbar ist, denn er hat seit der letzten Auflage 1994 nichts an seiner Aktualität eingebüßt: Frauen können noch immer nicht überall bei einer Spontangeburt ihre Gebärhaltung frei wählen.

Seit 1978 publizierte die gelernte Physiotherapeutin Liselotte Kuntner (1935–2021) zu aufrechten Haltungen bei der Geburt. In einer Zeit, in der noch kein aktuelles, von Hebammen geschriebenes Lehrbuch verfügbar war, machte sie vor, wie theoretische Grundlagen mit einer innovativen Praxis frauzentriert und partizipativ verbunden werden können.

Ihre Ausführungen zur Geschichte der Frauenheilkunde, Physiotherapie und Geburtsvorbereitung bieten einen guten Überblick, der zu bestimmten Aspekten vertieft wird, wie etwa zur Geschichte des Gebärstuhls. Kuntner zeigt auf, dass sich Medizinethnologen schon Ende des 19. Jahrhunderts mit der Gebärhaltung in verschiedenen Ländern beschäftigt haben, aber die dargestellten aufrechten Haltungen eher als exotisch und den „zivilisierten“ Frauen nicht würdig eingestuft wurden. Die rezenten ethnomedizinischen, teilweise selbst gesammelten Beobachtungen führen der Leserschaft vor Augen, dass das aufrechte Gebären üblich war, aber heute nicht mehr unterstützt wird. So gibt die Autorin Beispiele aus Neuguinea und Südafrika zu Beginn der 1980erbzw. 1970er-Jahre.

Aus den alten ethnomedizinischen Werken wird zum Teil manches kritiklos übernommen (wie die Ausdrücke „Naturvölker“ (S.32) oder „Stämme“ (S.56)). Ebenso stellt sie nicht infrage, ob ein Armeearzt um 1880 traditionelles Gebären direkt bei den Comanchen hatte beobachten können (S.59). Auch die Entstehung des wissenschaftlichen Films „Geburt im Knien“ bei den Zulu in Natal (Südafrika) beschreibt sie zwar ausführlich anhand des Begleitheftes, lässt jedoch den Umstand außer Acht, dass die werdenden Väter für die Filmerlaubnis bezahlt wurden, der Film

auf dem Krankenhausgelände durch ein Loch in der Hüttenwand gedreht wurde und die „traditionelle“ Hebamme eine verkleidete, westlich ausgebildete Hebamme des Missionskrankenhauses war. Aber diese Umstände und Auslassungen könnten dem Zeitgeist um 1985 geschuldet sein, der Zeit, in der die erste Auflage des Buchesentstanden ist.

Ihrer Zeit voraus dagegen war die Autorin, als sie Wissen aus verschiedenen Disziplinen nutzte, um die Frage zu beantworten, welche Gebärhaltung einen günstigen Einfluss hat. Zudem stellte sie die Frau in den Mittelpunkt und ließ damit auch diejenigen zu Wort kommen, die in verschiedenen Haltungen geboren haben. Als Kernstück ihrer Arbeit fügt Kuntner alle bisherigen Forschungsergebnisse zusammen und ordnet sie in die Erkenntnisse der Physiotherapie ein. Sie zeigt hier die Vorteile der vertikalen Gebärhaltung auf, ohne dabei dogmatisch zu wirken.

Vorbildlich ist die Autorin auch in ihrem Schritt, ihre Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen: Als praktische Konsequenz hat sie unter Mithilfe der Schweizer Hebammen Louise Daemen und Blanca Landheer den Maia-Hocker entwickelt, der als eine Art Symbol gelten kann. Mit seinen Begleittexten in verschiedenen Sprachen kann er die Nutzung der aufrechten Gebärhaltung in unterschiedlichen Ländern wiederbeleben. Ob die Gebärende nun auf den Abbildungen bei der Hocke den Fuß ganz oder nur die Zehenspitzen aufgestellt hat, ist nicht so wesentlich wie die Erkenntnis, dass die Wünsche von Frauen nach Bewegung und aufrechten Haltungen bei der Geburt ermöglicht werden müssen.

Das Buch spricht werdende Eltern und Fachpersonen aus den Gesundheitsberufen gleichermaßen an. Auf 246 Seiten gibt Kuntner viele Anregungen und macht neugierig darauf, bestimmte Themen weiter zu erforschen.

Dr. rer. medic. Christine Loytved, MPH, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

23.–24. NOVEMBER 2023

MEISTERSINGERHALLE NÜRNBERG www.wund-kongress.de

Motto

Die Wunde im Fokus – der Mensch im Mittelpunkt

WISSENSCHAFTLICHE LEITUNG

Prof. Dr. med. Joachim Dissemond – Kongresspräsident Universitätsklinikum Essen

Univ.-Prof. Dr. med. univ. Markus Gosch Klinikum Nürnberg I S tandort Nord/Süd

ORGANISATION / VERANSTALTER / FACHMESSE Conventus Congressmanagement & Marketing GmbH

Tel. +49 3641 31 16-141 I Fax +49 3641 31 16-243 wuko@conventus.de I www.conventus.de

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Buchbesprechungen 95 Dr. med. Mabuse 261 3. Quartal 2023 Titelgra ik: Alisara Zilch/Fotoli a
06. NÜRNBERGER Wundkongress
FRÜHBUCHERDEADLINE : 30.09.2023 Magas, überarb. Neuauflage, Greven 2022, 246 S., 38 Euro

Joachim Küchenhoff, Martin Teising (Hg.)

Sich selbst töten mit Hilfe Anderer

Kritische Perspektiven auf den assistierten Suizid

Timothy Devos (Hg.)

Sterbehilfe in Belgien

Erfahrungen, Reflexionen, Einsichten

Wird nun endlich der Patientenwille ernst genommen, ein sinnlos erscheinendes Leben nicht mehr weiterleben zu wollen? Werden wir uns künftig Sterbenskranker mit dem Hinweis entledigen, dass ihr Leiden doch nicht mehr aushaltbar sei? Ist gar ein Dammbruch zu befürchten, infolgedessen immer mehr Menschen weggespült werden, die unserer besonderen Fürsorge bedürfen?

Derartige Fragen erwarten wir im Bundestag, wenn die Parlamentarier:innen wieder über ein Gesetz debattieren werden, das allen Ansprüchen an eine Regelung des assistierten Suizids gerecht werden soll. Und wir hören von den Diskussionen in Fachkreisen, in denen man sich ausmalt, welche Folgen das neue Gesetz für den Alltag in Pflege und Medizin haben kann. Horrorszenarien stellen die einen den Beschwichtigungsversuchen der anderen entgegen. Hilfreich für eine Orientierung sind diese zwei Bücher:

Die Autor:innen von „Sterbehilfe in Belgien. Erfahrungen, Reflexionen, Einsichten“ lassen die Leser:innen an ihrem Erleben von zwei Jahrzehnten Euthanasie im Nachbarland teilhaben. So bezeichnet man dort – was bei uns wegen der Gräuel der Nazi-Zeit unmöglich ist – den assistierten Suizid, der allerdings vielfach eine Tötung auf Verlangen ist. Das wird gleich in der Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe klargestellt. Auch, dass Sterbehilfe etwas anderes ist als das, was oft so genannt wird: Sterbehilfe ist die Begleitung und Unterstützung von Menschen im Prozess des Sterbens, nicht die Herbeiführung des Todes.

Die Haltung der Autor:innen zum assistierten Suizid ist klar: Sie sehen darin eine Form, „den Lebenswert des anderen zu negieren, die Hoffnung aufzugeben und die menschliche Hilfeleistung abzubrechen“. Starke Worte auch bei der Charakterisierung als „einfache Lösung“, mit

der man „den Leidenden beseitigt, statt sichdes Leidens einfühlsam und fachkundig anzunehmen“. In ihre Argumente fließen Schilderungen des Alltags ein. Zu Wort kommen Pflegekräfte und Ärzt:innen, die eine Suizid-Assistenz klar ablehnen, sich aber einem Gespräch darüber nicht verweigern. Konfrontiert mit dem Leiden eines Patienten, das für diesen „unerträglich ist und [weshalb] er um den Tod bittet“, sehen sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, „die Verweigerung dieser Linderung sei ein Mangel an Mitgefühl und schränke die Freiheit des Patienten ein“. Dieser Vorwurf verleugne die Komplexität des Themas und schließlich gebe es ja auch noch die Möglichkeit der palliativen Sedierung, mit der Schmerzen und Ängste weitgehend gemildert werden sollen. Die Befürchtung des auch in Deutschland oft angeführten Dammbruchs sehen sie dadurch bestätigt, dass es in Belgien inzwischen um „psychiatrische Fälle, existenzielle Lebensmüdigkeit, Minderjährige“ geht; in der Erweiterung des Adressatenkreises zeigten sich „Auswüchse der Sterbehilfe“. Erstaunlich ist die Tatsache, dass in Belgien die Euthanasie als natürlicher Tod auf dem Totenschein vermerkt wird.

Trotz alledem bleibt der Patientenwille und das für andere vielleicht nicht nachvollziehbare Bedürfnis, dem Leben ein Ende zu setzen. Das hinterfragt ein Ethiker und sieht „die Medizin hin und her gerissen zwischen therapeutischem Übereifer und der faktischen Vernachlässigung zwischenmenschlicher Zuwendung“. Zu fragen wäre, ob das daran liegt, dass wir unser medizinisches Versorgungssystem als Markt organisiert haben. Vielleicht ist das eine Ursache dafür, dass „60 bis 65 % der Patienten bis zu ihrem Tod immer noch Schmerzen haben“, während „heute etwa 95 % aller Schmerzen gelindert werden können“. Die Autor:innen betonen, dass die Möglichkeiten palliativer Versorgung noch lange nicht ausgeschöpft seien, wofür sie erschreckende Beispiele anführen. „Unter dem Deckmantel des Mitgefühls wird die Sterbehilfe für manches Pflegepersonal zu einem oft unbewussten Mittel, sich dem Leiden und der Not der Kranken zu entziehen.“ Mit dem Begriff „Pflegepersonal“ meint der Autor die professionellenHelfer:innen insgesamt.

Eine ähnliche Entwicklung fürchten die Autor:innen von „Sich selbst töten mit Hilfe Anderer. Kritische Aspekte auf den assistierten Suizid“, habe doch das Bundesver-

fassungsgericht die Prüfung des § 217 StGB – Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung – „zum Anlass genommen, einen Weg zu eröffnen, der – konsequent zu Ende gedacht – in Abgründe führen kann“: Der Begriff der Autonomie sei zu eng gefasst. Die Freiheit zum Suizid werde von schwerem Leiden entkoppelt, solle für alle Phasen menschlichen Lebens verfügbar und freigestellt von normativen Rückfragen sein. Für die Autor:innen ist es zudem nur noch ein kleiner Schritt hin zur Tötung auf Verlangen.

Die Ausführungen aus psychoanalytischer Sicht sind so komplex wie das Thema selbst. Viel Raum nimmt die Beziehung zwischen suizidwilligen Patient:innen und ihren Psychiater:innen/Psychotherapeut:innen ein. Die erweitern die Perspektive auf gesellschaftliche Zusammenhänge: „Perfektionierung und omnipotente grenzenlose Machbarkeit sind zu gesellschaftlichen Idealen geworden“, auch in der Gestaltung des eigenen Sterbeprozesses. Darin werde das Leben als „grundsätzlich abwählbare Gegebenheit“ betrachtet „im Spiegel von Perfektionierungs- und Optimierungsimperativen in der gegenwärtigen Moderne“. Geprägt sind die Ausführungen durch die Arbeit der Autor:innen mit suizidalen Patient:innen. Die Frage ist, ob bei denen eine freiverantwortliche Entscheidung vorliegt, ihr Leben zu beenden, oder ob diese Absicht ein Symptom aus der Sicht der Psychiatrie ist.

Beide Bücher sind wichtig für den gesellschaftlichen Diskurs zum assistierten Suizid. Wer sich noch nicht tiefergehend mit dem Thema beschäftigt hat, wird von der vielschichtigen Auseinandersetzung erstaunt sein. Das hört sich nach mühevollem Durcharbeiten an. Keine Angst, die beiden Werke sind spannend und lassen sich gut lesen. Empfehlenswert!

Burkhard Plemper, Hamburg

96 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 261 3. Quartal 2023
Psychosozial, Gießen 2022, 275 S., 34,90 Euro Psychosozial, Gießen 2022, 187 S., 24,90 Euro

Deine Entscheidung

Alles, was du über Abtreibung wissen musst

Die Natur sieht nicht vor, dass sich aus jeder befruchteten menschlichen Eizelle ein Kind entwickelt, ganz im Gegenteil. Gerade mal die Hälfte nistet sich überhaupt in der Gebärmutterschleimhaut ein, und davon überstehen zehn Prozent die 12. Woche nicht. Auch in jedem späteren Stadium gibt es Fehlgeburten, je älter die Beteiligten, umso mehr.

Entscheidet aber nicht die Natur, sondern die Frau selbst, dann ist das seit Jahr und Tag ein Politikum. In Deutschland muss man dafür Zeiten und Wege einhalten, vor allem die 12-Wochen-Frist. Wer da Fehler macht, riskiert eine Strafanzeige nach §218 StGB. Etwa 100000 Frauen beenden hierzulande jedes Jahr eine Schwangerschaft, in Österreich und der Schweiz ist die Zahl anteilmäßig ähnlich. Obwohl die Frauen völlig korrekt vorgehen, schweigen die meisten über den Abbruch, aus Angst vor Stigmatisierung.

Laura Dornheim ging immer offen damit um, selbst abgetrieben zu haben. In der Folge sei sie regelmäßig gefragt worden, was man dabei praktisch alles bedenken müsse. Da hätte sie gerne ein Buch mit allen nötigen Informationen empfohlen. Das gab es nicht. Deshalb habe sie dieses Buch nun selbst geschrieben. „Deine Entscheidung“ heißt es – und das ist Programm.

Dornheim versteht ihr Buch als Ratgeber für ungeplant Schwangere, wobei sie betont, dass „ungeplant“ nicht identisch ist mit „ungewollt“. In zehn Kapiteln fächert sie das Thema so umfassend auf, wie es auf 200 Seiten möglich ist. Wichtigste Botschaft zu Beginn: Auch eine gute Verhütung ist nicht hundertprozentig sicher, sich schämen ist unangebracht, es kann allen passieren.

Inhaltlich decken die Kapitel das Wichtigste ab: Wie funktioniert die Diagnostik? Wie komme ich zu einer guten, stimmigen Entscheidung? Was muss ich tun, wenn ich abtreiben will, und in welcher Reihenfolge? Schließlich muss alles relativ schnell gehen – aber wie lange habe ich genau Zeit? Wann bekomme ich den notwendigen Beratungsschein, und von wem? Kann ich mich überall darauf verlassen, dass die Beratung vorschriftsgemäß ergebnisoffen ist?

Ein Kapitel ist den drei medizinisch sicheren Wegen gewidmet (chirurgisch via ausschaben oder absaugen und pharmakologisch zu Hause). Die sind unproblematisch, physisch wie psychisch, ganz im Gegensatz zu jeder Eigenregie, vor der Dornheim zu Recht warnt. Ein Kapitel widmet sie der Selbstfürsorge nach dem Abbruch, ein weiteres dem, was Partner/Liebste/ Nahestehende tun können.

Das achte Kapitel beleuchtet knapp, wie sich der schwangere Körper verändert und wie sich ein Embryo entwickelt. Außerdem diskutiert es in maximaler Knappheit, was biologisch unter „Leben“ zu verstehen ist und was unter „Mensch“, und welche sprachlichen Framings wie wirken.

Das neunte Kapitel beschreibt die Rechtslage hier und anderswo, und stellt dabei klar, dass das Strafgesetz empirisch keine Schwangerschaftsabbrüche verhindert: In Ländern ohne Strafandrohung werden nicht mehr Schwangerschaften abgebrochen als bei uns. Im letzten Kapitel finden sich Adressen (auch Adressen, über die man Adressen von Ärzt:innen findet), inhaltliche Links, einige Bücher und Filme zum Thema sowie einige wenige wissenschaftliche Originalarbeiten.

Die Autorin schreibt zwar immer wieder, was sie selbst denkt, dennoch handelt es sich um einen klassischen Ratgeber. Dazu passen die drei Arten kleiner „Beratungs“-Kästchen, die unerlässliche und andere Einzelheiten zusammenstellen, Checklisten und Anregungen zur Selbstreflexion. Farbig unterlegt sind Erfahrungsberichte von Frauen, die einen Abbruch hatten sowie Spezialinformationen von (meist weiblichen) Profis aus Beratung und Medizin.

Auch wenn vielleicht nicht alle persönlich mit Du angesprochen werden wollen, so hat die Autorin doch eine schöne, einfühlsame und moralinfreie Sprache gefunden. Dieses Buch sollte in jeder §218-Beratungsstelle zu finden sein, in jeder gynäkologischen Praxis und in jedem Gesundheitszentrum.

Dr. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin, München, https://barbara-knab.de Kunstmann, München 2023, 216 S., 20 Euro

Gerd Rudolf

Dimensionen psychotherapeutischen Handelns

Menschsein in Therapie und Philosophie

Auch kleinformatige Bücher können große Gedanken transportieren, was auch den doch beachtlichen Preis für dieses kleine Büchlein rechtfertigen könnte. Lesenswert ist es alleine schon deswegen, weil Gerd Rudolf, der als Begründer der Strukturbezogenen Psychotherapie die Geschichte der psychosomatischen Medizin und der Psychotherapie weichenstellend mitgeprägt hat, auf mehr als ein halbes Jahrhundert Medizin- und Psychotherapiegeschichte reflektierend zurückschaut. Explizit angesprochen sind dabei die „Hinterherdenkenden“ und nicht etwa die „schon immer Wissenden“.

Dass Gerd Rudolf „fachlich fundiert“ daherkommt, kann nicht überraschen, angenehm fällt auf, dass er seinen therapeutischen Ansatz sowie sein diagnostisches Handeln mit einer bemerkenswerten Erzählkunst und einer verständlichen Sprache vermittelt. Das gilt auch für die Entwicklung der sich zunehmend differenzierter darstellenden Entwicklungs- und Persönlichkeitskonzepte. Dies verbindet er mit Erinnerungen aus seinen Seminaren und erlebten Supervisionen. Sich selbst dabei auch autobiografisch und reflektierend einbringend, flicht er (konstruierte) Dialoge mit einer jüngeren Therapeutin ein. Der Autor betont (mit Verweis auf Foucault), er schreibe allein schon deswegen, „um sich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken, wie zuvor“. Darüber hinaus ist es Rudolf ein Anliegen, sein psychotherapeutisches Denken und Handeln mit den Ansätzen philosophischer Autoren zu verknüpfen, wenn es darum geht, ein Licht auf die „conditio humana“, das Wesen des Menschlichen, zu werfen und damit das psychotherapeutische Denken und Handeln tiefergehend zu begründen – oder diesem eine höhere Weihe zu verleihen? Seine besondere Wertschätzung gilt dabei dem Werk des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers, obwohl dieser der Psychotherapie und speziell der Psychoanalyse skeptisch gegenüberstand. So schlage sich die von Jaspers in den Vordergrund gestellte „Gegenwärtigkeit des Philosophierens“ in der Psycho-

Buchbesprechungen 97 Dr. med. Mabuse 261 3. Quartal 2023

therapie nieder. Insbesondere in der von Rudolf wesentlich mitbegründeten Strukturbezogenen Psychotherapie könne die Erkenntnis im „Hier und Jetzt“ eine durchaus philosophische Einsicht zur Verfügung stellen, die „alles“ werden könne, wenn sie der Ausgangspunkt einer Neuorientierung im Erleben und im Handeln wird.

Psychotherapie, davon ist Rudolf überzeugt, biete eine Möglichkeit, Erkenntnis und Handeln zu entwickeln. Philosophie könne dazu beitragen, Einsicht in das eigene Leben zu gewinnen und dafür selbst die Verantwortung zu übernehmen. Als großen Wurf versucht er am Ende zu beschreiben, was „den Menschen ausmacht“, bevor er verspricht, dass er es nun – weit über 80 Jahre alt – aufgeben werde, „Jüngere belehren zu wollen“. Auf einem Gebiet, bei dem persönliche und professionelle Erfahrungen im Miteinander noch etwas zählen, könnte das schade sein.

Interessenkonflikt: Der Rezensent offenbart, dass er bislang schon Vieles von Gerd Rudolf mit Gewinn gelesen hat und sich bemüht, zumindest einiges davon umzusetzen. Von daher könnte ihm die letzte Objektivität bei der Rezension dieses Buches fehlen.

Michael Huppertz (Hg.)

nen, die in unterschiedlichen psychosozialen Feldern sowohl Elemente wie auch ganze Kurse durchgeführt haben. So werden Aufbau und Inhalt verschiedener Kurse beschrieben, achtsamkeitsbasierte Interventionen von Menschen mit unterschiedlichen psychischen Erkrankungen (Depression, Angst, Psychose) aufgeführt sowie sehr hilfreiche Hinweise zum didaktischen Vorgehen von achtsamkeitsbasierter Therapie und Beratung gegeben.

Detailliert veranschaulichen die Autor:innen die unterschiedlichen Kursformate für Familien, Paare, Senioren, Kinder und Jugendliche. Sie schildern sowohl Aufbau und Inhalte der Gruppenangebote wie auch ihre umfänglichen Erfahrungen mit den Teilnehmer:innen in den Gruppen. Für einzeltherapeutische und familientherapeutische Settings in eigener Praxis beschreiben sie die situative Nutzung von Achtsamkeitsübungen. Zentral betonen sie immer wieder, wie wichtig für sie eine achtsame Haltung als Therapeut:in, Berater:in und Coach ist.

Kein Stress mit der Entspannung

Praxisbezogene Vermittlung psychologischer Erholungstechniken

Wenn die Seele aus dem Gleichgewicht geraten ist, kommen Betroffene an Entspannungstechniken nicht vorbei. Sie gehören wie selbstverständlich zum Portfolio psychiatrischer und psychotherapeutischer Hilfsangebote. Dabei fällt es sowohl Hilfesuchenden als auch professionell Helfenden schwer, den Überblick zu behalten. Mit dem Buch „Kein Stress mit der Entspannung“ wird es leichter, Licht im Dunkel zu sehen. Denn Gilles Michaux und Martine Hoffmann, selbst als Psychotherapeut:innen in Luxemburg tätig, gelingt mit dem Buch ein hilfreicher Überblick.

Arolsen

Achtsamkeitsbasierte Therapie und Beratung

Zur Anwendung von Achtsamkeit in verschiedenen psychosozialen Kontexten

Der Markt achtsamkeitsbasierter Literatur ist mittlerweile unüberschaubar geworden. Vieles wiederholt sich. Umso erfreulicher, dass dem Mabuse-Verlag hier ein Band gelungen ist, der vor allem für achtsamkeitserfahrene Therapeut:innen und Berater:innen ausgesprochen nützlich sein kann.

Das Buch ist ein zehnjähriges Produkt einer Arbeitsgemeinschaft von 14 Perso-

Etliche achtsame Interventionen sind Ergebnis der Debatten aus der Arbeitsgemeinschaft. Somit scheinen die Darlegungen mehr als nur die Summe einzelner Berichte zu sein. Diese Form hebt den Band qualitativ auf ein hohes Niveau. Besonders beeindruckt hat mich die Darstellung des Trainings in Achtsamkeit für junge männliche Strafgefangene.

Da ich selbst Achtsamkeitsgruppen leite, Elemente von Achtsamkeit in meine supervisorische Arbeit integriere und insbesondere Achtsamkeitsübungen Teil meiner Resilienztrainings sind, finde ich in dem Buch zahlreiche nützliche Anregungen. Ich kann diesen Band allen Kolleg:innen, die mit Elementen der Achtsamkeit arbeiten, sehr empfehlen.

Ein ausführlicher Anhang mit Theorieinputs, Übungen, Infoblättern, Fragebögen rundet das Buch ab. Als Downloadmaterial wäre dieser sehr hilfreich für die Leser:innen.

Christiane Kreis, System. Supervisorin, DGSF-Mitglied, Frankfurt am

Konzepte wie die Progressive Relaxation, autogenes Training und Neurofeedback werden von Hoffmann und Michaux mit Leben gefüllt. „Lieber Chill-out als Burn-out“ – so klingt ein entscheidendes Bekenntnis des Buchs. Die Griffigkeit der Sprache hilft Betroffenen wie Helfenden, den Weg ins Buch und so auch zu den unterschiedlichen Entspannungsmethoden zu finden. Sie nehmen auch denjenigen den Wind aus den Segeln, die sich auf die Spur der Entspannung begeben: „Entspannungsübungen gelingen dann am besten, wenn sie weder mit innerem Druck noch mit verbissener Zielstrebigkeit geübt werden, sondern mit einer gewährenden Geisteshaltung“ (S.34).

Menschen, die sich in Entspannungsmethoden üben wollen, wissen oft nicht, was für sie am besten passt. Hoffmann und Michaux stellen die unterschiedlichen Programme vor. Dies tun sie nicht als Marktschreier. Vielmehr lassen sie Kritisches und Hilfreiches der einzelnen Entspannungsmethoden anklingen. So können sich die Interessierten im Kontext einer umfänglichen Suchbewegung auf den Weg nach dem Passenden für sich machen.

Können Sie sich digital entspannen? Haben Sie es einmal probiert? Hoffmann und Michaux begleiten den Weg in die „digitale Entspannung mit Apps, Videospielen und Virtual Reality“. Dabei bekommen die Interessierten ungewohnte Einblicke in eine sich verändernde Welt der Entspannung. Sie schreiben über innova-

98 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 261 3. Quartal 2023
Main Mabuse, Frankfurt am Main 2021, 278 S., 20 Euro Schattauer, Stuttgart 2023, 160 S., 32 Euro

tive Videospiele zur Förderung der mentalen Gesundheit. Dabei begegnet man Sätzen, die nicht erwartet werden: „Serious Games schaffen einen geschützten Lernraum zum risikofreien Aufbau relevanter Selbstregulations- und Verhaltenskompetenzen“ (S.116).

Für eine Person, die sich nicht als Digital Native versteht, befremdet der nahezu selbstverständliche Umgang mit zeitgenössischen Technologien im Zusammenhang mit Stressabbau und Entspannung. So erleichtert es, wenn Michaux und Hoffmann schreiben: „Vorsicht ist dennoch geboten, zumal (a) eine zu intensive Interaktion mit technischen Geräten auch zu Überlastung führen kann und (b) technikbasierte Ansätze eine therapeutische Behandlung nicht ersetzen können“ (S.121).

Gewöhnlich wird die Brücke vom alltäglichen Stress zu den Entspannungen geschlagen. Hoffmann und Michaux gehen einen Schritt weiter und widmen auch der „Relaxation à la carte bei Neurosen und Psychosen“ besondere Aufmerksamkeit. Unter anderem gehen sie darauf ein, dass bei psychotischem Erleben viele Jahre vor Entspannungsmethoden gewarnt wurde. Befürchtet wurde, „dass es etwa bei Suggestionen zur Provokation paranoider und halluzinativer Symptome kommen könnte, so als gesellte sich noch eine weitere zu den Stimmen im Kopf“ (S.138). Sie unterstreichen, dass bei entsprechender psychiatrischer und psychotherapeutischer Abklärung die Emotionsregulation wirkungsvoll unterstützt werden könne.

Kurzum: Das Buch „Kein Stress mit der Entspannung“ schafft einen sehr guten Überblick und öffnet die eine oder andere Türe zu den Entspannungstechniken.

Christoph Müller, Wesseling

WIR sind die Kinder! Ein Kinderfachbuch über vertauschte Eltern-Kind-Rollen

Wenn Kinder in einer Familie Elternaufgaben übernehmen, spricht man von Parentifizierung. So geht es Ele und Tango in diesem Kinderfachbuch. Im Buch stellt die Kindertherapeutin Sofia Morgentau die Geschichte der beiden Kinder vor und erzählt, wie sie sie unterstützt hat, wieder Kind zu sein und nicht zu viel Verantwortung in ihrer Familie zu übernehmen. Sofia nimmt die Kinder mit auf ihr Hausboot. Die Flussfahrt auf dem Hausboot dient als Metapher für die therapeutische Vorgehensweise von Sofia: spielen, tanzen, singen, Neues ausprobieren, Kind sein dürfen.

Die Welten, in denen die beiden Kinder Ele und Tango aufwachsen, könnten kaum unterschiedlicher sein. Ele lebt mit ihren Eltern und vier Geschwistern am Stadtrand. Sie kümmert sich sehr viel um ihre jüngeren Geschwister und übernimmt auch im Haushalt viele Aufgaben. Ele ist nicht nur zu Hause sehr fleißig, sondern auch in der Schule. Zusätzlich schlichtet sie nicht nur die Streitigkeiten ihrer Geschwister, sondern manchmal auch die ihrer Eltern. Für ihr (erwachsenes) Verhalten erhält sie viel Lob – wie anstrengend diese Rollenübernahme für sie ist, ahnen aufmerksame Leser:innen bereits, spätestens aber als eine aufkommende Angstsie zunehmend daran hindert, das Haus zu verlassen. Tango hingegen lebt mit seiner Mutter zusammen, die beruflich sehr eingespannt ist und kaum Zeit für ihn hat. Sein Vater lebt mit seiner neuen Familie im Ausland und hat ebenfalls wenig Zeit für seinen Sohn. Zwar wächst Tango in wohlsituierten Verhältnissen auf, doch ist er sehr darum bemüht, seine Mutter zum Lächeln zu bringen.

Sofia ermuntert die Kinder, sich einen inneren Freund oder ein Krafttier zu überlegen und zu zeichnen, das sie in belastenden Situationen stärken kann. Das klappt eine Weile ganz gut, aber die Macht der Gewohnheit ist in beiden Familien sehrstark. Es braucht einen weiteren Anlauf, bis die Eltern von Ele und Tango lernen, ihren Kindern nicht zu viel Verantwortung zu übertragen und in ihrer Elternverantwortung zu bleiben. Aber auch Ele und Tango lernen mithilfe ihrer inne-

ren Freunde, besser auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten und sich von den Erwartungen der Eltern an sie ein Stück freier zu machen. In einem Elternbrief wendet sich Sofia direkt an die Eltern und erinnert sie an ihre elterliche Verantwortung, für sich selbst zu sorgen und diese Aufgabe nicht den Kindern zu übergeben.

Das Buch endet mit zwei Fachteilen. Der erste Fachteil richtet sich an Jugendliche. Es werden Erkennungszeichen einer möglichen Parentifizierung in Form von 16 Fragen formuliert und Jugendliche erhalten Tipps, wie sie sich verhalten können,sollten sie eine parentifizierte Rolle in ihrer Familie eingenommen haben. Es werden auch konkrete Beispiele für Beratungsstellen und Initiativen für Jugendliche in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt. Hier wären auch spezifische Unterstützungsangebote für Kinder aus sucht- oder psychisch belasteten Familien wünschenswert gewesen. Der zweite, umfangreichere Fachteil richtet sich an Familien und Fachkräfte. Hier wird das Thema Parentifizierung aus fachlicher Sicht näher beleuchtet. Es werden verschiedene Formen von Parentifizierung unterschieden, mögliche Ursachen systematisiert, die Auswirkungen auf die psychische Entwicklung der Kinder thematisiert und zum Schluss Tipps gegeben, wie man parentifizierte Kinder und Erwachsene dabei unterstützen kann, sich aus den familiären Verstrickungen Schritt für Schritt zu befreien.

Autorin Andrea Hendrich ist DiplomPädagogin und Systemische Familientherapeutin. Das Buch wurde liebevoll illustriert von Kati Rode, Erzieherin und Kunstpädagogin. Die Zeichnungen können gut genutzt werden, um mit Kindern über das, was sie familiär belastet, ins Gespräch zu kommen. Sie können aber auch für sich stehen und man kann mit den Kindern darüber sprechen, wie es wohl Ele und Tango gerade in der Geschichte geht und was sie brauchen.

Dr. Anke Höhne, SUCHT.HAMBURG gGmbH

Buchbesprechungen 99 Dr. med. Mabuse 261 3. Quartal 2023
Mabuse, Frankfurt am Main 2022, 88 S., 25 Euro
Köln 2023, 176 S., 35 Euro
Psychiatrie,

Eine Wissensgeschichte der modernen Medizin, 1900–1960

Diabetes mellitus gilt seit vielen Jahren als eine der häufigsten Volkskrankheiten in der westlichen Welt. Schätzungen zufolge sind allein in Deutschland 6,7 Millionen Menschen davon betroffen.

Den Schrecken anderer Krankheiten hat Diabetes, insbesondere Typ II, längst verloren – ist doch gemeinhin bekannt, dass durch eine gewisse Disziplin in der Ernährung und der Therapie ein „normales“ Leben möglich ist. Smarte Medizintechnik macht die Kontrolle der Krankheit zunehmend einfacher.

Oliver Falk tritt mit seiner wissenschaftshistorisch angelegten Dissertation an, einige gängige Annahmen der bisherigen Diabetesgeschichtsschreibung zu hinterfragen und damit auch für die allgemeine Medizingeschichte neue Perspektivierungen vorzunehmen. Dafür begibt er sich auf die Suche nach den Ursprüngen des Umgangs mit dieser Krankheit und konzentriert sich dabei auf das „Spannungsverhältnis zwischen therapeutischer Ermächtigung und ärztlicher Kontrolle“ (S. 14).

Nach der Einleitung und der Vorstellung des methodischen und theoretischen Ansatzes zeichnet Falk zunächst die Entwicklung von Diabetes als Krankheitskonzept nach. Anfangs als seltene Stoffwechselerkrankung wahrgenommen, entwickelte sie sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur viel beschworenen Volkskrankheit. Ursächlich hierfür ist der sog. epidemiologische Übergang, womit in der Forschung das Ablösen von Infektionskrankheiten durch Zivilisationskrankheiten als häufigste Morbiditäts- und Mortalitätsfaktoren beschrieben wird. Im nächsten Kapitel werden die veränderten Problemlagen im Umgang mit Diabetes durch die Einführung der Insulintherapie näher beschrieben. In den beiden anschließenden Teilen fragt Falk dann nach der therapeutischen Praxis und deren tatsächlicher Umsetzung, also dem „therapeutischen Alltag“.

Der aktive und eigenverantwortliche Patient ist – so die Meinung der bisherigen medizinhistorischen Forschungen – eine Figur, die verstärkt erst ab den 1970er-Jahren in Erscheinung tritt. Falk hinterfragt

dieses gängige Narrativ und kann anhand der Analyse einer Vielzahl von publizierten fachmedizinischen Beiträgen aufzeigen, dass bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts führende Diabetes-Experten einen mündigen, eigenverantwortlich und selbsthandelnden Patienten für wünschenswert hielten und für gute Therapieerfolge auch einforderten. Mit dieser zentralen Erkenntnis wird gleich ein weiteres gängiges Narrativ in Frage gestellt: Im Falle von Diabetes kommt es nicht zu einer klassischen Selbstermächtigung, wie sie für die 1970er-Jahre vielfach beschrieben wurde, sondern diese wurde gezielt von der Ärzteschaft forciert. Nichtsdestotrotz sollte die Kontrolle und damit die Deutungshoheit über die Krankheit bei den Ärztinnen und Ärzten bleiben. Außerdem zeigt sich, dass der Durchbruch des Insulins als Wirkstoff zwar ein wichtiger Faktor innerhalb dieser Entwicklung war, die Veränderungsprozesse hin zu einem aktiven Patienten jedoch bereits vorher begannen und damit „bekannte Muster hygienischer Selbstregulierungsideen des 18. und 19. Jahrhunderts“ (S. 272) lediglich reaktiviert wurden.

Diese Erkenntnisse greift Falk auf, um die bisherigen Formen der Patientengeschichtsschreibung zu hinterfragen. Er wendet sich von der Patientengeschichte als einer „Geschichte von unten“ ab und konstruiert den Patienten als eine „Wissensquelle“. Demnach führt das Krankheitshandeln des Patienten zu Erkenntnisgewinnen, die wiederum von der Medizin fruchtbringend in neuen Therapiekonzepten umgesetzt werden können.

Insgesamt betrachtet ist Oliver Falks Studie nicht nur glänzend geschrieben, sondern auch inhaltlich und methodisch für die neuere Medizingeschichte ein großer Gewinn, da sie eindrücklich aufzeigt, welche neuen Erkenntnisse die Verbindung von verschiedenen Forschungsrichtungen und Denktraditionen hervorzubringen vermag.

Pierre Pfütsch, Stuttgart

Giovanni Maio (Hg.)

Vertrauen

in der Medizin

Annäherungen an ein Grundphänomen menschlicher Existenz

Vertrauen, ein existenzielles menschliches Grundbedürfnis, prägt das Miteinander und so auch die Beziehung zwischen Patient:innen, Ärzt:innen, Pflegenden und weiteren Gesundheitsberufen. Der Medizinethiker Giovanni Maio versammelt in diesem Band 13 Beiträge aus zumeist nichtmedizinischen Disziplinen –vorallem der Philosophie, aber auch der Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Rechtswissenschaft –, um das Phänomen Vertrauen in seiner Vielschichtigkeit zu beleuchten.

Die Quintessenz der interdisziplinären Betrachtungen: Vertrauen ist unverfügbar. Man kann es nicht „machen“, aber man kann für sein Entstehen auf zwei Ebenen förderliche Bedingungen schaffen: der gesellschaftlich/strukturellen und der individuellen. Neben gesellschaftlichen Bedingungen für eine Vertrauensentwicklung von Geburt an (denn hier wird das Potenzial eines Menschen für die Entwicklung von Vertrauen überhaupt angelegt), gilt es, im Gesundheitssystem vertrauensförderliche Strukturen zu schaffen. Dazu gehört, in der beruflichen Rolle so handeln zu können, dass das Wohl der Patient:innen immer und ohne Kompromisse an erster Stelle steht. „[A]llein schon die Relativierung des Wohls des Patienten und der Abgleich mit dem finanziellen Wohl des Klinikums [wäre] schon ein Verrat an den Interessen des Patienten“ (S.123), so Maio. Denn Vertrauen in der Patient-Arzt-Beziehung hat durch die hohe Verletzlichkeit der Patient:innen „mit der Gewissheit der restlosen Unkorrumpierbarkeit des anderen zu tun“ (S.118, Maio). Aufgrund des Systemdrucks ist es stete Herausforderung für die im Gesundheitswesen Tätigen, sich dieses Vertrauens von Seiten der Patient:innen als würdig zu erweisen. Hier braucht es auf individueller Ebene mehr denn je persönliche Reife und die Bereitschaft, Vertrauen zu schenken und anzunehmen.

Dieser Sammelband ist kein Praxisbuch. Er hätte gewonnen durch ein Kapitel über den Entstehungskontext (6. Freiburger Symposium zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin 2022), einen

98 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 262 4. Quartal 2023 Wallstein, Göttingen 2023, 312 S., 45 Euro

roten Faden durch die Beiträge sowie ein abschließendes, die Erkenntnisse zusammenführendes Kapitel. Durch den breiten Ansatz entsteht ein komplexes Bild des Phänomens Vertrauen, ein vertieftes Verständnis seiner Bedeutung für menschliche Beziehungen im Allgemeinen sowie die Beziehungen zwischen Patient:innen und Ärzt:innen im Besonderen. Die Lektüre erfordert, trotz guter Lesbarkeit, Bereitschaft zu tieferer Auseinandersetzung mit nichtmedizinischen Denktraditionen. Es ist ein Appell, sich trotz oder gerade wegen der sich aufdrängenden Krisen im Gesundheitswesen diesem existenziellen Thema zu widmen. Denn ohne vertrauensvolle Basis, auf individueller wie struktureller Ebene, drohen die restlichen Bemühungen ins Leere zu laufen.

Vera Kalitzkus, Ethnologin und wiss. Mitarbeiterin am Inst. f. Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf

Herder, Freiburg 2023, 320 S., 24 Euro

Gemeinwohlökonomie im Gesundheitswesen

Eine zukunftsweisende Perspektive

Neben dem Mainstream eines neoklassisch orientierten marktliberalen Ökonomiediskurses haben sich in den letzten Jahren einige Alternativen entwickelt, die auch für das Gesundheitswesen interessant sind. Sie tragen sehr unterschiedliche Namen und firmieren unter Begriffen wie „Fundamentalökonomie“, „Donut-Ökonomie“, „alltäglicher Kommunismus“ und „solidarischer Care-Ökonomie“. Die „Gemeinwohlökonomie“ würde ich in diese Debatten einordnen. Sie vertritt dabei keine grundlegend systemkritische Variante, sondern versucht über

eine wertefundierte Neuausrichtung die Gemeinwohlidee in der Praxis nachhaltig zu verankern. Die „Gemeinwohlmatrix“ beinhaltet die Ausrichtung der Unternehmenspraxis an folgenden Werten: Menschenwürde, Solidarität / Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und Transparenz / Mitentscheidung. Die Umsetzung die ser Werte wird von der Ebene der Lieferanten über die Mitarbeiter bis hin zum gesellschaftlichen Umfeld konkretisiert; ihre Einhaltung muss durch ein externes Begutachtungsverfahren nachgewiesen werden. Die auf diese Weise ermittelten „Gemeinwohlbilanzen“ beziehen sich auf sehr unterschiedliche Institutionen, etwa Bildungseinrichtungen, Kommunen oder Einzelunternehmen bzw. Genossenschaften im Bereich der Landwirtschaft, des Handels sowie der Gesundheit.

Das Gesundheitswesen, u.a. Arztpraxen, Krankenkassen und Apotheken, ist in den letzten Jahren zunehmend in den Blick der Gemeinwohldebatte geraten, die vor allem in dem Gemeinwohlökonomie-Arbeitskreis „Gesundheit“ intensiv geführt wird. Über die vorliegenden Erfahrungen, die an die Tradition der medizinkritischen Diskussionen der 1970er-Jahre anknüpfen, berichtet dieses Buch.

Am Beginn stehen Grundlagenbeiträge von Helmut Janßen-Orth und Ellis Huber, in denen in die Gemeinwohlökonomie eingeführt wird. Dabei wird auch das Proprium einer „gesunden Marktwirtschaft“, nämlich nicht der finanzielle Gewinn, sondern die soziale Verantwortung des Medizin- und Gesundheitssystems, in den Vordergrund gerückt. Anhand der Grundlagen der von Christian Felber entwickelten Alternative zur Mainstream-Ökonomie wird deutlich, dass unser Gesundheitswesen traditionell nicht individualistisch ausgerichtet ist, sondern – der Begriff mag altertümlich und auch „missbraucht“ vorkommen – bereits immer schon an der Volksgesundheit orientiert war.

Diese grundlegenden Hinweise werden durch die folgenden Einzelbeiträge von Bernd Fittkau, Joachim Galuska, Peggy Heer und Thomas Rosenthal sowie Christine Klar, Nikolaus Mezger und Marlene Thöne weiter vertieft. Das Spektrum reicht von der Betonung einer neuen Werteperspektive für die Gesundheitsberufe über Buurtzorg, einem aus den Niederlanden stammenden Reformansatz für das ambulante Pflegesystem, bis hin zur ökologischen Nachhaltigkeit in Arztpraxen. Denn

es darf nicht verkannt werden, dass – neben der Industrie, dem Verkehr und den privaten Haushalten, auch der Gesundheitssektor signifikant an der Erhöhung der Emissionen beteiligt ist. Der Hinweis auf die jährlich anfallenden etwa 250 000 Tonnen teils giftiger und gefährlicher Abfälle aus dem Gesundheitssektor ist an dieser Stelle nur beispielhaft gedacht.

Für die Leserschaft von besonderem Interesse dürften die sogenannte „Praxisberichte“ sein, die sich auch auf Genossenschaftsprojekte beziehen. Den Beginn machen Maximilian Begovic und Christine Winkelmair, die über die BKK Pro Vita informieren, die u.a. Veranstaltungen zur Nachhaltigkeit von Arzneimittelprodukten durchführt. Interessant sind auch die Ausführungen zur Gemeinwohlbilanzierung der Apotheken von Annegret und Albrecht Binder sowie Anja Thijsen. Hier wird erkennbar, dass durch Gemeinwohlorientierung in den Betrieben eine andere Kultur entstehen kann. Eine Bestandsaufnahme zur Gemeinwohlökonomie in einer Arztpraxis wird von Andreas Neubauer vorgestellt. Dabei wird in mehreren „Berührungspunkten“ (von Lieferanten bis zum gesellschaftlichen Umfeld) ausgeführt, worin der Mehrwert einer Gemeinwohlpraxis liegt. Er liegt in der ethischen Verantwortung (gegenüber Mitarbeitern und Kunden), der nachhaltigen Mittelverwendung, der Gestaltung von Verträgen und Verdienstmöglichkeiten bei der Mitarbeiterschaft sowie in den Beiträgen zum Gemeinwesen insgesamt. Man sieht, dass ärztliches Handeln nicht als profitables Geschäftsmodell verengt werden muss, sondern sich als ein Feld etablieren kann, welches seiner sozialen Verantwortung gerecht wird. Dieser Befund wird auch durch einen Bericht aus einer Zahnarztpraxis vertieft, der von Matthias Eigenbrodt verfasst wurde. Er berichtet über die erste Zahnarztpraxis, die in Deutschland nach den Prinzipien der Gemeinwohlökonomie arbeitet. Wer weiß, wie undurchschaubar sich mittlerweile für Patienten die Zuzahlungspraxis im Medizinsystem, auch bei den Zahnärzten, gestaltet, der wird die Ausführungen zu einer „ehrlichen Preispolitik“ mit großer Aufmerksamt lesen.

Das Buch schließt ab mit drei Praxisberichten aus Genossenschaftsmodellen. Hier geht es nicht nur um neue Varianten der Vertretung wirtschaftlicher und berufspolitischer Interessen einzelner Pro-

Buchbesprechungen 99 Dr. med. Mabuse 262 4. Quartal 2023

fessionen. Man fragt sich auch, ob diese Rechtsformänderungen (und die mit ihnen verbundene Praxis) eine positive Auswirkung auf die Sicherung der Versorgungslage insgesamt haben, u.a. auch im ländlichen Bereich. Ebenfalls stellt sich die Herausforderung, ob ein bundesweit bekannt gewordenes Modell, wie die Seniorengenossenschaft in Riedlingen, nicht auch stärker flächendeckend verankert werden könnte. Aber das sind Fragen, die durch vertiefende weitere Studien geklärt werden müssen.

Der Publikation ist eine weite Verbreitung zu wünschen. Das Themenfeld wird aus verschiedenen Perspektiven differenziert beleuchtet. Damit wird ein Anstoß dazu gegeben, dass das Thema der Gemeinwohlökonomie breiter diskutiert, im Gesundheitswesen stärker rezipiert und eine Reformdiskussion munitioniert wird. Das ist ein wesentlicher Verdienst dieser Publikation. Allerdings können Erfahrungsberichte der Protagonist:innen der ersten Stunde nur der Auftakt sein. Im Rahmen der Förderprojekte des Gemeinsamen Bundesausschusses und des damit verbundenen „Innovationsfonds“ muss es darum gehen, auch gemeinwohlorientierte Projekte zu analysieren. In jedem Fall sind mit dieser wichtigen Publikation sowohl die theoretisch-wissenschaftliche Debatte (um Alternativen zur Mainstream-Ökonomie) wie die Diskussion im Hinblick auf Chancen und Grenzen der engagierten Praxisprojekte eröffnet.

Univ.-Prof. Dr. Hermann Brandenburg, Vincenz Pallotti University Vallendar

Aufbruch in der Psychiatrie

Erinnerungen 1960 – 2020

In Nazi-Deutschland wurden 270 000 seelisch kranke Menschen unter Beteiligung ihrer Ärzt:innen ermordet. Unzählige starben durch Nahrungsreduktion und Vernachlässigung in weit von ihrem Heimatort abgelegenen Anstalten. Es klingt zynisch: dort sollten sie geheilt werden. Heilung sollten auch die erfahren, die die fast nächsten 40 Jahre im unheilvollen Milieu psychiatrischer Anstalten ausharren mussten. In Italien erzwangen Gesetze die Schließung dieser Stätten von Zwang und Gewalt. In der Schweiz arbeitete man mit alternativen Behandlungsangeboten. In Großbritannien führten umfangreiche sozialpsychiatrische Forschungen über erfolgreiche Rehabilition psychisch Kranker zum Aufbau ambulanter Dienste, zur Integration in Allgemeinkrankenhäuser und zur Schließung der traditionellen „Irrenhäuser“. Die Aufnahme der Psychiatrie in den steuerfinanzierten Nationalen Gesundheitsdienst NHS „schenkte“ öffentliche Aufmerksamkeit und erleichterte Reformen. Diese Transformationen der europäischen Nachbarn hinterließen tiefe Eindrücke bei den Leitungen und der Mitarbeiterschaft deutscher Psychiatrien. Mehrheitlich entschied sich die hiesige psychiatrische Nachkriegsgeneration für einen zugewandten, respektierenden, demokratischen Umgang mit seelisch leidenden Menschen. Kommunale Strukturen blieben lückenhaft. Rehabilition scheiterte oft an finanzieller Fragmentierung. Der Aufruf zur kompletten Auflösung der Großkrankenhäuser in Deutschland verhallte.

Die Psychiaterin und Psychotherapeutin Maria Rave-Schwank schildert in ihren „Erinnerungen 1960–2020“ diesen Aufbruch in der deutschen Psychiatrie. Als erste weibliche Leiterin eines Landeskrankenhauses ging sie notwendige Strukturveränderungen auf diesem Sammelplatz der unterschiedlichsten Patienten- und Behindertengruppen an. Mit einer Haltung aus Freude, Hoffnung, Wertschätzung, aber auch Pragmatismus agierte sie gegenüber Patienten, Angehörigen, Mitarbeitenden, Vertretern der Öffentlichkeit und Freunden in den Verbänden. Es galt, sie alle auf

den steinigen Weg der Reform mitzunehmen. Gestärkt durch eine hohe fachliche Bildung, durch mehrjährige Tätigkeiten in einer Tagesklinik, aber auch in einer Trägerverwaltung, nutzte sie praktische Herangehensweisen. Bei der Mitarbeit an der universitär orientierten PsychiatrieEnquête überzeugte sie die Mitstreitenden, dass die Weiterbildung zur Fachkrankenpflege die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen von Veränderungen im psychiatrischen Alltagsgeschehen sei. Von Douglas Bennett vom Maudsley Hospital in London, dem bedeutenden englischen Sozialpsychiater, hat Maria Rave-Schwank in ihrer Reformarbeit das Credo übernommen:

Alle Patienten, ganz gleichgültig, wie „chronisch“ sie sind, sind in dem Sinne rehabilitierbar, wie sie in einem möglichst normalen Bezugssystem den besten Gebrauch von den ihnen verbliebenen Fähigkeiten machen können.

Holger Heupel, London

Verlag, Köln 2022, 154 S., 20 Euro

Andreas Kruse

Leben in wachsenden Ringen

Sinnerfülltes Alter

Welche Botschaften verbergen sich in den Werken von Johann Sebastian Bach oder Rainer Maria Rilke? Diesen Fragen geht der emeritierte Heidelberger Hochschullehrer und Altersforscher Andreas Kruse (geb. 1955) nach. Bei Bach entdeckt er in der Kunst der Fuge die Stufen vom Weltlichen zum Göttlichen oder vom Leben zum Tode eines Menschen. Bei Rilke fasziniert ihn in einem Gedicht von 1905 das Bild des sinnerfüllten Lebens:

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen / die sich über die Dinge ziehn / Ich

100 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 262 4. Quartal 2023
Springer VS, Wiesbaden 2022, 311 S., 69,99 Euro
Psychiatrie

werdeden letzten vielleicht nicht vollbringen / aber versuchen will ich ihn.“

Als Psychologe hat sich Kruse in seinen Veröffentlichungen immer wieder mit dem Wachsen und Reifen eines Menschen im zeitgeschichtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext beschäftigt. Wie werden Erlebnisse und Erfahrungen im Lebenslauf eines Menschen als biografische Bezüge sichtbar? Welche äußeren Ereignisse bestimmen als Enttäuschungen oder Rückschläge die Entwicklung einer Persönlichkeit? Er kommt zu dem Schluss: Die Reflexion über die persönliche Biografie macht es möglich, „zu einer umfassenden und differenzierteren Deutung aktueller Erfahrungen und Erlebnisse und damit auch zu tieferen Erkenntnissen über das Leben als Ganzes wie auch über einzelne Lebensbereiche zu gelangen.“

Zur Sinnerfüllung im Leben gehören die Übernahme von Selbstverantwortung und die Solidarität als „freundschaftliche Hinwendung zum Menschen“. Gerade ältere Menschen engagieren sich in großer Zahl im Ehrenamt und übernehmen die Sorge für Andere.

Gesundheit fördert das Wachstum. Kruse verweist auf verschiedene Modelle, in denen es um die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit geht. Sie können auch als Anregung für einen aktiven Bewältigungsprozess verstanden werden, um erfahrene Verletzlichkeit zu verarbeiten. Als Beispiel stellt Kruse das Konzept der Salutogenese des israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky vor, der „Gesundheit als geschaffene oder wiederhergestellte Ordnung innerhalb des Organismus“ deutet. Nicht „Was macht mich krank?“ sondern „Was hält mich gesund?“ gilt hier als grundlegende Orientierung.

Zum gesundheitsfördernden Wachstum gehört es, Lebensbindungen zu erkennen und „Ja“ zum Leben zu sagen: jede „subjektiv erlebte Möglichkeit zur Selbst- und Weltgestaltung“ wahrnehmen; eine „wahrhaftig geführte Kommunikation“ pflegen; sich für Kreativität und Spiritualität als Erlebnishorizont nach innen und außen freimachen. Ältere Menschen sind aber auch darauf angewiesen, dass Gesellschaft, Politik und Kultur sozial gerechte und teilhabeförderliche Lebensbedingungen ermöglichen, Ungleichheit abbauen sowie Teilhabe und Zugehörigkeit fördern. Soziale Benachteiligung beeinträchtigt die seelisch-geistige Reifung, Diversität öffnet

Räume für Unterschiede und Gemeinsamkeiten.

Zum letzten Ring im Leben können körperlich-geistige Einschränkungen, chronische Krankheiten und Pflegebedürftigkeit gehören. Kruse macht sich Gedanken über eine sorge- und pflegefreundliche Kultur. Er thematisiert wechselseitige Abhängigkeiten im Pflegeprozess, die ein Aushandeln zwischen den Akteuren notwendig machen und die sogar den weiteren Verlauf eines Lebens beeinflussen können. Im schlimmsten Fall kann der Verlust derSelbstständigkeit, das andauernde Angewiesen-Sein auf Hilfe oder Pflege zu einem Suizidverlangen führen. Im besten Fall wird ein Mensch bis zuletzt liebevoll und empathisch begleitet.

Der schmale Band, den Kruse als eher essayistische Publikation bezeichnet, kann mit seinen neun Kapiteln als „eher persönliches Resümee über wissenschaftliche Befunde zum hohen Alter“ gelesen werden. Aber auch als sein Plädoyer, neben einer „vorwiegend oder ausschließlich körperlich orientierten Betrachtung“ auch die seelisch-geistigen Kräfte in den Blick zu nehmen, durch die ein sinnerfülltes Leben gelingen kann. Auf jeden Fall regt die Bildsprache Rilkes an, über wachsende Ringe und den letzten nachzudenken, den es zu wagen gilt.

Karl Stanjek M.A., Seniorenbeirat Kiel

Kohlhammer, Stuttgart 2023,

Silvia Habekost/Dana Lützkendorf/ Sabine Plischek-Jandke/ Marie-Luise Sklenar (Hg.)

Gebraucht, beklatscht –aber bestimmt nicht weiter so!

Geschichte wird gemacht: Die Berliner Krankenhausbewegung

Die Berliner Krankenhausbewegung hat ein außergewöhnliches Lehrbuch geschrieben, das in der Reihe WIDERSTÄNDIG des VSA:Verlages in Hamburg erschienen ist. Es zeigt nicht nur auf, dass Widerstand gegen das krankmachende Gesundheitssystem nur gemeinsam und solidarisch Erfolg bringt, man lernt daraus auch, dass und auf welchem Wege kollektive und solidarische Strategien erarbeitet werden können. „Gebraucht und beklatscht – aber bestimmt nicht weiter so!“ ist der Titel, der zugleich als Programm das gesamte Buch durchzieht. Applaudieren vom Balkon, das reicht den Beschäftigten in Altenheimen und Krankenhäusern schon lange nicht mehr. Sie wollen gerechtere Löhne, mehr Personal und bessere Arbeits- und Tarifbedingungen, um sich und vor allem die ihnen Anvertrauten und die Patient:innen und Bewohner:innen gut versorgen zu können. Dafür kämpfen sie gemeinsam. Sie lassen sich nicht gegeneinander und auch nicht gegen die Patient:innen ausspielen. Denn fast alle brauchen irgendwann Pflege oder medizinische Versorgung. Den Slogan „Mehrvon uns ist besser für alle“ hatten sie schon lange entwickelt. Er ist so einfach wie einleuchtend und hat ihnen viel Sympathie eingebracht. Die Kampagne „Zusammenstehen“ wurde schon im Jahr 2015 gegründet, um einer weiteren Aufspaltung der Beschäftigtengruppen bei den Vivantes-Häusern entgegenzuwirken. Es waren viele verschiedene Ursprungsbewegungen, die schließlich zur großen Krankenhausbewegung geführt haben –und ein weiter Weg, der schließlich zum (Teil-)Sieg der Bewegung führte.

In dem Band schreiben die Beschäftigten aller Ebenen über die Zustände in ihren Einrichtungen. Es ist daher kein Buch über sie, sondern von ihnen, das ist das Besondere. Etliche Erfahrungsberichte sind aus Reden bei Demonstrationen und Kampagnen entstanden. Die Beteiligten sind

Buchbesprechungen 101 Dr. med. Mabuse 262 4. Quartal 2023
136 S., 22 Euro

sicher: „Wir sind die Expert*innen unserer eigenen Arbeitsbedingungen!“

Das übersichtlich in fünf Kapitel gegliederte Buch beschreibt die Zustände und Hintergründe, die den „Pflegenotstand“ verursachten, aber auch, warum die Aktivist:innen handeln müssen. Die Bilder der Aktionen und Personen unterstreichen den Power der Gesundheitsbewegung. Im ersten Teil beschreibt die Tochter einer Patientin, wieso es so nicht weitergehen kann und wer Verantwortung für dieses System trägt. Es folgt die Beschreibung einer Auszubildenden, der es erst durch den kollektiven Widerstand möglich wurde, bei ihrer Arbeit zu bleiben. Der zweite Teil erzählt die Vorgeschichte der Berliner Krankenhausbewegung.

Geschrieben haben zudem Krankenpfleger:innen, Therapeut:innen, Hebammen, Ausbilder:innen, Betriebsrät:innen, Gewerkschaftsaktive und -sekretär:innen, Küchenarbeiter:innen, Handwerker:innen. Nicht alle Texte wurden von Einzelnen verfasst, einige entstanden im Team, für andere wurden die Gespräche von Krankenhaus-Kolleg:innen aufgezeichnet. Das gilt auch für den dritten Teil, in dem die Arbeitenden berichten, wie sie in die Bewegung gekommen sind. Der vierte Teil erzählt, wie es zu den Erfolgen kam und von den basisnahen Verhandlungen, mit denen sich die Unternehmerseite arrangieren musste, sowie die Erlebnisse des Streiks selbst. Der letzte Teil „Der Kampf geht weiter!“ zieht ein Fazit: Viele sind durch den Streik erst aktiv geworden, haben gemerkt, dass man kollektiv viel erreichen kann.

Nach 30 Tagen Streik an der Charité, 35 Tagen bei Vivantes und 43 bei den Vivantes-Töchtern konnten sie den Sieg feiern. Sie hoffen, dass „viele andere Kolleg*innen sich trauen, [auch] in diesen Kampf zu gehen“. Auch deshalb haben sie das Buch geschrieben.

Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, Berlin

heimgesperrt

Missbrauch, Tabletten, Menschenversuche: Heimkinder im Labor der Pharmaindustrie

Vor drei Jahren erschien im MabuseVerlag das Fachbuch „Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975“ der Apothekerin Sylvia Wagner. Grundlage war eine Dissertation am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Düsseldorf, die vor allem durch den Medizinhistoriker Heiner Fangerau betreut wurde.

Genau um den Stoff, den Wagners Doktorarbeit damals aufgriff, geht es nun in ganz anderer Form, nämlich in einem „faktenbasierten Roman“ derselben Autorin. Gemeint sind die Hintergründe der Arzneimittelversuche, jener Schicksale, die einzelne Heimkinder als Opfer vieler und extrem dubioser Praktiken jahrelang erlitten hatten.

Wieweit Wagner selbst betroffen war, kann sie nicht zuverlässig sagen; das ist für das Buch auch nicht das Entscheidende. Gesichert ist, dass sie in einem Säuglings- und in einem Kinderheim aufwuchs. Im Kern geht es ihr, die sich Hannah nennt, darum, als Mitlebende und Mitleidende festzuhalten und zu erzählen, mit unzähligen Beobachtungen und in Dialogen, was damals (und sogar bis heute) um sie herum geschah.

Wagners Schilderungen changieren zwischen ihren Erinnerungen, die nach so langer Zeit nicht mehr frisch, aber doch sehr belastend sein können, und viel späteren, meist kurzen Treffen mit ihrer Mutter und deren Mutter. Pflegeeltern kommen auch vor. Trotz dieser schwierigen Umstände schaffte Wagner das Abitur, studierte danach Pharmazie und wurde promoviert.

Von zentralem Rang ist für sie das, was mit den Heimleitungen (oft in kirchlicher Trägerschaft) zusammenhängt, mit der Gewalt etwa durch Nonnen, die schon wegen nichtiger Gründe aus eigener Machtvollkommenheit harte Strafen verhängten. Fromme Lieder durften dabei nicht fehlen. Bei den Arzneien, die viele Kinder nehmen mussten, gab es massiven und systematischen Missbrauch, gefördert durch Ärzte, durch Ämter und die Pharmaindustrie. Beteiligt waren auch Mediziner, die während der NS-Zeit bei Fleckfieberversuchen in KZs mitgewirkt hatten.

Akten belegen für Heime nach 1949 bis heute stapelweise die routinierten Verordnungen, die „Kranken“geschichten, den Schriftwechsel mit Behörden. Was die Eltern oder andere Erziehungsberechtigte dazu sagten, war ohne Bedeutung. Was erfuhren sie wahrheitsgemäß, wieweit willigten sie ein – oder auch nicht?

Dazu eine Passage aus dem Buch zu oft stark sedierenden Mitteln: „Die meisten Kinder und Jugendlichen hatten reichlich Neuroleptika bekommen. Vor allem die unruhigen. Die Eintragungen dazu wirkenfür Laien eher belanglos, hatten aber oft auch wegen dieser wilden Mixtur, einer perversen Perfektion, schädliche Folgen: ,Erhält dreimal täglich 50 mg Chlorprothixen, täglich dreimal vier Tropfen Benperidol; dreimal fünf Tropfen Promethazin; Pipamperon und Diazepam werden abgesetzt; die Dosis von Haloperidol wird erhöht‘“ – letzteres als Mittel gegen schizophrene Syndrome.

Für Wagner wurde es äußerst wichtig, wiederholt mit anderen Heimkindern zusammenzukommen. Doch seriöse Aufklärung und finanzielle Hilfe lagen (und liegen bis heute) weit entfernt. Wenigstens schließen sich Kontakte mit Medien an, die sich dank Wagners eindringlicher Schilderungen für das in Heimen Geschehene interessieren. Heime – an sich ein positiv gedachter Begriff. Doch nicht selten ist er mit Gewalt und Herrschsucht verbunden, mit schlimmen Verletzungen und lebenslangen Traumata, weit weg von heimelig und Heimat.

Hier der Schlusssatz der Arbeit: „Es war nicht leicht gewesen. Es hat an mir gezehrt. Aber die Sache hat mich nicht aufgefressen. Im Gegenteil – ich habe zurückgebissen. Und es war gut.“

Gut ist es auch, dieses sehr wichtige und eindringliche Buch aufmerksam zu lesen und anderen davon zu erzählen –und daraus zu lernen, damit dergleichen nie mehr wiederkehrt.

Dr. phil. Eckart Roloff, Wissenschaftsjournalist und Buchautor, Bonn

102 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 262 4. Quartal 2023
VSA, Hamburg 2022, 108 S., 10 Euro
Correctiv, Essen 2023, 251 S., 20 Euro

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