Buchbesprechungen 2019

Page 1

Buchbesprechungen


62

Buchbesprechungen

Gerhard Habicht

Care Sharing Von der Angehörigenpflege zur Selbsthilfe in sorgenden Gemeinschaften

D

igitalisierung bietet für die Organisation der Altenpolitik neue Möglichkeiten, aber ebnet diese zugleich den Weg zu einer sorgenden Gemeinschaft? Das innovative Konzept „Care Sharing“ soll die Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen künftig, auch angesichts der demografischen Entwicklung, sicherstellen und steht für einen radikalen Neuanfang. Mittels einer Bürgerplattform soll eine möglichst große Anzahl an HelferInnen für die Angehörigenpflege organisiert und Arbeitsteilung ermöglicht werden. Technikgestützt werden die individuellen Daten und Bedarfe erfasst, Hilfegesuche veröffentlicht und so der Einbezug von externen HelferInnen ermöglicht. Durch konkrete Hilfestellungen gemäß den eigenen Fähigkeiten kann jeder sein soziales Engagement ausweiten. Isolation in der Einzelpflege sowie individuelle Pflegelasten können so aufgelöst und gleichzeitig das Helferpotenzial entscheidend erweitert werden. Hierbei ruht die CareSharing-Plattform auf gewissen Nutzungsbedingungen, die auf der Annahme von Geben und Nehmen basieren. Das Buch „Care Sharing. Von der Angehörigenpflege zur Selbsthilfe in sorgenden Gemeinschaften“ liefert eine konzeptionelle Basis für die Umsetzung eines digitalisierten Pflege-Selbsthilfe-Konzeptes. Ermöglicht wird dies durch Digitalisierung und die Bereitstellung von „Wissen“ in Form von verständlichen Informationen für jedermann. In 14 Kapiteln bearbeitet der Autor Gerhard Habicht die Hin-

tergründe, Ursachen und Notwendigkeiten der Angehörigenpflege und beleuchtet diese sowohl ökonomisch als auch historisch. Gerhard Habicht ist Diplom-Volkswirt und Experte zum Thema Angehörigenpflege. Zurecht kritisiert er, dass Verbesserungen im Bereich der Pflege in der Regel aus der Perspektive des Staates und der Wohlfahrt betrachtet werden, nicht aber aus der Perspektive der Sorgenden. Ebenso stellt er heraus, dass vor allem nachhaltige Ansätze für die Pflege-Selbsthilfe fehlen. Mit der Care-Sharing-Plattform verfolgt er folgende Ziele: Jeder soll die Möglichkeit haben, den Pflegealltag strukturiert, arbeitsteilig und vernetzt zu organisieren. Das Helfen soll durch benutzerfreundliche Technik so einfach wie möglich gestaltet werden und schließlich soll so eine sorgende Gemeinschaft aufgebaut werden. Das Buch beleuchtet einerseits ein aktuelles Thema aus verschiedenen Perspektiven und knüpft an eine wichtige Debatte um die zukünftige Gestaltung der Angehörigenpflege an. Der Autor analysiert das Thema historisch, stellt verschiedene Entwicklungen unter anderem der Gabenwirtschaft dar und bleibt dadurch informativ. Andererseits ist der Inhalt des Buches nicht gut strukturiert: So werden beispielsweise auch zum Ende des Buches immer wieder Begriffe definiert und historisch beleuchtet, wobei man abschließend eine stringente Vorstellung des innovativen Ansatzes erwarten würde. Dies stört nicht nur den Lesefluss, sondern irritiert auch, wenn man den Aufbau des Buches betrachtet. Im Hinblick auf wissenschaftliches Arbeiten weist das Buch ebenfalls einige Lücken auf, unter anderem ist die Zitationsweise nicht einheit-

lich. Insgesamt ist es jedoch für alle Interessierten durchaus relevant, da es einen neuen Ansatz für die Angehörigenpflege auf der Basis digitalisierter Vernetzung bietet. Dass Bedienung, Administration und Moderation der Plattform auch ohne Technikkenntnisse möglich sind, möchte ich infrage stellen. Eine gewisse Technikaffinität muss meiner Meinung nach dafür schon vorausgesetzt werden. Wenn es jedoch gelingt, auf diese Weise einer sorgenden Gemeinschaft näherzukommen, ist der Ansatz zu begrüßen. Carina Schiller, M.A., Erziehungswissenschaftlerin und wissenschaftl. Mitarbeiterin der Universität Bielefeld

Springer Verlag, Wiesbaden 2018, 363 Seiten, 19,99 Euro

Stephan H. Nolte

Alles halb so schlimm Die häufigsten Fragen an den Kinderarzt und überraschend einfache Antworten

A

lles halb so schlimm“, diesen beruhigenden Satz habe ich als Mutter und selbst Ärztin gerne vom Kinderarzt gehört. Vor allem, wenn ich voller Panik mit dem Schlimmsten rechnend ärztliche Hilfe suchte. Das Buch des Kinderarztes Stephan H. Nolte ist mehr als nur ein medizinisch-psychologisch-pädagogischer Ratgeber. In seinem Buch beantwortet er die häufigsten Fragen an den Kinderarzt mit überraschend einfachen Antworten.

»LEITUNG UND KOORDINATION SOZIALPSYCHIATRISCHER WOHNFORMEN AUF DER GRUNDLAGE DES BUNDESTEILHABEGESETZES (BTHG)« Die zweijährige Fortbildung soll Fachkräfte dazu befähigen, die alltäglichen Herausforderungen in der Umsetzung der personenzentrierten Hilfen auf Basis des BTHG fachlich und qualitativ hochwertig im Sinne der leistungsberechtigten Personen zu bewältigen.

Start im Mai 2019

Zielgruppe: Fachkräfte im Bereich des Wohnens für Menschen mit einer psychischen Erkrankung bzw. Behinderung Weitere Infos: (0221) 51 10 02 | info@dgsp-ev.de | www.dgsp-ev.de

Dr. med. Mabuse 237 · Januar / Februar 2019


Buchbesprechungen

Das Buch hilft, Veränderungen in der Gesundheit von Kindern zu sehen, selbst zu beurteilen, einzuordnen, entsprechend ruhig und effektiv zu handeln, eine eigene Haltung zu entwickeln und Verantwortung für die Gesundheit der Kinder zu übernehmen. Mit der Frage „Wann ist das schlimm?“ bietet der Autor nach einem Kapitel „Beschwerden und Symptome“ knapp und überschaubar mit einer Gefahrenampel Soforthilfe: Wann muss der Notarzt gerufen oder der Arzt aufgesucht werden? Wann ist eine Behandlung zu Hause sinnvoll? Zu vielen Symptomen, Beschwerden und Krankheiten gibt das Buch fundierte Antworten. Thematisiert werden die Selbstheilungskräfte des Körpers, Naturheilverfahren, gesellschaftliche Ängste und Normen, ethische Fragen, Überbehandlung und vieles mehr. Auf Krisensituationen wie Unfälle sowie psychische oder psychosomatische Erkrankungen, Kindeswohlgefährdung oder Krebs geht der Autor ebenfalls ein. Das Buch kann die Ängste der Eltern, etwas falsch zu machen im Umgang mit Kindern, verändern und gibt klare Handlungsanweisungen. Es ist ein Appell an eine menschliche, das Kind in Schutz nehmende Haltung und Medizin. Nolte stellt das Kind mit seinen Lebens- und Selbstheilungskräften in den Mittelpunkt ärztlichen Handelns. Letztendlich appelliert er auch an seine Zunft, all das zu tun, was richtig, wichtig und zweckdienlich ist – aber eben nicht immer alles. Dr. med. Alexandra Urbas, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Kassel (Nachdruck a. d. Hessischen Ärzteblatt 10/2018, S. 630, www.laekh.de)

Kösel Verlag, München 2017, 240 Seiten, 16,99 Euro

Ulrich Fey

Wirklich komisch Wenn Clowns Kinder im Krankenhaus besuchen

W

enn es eines Beweises bedarf, dass Clowns in Krankenhäusern einen wichtigen Dienst tun, dann kann das Buch „Wirklich komisch“ herangezogen Dr. med. Mabuse 237 · Januar / Februar 2019

werden. Denn Fey hat mit dem abwechslungsreichen und lebhaften Buch die Wirkungskraft der Clown-Arbeit in das Rampenlicht gerückt. Es ist ein wichtiges Buch für all diejenigen, die sich um den therapeutischen Humor bemühen. Apropos Mühe – Feys Buch ist alles andere als mühevoll zu lesen. Es ist ein großes Vergnügen. Es gelingt Fey, aus seinem großen Erfahrungsschatz als Clown zu schöpfen, gleichzeitig aber auch der Arbeit eine große Seriosität zu geben. So berichtet er unter anderem über zahlreiche wissenschaftliche Studien, die zur ClownArbeit gemacht worden sind. In seinem Geleitwort nennt der Mediziner und Kabarettist Eckhart von Hirschhausen Clowns „Joker der Zuwendung“ (S. 11). Fey unterstreicht diese Sichtweise durch viele Praxisbeispiele, die sich der Evidenzbasierung der Schulmedizin entziehen. Fey zeigt auf, dass die Interaktionen eines Clowns ein Wechselspiel mit sich und dem Gegenüber sind. Voraussetzung für empathisches Verhalten sei der gute Kontakt des Clownspielers zu sich selbst und zu seinen Gefühlen. Nur wer sich spüre, der könne auch andere Menschen spüren (S. 36). Als Clown zu improvisieren setze voraus, „die eigene Aktion immer in Relation zu den Reaktionen derer zu setzen, die an der Aktion beteiligt sind“ (S. 37). Fey schafft es mit dem Buch, sich als Expeditionsführer vorzustellen. Er stimmt die Leserinnen und Leser immer wieder auf das Abenteuer Clown-Arbeit ein. Er zeichnet die grundsätzlichen Konturen der Clown-Arbeit und stellt die eigene Welt der Krankenhäuser vor. Gleichzeitig zeigt er auf, wie wertvoll der therapeutische Humor und das Handwerkszeug der Clowns sein können. In einer Klinik sind Medikamente und Injektionen für Interventionen sinnvoll, die der Gesundheit der Kinder nutzen sollen. Den Clowns spricht Fey die Fähigkeit zu, eine „Vitalitätsspritze“ zu sein. In dem Miteinander des Clown-Doktors und des jungen Patienten gehe es um die „Magie des Augenblicks“. Clowns seien „klinische Fremdkörper“ (S. 136), die im Zeichen eines Perspektivenwechsels unterwegs seien. Pflegende und Mediziner schauten auf die Blinddarmentzündung und das SchädelHirn-Trauma. Clowns schauten auf die gesunden Anteile eines Kindes. Sie veränderten die Atmosphäre im Krankenzimmer, könnten emotional aus der Kli-

w

Neu im Mabuse-Verlag

Paula Kuitunen

Mein Tabulu Ein Kinderfachbuch über Angst und Angststörungen 56 Seiten, 14,95 Euro ISBN 978-3-86321-430-2 Tabea ist sieben Jahre alt, als sie in eine andere Stadt zieht. Am ersten Schultag soll sie sich der neuen Klasse vorstellen. Doch wie aus dem Nichts sitzt plötzlich Tabulu auf Tabeas Schulter, es piepst ihr ins Ohr und macht es unmöglich, ein Wort herauszubringen. Das Tabulu ist Tabeas Angst. Das Buch hilft Eltern und ErzieherInnen dabei, mit Kindern über Angst und Angststörungen zu sprechen. Fachliche Ratschläge dazu gibt der DiplomPsychologe Sören Kuitunen-Paul.

www.mabuse-verlag.de

63


64

Buchbesprechungen

nik entführen und mit ihnen in eine andere Welt abtauchen (ebd.). Das Fey-Buch liest sich nicht nur als ein Manifest der Fröhlichkeit. Fey zeigt sich nicht nur als Botschafter der lebensnotwendigen Polarität von Heiterkeit und Traurigkeit in einer unruhigen klinischen Welt. Es ist ein Plädoyer, die Genesung eines Menschen und insbesondere eines Kindes mit unkonventionellen Ideen zu unterstützen. Es reicht eben nicht aus, sich allein der Pharmakologie und der medizinischen Heilkunst anzuvertrauen. Wer sich mit dem therapeutischen Humor und seinen vielen Facetten beschäftigt, der wird zahllosen, sich wiederholenden Ermutigungen begegnen. Feys Buch wird auf lange Sicht mit seiner Lebhaftigkeit und Gründlichkeit überzeugen. Er spricht diejenigen an, die ernsthaft und wissenschaftlich denken und lesen. Er gewinnt aber genauso die Aufmerksamkeit derjenigen, die eher praktisch denken und fühlen. Sein Buch ist für viele eine Fundgrube der Erkenntnis. Christoph Müller, Wesseling

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2018, 240 Seiten, 19,95 Euro

Melanie Büttner

Sexualität und Trauma Grundlagen und Therapie traumaassoziierter sexueller Störungen

J

edes gefährliche Erlebnis, das starke Angst erzeugt, kann einen Menschen traumatisieren und damit langfristig psychisch aus der Bahn werfen. Besonders traumatisierend sind Gewalttaten, nicht zuletzt sexuelle, aber auch die Erfahrung, als Kind systematisch vernachlässigt worden zu sein. Traumafolgen umfassen zahlreiche seelische wie körperliche Symptome. Zweierlei sind Leib und Seele zwar nie wirklich, doch wo wir sie als besonders eng verwoben erleben, ist sicherlich die Sexualität. Insofern könnte man vermuten, dass Traumatisierungen häufig sexuelle Probleme nach sich ziehen. In diesem Fall sollte Sexualität zu den zentralen Themen der Forschung gehören, die sich mit Fol-

gen und Behandlung von Traumastörungen beschäftigt. Weit gefehlt, wie die Münchner Ärztin Melanie Büttner fast erstaunt feststellen musste. Nicht nur die Literatur ist dürftig. Psychotherapeutische Weiterbildungen für Trauma- und Sexualstörungen waren lange streng getrennt, und Traumatherapeuten sprechen sexuelle Probleme oft absichtlich nicht an, weil sie befürchten, das Thema könne die Betroffenen „destabilisieren“. Büttner machte es anders. Sie spezialisierte sich als Psychosomatikerin sowohl auf sexuelle Störungen als auch auf Psychotraumatologie. So bringt sie beides in ihrer Person zusammen und weiß deshalb sehr praktisch, wie dringend nötig das ist. Jetzt hat sie ein Buch herausgegeben, in dem sie und vierzehn Kolleginnen und Kollegen mit ähnlichen Schwerpunkten ihre Expertise, ihre Arbeit und wissenschaftliche Daten zum Thema vorstellen. „Sexualität und Trauma“ heißt das Werk – so kurz und bündig wie anspruchsvoll und umfassend. Um es gleich zu sagen: Das Buch löst seinen Anspruch ein, soweit das auf nur 450 Seiten möglich ist. In den ersten zehn Kapiteln beleuchtet es Grundlagenwissen zu traumatischen Erfahrungen und Sexualität. Es beschreibt, wie traumatisierte Menschen sich als sexuelles Wesen erleben oder eben nicht. Es berichtet, wie häufig sexuelle Übergriffe sind, und dass sie statistisch vor allem die weibliche Bevölkerung treffen. Es analysiert, wer im Erwachsenenalter am ehesten viktimisiert wird, nämlich nicht zuletzt Menschen, die schon als Kinder missbraucht wurden. Sehr erhellend ist ein Kapitel darüber, wie Menschen stigmatisiert werden, die sexuell abseits des Mainstreams orientiert sind, und wie allein das schon traumatisierend wirken kann. Traumatisiert zu sein erhöht sogar möglicherweise das Risiko, selbst zum Täter zu werden. Umgekehrt beeinflussen psychische Folgen von Gewalterfahrungen wie Angst oder Depressivität auch die Sexualität Betroffener negativ. Es gibt Kapitel darüber, dass manche Menschen mit stark eingeschränkter, andere mit überschießender sexueller Aktivität reagieren. Partnerschaften können trotz traumatischer sexueller Erfahrung gelingen, aber Therapeuten sollten auch akzeptieren, dass nicht alle Betroffenen einen Weg dorthin finden.

Der zweite Teil des Buches ist der Behandlung gewidmet. Zwölf Kapitel stellen verschiedenste Perspektiven vor, von der gynäkologischen über physiotherapeutische bis dahin, wie man sexual- und traumaspezifische psychotherapeutische Methoden integrieren kann. Besonders praktisch und beeindruckend erscheint dabei das Gruppentraining „Achtsame Sexualität“ der Berliner Psychotherapeutin Archontula Karameros. Sie hat es für weibliche und männliche Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) entwickelt, die Probleme mit befriedigenden sexuellen Begegnungen haben, auch wenn das Trauma gar nicht sexueller Natur war. Ihre präzisen Pläne für fünf Gruppensitzungen kann man direkt anwenden, und Karameros stellt sogar eine erste – positive – Evaluationsstudie vor. So liefert das Buch eine Menge neuer Erkenntnisse aus dem Themenspektrum „Sexualität und Trauma“. Sie sind klar, präzise und nachvollziehbar aufgeschrieben, und das mit einer immer patientInnenorientierten Haltung. Ein klarer Gewinn nicht nur für Profis. Dr. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin, München

Schattauer Verlag, Stuttgart 2018, 472 Seiten, 44,99 Euro

Christa Büker, Julia Lademann, Klaus Müller

Moderne Pflege heute Beruf und Profession zeitgemäß verstehen und leben

D

as vorliegende Buch ist das erste in einer entstehenden Reihe, die für ein Pflegestudium auf Bachelor-Niveau konzipiert wurde. Sie soll zukünftig Themen vermitteln, die von hochschulübergreifendem Interesse vor allem für Studierende primärqualifizierender Studiengänge sind. Darüber hinaus sind Studierende dualer Studiengänge und die Lehrenden in beiden Modellen angesprochen. Der Auftaktband befasst sich mit der Geschichte des Pflegeberufs, dem aktuellen Stand vor dem Hintergrund einer älter werdenden Bevölkerung, dem BerufsverDr. med. Mabuse 237 · Januar / Februar 2019


Buchbesprechungen

ständnis in Deutschland und im Ausland, der Professionalisierung der Pflege, Pflegeorganisationen und der Diskussion um die Verkammerung sowie der Akademisierung des Berufs im internationalen Vergleich. Das Kapitel „Pflegeberuf heute“ bietet eine umfassende Übersicht über beeinflussende Faktoren, gesetzliche Grundlagen und mögliche Tätigkeitsfelder. Die „Entwicklung des Pflegeberufs“ bietet eine Übersicht über die Berufsgeschichte. Besonders die Passagen über die Entwicklung zum Frauenberuf und die Geschichte der schulischen und akademischen Ausbildung heben dieses Kapitel von ähnlichen in anderen Lehrbüchern ab. Der Abschnitt zum Berufsverständnis ist geeignet, den Studierenden zu verdeutlichen, warum Pflege auf akademischem Niveau nicht nur sinnvoll, sondern notwendig ist. Die Entkoppelung des Fürsorgebegriffs von Selbstausbeutung und seine positive Besetzung auch zum Wohl des Berufsstandes halte ich für wichtig. Im Kapitel „Professionalisierung“ ist der Abschnitt über „Pflege im Kontext anderer Gesundheitsberufe“ hervorzuheben, der das Agieren der Pflege auf Augenhöhe mit benachbarten Berufen postuliert und dies begründet. Den folgenden Texten über Pflegeorganisationen und Perspektiven akademischer Pflege merkt man die Begeisterung der AutorInnen für ihre Disziplin und das langjährige berufspolitische Engagement an. Hier ist das Buch eher ein Aufruf an die Studierenden als „trockene“ Lehre – gerade damit aber dürften Büker und Lademann deren Interesse wecken. Ich hätte mir in der historischen Übersicht neben Florence Nightingale auch Mary Seacol sowie eine Einbeziehung muslimischer Rollenvorbilder für Pflegekräfte gewünscht. Ebenso hätte der Blick auf die vorgeblich gerade Traditionslinie von der Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands hin zum DBfK e. V. kritischer ausfallen dürfen. Redaktionell hätte dem Buch ein gründlicheres Lektorat gut getan, um gendersensible Sprache durchgehend zu gewährleisten und die Niveauanforderungen der verschiedenen didaktischen Einheiten zu nivellieren. Die Fallbeispiele finde ich zu niedrigschwellig, manche Textabschnitte zumindest für StudienanfängerInnen zu anspruchsvoll. Aber das sind Feinheiten in einem Buch, dessen durchdachtes KonDr. med. Mabuse 237 · Januar / Februar 2019

zept hoffentlich als Vorbild für andere Publikationen dienen wird. Ich möchte hervorheben, dass „Moderne Pflege heute“ von PflegeprofessorInnen verfasst wurde, die selbst dem Berufsstand angehören. Da bei Kohlhammer immer noch Pflegelehrbücher erscheinen, die von ÄrztInnen verfasst wurden, halte ich die Verankerung der drei AutorInnen in der Pflege für ein wichtiges und positives Charakteristikum des Buches. Dr. Anja K. Peters, Neubrandenburg

w

Pflege im Mabuse-Verlag

Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2018, 189 Seiten, 29 Euro

Christiane Erner-Schwab

Psychotherapie im Kindesalter Ratgeber für Erwachsene

P

sychodynamische Psychotherapie im Kindesalter – was passiert da eigentlich? Für Eltern ist die Hemmschwelle zu einer psychotherapeutischen Behandlung ihres Kindes meist groß. Psychotherapeuten sehen deswegen nur einen gefilterten Ausschnitt aus dem Spektrum kindlicher Auffälligkeiten. Da die ärztliche Psychotherapie in den Fachgebieten aus verschiedenen strukturellen Gründen weitgehend „ausstirbt“, ist ein unmittelbarer psychotherapeutischer Zugang des erstbehandelnden Arztes in der Regel nicht möglich und eine Weiterleitung an eine Psychotherapeutin/einen Psychotherapeuten notwendig. Dabei ist es nicht nur für den Arzt, sondern vor allem für das Kind und deren Eltern wichtig, diesen vielleicht angstbesetzten oder durch andere Vorurteile beeinflussten Schritt durchschaubar zu machen. Aus vielen Gründen wird letztlich nur ein Teil der Kinder einer Psychotherapie zugeführt. Um Eltern, aber auch anderen Bezugspersonen wie Erziehern, Lehrern und Fachkollegen den konkreten Verlauf und die Probleme einer psychodynamischanalytisch orientierten Kinderpsychotherapie aufzuzeigen und damit den durch Schweigepflicht geschützten Rahmen transparent zu machen, hat Frau

U. Höhmann, O. Lauxen, L. Schwarz (Hrsg.)

Gestaltungskompetenzen im Pflegealltag stärken Arbeitsprozessintegrierte Kompetenzentwicklung in der Pflege 235 Seiten, 34,95 Euro ISBN 978-3-86321-393-0 Führungskräfte und Mitarbeiter müssen oft ökonomisch bedingte Organisationsanforderungen und Abläufe mit ihrer Fachlichkeit und den eigenen Vorstellungen von einer „guten Pflege“ vereinbaren. Das Buch zeigt, wie Pflegekräfte darin bestärkt werden können, eigene Lösungen zu entwickeln. www.mabuse-verlag.de

65


66

Buchbesprechungen

Erner-Schwab diesen Ratgeber verfasst. Die psychoanalytische Psychotherapeutin mit pädagogischem Hintergrund beschreibt in dem Buch die zweijährige tiefenpsychologisch-analytische Behandlung eines achtjährigen Mädchens mit der Symptomatik eines ADHS und zeigt auf, dass keineswegs eine medikamentöse Behandlung notwendig ist, sondern mit einem festen Beziehungsangebot, einem konstanten Setting und einer Einbeziehung der Bezugspersonen auch eine schwierige Störung nachhaltig behandelbar ist. Die Fragen, wann eine Psychotherapie angebracht ist, an wen sich Eltern wenden können, um eine Psychotherapie zu veranlassen, wie diese abläuft und wie die Eltern mit einbezogen werden, werden für den Fall der psychodynamischanalytisch orientierten Psychotherapie gut verständlich erläutert. Nun sind die psychodynamischen Therapieverfahren derzeit nicht gerade en vogue, weil verhaltenstherapeutische oder medikamentöse Maßnahmen vordergründig einen rascheren Effekt zeigen und deshalb häufig – weniger von den Eltern als vielmehr von außen, insbesondere durch Kindergärten und Schulen – eingefordert werden. Die derzeitige gesellschaftliche Einstellung scheint mir mehr auf das Verhalten und die Symptomatik, also das Funktionieren, als auf die Lebenswelt und das Erleben der Kinder fixiert. Letzteres steht aber im Mittelpunkt psychodynamischer Therapien, für die ich mir eine breitere Akzeptanz wünsche. Das Buch kann ein Weg sein, mehr Interesse und Verständnis für diese Therapieformen zu wecken, was dem mehr allgemein gehaltenen Titel nicht unbedingt zu entnehmen ist. Stephan Heinrich Nolte, Kinder- und Jugendarzt, Psychotherapeut, Marburg

Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2018, 152 S., 14,90 Euro

Elmar Brähler, Wolfgang Herzog (Hg.)

Sozialpsychosomatik Das vergessene Soziale in der Psychosomatischen Medizin

B

ereits der Titel des umfangreichen Buches offenbart das Anliegen der Herausgeber: Während im Terminus „Psychosomatik“ die körperlichen und psychischen Dimensionen enthalten sind, wird der soziale Aspekt bei der Entstehung und Behandlung von Krankheiten offenbar vernachlässigt. 1977 publizierte G. L. Engel seine Kritik an der biologischen Medizin und stellte ihr ein ganzheitliches, bio-psycho-soziales Modell gegenüber, auf das sich die psychosomatische Medizin und andere Gesundheitswissenschaften gerne beziehen. 37 renommierte AutorInnen aus verschiedenen Disziplinen beleuchten die „Auswirkungen der Lebens- und Arbeitswelt auf die Gesundheit und die Erkrankungsrisiken in unserer Gesellschaft“ (Klappentext). Das umfangreiche Buch, das sich laut Herausgeber als „bunter Strauß von Denkanstößen für Tätigkeitsfelder der psychosomatischen Medizin“ (Vorwort, S. IX) versteht, gliedert sich in fünf Themenbereiche, die die gesamte Lebensspanne von der Kindheit bis in das hohe Alter abdecken. Hier eine Auswahl von Themen und AutorInnen: 1. Sozioökonomische Perspektive: Hartz IV und Gesundheit (Butterwegge), Wohnungslosigkeit (Köhler), Gesundheitsförderung (Geene/Lehmann); 2. Arbeitsumwelt: Arbeitswelt und psychosomatische Krankheiten (Siegrist), Digitalisierung der Arbeitswelt (Dragano/ Müller-Thur/Lunau), betriebliche Gesundheitsförderung (Gündel), Erwerbstätigkeit – Arbeitslosigkeit – Gesundheit (Elkeles); 3. Lebensumwelt: Internetnutzung und Gesundheit (Eichenberg/Küsel), Medikalisierung der Demenz (Gronemeyer); 4. Interkulturelle Perspektive: psychische Gesundheit bei Migranten (Schuler-Ocak), psychosoziale Unterstützung von Flüchtlingen mit Traumafolgestörungen (Kruse/ Joksimovic), soziale Ungleichheit und depressive Symptome in Europa (Lüdecke/Vonneilich/von dem Knesebeck) und 5. Transgenerationale Perspektive – Kinder und Jugendliche: Weitergabe von traumabezogenen Erfahrungen im intergenerationellen Dialog (Schmitt/Kruse), psychische Gesundheit von Kindern und

Jugendlichen in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Lage (Plener), neue Morbidität und Zeitgeist (Resch/Parzer). Um es kurz zu machen: Der Rezensent (aktiver Psychiater, Psychosomatiker und Psychoanalytiker) las den „bunten Strauß von Denkanstößen“ mit großem Gewinn. Die Themenauswahl ist relevant und aktuell für die gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Herausforderungen in Deutschland und Europa. Armut, Einsamkeit und Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe sind gesundheitliche Risiken, ebenso wie die veränderten Arbeitsund Lebensbedingungen (Digitalisierung, Arbeitsverdichtung, Verfügbarkeit durch „soziale Medien“ etc.). Die meisten AutorInnen des Bandes sind ausgewiesene ExpertInnen ihres Fachs, die Befunde und Analysen sind detailliert und wissenschaftlich fundiert. Das populäre „Burnout-Syndrom“, das keine medizinische Diagnose ist und früher „Erschöpfungsdepression“ genannt wurde, wäre aber ein gutes Beispiel, um aufzuzeigen, wie ein Patient aufgrund seiner psychischen Struktur unter zunehmenden beruflichen und privaten Stressoren mit körperlichen, psychischen und sozialen Störungen reagiert. Das vorliegende Buch ist auch eine Reaktion auf das Rollback und die Verödung – um nicht zu sagen wissenschaftliche Verblödung – an medizinischen, psychologischen und gesundheitswissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland: Sowohl die Medizinsoziologie als auch eine psychodynamische Psychosomatik und Psychotherapie scheinen einer symptomatischen Verhaltensmedizin geopfert zu werden. Ist das heute der Anspruch einer Universität, die die Gesamtheit der Wissenschaften (Universitas) zu beforschen und zu lehren hat? Eher nein! Das Buch „Sozialpsychosomatik“ von Brähler und Herzog hält aus einer sozialmedizinischen Perspektive dagegen und stellt das Soziale an den Anfang des bio-psychosozialen Modells. Prof. Dr. med. Matthias Elzer, Hofheim am Taunus

Schattauer Verlag, Stuttgart 2018, 353 Seiten, 49,99 Euro

Dr. med. Mabuse 237 · Januar / Februar 2019


Buchbesprechungen

Konzepte, Akteure, Perspektiven

U

nter dem Titel „Medizin und Ăśffentliche Gesundheit“ hat der Historiker Heinz-Peter Schmiedebach die Beiträge eines Kolloquiums des Historischen Kollegs 2016 versammelt. Den Titel kann man als Markierung eines dreifachen Spannungsverhältnisses lesen: Erstens nennt die Musterberufsordnung der Bundesärztekammer in § 1 (1) neben der Gesundheit des individuellen Menschen auch die BevĂślkerungsgesundheit als Aufgabe von Ă„rztInnen, in § 1 (2) wird darĂźber hinaus die Mitwirkung an der „Erhaltung der natĂźrlichen Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeutung fĂźr die Gesundheit der Menschen“ den ärztlichen Aufgaben zugerechnet. Dennoch reicht Ăśffentliche Gesundheit unverkennbar Ăźber die ärztlichen Aufgaben hinaus, ist ganz wesentlich ein Ăśkonomisches und gesellschaftspolitisches Produkt. Zehn Jahre Unterschied in der Lebenserwartung gibt es zwischen dem oberen und dem unteren EinkommensfĂźnftel. Fast alle Krankheiten sind bei den unteren Sozialstatusgruppen häufiger als bei den oberen. Wirtschafts-, Arbeitsmarktoder Bildungspolitik sind aber nicht das originäre Terrain der Medizin. Ă–ffentliche Gesundheit ist primär eine gesellschaftliche Verpflichtung, keine berufsgruppenspezifische. Die Strategie „Health in All Policies“ der Weltgesundheitsorganisation ist der programmatisch-gestalterische Reflex darauf. Zweitens bringt der Titel zwei Verantwortungsbereiche in Verbindung, deren Verhältnis historisch in Deutschland besonders belastet ist. Der viel zitierte, sozialkritisch gemeinte Satz Virchows, dass Politik nichts weiter sei als Medizin im GroĂ&#x;en, hat im Nationalsozialismus eine mĂśrderische Interpretation erfahren. Die Medizin sollte Arzt des VolkskĂśrpers sein, die Ăśffentliche Gesundheit durch die Vernichtung von Behinderten und Kranken herstellen. Public Health, Ăśffentliche Gesundheit, trägt diese Geschichte in sich, sie muss sich in ihrer ethischen Orientierung dessen bewusst bleiben, dass Leben und WĂźrde des Einzelnen nicht bedingungslos einem vermeintlichen GemeinDr. med. Mabuse 238 ¡ März / April 2019

www.klett-cotta.de/fachbuch

NEU

Mit einem Vorwort von Harald J. Freyberger 223 Seiten, broschiert ₏ 34,– (D). ISBN 978-3-608-96297-0

Medizin und Ăśffentliche Gesundheit

wohl unterzuordnen sind. Die Effizienz von Public-Health-MaĂ&#x;nahmen ist nicht deren einziges GĂźtekriterium. Drittens kann man den Titel als GegenĂźberstellung eines professionsgebundenen Tuns – die Medizin als ärztliche Expertise – und eines Ăśffentlichen, gemeinsamen und auch gemeinsam verantworteten Handelns verstehen. FĂźr die Ăśffentliche Gesundheit sind wir alle zuständig, wir kĂśnnen, sollen und dĂźrfen sie nicht an ExpertInnen delegieren. Alle drei Aspekte kommen in den Beiträgen des Sammelbandes immer wieder zur Sprache, auch in ihren vielfältigen BezĂźgen untereinander. Schmiedebach Ăśffnet in einem längeren EinfĂźhrungskapitel das Themenfeld und fĂźhrt in die folgenden Beiträge ein. Dort werden unter anderem die Chancen eines neuen Aufbruchs zur Organisation Ăśffentlicher Gesundheit (Labisch), die Herausforderungen Ăśffentlicher Gesundheit durch die Globalisierung (MĂźller/Wehkamp/Larisch), die Stadthygiene im 19. Jahrhundert (Lenger), die Kontrolle von Infektionskrankheiten im 20. Jahrhundert (Gradmann), präventive Ansätze in den Jahren 1960 bis 1980 (Lengwiler) oder die Gesundheitsaufklärung in der DDR (Brinkschulte) beleuchtet. Drei Beiträge kann man als historisch informierte Kommentare zur gegenwärtigen Situation der Ăśffentlichen Gesundheit in Deutschland lesen: Schmiedebach stellt in seiner EinfĂźhrung nicht die Geschichte, sondern die Aktualität des Themas Ăśffentliche Gesundheit in den Vordergrund. Er knĂźpft an eine Stellungnahme der Leopoldina von 2015 an, die kritisierte, dass Deutschland keine Public-Health-Strategie habe. Schmiedebach konstatiert: Inwiefern „nachhaltige Wirkungen aufgrund dieser seitens der Politik und der Wissenschaft in Deutschland ergriffenen Aktivitäten entstanden sind, ist schwer beurteilbar.“ Nun – die Politik hat keine MaĂ&#x;nahmen ergriffen. Das von der Leopoldina beschriebene Defizit besteht unverändert fort. Aber die Public-Health-Community ist aktiv geworden, hat den Impuls der Leopoldina aufgegriffen und mit UnterstĂźtzung des Robert Koch-Instituts ein „Zukunftsforum Public Health“ auf den Weg gebracht, eine Initiative, um eine Nationale Public-Health-Strategie in Deutschland zu entwickeln. Alfons Labisch antwortet auf die von Schmiedebach aufgeworfene Frage nach der Aktualität des Themas. Er diskutiert

Franz Triebenecker Theater spielen heilt Inszenieren in Psychiatrie und Psychotherapie Moreno und de Sade wären beeindruckt, wenn sie dies noch erleben kÜnnten. Ich hoffe, Sie auch! Harald J. Freyberger, PP Psychodynamische Psychotherapie

245 Seiten, gebunden ₏ 32,– (D). ISBN 978-3-608-96112-6

Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.)

Ralf Zwiebel Vom Irrtum lernen Behandlungsfehler und Verantwortung in der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Praxis Zwiebel hat ein mutiges, ehrliches und unverzichtbares Buch vorgelegt. ‌ Fßr Ausbilder und Kandidaten sollte es Basislektßre werden, fßr Praktiker sehr empfohlen sein. Heiner Sasse, Deutsches Ärzteblatt

Blättern Sie online in unseren Bßchern und bestellen Sie bequem und versandkostenfrei unter: www.klett-cotta.de

61


62

Buchbesprechungen

das Verhältnis zwischen individueller und öffentlicher Gesundheit und gibt dann dem Appell der Leopoldina und dem Bemühen des Zukunftsforums Public Health gewissermaßen eine Negativprognose: „Auf die aktuelle Public Health-Debatte bezogen lautet der Schluss aus den historischsystematischen Überlegungen: Aufgrund des fehlenden gesellschaftlich skandalisierten beziehungsweise skandalisierbaren Bedrohungspotentials, aufgrund der divergierenden Konzepte öffentlicher Gesundheit und öffentlicher Gesundheitssicherung, aufgrund der stets wachsenden Möglichkeiten, auch massenhaft auftretende Krankheiten und häufig vorkommende Todesursachen im Bereich der Individualmedizin zu behandeln, wird es, sofern nicht eine neue und unerwartete kollektive gesundheitliche Bedrohung auftritt, in absehbarer Zeit auf keiner gesellschaftlichen Handlungsebene einen hinreichenden Handlungsdruck geben, eine neue Ära öffentlicher Gesundheitssicherung einzuleiten. Die aktuelle Diskussion ist und bleibt rein akademisch.“ Eine heraklitische Schlussfolgerung gewissermaßen, die sich Hoffnung nur von der Krise verspricht. Müller/Wehkamp/Larisch reflektieren ebenfalls, wie sich die öffentliche Gesundheit und das öffentliche Gesundheitswesen verändert haben, insbesondere mit Blick auf neue Entwicklungen in der Biomedizin, die Dynamik der Gesundheitsmärkte und die sich mit Big Data abzeichnende Zukunft. Öffentliche Gesundheit, das gesellschaftlich zu Verantwortende, stellen sie dabei in den Kontext der Sozialpolitik und kommen von da zu einer skeptischen Prognose für die Gesundheitswissenschaften: „Wenn Sozialpolitik eine schwindende wissenschaftliche Disziplin ist, dann wird die These erlaubt sein: Auch Public Health-Forschung wird keine große Zukunft in Deutschland haben, wenn nicht die universitäre interdisziplinäre Sozialpolitikforschung ausgebaut und die Gesundheitsforschung darin eingebettet wird.“ Wenn Labisch Recht hat und es keinen politischen Aufbruch für Public Health gibt, könnte man demgegenüber allerdings auch zu dem Schluss kommen, dass die Wissenschaft so eine Chance als Ersatzhandlung bekommt. Aber vielleicht sollte man mit geschichtsphilosophischen Spekulationen besser vorsichtig sein: Was wird, hängt davon ab, was wir tun.

Die übrigen Beiträge des Sammelbands sind nicht weniger empfehlenswert. Man kann sie als themenspezifische Untersuchungen lesen, aber sie beleuchten auch die Möglichkeiten von Public Health insgesamt aus ihren je eigenen Fragestellungen heraus. Der Band ist eine lohnende Lektüre, gerade auch mit Blick auf die hier diskutierten Perspektiven von Public Health in Deutschland. Mit 74,95 Euro ist er allerdings ausgesprochen teuer – ein Preis, der angesichts der finanzkräftigen Förderer des Historischen Kollegs nicht hätte sein müssen. Dr. Joseph Kuhn, Dachau

De Gruyter Verlag, München 2018, 245 Seiten, 74,95 Euro

Ralf Zwiebel

Vom Irrtum lernen Behandlungsfehler und Verantwortung in der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Praxis

W

äre ich allein vom Titel ausgegangen, dann hätte ich das Buch nicht rezensieren wollen. „Vom Irrtum lernen“ passt entweder zu einer weiteren Fibel der Selbstoptimierung oder ist schlicht banal – wer würde nicht gerne von Irrtümern lernen wollen. Besprechen will ich dieses Buch dennoch, weil darin mehr Inhalt steckt, als der Titel verspricht. Ralf Zwiebel greift ein Thema auf, das keinesfalls banal ist, aber im Alltag oft geflissentlich übergangen wird: Er befasst sich mit dem nicht Gelungenen und dem Scheitern in der Beziehung zwischen Psychotherapeuten und deren Patienten. Ralf Zwiebel war lange Jahre Professor für psychoanalytische Psychologie an der Universität in Kassel und arbeitet, nun emeritiert, in freier Praxis als Psychoanalytiker. In seinen bisherigen Veröffentlichungen versuchte er, die vielschichtigen Herausforderungen in der therapeutischen Begegnung aufzuspüren, insbesondere mögliche Gefährdungspotenziale zu orten und diese bewusst zu machen. Gerade mit seinem jüngsten Buch unterstreicht Zwiebel seine Grundüberzeugung, dass

die psychotherapeutische Praxis „durch und durch von der ethischen Dimension durchdrungen ist“ (S. 18). Ralf Zwiebel möchte zwei Bereiche voneinander abgrenzen: zum einen den Bereich der Behandlungsfehler und Verfehlungen, für die der Psychotherapeut oder Psychoanalytiker allein die Verantwortung zu tragen habe, und zum anderen den Bereich der Irrtümer, Täuschungen und Fehlleistungen, bei denen er von einer „geteilten Verantwortung“ ausgeht. Im ersten Bereich sieht er es als alleinige und zentrale Aufgabe des Therapeuten, die allgemein akzeptierten Standards professionellen Verhaltens zu gewährleisten, sodass „die Bedürfnisse und Anliegen des Patienten im Zentrum stehen (…) und dass der Therapeut alles versucht, um weitere Verletzungen und Schädigungen des Patienten auszuschließen“ (S. 138). Fehler in alleiniger Verantwortung des Therapeuten sind aggressive oder sexuelle Grenzverletzungen, die sich aus schwierigen Behandlungssituationen ergeben, etwa wenn sich der gewünschte therapeutische Erfolg nicht einstellen will oder Patienten sich anders entfalten und verhalten als vom Therapeuten erwartet. Dieser Bereich bedarf der Entwicklung einer „Fehlerkultur“, in der klar und deutlich die Gefährdungspotenziale markiert und Grenzen definiert sind. Von dieser „Fehlerkultur“ grenzt Ralf Zwiebel die „Irrtumskultur“ ab. Diese entstehe, wenn Psychotherapeuten anerkennen, dass „Irren menschlich ist“ und aufgrund der sehr persönlichen Begegnung zwischen Therapeuten und Patienten Täuschungen und Irrtümer besonderes Gewicht und besondere Wirkungen entfalten können. Wesentlich scheint für Zwiebel die Anerkennung zu sein, dass sowohl die Arbeitsmodelle der psychoanalytischen Methode als auch die jeweiligen Arbeitshypothesen gegenüber dem einzelnen Patienten „immer vorläufig, begrenzt und unvermeidlich auch von Täuschungen und Irrtümern bestimmt“ (S. 172) sind. Er ermuntert die Therapeuten, diesen Raum der Begegnung möglichst offen zu halten, auch für das Schwierige, noch nicht Verstandene oder nur schwer Ansprechbare. Dabei ist es ihm ein besonderes Anliegen, dass ein Raum des Unbekannten entstehen kann, der sich immer in einer Psychotherapie aufspannt, wenn der Psychotherapeut „abwartend zuhört“ und sich nicht der Neigung hinDr. med. Mabuse 238 · März / April 2019


Buchbesprechungen

gibt, diesen Raum vorschnell durch Deutungen oder Interventionen zu schließen. Das Buch von Ralf Zwiebel bietet vielfältige Anregungen, über das eigene Handeln kritisch nachzudenken, und kann davor bewahren, allzu selbstgefällig und unbemerkt Patienten durch unüberlegte Interventionen und ungeduldiges Agieren zu schaden. Auch wenn sich dieses Buch vor allem an PsychotherapeutInnen richtet, so scheint es mir auch für andere soziale, medizinische und pflegerische Bereiche wertvolle Hinweise zu geben, in denen die unmittelbare Begegnung zwischen Menschen im Mittelpunkt steht. Hans-Ludwig Siemen, Psychoanalytiker, Erlangen

Klett-Cotta, Stuttgart 2017, 245 Seiten, 32 Euro

Marion Roddewig

Kollegiale Beratung für Gesundheitsberufe Ein Anleitungsprogramm

D

as 2018 im Mabuse-Verlag erschienene Buch wurde als Ausbildungsprogramm speziell für Gesundheitsberufe konzipiert und als solches evaluiert. Mit seinen praktischen Handlungsanregungen wendet es sich an Lehrende in Aus- und Fortbildung sowie deren SchülerInnen. Innerhalb dieser Personenkreise kann Kollegiale Beratung als eine Methode selbstgesteuerten Lernens zum einen ganz allgemein bei der Bewältigung der Anforderungen des Arbeitsalltags oder der Ausbildung Hilfe und Unterstützung bieten. Zum anderen kann sie speziell bei Beziehungskonflikten mit KollegInnen, Vorgesetzten oder Auszubildenden sinnvoll und zielführend eingesetzt werden. Im ersten Kapitel führt die Autorin aus, was genau unter dem Begriff Kollegiale Beratung zu verstehen ist, was diese Methode zu leisten vermag und wo ihre Grenzen liegen. Das zweite Kapitel beschreibt detailliert, wie das Anleitungsprogramm durchzuführen ist, und greift dabei folgende Inhalte – unterteilt in elf 90-minütige Übungssequenzen – auf: BesonderDr. med. Mabuse 238 · März / April 2019

heiten Kollegialer Beratung und Inhalte des Anleitungsprogramms (Sitzung 1); gegenseitiges Kennenlernen und Förderung von Gruppenprozessen (Sitzung 2); Einübung, Wirkung und Reflexion basaler Kommunikations- und Fragetechniken (Sitzungen 3–5). Methoden der Kollegialen Beratung wie Brainstorming, Rollenspiel und -hut, Skulptur, Reflecting Team etc. werden ab der sechsten Sitzung vermittelt. Die Aufzeichnung einer von jeder Gruppe selbstständig durchgeführten und später von dem/der AnleiterIn gesichteten und mit der Gruppe besprochenen Kollegialen Beratung bildet den Abschluss des Programms und damit auch dieses Kapitels. Im abschließenden dritten Buchkapitel trägt die Autorin ihre Erfahrungen mit dem Anleitungsprogramm zusammen, die teils aus eigenen Beobachtungen, teils aus den Rückmeldungen der Programmevaluation sowie schließlich aus Berichten von Teilnehmenden stammen. Das hier vorgestellte Buch von Marion Roddewig zeigt offen die Grenzen Kollegialer Beratung auf, die deren Einsatzmöglichkeiten und den Nutzen in Praxisfeldern der Gesundheitsbranche bestimmen und schmälern können. Es zeigt aber auch und vor allem, welche vielfältigen Chancen und welchen nachhaltigen Gewinn ihr Einsatz und ihre Anwendung bewirken und liefern können. Das vorgestellte Programm präsentiert sich wohl durchdacht, gut strukturiert und inhaltlich stimmig zusammengestellt. In Verbindung mit den integrierten methodischen Ansätzen, Konzepten und Verfahren kann somit davon ausgegangen werden, dass es seinem vorgegebenen Zweck, „Handlungs- und Problemlösungskompetenz zu entwickeln und die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress zu erhöhen“, auch tatsächlich dient. Ob und in welchem Umfang dieses Ansinnen auch durch die Bereitstellung und Verfügbarkeit der notwendigen Ressourcen flankiert wird, die für die Durchführung und Umsetzung solcher Programme notwendig sind, entscheidet die Leitung der jeweiligen Organisation. Harald Blonski, Sendenhorst

Internati ona reflektie l rt agieren

Soziale Arbeit hat eine internationale Dimension und sich in unterschiedlichen Ländern vor den jeweiligen historischen, sozialen und ökonomischen Kontexten unterschiedlich entwickelt. Diese Debatten sollen in diesem Band zusammengetragen werden, um einen Einblick in aktuelle Themen und Positionen zu geben. 2018, 368 Seiten, Hardcover, € 49,95 ISBN 978-3-7799-3137-9 Auch als E-Book erhältlich

Herausforderu nge in der so n wissensc zialhaftlich Alter(n)s en forschu ng

Einleitend erfolgt ein systematischer Überblick über Herausforderungen in der sozialwissenschaftlichen Alter(n)sforschung, die in vier Kapiteln anhand einzelner Projekte exemplarisch illustriert und vertieft werden. 2018, 120 Seiten, broschiert, € 15,95 978-3-7799-3752-4 Auch als E-Book erhältlich

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2018, 166 Seiten, 29,95 Euro

www.juventa.de

JUVENTA

63


64

Buchbesprechungen

Heidi Höppner, Robert Richter (Hg.)

Theorie und Modelle der Physiotherapie Ein Handbuch

A

ngesichts der Tatsache, dass die Physiotherapie eine – auch im internationalen Bereich – vergleichsweise junge hochschulische Disziplin ist, verwundert es nicht, dass es noch keinen einheitlichen, konkret bestimmbaren Kern dessen gibt, was als physiotherapeutische Wissenschaft bezeichnet werden kann. Angesichts vielfältiger unmittelbar praxisbezogener Fragestellungen, die jetzt wissenschaftlich beantwortet werden sollen, scheint eine Beschäftigung mit den Theorien der Physiotherapie als nachrangig betrachtet zu werden. Es existieren allerdings theoretische oder modellhafte Erläuterungen der Physiotherapie als Wissenschaft, an die angeknüpft werden könnte – diese liegen jedoch bislang nur als Einzelpublikationen vor. Die beiden HerausgeberInnen des Buches „Theorie und Modelle der Physiotherapie“ haben sich vorgenommen, eine Grundlegung der wissenschaftlichen Basis der Physiotherapie anzubahnen, indem sie die vorhandenen Modelle und Theorien physiotherapeutischen Denkens und Handelns erstmalig in einem Buch gebündelt vorstellen. Auf 250 Seiten und in 14 Kapiteln werden fünf Modelle, eine Theorie, ein Konzept und eine Vision in einem Dreischritt dargestellt: Zunächst wird jedes Modell (die Theorie, das Konzept, die Vision) beschrieben, anschließend wird die Rezeption des Modells nachgezeichnet und darauf folgend werden die Ergebnisse empirischer Überprüfungen aufgezeigt. Abschließend werden Überlegungen hinsichtlich der Nutzbarkeit der Modelle präsentiert, etwa im Rahmen von Diskussionen über Berufsprofile, Heilungsvorstellungen oder auch berufliche Haltungen. In den drei letzten Kapiteln werden modellübergreifend der Nutzen von Theorie für die Lehre, die TheoriePraxis-Beziehung in der Physiotherapie und ganz generell die Notwendigkeit einer Theoriebildung für eine Physiotherapie im 21. Jahrhundert thematisiert. Der Stellenwert der Publikation ist von mehreren Seiten her bestimmbar: Zunächst einmal bietet sie eine – bislang weder national noch international verfüg-

bare – gebündelte Übersicht über die vorhandenen Modelle und Theorien in der Physiotherapie. Darüber hinaus werden diese einer Analyse hinsichtlich ihrer Evidenzbasis sowie der Rezeption in der Fach-Community unterzogen. Auch dies kann als „Alleinstellungsmerkmal“ der Publikation bezeichnet werden. Doch dabei bleiben die HerausgeberInnen nicht stehen: Abgerundet wird das Buch durch die Kapitel, in denen die verschiedenen Aspekte und Ansatzpunkte für eine Grundlegung der Wissenschaftsbasis der Physiotherapie diskutiert werden, die Notwendigkeit und Nutzbarkeit von Theorie beleuchtet wird sowie die Beziehung zwischen Theorie und Praxis in kritischer Weise und über Fragen der bloßen Implementierbarkeit hinaus untersucht wird. Die Lesbarkeit wird durch die einheitliche Vorstellung der verschiedenen Modelle, Konzepte und Theorien im bereits genannten Dreischritt erleichtert. Für alle, die sich mit Fragen der Disziplinwerdung der Physiotherapie beschäftigen wollen, insbesondere für Lehrende an Fach- und Hochschulen, stellt dieses Buch eine zentrale Lektüre dar. Interessant ist es allerdings auch für einen LeserInnenkreis, der sich zunächst nur einen Überblick über die vorhandenen Modelle verschaffen möchte. Prof. Dr. Veronika Müller, Professorin für Forschungsmethodik und Versorgungsforschung, Buxtehude

hogrefe Verlag, Bern 2018, 256 Seiten, 39,95 Euro

Nina Brochmann, Ellen Støkken Dahl

Viva la Vagina! Alles über das weibliche Geschlecht

A

ktuell scheint es eine Schwemme von sexualaufklärenden Büchern, Filmen und Blogs zu geben, fraglich sind die Beweggründe dafür: Wunsch nach mehr Wissen, Lust auf mehr Kenntnisse, Vergewisserung der durch Internet-Plörre verunsicherten Zielgruppe oder schlicht Kommerz durch das gute alte Buch? In

dem Editorial der Zeitschrift Sexuologie mit dem Schwerpunkt Jugendsexualität schrieb der Herausgeber Rainer Alisch im Jahr 2016: „Deutschland gilt als vorbildlich, was die sexuelle Aufklärung Jugendlicher betrifft: niedrige Rate der Schwangerschaftsabbrüche, hohe Rate der Verhütung.“ Braucht es dann also Rat aus Norwegen? Seit 2015 betreiben zwei junge norwegische Ärztinnen einen Blog über den Unterleib. Die dort versammelten Texte wurden nun ins Deutsche übersetzt und von einem renommierten Taschenbuchverlag herausgebracht, werbewirksam mit einem Aufkleber, der auf Giuila Enders („Darm mit Charme“) hinweist. Auf über 350 Seiten informieren die Autorinnen über „alles über das weibliche Geschlecht“, appetitlich in fünf Kapitel unterteilt: Genitalbereich, Ausfluss und Säfte, Sex, Empfängnisverhütung, Trouble im Intimbereich – mit mundgerechten Unterkapiteln, Literatur und Fußnoten im Anhang. Einige wenige Illustrationen sorgen für ein rundes Bild. Fein, so mein Gedanke beim ersten Durchblättern, gefällig und leicht wird hier über Geschlechtsorgane, Menstruation, Verhütung und Lust geplaudert. Ein Buch nicht für Kinder oder Jugendliche, eher für junge Erwachsene, ich gehöre also nicht so ganz zur Zielgruppe. Je mehr ich lese, desto mehr Zweifel und Irritationen stellen sich aber ein. Zwar kommt die Sprache locker-flockig daher – trouble und fleckenfreie Sofas – doch im Text wird die Leserin gesiezt. Ina Kronenberger und Nora Pröfrock, die Übersetzerinnen, wohnen in Norwegen. Ihnen mag der Unterschied zwischen schriftlichem und gesprochenem Norwegisch geläufig sein, doch die adressierte deutsche Leserin, die mit hippen und flapsigen Formulierungen und mit coolen Comics geködert werden soll, stolpert dann über die förmliche Anrede. Wenn das Buch informieren, über körperliche und medizinische Fakten Aufschluss geben will, dann sollte doch auf Sprache besonders geachtet werden. Komisch, mehr noch, irritierend, mutet dann der Abschnitt über die „Pille danach“ an. Denn diese wird umgangssprachlich in Norwegen „Reuepille“ genannt. Die Autorinnen fordern deren Umbenennung in „Panikpille“ – was als emanzipatorischer und ermächtigender Schritt nur ironisch gewertet werden kann –, wo wir Dr. med. Mabuse 238 · März / April 2019


Buchbesprechungen

im Deutschen die neutrale Bezeichnung als „Pille danach“ gewohnt sind und auch ganz unaufgeregt gebrauchen. Das ist einer der Punkte, der kulturwissenschaftlich interessant ist, doch dieses Buch hat ja nicht 25.000 Exemplare Auflage, um die wenigen deutschen Kulturwissenschaftlerinnen anzusprechen. Kulturelle Unterschiede zeigen sich bei Sex und Scham besonders deutlich und führen zu Unverständnis. Kann es dann gelingen, ein für Norwegen konzipiertes Werk dem ungleich größeren, divergenten deutschen Markt anzupassen? Nationale Unterschiede existieren auch bei der Bevorzugung von Verhütungsmitteln. Erstaunlich ist, dass in diesem Ratgeber sehr viel über hormonelle Verhütungsmittel gesprochen wird – die nicht-hormonellen Verhütungsmethoden wie Diaphragma oder Portiokappe werden gar nicht erst erwähnt. Diese Form der Darstellung kann nur als verzerrt bezeichnet werden. Für einen Ratgeber wäre eine breitere Sicht wünschenswert gewesen. Schön, dass im Kapitel über die anatomischen Grundlagen Tipps gegeben werden, wie Schamhaare am gesunderhaltendsten entfernt werden. Gut auch, dass Intersexualität erklärt wird, und das sogar verständlich. Schade, dass dann Oslo und Bergen als die Städte genannt werden, wo sich Kliniken befinden, die auf Kinder mit uneindeutigem Geschlecht spezialisiert sind. Gilt das jetzt auch für deutsche Kinder? Oder waren die Autorinnen beziehungsweise der Verlag zu träge, auch hier nach einem Pendant für Deutschland zu schauen? Schließlich haben sie es doch geschafft, bei finanziell einträglichen Diagnosen wie dem prämenstruellen Syndrom die ausgewiesenen

Spezialbehandlungsstellen in Deutschland zu nennen. Das Gesamtbild ist also eher ein kommerzielles Produkt für junge Frauen, die sich ausgiebig über den weiblichen Körper und die Pille in einem Buch informieren wollen, ohne in den Verdacht der feministischen Haltung zu geraten. Wer sich zu dieser Zielgruppe zählt, mag eine passende Lektüre gefunden haben. Dr. Marion Hulverscheidt, Kassel

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, 400 Seiten, 16,99 Euro

Gerd Franz Triebenecker

Theater spielen heilt Inszenieren in Psychiatrie und Psychotherapie

A

nlass zu diesem Buch war ein vom Autor geleitetes Theaterprojekt in einer Einrichtung der forensischen Psychiatrie. Triebenecker ist Regisseur und Theatertherapeut mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit Patienten aus Psychiatrie und Psychosomatik sowie mit Inhaftierten. Mit seinem Buch verfolgt er das Ziel, modellhaft die „verschiedensten Relationen zwischen Theater und Psychiatrie“ zu erfassen. Dabei unterfüttert er seine übergreifenden Überlegungen zur Arbeit in geschlossenen Einrichtungen durch qualitative Interviews mit acht Darstellern. „Therapie und Theater wollen Festes in Bewegung setzen, festgefahrene Per-

Meyer & Meyer Verlag • Die Kompetenz im Spoort seit 35 Jahren • Dr. med. Mabuse 238 · März / April 2019

spektiven bewegen, neue Wahrnehmungsweisen provozieren, Veränderungen in die Wege leiten“, so beginnt Triebenecker und nähert sich der Frage nach den Wirkprinzipien theatertherapeutischer Arbeit sowohl von der Therapie als auch vom Theater her. Dazu zieht er von beiden Seiten historische und aktuelle theoretische Überlegungen heran. Seine Sympathie gilt einer Praxis, die so weit wie möglich Theater macht statt Therapie – auch wenn Triebenecker die therapeutischen Anforderungen an die Regie und die Begleitung der Darsteller deutlich werden lässt. Eine Grundbedingung für die therapeutische Wirksamkeit ist für ihn, dass ein Theaterstück in einem solchen Projekt öffentlich aufgeführt wird und somit Echtheitsbedingungen unterliegt. Der heilsame Effekt trete ein, gerade weil die Therapie gegenüber dem Theater in den Hintergrund rücke. Das damit verbundene Risiko spiele eine entscheidende Rolle. Theater in der Psychiatrie konstruiert eine Herausforderung – Triebenecker spricht von einer Krise –, die Unvorhersehbares einschließt. Es stellt aber auch Verfahren bereit, diese Krise zu meistern, was sich gleichzeitig auf die psychischen Krisen der Patienten auswirkt. Triebeneckers Aufführung „Die sieben Todsünden“ brachte die Darsteller ganz bewusst in Kontakt mit Opfer- und Täteraspekten, mit Gefühlen wie Zorn, Habgier oder Wollust sowie mit Ängsten und Zweifeln. Das dem Buch zugrunde liegende Verständnis von Heilung beruht auf subjektiv erfahrbaren Heilungserfolgen. Der Autor schließt sich einem Verständnis an, das „Heilen auch als Vermittlung und daher als in Verbindung, in Zusammenhänge bringend, als Kommunikation“ von allem, „was auseinander ist“, erfasst. Pa-

verlag.de

65


66

Buchbesprechungen

tienten erleben Veränderungen an sich und den Mitspielern, und jede Veränderung vergrößert Spielräume für heilende Prozesse – das steht außer Frage. Die Wandlung, die sich bei den Darstellern des Projekts eingestellt hat, zeigt sich in den Interviews als ein Gewinn an Disziplin, Ausdauer, Verantwortlichkeit und Selbstreflexivität, an Selbstvertrauen und Motivation sowie an Lebendigkeit, Freiheit und Gelassenheit. Zudem wurde das Zusammenwirken in der Gruppe positiv erlebt und in der Kooperation beispielsweise bessere Konzentration beim Zuhören, eine Gewöhnung an Nähe und ein höheres Maß an Selbstkontrolle formuliert. Insgesamt plädiert der Autor mit dem Buch dafür, dass sich die Psychiatrie weiter für Theaterprojekte öffnet. Er folgt dabei einem gesellschaftlichen Verständnis, das sich um Integration bemüht – auch neben Strafmaßnahmen. Und er will zu „eigenständiger theatraler Arbeit“ ermutigen, „nicht nur in der Psychiatrie, sondern in allen sozialen Räumen, in denen Menschen nach Überwindung eines kränkenden Alltags streben“. Fazit: Ein gelungener Fachbeitrag, der inspiriert und zu weiterführenden Überlegungen anregt. Etwas einschränkend ist anzumerken, dass sich zahlreiche Textstellen zum Teil mehrfach wiederholen, was die Lektüre des ansonsten gut lesbaren Buches beeinträchtigt. Die vom Autor herangezogenen Konzepte aus Theater oder Theatertherapie sind nicht immer stringent übertragen oder in ihrer Auswahl überzeugend, doch anregend sind sie allemal. Die ausführlichen Interviews, die im Anhang beigefügt sind, stellen eine Bereicherung dar. Sie schildern das Empfinden und Erleben der Darsteller und zeigen auf schlichte und glaubwürdige Weise die Wirksamkeit des Theaterprojekts – samt der Höhen und Tiefen auf dem Weg zur Aufführung. Dr. Bettina Grote, Systemische Prozessgestaltung, Berlin

Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 221 Seiten, 34 Euro

Lynda Gratton, Andrew Scott

Morgen werden wir 100 Wie unser langes Leben gelingt

W

as auf den ersten Blick nur wie ein Ratgeber für Älterwerdende klingt, entpuppt sich zugleich als Studie über die Entwicklung unserer westlichen Wohlstandsgesellschaften. Die Autoren, ein Ökonom und eine Management-Professorin, stimmen uns ein auf die Anforderungen sich immer schneller wandelnder Gesellschaften und machen uns klar, was vor allem Jüngere heute tun müssen, um diese zu bewältigen. Beim längeren Leben denken sie nicht an längere Phasen von Krankheit und Siechtum, sondern vor allem an längeres Berufsleben, häufigeres bis lebenslanges Lernen, Anpassung an den technologischen Wandel – und damit vor allem an eine Überwindung des bisherigen Lebensmodells der drei getrennten Phasen: Ausbildung, Beruf, Rente. Künftig werden wir viele Phasen brauchen, sagen sie, immer wieder neue Karrieren beginnen – und länger arbeiten, um das längere Leben zu finanzieren. Dabei gehen die Autoren von Gesellschaftssystemen aus, die überwiegend auf private Altersvorsorge ausgerichtet sind, wenn sie konstatieren: „Wenn Sie 100 Jahre leben, etwa zehn Prozent Ihres jeweiligen Einkommens sparen und als Rentner 50 Prozent Ihres letzten Gehalts bekommen möchten, müssen Sie arbeiten, bis Sie 80 sind“ – da blieben durchschnittlich immerhin noch 20 Jahre als Rentner. Für Systeme mit dominanterer gesetzlicher Rentenversicherung wie Deutschland mag das etwas anders aussehen, aber betroffen sind sie von dieser Entwicklung auch. Der finanzielle Aspekt ist längst nicht alles. Es geht in diesem Buch auch um die „immateriellen Vermögenswerte“ wie Wissen und Fertigkeiten, Lernen und Bildung, Freundschaften und Kollegen, Fitness und Gesundheit, Selbstkenntnis und soziale Netzwerke. Sie alle müssen gepflegt und entwickelt werden, wenn sich die Anforderungen wandeln und verschärfen. Die, die einmal 100 werden, müssen vor allem Flexibilität entwickeln, die Bereitschaft zur Transformation, zum Übergang zwischen den vielen Lebensphasen. Sich selbst neu erfinden, Neues wagen, tradierte Vorstellungen von Lebensläufen über Bord werfen, das sind zentrale Anforderungen.

Die Autoren vergleichen drei modellhafte Biografien, an deren Lebensläufen sie die Herausforderung des Immer-ÄlterWerdens aufzeigen: Der 1945 geborene Jack geht mit 62 in Rente, stirbt acht Jahre später und erfüllt so noch erfolgreich das dreistufige Lebensmodell; Jimmy, 1971 geboren, wird 85 und muss sehr viel mehr zurücklegen, um mit 65 in Rente gehen zu können, oder er muss länger arbeiten und größere Unsicherheiten bewältigen; schließlich ist da Jane, geboren 1998, sie wird 100 und kann das dreistufige Modell gar nicht mehr erfüllen, vermutlich muss sie bis 80 arbeiten und hat über ihr Leben hinweg kein konstantes Einkommen und viele verschiedene Karrieren. Das sind zwar nur standardisierte Modellbiografien, sie machen aber die sich ändernden Anforderungen ganz gut deutlich. Zwei Dinge haben mich an dem Buch gestört: erstens, dass Lebensformen und -planungen so intellektuell abgehandelt werden, als würden Menschen ihr Leben immer mit geplantem Karriereweg rational konzipieren und abarbeiten. Und zweitens, dass die Autoren gar nicht auf die immer lauter werdende Kritik an unseren westlichen Gesellschaftssystemen eingehen, etwa aus dem Blickwinkel einer nachhaltigen Postwachstums-Ökonomie, die das Fundament dieses Buches etwas ins Wanken brächte. Auch mögliche oder gar wahrscheinliche Kriege und Revolutionen, Umweltkrisen und Terrorfolgen sind nicht mitgedacht – sie würden das massenhafte „100-Werden“ garantiert vermasseln. Die Autoren bleiben unserer westlichfreiheitlich-marktwirtschaftlichen Gesellschaftsform verhaftet und denken sie weiter. Ältere können damit möglicherweise viele Wendungen in ihrem Leben verstehen, die sie bisher nur staunend zur Kenntnis nahmen; Jüngere können sich anregen lassen, ihr Leben und ihre Zukunft bewusster zu gestalten. Dabei wird sich das Leben vermutlich nicht an die klugen Visionen dieses Buches halten, sondern für viele Menschen ganz andere Wendungen bereithalten. Christoph Kranich, Hamburg

Edition Körber, Hamburg 2018, 384 Seiten, 20 Euro Dr. med. Mabuse 238 · März / April 2019


Buchbesprechungen

Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts

D

ie Billigdroge Crystal Meth gab dem Buch den Titel, User nennen sie „Kristall“. Alexander Wendt berichtet darin aber nicht nur Ăźber Crystal, sondern auch Ăźber andere bewusstseinsverändernde Drogen, die die Menschheit der Natur entlockt oder selbst im Labor zusammengebraut hat, etwa Alkohol und Benzodiazepine, Heroin und Cannabis, Kokain und LSD, Modafinil und Opium. Wer sich im medizinischen Umfeld bewegt, betrachtet Drogen – auch Nikotin, das Wendt erstaunlicherweise auslässt – weitgehend aus dieser Perspektive, nicht zuletzt der psychiatrischen. Er oder sie hält weder Alkohol und Nikotin fĂźr Insignien der Freiheit noch Cannabis fĂźr Teufelszeug, wäre aber doch froh um Wege, die zumindest den Gesamtkonsum ohne Polizei in Grenzen halten kĂśnnten. DafĂźr sprechen nicht nur Public Health (die man aus bekannten GrĂźnden nicht Volksgesundheit nennt), UnfallverhĂźtung und individuelle Gesundheit. DafĂźr spricht auch das psychologisch gesicherte Wissen, dass die einzelne Person erhebliche Probleme hat, in ihre akute Entscheidungen Risiken einzupflegen, die erst in weiter Zukunft zum Tragen kommen. Und das nicht einmal zu hundert Prozent, Stichwort Lungenkrebs und Nikotin. Wendt teilt nur zwei Fragen mit der Medizin: a) Welche Folgen haben Verbote? b) KĂśnnten kleine Dosen (psycho-)therapeutisch taugen? Beide bettet er ein in seine Hauptfragen: Wie kam die Menschheit zur Droge? Welche Einstellungen hat sie zum Rausch und zu veränderten Bewusstseinszuständen? Hat sich das geändert? Wie, was und mit welchem Ziel konsumieren die Leute heute Drogen? Warum begannen die Verbote, wie steht es heute um den „Krieg gegen die Drogen“ der Vereinten Nationen? Was sind die aktuellen Drogentrends? Gibt es neue Ziele der User? Eine Bestandsaufnahme also. DafĂźr befragt er historische Archive, Chemiker, Ă„rzte, Polizisten, eine Ex-Agentin, einen Ex-Junkie und einen MicroLSD-User, der sich genauso zur kognitiven Ăœberleistung aufschwingen mĂśchte wie ein ehemaliger Mormone, der es Ăźber die Dr. med. Mabuse 239 ¡ Mai / Juni 2019

Tropen Verlag, Stuttgart 2018, 243 Seiten, 17,95 Euro

www.klett-cotta.de/schatta auer

7PMLFS . B V DL

%JF #SBJO UP #SBJO $POOFDUJPO 8J F V O T F S F # F [ J F I V O H F O O F V SP C J P M P H J T D I G V O L U J P O J F SF O

NEU

Reih e Wis s e n & L e b e n 2019. 196 S eit e n, K l ap p e nb ros c hur â‚Ź 19,99 ( D ) . I SB N 978 - 3 - 608 - 40 0 01- 4

Kristall

VerknĂźpfung menschlicher und kĂźnstlicher Intelligenz (KI) probiert. Drogen fand die Menschheit meist zufällig, sogar die „rein“ chemischen wie LSD & Co. Jahrhundertelang herrschte in jeder bewohnten Region jeweils eine Substanz vor. Welche das war, hing von diversen Zufällen ab, die jeweilige Substanz galt aber einerseits als ungefährlich, andererseits als Medizin. Bei uns in Europa war das der Alkohol. Erst im 20. Jahrhundert versuchten einige Staaten, den Zugang zu Drogen mit Strafen zu begrenzen. Das lag selten an fundiertem medizinischem Wissen, viel häufiger an moralischen Reinheitsideen. So nĂźtzte die erste umfassende Prohibition, die gegen Alkohol in den USA, denn auch weniger den vermeintlich Schutzbefohlenen der Moralisten als vielmehr der amerikanischen Mafia. Wendts Gesprächspartner werfen die Frage auf – die ähnlich medizinische Drogenexperten stellen –, ob nicht auch der heutige „Krieg gegen die Drogen“ vorwiegend der Drogen-Mafia hilft. Verloren ist er ja sowieso. Die wirklich sinnvollen Alternativen sind trotzdem strittig. Das Buch endet – sehr lĂśblich – mit einem Glossar. Es beginnt mit einem eher deprimierenden Ritt durch die Welt der Dauer-Wachgehaltenen, die dopen, um mehr zu leisten, und sei es beim Sex. Das banale und billige Mittel dazu ist Crystal Meth. Das ist hochdosiertes „Pervitin“, das im Zweiten Weltkrieg die Soldaten der deutschen Wehrmacht wachhielt. Microdoser, KI-Freaks und Crystal-Meth-User zeigen ein ernĂźchterndes Bild der Drogengegenwart: Was die Szene beherrscht, ist nicht der Rauschgott Dionysos, der zuständig war fĂźr Lust und Freude, sondern Leistungsdenken. DafĂźr begeistern sich vorwiegend Männer. Was den Autor wundert. Wendt stellt all das auf sehr präzise, lesbare und oft augenzwinkernde Weise als durchweg spannende Geschichte vor. Und er ist klug genug, selbst keine Wertung abzugeben; schlieĂ&#x;lich sind die medizinischen Langzeitwirkungen gerade der synthetischen Drogen keineswegs durchgängig erforscht. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin, MĂźnchen

Volker Mauck

Die Brain-to-BrainConnection Wie unsere Beziehungen neurobiologisch funk tionieren UĂŠĂŠ iĂƒĂ•Â˜`Â…iÂˆĂŒĂƒvÂ&#x;Ă€`iĂ€Â˜`ĂŠÂŽÂœÂ“Â“Ă•Â˜ÂˆâˆiĂ€i˜\ Zwischenmenschliche Beziehungs g e s t a l t un g a u f d e r G r un d l a g e d e r Neurobiologie UĂŠĂŠ Â˜Ă€i}Ă•Â˜}i˜\ FĂźr therapeutische und pädagogische Prozesse hilfreich

Ă„rztliche Ă„ Kommunikation Ich mĂśchte das besser verstehen Wann haben Sie das zum erste en Mal bemerkt?

Ich habe leider keine guten Nachrichten fĂźr Sie

Was fĂźhrt Sie zu mir?

Das war a ziemlich viel fĂźr Sie? Sie kĂśnnen viel fĂźr sich tun!

NEU

Gutt, dass Sie mir das erzählen

Wie verkrafften e Sie das alles?

2018. 687 Seiten, broschier tr, inkl. Downloadmaterial â‚Ź 39,99 ( D ). ISBN 978 - 3 - 608 - 43252-7

Alexander Wendt

Jana JĂźnger

Ă€âĂŒÂ?ˆVÂ…iĂŠ ÂœÂ“Â“Ă•Â˜ÂˆÂŽ>ĂŒÂˆÂœÂ˜ Praxisbuch zum Masterplan Me dizinstudium 2020 Wie sage ich es meinen Patientinnen und Patienten? Das Lehrbuch zum Thema „Arzt- Patient- Kommunikation“ in der ärztlichen Approbationsordnung im Masterplan Medizinstudium 2020. Das Buch basiert auf dem Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin ( NKL M ).

63


64

Buchbesprechungen

Tom Bschor

Antidepressiva Wie man sie richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte

D

ie Verordnungen von Antidepressiva haben in den letzten Jahren stetig zugenommen: Daten der Gesetzlichen Krankenversicherung zufolge wurden 1991 etwa 200 Millionen Tagesdosierungen verordnet, während es 2017 bereits 1,4 Milliarden Tagesdosierungen waren – eine Zunahme um das Siebenfache in knapp drei Jahrzehnten. Interessant ist dabei die Verteilung der angewendeten Antidepressiva: Die auffällige Steigerung begann mit der Vermarktung der Serotoninwiederaufnahmehemmer, den sogenannten SSRI, deren bekanntestes Präparat wohl Prozac® ist. Von Beginn an wurde von Firmen und Experten erhebliche öffentliche „Propaganda“ für diese Mittel betrieben und so stiegen die Absatz- und Umsatzzahlen für SSRI über die Jahre erheblich an. Gleichzeitig wurden die „klassischen“ tricyclischen Antidepressiva auf einem mehr oder weniger gleichen Mengenniveau von rund 250 bis 300 Millionen Tagesdosierungen verordnet. In niedrigen Dosierungen scheinen diese Präparate im Übrigen gerade auch für ältere Menschen verträglicher zu sein als SSRI. Ohnehin ist in der Zwischenzeit eine gewisse Rationalität in der Bewertung der Antidepressiva eingekehrt. So weisen zum Beispiel die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde darauf hin, dass Antidepressiva bei mild ausgeprägten Depressionen nicht mehr als Mittel der Wahl gelten. Selbst bei mittelschweren Depressionen bestehen offenbar begründete Zweifel am Nutzen von Antidepressiva, sodass sie in Kombination mit psychotherapeutischen Verfahren der Behandlung schwerer Depressionen vorbehalten sein sollten. Das ist die Ausgangssituation für das Buch von Tom Bschor, einem renommierten Berliner Psychiater, der seit langer Zeit klinische Erfahrungen mit der Behandlung von Menschen mit Depressionen sammelt, zudem wissenschaftlich in vielen Bereichen der Psychiatrie tätig ist und unter anderem die Behandlungsrichtlinie für Depressionen miterarbeitet und publiziert hat. Bschor hat mit seinem Buch

einen Ratgeber geschrieben, der für alle Menschen, die Antidepressiva einnehmen müssen, eine ausgesprochen wertvolle und gleichzeitig verständliche Hilfe anbietet. Es geht dabei um die Beschreibung der Krankheitssymptome ebenso wie um die Wirkweise und die unerwünschten Wirkungen von Antidepressiva. Behandelt wird die noch immer viel diskutierte Frage, ob die Einnahme von Antidepressiva vor Suiziden schützt oder möglicherweise sogar Selbsttötungsgedanken oder auch Selbsttötungen fördert. Bschors Fazit an dieser Stelle: Antidepressiva verhindern weder Suizide noch Suizidversuche. Der Autor befasst sich darüber hinaus mit dem umstrittenen Abhängigkeitspotenzial von Antidepressiva und letztlich geht es natürlich um die empfehlenswerten Therapieansätze bei einer Depression, sowohl mit Blick auf die Anwendung von Arzneimitteln als auch die Möglichkeiten der begleitenden und ergänzenden Therapien. Die Kapitel „Wie wirksam sind Antidepressiva?“ und „Unerwünschte Wirkungen und Probleme beim Absetzen“ gehören aus meiner Sicht zu den wichtigsten Hinweisen für PatientInnen, die bei einer schweren Depression mit solchen Mitteln behandelt werden. In Unterkapiteln wie „Warum die Antidepressiva in Studien überschätzt werden“ oder „Das Märchen vom Serotoninmangel“ wird gut verständlich der skeptische und kritische Blick des Psychiaters Bschor verdeutlicht, der bei aller Behandlungsnotwendigkeit die Unsicherheiten vieler PatientInnen aufnimmt und sich auch mit den zum Teil vereinfachenden, übertreibenden und ökonomisch orientierten Vermarktungsstrategien der pharmazeutischen Industrie auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang sei auch das erste Kapitel besonders erwähnt, in dem es um die Geschichte der Behandlung von psychischen Krankheiten mit Arzneimitteln geht. Dort findet sich bereits ein ernüchterndes Fazit: Bschor zeigt sich enttäuscht darüber, dass die pharmakologische Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten nicht wirklich weitergekommen ist. „Mit Blick auf die Antidepressiva [besteht ein Bedarf an solchen, Erg. GG] Medikamenten, die zuverlässiger wären, ausgeprägter und schneller helfen würden und einen gänzlich anderen Wirkansatz als die in den 1950er Jahren entwickelten Antidepressiva hätten.

Auch wären Antidepressiva wünschenswert, die vor Suizid (Selbsttötung) schützen.“ Bschor ist es gelungen, die wissenschaftliche Evidenz bei der Behandlung von Depressionen in eine patientenfreundliche Sprache zu übersetzen – PatientInnen benötigen nämlich nicht weniger Informationen, sondern andere und vor allem verständliche. Das Buch bietet diese Art Information, gepaart mit Ratschlägen eines erfahrenen Klinikers, einem Register und einer weiterführenden Literaturliste. Es ist daher einer interessierten Leserschaft ausdrücklich zu empfehlen, übrigens neben den PatientInnen auch ÄrztInnen und ApothekerInnen. Prof. Dr. Gerd Glaeske, Universität Bremen

südwest Verlag, München 2018, 224 Seiten, 20 Euro

Gerd Rudolf

Psychodynamisch denken – tiefenpsychologisch handeln Praxis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

G

erd Rudolf ist einer der „großen Alten“ der Psychodynamischen Therapie, seine „Strukturbezogene Psychotherapie“ gilt als Meilenstein der psychotherapeutischen Literatur. Sein jetzt vorgelegtes Alterswerk könnte man – wie im Verlagstext – vorstellen als „ein kurz gefasstes, leicht verständliches, auf immenser therapeutischer Erfahrung und wissenschaftlicher Kompetenz beruhendes und dazu praxisrelevantes Psychotherapiebuch“. Das ist es auch. Dabei verdeutlicht Rudolf pragmatisch und gut verständlich, worauf die tiefenpsychologischen Verfahren beruhen und was sie anders sein lässt als die klassische Psychoanalyse, als deren „kleines Geschwister“ sie lange angesehen wurde, aber auch als die verhaltenstherapeutischen Zugänge. Dr. med. Mabuse 239 · Mai / Juni 2019


Buchbesprechungen

Dr. med. Mabuse 239 ¡ Mai / Juni 2019

Schattauer Verlag, Stuttgart 2019, 141 Seiten, 24,99 Euro

www.klett-cotta.de/fachbuch

NEU

132 Seiten, broschiert ₏ 17,– (D). ISBN 978-3-608-86123-5

die innere Einstellung zum Patienten. Innerhalb der beschriebenen und empirisch belegten sowie theoretisch erklärten Haltung ist es insbesondere die Positionierung – hinter, gegenĂźber, neben –, die die Besonderheit des Ansatzes darstellt. Dabei haben nicht nur Patient und Therapeut ihren Platz, sondern triadisch auch die StĂśrung selbst. So ist das Buch kein Manual und es geht einmal nicht um „Skills“ oder Techniken, sondern um eine systematische Anleitung zur therapeutischen Haltung, die sich der Methode bedient und nicht umgekehrt. Das schlieĂ&#x;t die Einsicht ein, dass bei Patienten zu beobachtende Beziehungskonflikte, Lebensprobleme und Symptombildungen auch dem Therapeuten nicht fremd sind und das diese hoffentlich durch tiefenpsychologische Interventionen geklärt und positiv beeinflusst werden konnten. Dann mĂźssen Therapeuten auch nicht den Anspruch vertreten, ihren Patienten in 25 bis 100 Sitzungen helfen zu kĂśnnen, während bei ihnen selbst in der Regel auch nach 100 Sitzungen Selbsterfahrung noch manches offengeblieben sein kann. Ich verbringe meine freie Zeit am Wochenende nicht mehr unbedingt mit Fachliteratur. Dieses Buch hat mich – an einem zugegebenermaĂ&#x;en recht entspannten Wochenende – doch sehr schnell in seinen Bann gezogen. FĂźr jeden, der der Methode freundlich oder zumindest offen gegenĂźbersteht, ist etwas dabei, was er mit Gewinn lesen kann. Die angehenden TherapeutInnen in der Ausbildung kĂśnnen es als Wegbegleiter und Leitfaden verwenden und bereits ausgebildete TherapeutInnen finden hier eine gute RĂźck- und Neuorientierung. Dr. med. Helmut Schaaf, Bad Arolsen, www.drhschaaf.de

Dagmar Ruhwandl Vom GlĂźck, Verantwortung zu teilen Leben ohne Ăœberforderung Wer sich fĂźr alles und jeden verantwortlich fĂźhlt, läuft Gefahr, eines Tages aus Ăœberforderung krank zu werden. Das Buch vermittelt die psychologischen Zusammenhänge der SelbstĂźberforderung und zeigt an Beispielen und mit Ăœbungen, wie Betroffene lernen, Verantwortung zu teilen.

NEU

283 Seiten, broschiert, mit vielen Zeichnungen ₏ 28,– (D). ISBN 978-3-608-89243-7

Aber es ist auch sehr viel mehr: So wird ausfĂźhrlich genug, aber nicht unnĂśtig „wissenschaftlich abgesichert und zitierend“ die Basis des psychodynamischen Verstehens dargestellt. Dabei geht es auch – ganz klassisch – um den Umgang mit mehr oder weniger aktuellen Konflikten und akzentuiert um die StĂśrungen, die aufgrund von Entwicklungsdefiziten oder Traumata die PersĂśnlichkeitsstruktur eines Menschen bestimmen. Bezug genommen wird auch auf Ansätze, die ausdrĂźcklich den Aspekt des Psychischen mit dem KĂśrperlichen verbinden, was insbesondere in „psychosomatischen Kliniken“ von Belang ist. Denn oft kĂśnnen gestĂśrte Beziehungen, speziell die fehlende Ausbildung einer sicheren Bindung, später die Entwicklung von somatoformen StĂśrungen begĂźnstigen – gut belegt bei der SchmerzstĂśrung. So konnte gezeigt werden, dass frĂźhe Defiziterfahrungen in basalen Zentren des Gehirns gespeichert werden, zu denen es keinen erinnerbaren Zugang gibt. Folglich mĂźssen die darauf bezogenen therapeutischen Konzepte, wie sie – auch von Rudolf – mit der strukturbezogenen Psychotherapie beschrieben werden, darauf verzichten, bei diesen Patienten Erinnerungen und Selbstreflexion zu erwarten, Ăźber die sie – aus neurobiologischen GrĂźnden – nicht verfĂźgen kĂśnnen. Stattdessen gilt es, diese dem Patienten nicht verfĂźgbare Fähigkeit solange durch eine Hilfs-IchFunktion des Therapeuten zu ersetzen, bis der Patient selbst einen Zugang dazu erĂśffnen kann. Die Abschnitte zu Diagnostik und Therapie sowie die Berichte an den Gutachter und zur Forschung sind ausdrĂźcklich darauf ausgerichtet, tiefenpsychologische TherapeutInnen in ihrem Verständnis der PatientenpersĂśnlichkeit zu unterstĂźtzen. Diese gliedern sich in die Begegnung mit dem Patienten, das Annähern durch Verstehen, die Diagnostik als interpersonellen Prozess fĂźr die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) und die Evaluierung der Grundkonflikte innerhalb des Strukturniveaus, das therapeutische Selbstverständnis sowie die Phasen des Therapieverlaufs einschlieĂ&#x;lich der Durcharbeitungs- und Beendigungsphase und die speziellen Aspekte der strukturbezogenen Psychotherapie. Vor allem aber geht es um das, was so schwer zu beschreiben ist, aber Therapie ausmacht: die therapeutische Haltung und

Dagmar Kumbier Arbeit mit dem Inneren Team bei Krebs und anderen Erkrankungen Methoden- und Praxisbuch Das Buch zeigt an vielen Beispielen aus der Praxis, wie die Innere-TeamArbeit in der psychotherapeutischen Begleitung von schwer Erkrankten wirksam eingesetzt werden kann.

Blättern Sie online in unseren Bßchern und bestellen Sie bequem und versandkostenfrei unter: www.klett-cotta.de

65


66

Buchbesprechungen

Michael von Cranach, Annette Eberle u. a. (Hg.)

Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde

D

as kurz nach dem „Hamburger Gedenkbuch Euthanasie“ (online unter www.hamburger-euthanasie-opfer.de/ daten.html) erschienene „Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde“ bietet mit seiner gründlichen „Historischen Einführung“ in zehn Abschnitten auf knapp 150 Seiten einen auch außerhalb Münchens mit außerordentlichem Gewinn lesbaren Überblick, der den allgemeinen Forschungsstand in den anhängigen Kontroversen gut zusammenfasst, ohne dabei die Opferperspektive aus den Augen zu verlieren. In diesem Sinne finden sich im Anschluss an die Namensliste mit 2.027 Münchner Opfern der nationalsozialistischen Krankenmorde 14 Lebensgeschichten, zum Teil aus der Feder ihrer Angehörigen und Nachfahren. Das Erinnern an die Opfer der Krankenmorde ist keine zufällige „Modeerscheinung“. Bald nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurden im ehemaligen „NS-Archiv“ des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR 30.000 Krankenakten von jenen insgesamt über 70.000 Psychiatriepatienten aufgefunden, die in den Jahren 1940 und 1941 im Zuge der „Euthanasieaktion T4“ ermordet wurden. Dieser Fund hatte historische Forschungen zur Folge, die für einen grundsätzlichen Wandel in der Erinnerungskultur sorgten. Neben die Institutionen und die ärztlichen Täter traten die ermordeten Opfer als biografisch fassbare Personen in den Fokus. Im Unterschied zu anderen Opfern der nationalsozialistischen Diktatur, für die seit geraumer Zeit Gedenkbücher vorliegen und „Stolpersteine“ verlegt werden, galt es bis vor Kurzem als ausgemacht, dass die ausdrückliche Nennung der Namen der „Euthanasie“-Opfer die Rechte Dritter, insbesondere die der Nachfahren, verletze. Angehörige sollten nicht mit der psychischen Erkrankung ihrer im „Dritten Reich“ ermordeten Verwandten in Verbindung gebracht werden können. In gewisser Weise wird damit allerdings eine eugenische Logik fortge-

schrieben, nach der das Vorkommen psychischer Erkrankungen in der Familiengeschichte ein Indiz für das „minderwertige Erbgut“ beziehungsweise die „Untüchtigkeit“ der Nachfahren darstellen könne. Die Münchner Arbeitsgruppe hat die neue Wahrnehmung nicht allein aufgenommen, sondern ihre Recherchearbeit von Beginn an in die erinnerungskulturelle Debatte der Münchner Stadtgesellschaft eingebettet. Aus Gedenk- und Informationsveranstaltungen gemeinsam mit den Angehörigen der Opfer, mit Psychiatrieerfahrenen und Vertretern der Religionsgemeinschaften ist inzwischen eine eigenständige Gruppe von Angehörigen der Münchner Opfer der Krankenmorde erwachsen. Das Gedenkbuch steht damit nicht allein als trockenes Resultat historisch aufwendiger Forschungen gleichsam ex cathedra der Gelehrsamkeit vor uns, sondern bildet den Schlussstein eines breit gelegten Fundaments der stadtgesellschaftlichen Erinnerung. Allerdings ist hervorzuheben, dass die Forschungsleistung immens ist. Während die zentral geplante und bürokratisch vollzogene Ermordung von Kindern seit 1939 im sogenannten „ReichsausschußVerfahren“ sowie die Vergasung von PsychiatriepatientInnen in sechs Tötungsanstalten (Grafeneck, Brandenburg/Havel, Hartheim, Pirna/Sonnenstein, Bernburg und Hadamar) Krankenakten, Meldebögen, Verlegungslisten und manches überlieferte Material mehr produzierte, anhand dessen bei sorgfältiger Durchsicht die Namen der Opfer zusammengestellt werden können, verhält es sich bei den weniger perfekt geplanten und regional durchgeführten Maßnahmen, denen ebenfalls sehr viele kranke und behinderte Menschen zum Opfer fielen, durchaus anders. Dies betrifft Aktivitäten von der Ermordung arbeitsunfähig erkrankter Häftlinge in den Konzentrationslagern („14f13“) bis zur Vernachlässigung, dem Verhungernlassen und der gezielten Tötung durch Medikamente nach Entscheidungen innerhalb der einzelnen Anstalten, die daher als „dezentrale ‚Euthanasie‘“ zusammengefasst werden. In einem eigenen Kapitel zur Methodik der Ermittlung der Opfer der dezentralen „Euthanasie“ bietet der Band wertvolle Handreichungen für die weitere Forschung. In diesem Sinne ist mit den Angehörigen und Nachfahren der Opfer ein großer Wunsch zu teilen: „Für die vielen ande-

ren Opfer der NS-‚Euthanasie‘, die hier keine Erwähnung finden, weil sie nicht aus München stammten, wünschen wir uns für unsere Nichtmünchner Angehörigen das gleiche Engagement.“ Prof. Dr. Fritz Dross, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 432 Seiten, 24,90 Euro

Siegfried Stoll

SOS – per Lidschlag – SOS

D

iese Rezension ist wegen subjektiver Befangenheit des Rezensenten eine Ausnahme von der Regel. Grund und Auslöser war ein Telefonanruf im Jahr 1991. Damals steckten das Wissen und die Forschung über Komapatienten und ihre Angehörigen noch in den Kinderschuhen. Ein Telefonat über den im Koma liegenden Gerhard Stoll und ein schnelles Treffen mit seinem Hilfe suchenden Bruder Siegfried (Autor dieses Buches und damaliger Ansprechpartner für die Landesgruppe Hessen des Bundesverbandes „Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.“) auf der mehrere hundert Kilometer entfernten Autobahnraststätte Reinhardshain am Reiskirchener Dreieck waren die Folge. Erst viele Jahre später sind Informationen über die Auswirkungen dieser Begegnung bei mir eingetroffen. Gerhard, der damalige Komapatient, hat entgegen den äußerst negativen und entmutigenden Prognosen der damals behandelnden Ärzte seine „aussichtslose“ schwere Hirnblutung in einem jahrelangen Kampf gegen die Krankheit, Depressionen und behördliche Barrieren überlebt. Im Locked-in-Syndrom (LIS) war er auf Heimbeatmung, komplette Pflege rund um die Uhr, Rollstuhl und technische Kommunikationshilfen angewiesen. Sein Bruder Siegfried, durch unsere Gespräche ermutigt, unterstützt Gerhard bis heute liebevoll und brüderlich. Das von Siegfried Stoll geschriebene Buch berichtet vom Kampf ums Überleben, von den Zweifeln und Folgen der Dr. med. Mabuse 239 · Mai / Juni 2019


Buchbesprechungen

selbstlosen postklinischen Versorgung im häuslichen Umfeld. Er erzählt von gemeinsamen Ausflügen und Urlauben mit Freunden, Unterstützern und professionellem Pflegepersonal bis an die Nordseeküste. Im Mittelpunkt aber steht die brüderliche Beziehung zueinander, wie in „Die Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren. Der Briefwechsel mit der Autorin wird ebenso dargestellt wie die zahlreichen Gespräche, die die Brüder mittels ABC-Code in den Jahren 2007 bis 2016 führten. Darin ging es um das subjektive Empfinden, im LIS-Syndrom sinnerfüllt zu leben, wie auch um existenzielle Fragen des Lebens und des Lebensendes. Ein Interview mit einer beteiligten Krankenpflegerin sowie zahlreiche Fotos und Briefdokumente runden das Buch ab. Das im Selbstverlag erschienene Buch ist ein Zeugnis für ein sinnvolles und trotz schwerster Behinderung, Beatmung und kompletter Pflegeabhängigkeit als lebenswert empfundenes Leben. Dies bezeugen neben den Gesprächen, der Zuwendung und der intensiven brüderlichen Beziehung die bedürfnisorientierte professionelle Versorgung und die große Unterstützung, die den „Brüdern Löwenherz“ durch den sozial engagierten Freundeskreis zuteilwurde. Hoffentlich wird so auch in Zukunft eine größtmögliche Teilhabe am Leben realisiert werden können – sowohl für das betroffene „Sorgenkind“ oder den „Überlebenskünstler“ (Gerhard) als auch für den Bruder und „Erziehungswissenschaftler“ (Siegfried). Dieses Buch macht darüber hinaus das subjektive Erleben und Zusammenleben der Akteure als wichtige Quelle von Erkenntnis verständlich. Möge es eine weite öffentliche Verbreitung und Bekanntmachung finden! Prof. Dr. med. Andreas Zieger, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

kleingladenbach Verlag, Breidenbach 2018, 167 Seiten, 19,95 Euro

Dr. med. Mabuse 239 · Mai / Juni 2019

Eckart Roloff, Karin Henke-Wendt

Geschädigt statt geheilt Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale

L

eider sind wir inzwischen daran gewöhnt, dass es im Gesundheitswesen immer wieder zu Zwischenfällen kommt. Allein 2018 waren die Nachrichten voll von Meldungen über den mit Nitrosamin belasteten Blutdrucksenker Valsartan, über das Magenmittel Iberogast, das leberschädigendes Schöllkraut enthält, oder über neuere Hormonpillen zur Verhütung, die mehr Risiken als ältere Mittel haben. Es sind vielfach Meldungen, die kurzfristig für Empörung sorgen, aber nach einer gewissen Zeit von Alltagssorgen oder anderen Ereignissen verdrängt werden. Vielleicht haben wir uns aber auch daran gewöhnt, dass solche „Zwischenfälle“ in bestimmten Bereichen, in denen ein unübersehbares ökonomisches Interesse, mangelnde Transparenz, Nachlässigkeiten in der Regulation und Profitstreben herrschen, immer wieder vorkommen. Dieser eher von Gleichgültigkeit geprägte Eindruck verfliegt aber rasch, wenn wir mit einer Chronik der großen deutschen Medizin- und Pharmaskandale konfrontiert werden, wie sie Eckart Roloff und Karin Henke-Wendt zusammengetragen haben, die beide schon seit vielen Jahren erfolgreich als Medizinjournalisten tätig sind. Sie erinnern daran, wie vielen Menschen in den vergangenen Jahrzehnten im medizinischen Bereich Schaden zugefügt worden ist: etwa durch die Contergan-Tragödie, die Warnhinweise ignorierte; durch von ÄrztInnen gestützte Dopingprogramme; durch mit HIV belastete Blutkonserven oder die Behandlung von Krebs mit unangemessen hohen Strahlendosen. Andere Kapitel handeln von den noch immer nicht endgültig geklärten Auswirkungen von Duogynon® in der Schwangerschaft, von aus Profitgier gepantschten Krebsarzneimitteln, von Morden in Altenheimen oder auch von schadhaften Brustimplantaten. Weitere Dokumentationen greifen historische Skandale auf, so etwa die Impfung mit einem verunreinigten Impfstoff 1930 in Lübeck, der zum Tod von etwa 70 Säuglingen führte, oder die unsäglichen Medikamentenversuche in Kinderheimen durch ÄrztInnen, die noch von einer faschistischen Medizin geprägt waren und ihre menschenverachtenden Behandlun-

gen ohne nachvollziehbare wissenschaftliche Begründung durchführten, weil ihnen das „Menschenmaterial“ zur Verfügung stand. Dem Buch hätten in manchen Kapiteln Grafiken und Tabellen gutgetan, so ist das Layout letztlich stark textlastig geworden. Grundsätzlich wäre auch ein kurzes Übersichtskapitel über den Anstieg von „Kunstfehlerprozessen“ im Zusammenhang mit den Themen des Buches interessant gewesen. Damit hätte gezeigt werden können, dass Tag für Tag auch wenig aufsehenerregende Zwischenfälle in der Medizin vorkommen, die dann für den einzelnen Patienten auch oft skandalös und mit einem großen Schaden verbunden sein können. Es ist ein dokumentarisch-sachlich geschriebenes Buch, das in jeweils etwa 15seitigen Kapiteln die Skandale darstellt, Fakten anbietet und mit umfangreicher Literatur belegt. Es ist ein Buch gegen das Vergessen solcher wichtigen Ereignisse, die nicht untergehen dürfen im allgemeinen „Rauschen“ von Alltagsmeldungen. Es ist aber auch ein Buch, dass die (be-)handelnden Personen daran erinnern soll, dass der wichtigste Grundsatz in der Medizin lautet, den ihnen anvertrauten Menschen nicht zu schaden. Dass dies immer wieder missachtet wird, teils aus Beweggründen, die allenfalls mit persönlichem Geltungsbewusstsein oder finanziellem Profitstreben, teils mit krimineller Energie erklärt werden können und müssen, ist das vor allem Erschreckende, das mit diesem Buch verdeutlicht wird. Wir müssen uns mit solchen Ereignissen aus der Vergangenheit beschäftigen, um für die Zukunft zu lernen. Diese bekannte Botschaft wird mit dem Buch von Roloff und Henke-Wendt erneut in Erinnerung gerufen. Darum soll es jenseits seines dokumentarischen Wertes auch als Mahnung an uns alle verstanden werden, im medizinischen Alltag mehr Aufmerksamkeit und Sensibilität für eine ethisch verstandene Patientenorientierung in den Mittelpunkt unseres (Be-)Handelns zu setzen. Prof. Dr. Gerd Glaeske, Universität Bremen

S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2018, 256 Seiten, 22 Euro

67


Diese Postkarten machen gute Laune!

„Kompetenz“, Nr. 17874, 1 EUR

„Teamarbeit“, Nr. 17870, 1 EUR

„Bollerwagen“, Nr. 17869, 1 EUR

„Restrisiko“, Nr. 33756, 1 EUR

„Warten“, Nr. 32201, EUR

„Königin des Wochenbetts“, Nr. 32203, 1 EUR

36 Postkarten für Hebammen, Schwangere und Eltern

Postkarten-Buch

Mabuse-Verlag

Oh Wehe! Postkarten-Buch mit 10 Postkarten, Nr. 01467, jetzt nur 2,99 EUR

36 Postkarten, Nr. 12000, statt 32,40 EUR nur 14,95 EUR

„Herzlichen Glückwunsch!“, Nr. 17876, 1 EUR als Klappkarte mit Umschlag, Nr. 19752, 2 EUR

Viele weitere Postkarten finden Sie auf www.mabuse-verlag.de

„Geschenke“, Nr. 16870, 1 EUR als Klappkarte mit Umschlag, Nr. 19754 2 EUR

„Sonnenbad“, Nr. 33757, 1 EUR

„Hörrohr“, Nr. 16866, 1 EUR als Klappkarte mit Umschlag, Nr. 19753, 2 EUR

Größere Mengen an Postkarten, auch gemischt, erhalten Sie zu günstigeren Staffelpreisen: ab 30 Ex.: 90 Cent/Stück, ab 50 Ex.: 80 Cent/Stück

Fordern Sie unseren Verlagsprospekt an und abonnieren Sie unseren Newsletter!

www.mabuse-verlag.de


Gabriele Paulsen

Was Pflegekräfte über Sexualität im Alter wissen sollten Bedürfnisse – Grenzen – Strategien

J

eder Mensch bleibt bis zu seinem Tod ein sexuelles Wesen mit Wünschen, Bedürfnissen und Begierden. Aber niemand muss in der Pflege über seine Grenzen hinweggehen, meint Erich Schützendorf in seinem Vorwort. Dies gilt etwa für Pflegekräfte, die beim Waschen und Duschen von BewohnerInnen mit der Aufforderung nach zärtlichen und sinnlichen Berührungen überrascht werden, oder für alte Menschen, die durch MitbewohnerInnen verbal und körperlich sexuell belästigt werden. Für alle in der stationären Pflege gilt das Recht auf selbstbestimmte Sexualität. Um herauszufinden, was dies konkret im Pflegealltag bedeutet, empfiehlt die Autorin Gabriele Paulsen eine Ist-Analyse: Welchen Stellenwert hat Sexualität für uns als Einrichtung? Wie gehen wir mit verbalen und körperlichen sexuellen Grenzüberschreitungen beiderseits um? Wann und wie sprechen wir mit Angehörigen, wenn das Thema auftaucht? Mit vielen praktischen Beispielen und Lösungsansätzen zeigt die Autorin in acht Kapiteln auf, wie Unversehrtheit gesichert und Privatheit gewährleistet werden kann, wie Kommunikation wertschätzend gelingt, Bedürfnisse erfasst werden können und wie sich Aufklärung beziehungsweise Beratung durchführen lässt. Die Überschriften der Kapitel sind „zur besseren Orientierung an die Pflege-Charta (BMFSFJ 2014) angelehnt“, um „Denkanstöße mit hohem Praxisbezug“ zu bekommen. Hilfreich sind die vielen Verweise auf Literatur- und Internetquellen, Beratungsstellen im deutschsprachigen Raum und Filme zum Thema „Sexualität im Alter“. Anregend sind auch der Fragebogen für MitarbeiterInnen zum Thema „Sexualität in der Pflege“ und der Beurteilungsbogen zum Thema Sexualität (SexAT) für den Einsatz in Seniorenresidenzen. Beide können kostenfrei von der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages heruntergeladen werden. Zwei Kapitel beschäftigen sich – leider nur sehr kurz – mit „Andere Länder, andere Sitten: die gleiche Sehnsucht“ bzw. Dr. med. Mabuse 240 · Juli / August 2019

„Palliative Begleitung – Wenn der letzte Wunsch uns ungewöhnlich erscheint“. Ebenfalls eher knapp geht die Autorin ein auf gleichgeschlechtliche Sexualität oder den Umgang mit Scham, Ängsten und Empörung von Angehörigen sowie rechtliche und ethische Aspekte bei Grenzverletzungen durch BewohnerInnen und Pflegende. Ausführlicher geht die Autorin, unter Mitarbeit von Nina de Vries, auf passive und aktive Sexualassistenz ein. Beide plädieren für ein sexualfreundliches Klima in der Pflegeeinrichtung. Hier würde eine Vereinbarung als Regelwerk entlasten, die Strategien und Grenzen aufzeigt. So darf im Rahmen einer passiven Sexualassistenz eine MitarbeiterIn – nicht wertend – für einzelne BewohnerInnen einen pornografischen Film oder Sexhilfen (Penispumpe, Vibrator) besorgen. Damit wären ein normales Bedürfnis befriedigt und die Scham reduziert. Es entfiele das Erlauben und Verbieten. Über die Nutzung entscheidet allein der/die BewohnerIn. Unter einer aktiven Sexualassistenz verstehen die Autorinnen „eine bezahlte sexuelle Dienstleistung für Menschen mit einer körperlichen, kognitiven, seelischen, psychischen oder altersbedingten Beeinträchtigung“. Dazu gehören etwa erotischsinnliche Massagen, gemeinsames Nacktsein, Anleitung zur Selbstbefriedigung oder Oral- und Geschlechtsverkehr. Eine Pflegeeinrichtung kann eine Atmosphäre schaffen, die Intimität und Sinnlichkeit für BewohnerInnen mit ausgebildeten SexualassistentInnen in geschützter Umgebung zulässt. Die Autorinnen verweisen auf „mehr als achtzig ausgebildete Sexualassistenten in Deutschland und Österreich. Sie arbeiten meist mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und/oder Demenz“. Die meisten von ihnen sind „zwischen dreißig und sechzig Jahre alt“. Beide Autorinnen sind seit Jahren mit dem Thema Sexualassistenz vertraut. Gabriele Paulsen berät und coacht als Fachkrankenpflegerin und Inhaberin einer Agentur in Hamburg Einrichtungen im Gesundheitswesen. Nina de Vries arbeitet seit vielen Jahren als Sexualassistentin, hält Vorträge zum Thema und bildet selbst SexualassistentInnen aus. Im Nachwort plädiert der Sexualpädagoge Stefan Hierholzer dafür, Sexualität im Alter nicht als „Problemfall“ darzustellen, sondern als Menschenrecht in der


64

Buchbesprechungen

Aus-, Fort- und Weiterbildung zu behandeln. Wie der Umgang mit diesem Thema in der stationären Pflege alter Menschen gelingen kann, zeigen die Autorinnen mit ihrem Buch auf. Die materialreichen Ausführungen über Möglichkeiten und Grenzen sollten eine längst überfällige Diskussion über Sexualität im Alter und nicht nur in der Pflege auslösen. Karl Stanjek, M.A., FH Kiel, FB Soziale Arbeit und Gesundheit

Ernst Reinhardt Verlag, München 2018, 144 S., 22,90 Euro

Judith Günther, Birgit Schindler u. a.

Evidenzbasierte Pharmazie Eine Schritt-für-Schritt Anleitung

V

or Kurzem veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung ein Interview mit einem der härtesten Kritiker schlechter Wissenschaft, Professor John Ioannidis von der Stanford Universität in Kalifornien (SZ vom 4. April 2019, S. 14). Darin erläutert er, welche Aspekte bei der Bewertung wissenschaftlicher Publikationen ausschlaggebend sind: die Reproduzierbarkeit, die Methoden, Offenheit und Transparenz. Und er spricht darin auch über den p-Wert, der in vielen Studien als Hinweis auf die statistische Signifikanz genutzt wird und mit dem gezeigt werden soll, „dass ein Ergebnis wichtig, neu und weltbewegend sei. Das ist aber ein Missverständnis. So, wie der p-Wert in der Regel genutzt wird, sagt er sehr wenig über die Qualität eines Studienergebnisses aus.“ Im Bereich der Arzneimittelstudien geht man diesen Aussagen entsprechend längst nicht mehr davon aus, dass die statistische Signifikanz unbedingt mit der klinischen Relevanz gleichzusetzen ist. Dennoch wird dieses Missverständnis weiterhin zugunsten der Vermarktung und Empfehlung von Arzneimitteln genutzt. Viele Studien, insbesondere solche, die Ärzten, Apothekern oder auch der Öffentlichkeit von pharmazeutischen Unternehmen vorgelegt werden, nutzen – sicherlich auch oft vorsätzlich – das lückenhafte Wissen zu Statistik allgemein und dem erwähnten p-Wert im Besonderen.

Dieses und andere Themen, die zum Verständnis von klinischen Studien notwendig sind, werden in dem Buch „Evidenzbasierte Pharmazie“ vorgestellt, einer sehr gut konzipierten und verständlich geschriebenen „Schritt-für-Schritt Anleitung“. Die AutorInnen aus Freiburg, Basel und Halle, Judith Günther, Birgit Schindler, Katja Suter-Zimmermann, Matthias Briel und Iris Hinneburg, die alle aus dem Umfeld des Deutschen Netzwerkes für Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) bekannt sind, haben sich zum Ziel gesetzt, den Nutzen von Methoden der Evidenzbasierten Medizin zu beschreiben, Fachbegriffe der Biometrie zu erklären und anhand konkreter Beispiele das Verständnis für eine kritische Rezeption klinischer Studien zu fördern. So gibt es beispielsweise Kapitel zu den Themen Cox-Regression, Number needed to treat, Konfidenzintervall, Metaanalyse oder mögliche Fehlerquellen bei randomisierten kontrollierten Studien. Das Buch ist ein „Werkzeugkasten“, der ganz unterschiedliche Instrumente für einen sicheren Umgang mit Informationen enthält, die Tag für Tag in Form von Studien verbreitet werden. Das gilt vor allem für Studien zur Arzneimitteltherapie, die mit einem wachsenden Markt in den Bereichen Onkologie, Multiple Sklerose, Rheumatoide Arthritis, Hepatitis C, chronisch entzündliche Darmerkrankungen oder Psoriasis in Bezug auf die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse immer komplizierter werden. Sie haben auch deshalb immer häufiger Einfluss auf unser Versorgungssystem, weil die ökonomischen Konsequenzen bei der Anwendung mehr und mehr anwachsen – rund 4 % der Verordnungen machen inzwischen etwa 40 % der Ausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung aus. Insofern hat der patientenorientierte Nutzen, der auf Basis der publizierten Studien oftmals in übertriebener Weise dargestellt wird, letztlich auch finanzielle Konsequenzen. Fehlentwicklungen lassen sich hier also nur vermeiden, wenn Originalstudien zu den jeweiligen Arzneimitteln gelesen, verstanden und im alltäglichen Entscheidungsprozess genutzt werden. Ob in der Verordnung oder in der Beratung: Jeder Beteiligte sollte sich unabhängig machen von Hochglanzfoldern oder „Fortbildungsmaßnahmen“, die von den jeweiligen pharmazeutischen Unternehmen angeboten

werden und bei denen ein ökonomisches Interesse unübersehbar ist. Das Buch bietet all jenen eine ausgesprochen gute Hilfe, die lernen wollen, Studien und Studienergebnisse unabhängig einzuordnen. Und auch wenn es sich zunächst an ApothekerInnen zu richten scheint, ist es für ÄrztInnen genauso nützlich, etwa um den Repräsentanten pharmazeutischer Unternehmen, die ihre Informationen immer noch in Krankenhäusern oder Praxen anbieten, die richtigen Fragen stellen zu können. Zusammengefasst: Eine empfehlenswerte kurz gefasste „Anleitung“ zum Verständnis und zur Interpretation von klinischen Studien, der ich eine große Verbreitung wünsche, damit die Deutungshoheit von pharmazeutischen Unternehmen im Hinblick auf den Nutzen ihrer Arzneimittel weiter geschwächt wird. Prof. Dr. Gerd Glaeske, Universität Bremen

Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart 2018, 80 S., 24,90 Euro

Philipp Singer

Inklusion und Fremdheit Abschied von einer pädagogischen Leitideologie

M

it der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im Jahr 2016, das Menschen mit Behinderungen mehr gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen soll, ist auch das Thema Inklusion stärker in das öffentliche Bewusstsein getreten. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Dissertationsschrift, die im Jahr 2017 von der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität Würzburg angenommen wurde. Der Autor widmet sich nach der Einleitung im zweiten Kapitel der Entwicklung des pädagogischen Inklusionsbegriffs im deutschsprachigen Raum. Er kommt zu dem Schluss, dass der Begriff „Inklusion“ mittlerweile nicht mehr eindeutig genutzt werde, sondern durch die UN-Behindertenrechtskonvention sowie durch die Bildungspolitik zu einem konturlosen Schlagwort geworden sei. Auch sei der Begriff normativ besetzt. Die Heil- und Sonderpädagogik als DisDr. med. Mabuse 240 · Juli / August 2019


Buchbesprechungen

Dr. med. Mabuse 240 ¡ Juli / August 2019

www.klett-cotta.de/schatta auer

1 transcript, Bielefeld 2018, 484 S., 49,99 Euro

Reih e Wis s e n & L e b e n 2019. 301 S eit e n, K l ap p e nb ros c hur ₏ 20,– ( D ) . I SB N 978 - 3 - 608 - 40 0 02-1

Community der Heil- und Sonderpädagogik ist es jedoch vermutlich ein wichtiges Werk, da es fßr die vom Autor ausgemachte fehlende Auseinandersetzung, die er dringend anmahnt, genßgend Anknßpfungspunkte bietet. Mathilde Hackmann, Ev. Hochschule fßr Soziale Arbeit & Diakonie, Hamburg

Gre gor Hasler

Die Darm-Hirn- Connection Asmus Finzen

Normalität Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft

A

smus Finzens neuestes Buch behandelt ein Thema, das ihm als Soziologe und Psychiater auf den Leib geschnitten ist: Normalität – eine Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft, die in beiden BezĂźgen mal unterschiedlich, mal ähnlich verwendet wird. Wir alle glauben zu wissen oder zumindest eine Ahnung zu haben, was normal ist. Aber welche Auswirkungen hat diese Ahnung auf die Arbeit psychiatrisch Tätiger? Wir alle tragen (Vor-)Urteile hinsichtlich dessen mit uns herum, was „Normalität“ bedeutet. Finzen hat wieder einmal ein GespĂźr fĂźr ein Thema, das uns gerade heute bewegen (sollte) und zu dem es erstaunlich wenig Literatur gibt. Schon im Vorwort verweist er darauf, dass psychiatrisch Tätige keine Spezialisten fĂźr Normalität sind, sondern Pathologisches wie „TrĂźffelschweine“ suchen. Hierbei mischen sich – und dies ist bereits einer der wichtigsten Befunde – Normalitätsvorstellungen in die psychiatrisch-fachliche Wahrnehmung – manchmal ohne dass wir es merken. Finzen widmet sich zunächst Begriffen und Bewertungen und stellt fest, dass wir es mit einer Reihe von sozialen Kategorien zu tun haben. Anomalität konstruieren wir im Alltag, weil wir denken, dass wir den Begriff zur Erklärung von Phänomenen des Zusammenlebens benĂśtigen. Finzen bemerkt eine zunehmende Bereitschaft zur Psychopathologisierung in der Gesellschaft – vermutlich einer sei-

Revolutionäres Wissen fĂźr unsere psychische und kĂśrperliche Gesundheit UĂŠĂŠ-ÂŤ>˜˜i˜`iĂŠÂ˜iĂ•iĂŠ ÀŽiÂ˜Â˜ĂŒÂ˜ÂˆĂƒĂƒi Ăźber das Mikrobiom UĂŠĂŠ Â?Ă˜VÂŽĂƒv>ÂŽĂŒÂœĂ€\ Was tut Darm und Psyche gut ? UĂŠĂŠ Ă?ÂŤiĂ€ĂŒÂˆĂƒi\ Praxiserfahrener und wissenschaf tlich renommierter Autor

Kathrin Zittlau

Die Krankheitsbewältigung unterstßtzen Theorie und Praxis des professionellen Umgangs mit chronisch Kranken

1

2019. 145 Seiten, broschier t ₏ 25,– ( D ). ISBN 978 - 3 - 608 - 40022-9

ziplin hätte dieses Schlagwort weitgehend aufgegriffen, sich aber nicht grĂźndlich genug auf wissenschaftlicher Ebene damit auseinandergesetzt. Dieses festgestellte Manko ergänzt der Autor im dritten Kapitel um die Darlegung des aktuellen Standes zum pädagogischen Diskurs um Heterogenität und Fremdheit. Im vierten Kapitel fĂźhrt der Autor in die Ideen des deutschen Philosophen Bernhard Waldenfels ein, der sich mit der Phänomenologie von Fremdheit, Ordnung, Responsivität und Leiblichkeit auseinandergesetzt hat. Diese Grundlagen nutzt Philipp Singer im fĂźnften Kapitel fĂźr eine genauere Analyse der „Normalität der Verschiedenheit“, einer Prämisse der aktuellen inklusionspädagogischen Debatte. Er stellt fest, dass diese Prämisse als wirkmächtiger Denkansatz nicht den gemachten Erfahrungen von Menschen entspricht und daher ein gegenseitiges Verstehen von Menschen mit und ohne Behinderung eher hemmt. Als Ideologie verhindere die „Normalität der Verschiedenheit“ die Auseinandersetzung mit „Fremdheit“, die im Fall der menschlichen Begegnung nicht zu leugnen sei. Behinderung sei nicht nur ein soziales Konstrukt, sondern ein Zustand, in den jeder Mensch jederzeit geraten kĂśnne. Gerade die leibliche Dimension werde mit der normativen Vorgabe der „Normalität der Verschiedenheit“ ignoriert. So werde das KĂśrpererleben oder das Leiden an einer Behinderung nicht mehr wahrgenommen. Eine Behinderung bleibe aber immer auffällig. WĂźrde diese Auffälligkeit ignoriert, so hätte das zur Folge, dass genau die erwĂźnschte „Inklusion“ nicht erreicht wĂźrde. Im Extremfall wĂźrden Menschen die Konfrontation mit Behinderung scheuen und sich den Situationen entziehen, in denen sie auf Menschen mit Behinderung stoĂ&#x;en. Es bleibe eine Illusion, GefĂźhle wie Freundschaft, GlĂźck usw. Ăźber die rechtliche Vorgabe des Bundesteilhabegesetzes zu erreichen. Der Autor fordert nachdrĂźcklich, dass sich die Heil- und Sonderpädagogik endlich den Herausforderungen stellt und sich mehr mit den Prämissen der Inklusionsidee auseinandersetzt. Das Buch ist nicht leicht zu lesen und wird sicher auch kein breites Publikum ansprechen. Ein tieferes Verständnis der vorliegenden Analyse verlangt eine Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Texten. FĂźr die wissenschaftliche

Kathrin Zit tlau

Die Krankheitsbewä ältig gung Ă• ˜ ĂŒ i Ă€ ĂƒĂŒ Ă˜ ĂŒ â i ˜ The orie und Praxis des prof essionellen U m g a n g s m i t c h r o n is c h K r a n k e n UĂŠĂŠ ˆÂ?vĂ€iˆVÂ…iĂŠ/Â…iÂœĂ€Âˆi\ Grundlagen wissen fĂźr einen adäquaten und unterstĂźtzenden Umgang mit Ihhren chronisch erkrankten Patienten UĂŠĂŠ ÂœÂ˜ÂŽĂ€iĂŒiĂŠ*Ă€>Ă?ÂˆĂƒ\ Die wichtigsten Behandlungsansätze anhand zahl reicher Praxisbeispiele verständlich erklärt s 0ATIENT)NNEN WIRKUNGSVOLL IM 5MGANG mit ihrer Erkrankung unterstĂźtzen

65


66

Buchbesprechungen

ner Beweggründe, das Buch zu schreiben: Unsere individualistische, multikulturelle und liberale Gesellschaft bietet möglicherweise nicht etwa mehr, sondern vielleicht sogar weniger Raum für exzentrisches Verhalten. Und dadurch, dass in der Postmoderne alles so komplex ist, wird der Bedarf an Orientierung immer größer. So entsteht ein Spannungsfeld, das zu massiven sozialen Konflikten führen kann. Finzen weitet diese These nicht im Hinblick auf Theorien der Entstehung und Bewertung psychischer Erkrankung aus – geht es ihm doch um den Begriff der Normalität. Aber hier kann der Leser weiterdenken. Stattdessen zeigt Finzen, wie unnormales Verhalten bisher erklärt wurde, und wie ein Psychiater Krankheit erkennt. Es geht ihm nicht darum, alles zu relativieren. Auch die Profession der Psychiatrie als Fachgebiet lässt er gelten, nennt aber die Fülle der Symptomlisten eine Überflutung – damit alleine könne man nicht diagnostizieren. Es brauche so etwas wie eine „Seele“ – und eine gemeinsame Kommunikationsbasis zwischen Arzt und Klient. Wenn der Klient über sich berichtet, erweist sich ein Großteil seines Erlebens und Verhaltens als „normal“. Es ist also die Sprachlosigkeit (auf welcher Seite auch immer), die oft eine Einschätzung von Anomalität bewirkt. Das ist nicht revolutionär, aber wichtig: Psychiatrische Diagnostik und Krankheitskategorien werden nicht grundsätzlich infrage gestellt. Es muss nicht alles umgeworfen werden – vielmehr bedarf es mehr Sensibilität und Klarheit. Und vor allem: Psychiatrie soll nach Finzen nicht immer weiter in den Alltag hineinwirken und alles Mögliche pathologisieren. Der aktuelle Fokus auf die Früherkennung psychischer Störungen ist für Finzen keine Möglichkeit der Rückeroberung des Normalen. Unabhängig von den Erfolgen durch Frühintervention spricht er das zentrale ethische Dilemma an, gesunde Menschen psychiatrischen Untersuchungen und vielleicht auch Therapien zu unterziehen. Screening führe in der Psychiatrie eher dazu, den Wirkungskreis des Normalen zu reduzieren. Finzen gibt uns Selbstverteidigungsstrategien an die Hand, uns gegen Entwicklungen zu wehren, die in Psychiatrie und Gesellschaft zusammenwirken und zu Ausgrenzung und Stigmatisierung führen. Er hat mit diesem Buch einen klei-

nen, aber äußerst wichtigen Beitrag zu einer zentralen, vernachlässigten, aber immer implizit mitgedachten Kategorie in der Psychiatrie geleistet. Der Schreibstil ist angenehm, gekonnt und der Autor nicht allwissend. Dies macht die Lektüre zu einem Genuss. Das Buch ist ein Plädoyer für mehr Bewusstsein und für weniger Vorurteile – oder dafür, sich seiner Vorurteile bewusster zu sein. Stefan Weinmann, Berlin

Psychiatrie Verlag, Köln 2018, 144 S., 20 Euro

Alexander Jorde

Kranke Pflege Gemeinsam aus dem Notstand

I

n der Einführung beschreibt Alexander Jorde den Tag der legendären Wahlarena: „20:05 Uhr: Angela Merkel betritt den Raum. Sie steht nur etwa vier Meter von mir entfernt und doch scheint sie weit weg zu sein. Sie geht ganz in ihrer Rolle als Bundeskanzlerin auf, wirkt distanziert und kontrolliert.“ Nun hat er ein Buch geschrieben zur Situation der Pflege und will „durch einen umfassenden Blick das Verständnis dafür (...) erweitern, was Pflege bedeutet, wie sich der Pflegenotstand auf Pflegekräfte und Pflegebedürftige auswirkt und wie wir nur gemeinsam einen Weg daraus finden können.“ In fünf Kapiteln entfaltet er das Thema, zunächst beginnend mit seinem eigenen Weg in die Pflegeausbildung. Er nimmt Stellung zu der Annahme, pflegen könne doch jeder. Dabei erklärt er stichhaltig, warum er das nicht so sieht, und bemerkt abschließend: „‚Hauptsache, man ist mit dem Herzen dabei‘. Dieses Bild in unserer Gesellschaft von der Pflege ist inakzeptabel. Der Pflegeberuf erfordert ein hohes Kompetenzniveau in den unterschiedlichsten Bereichen.“ Er geht differenziert auf die derzeitige Situation der Pflege in Deutschland ein und stellt wichtige Details dar, die er mit vielen Quellen belegt. Daran ist erkennbar, was für das ganze Buch gilt: Der Autor hat gründlich zu den Fakten recherchiert; insgesamt umfassen die Anmerkungen 178 Quellenangaben.

In Kapitel 3 wird die Frage nach der Schuld an der Misere gestellt. Einmal mehr lässt sich Jorde nicht zu pauschalen Antworten verleiten, sondern betrachtet diese Frage fachkundig. Dabei erwähnt er u.a. Studien zur Personalsituation in der Pflege. Außerdem spricht er weitere Knackpunkte an, z. B. dass die beruflich Pflegenden bei politischen Entscheidungen zu wenig gehört und einbezogen werden. Er mahnt auch an, dass der Mangel an Pflegefachpersonen nicht dazu führen dürfe, die Zugangsvoraussetzungen zum Pflegeberuf herabzusetzen. Zudem geht er auf die Folgen der Privatisierung im Gesundheits- und Pflegewesen ein. Zum Streben nach Rendite schreibt er: „Gesundheit ist ein Kapital, aber nicht das der Betriebe, sondern unser eigenes.“ In Kapitel 4 wirft der Autor einen Blick in andere Länder, etwa nach Norwegen, wo er sich selbst ein Bild machen konnte. Wie in den vorherigen Kapiteln wird auch hier wieder deutlich, dass die Ursachen für die Probleme komplex sind und nur eine systemische Betrachtung die notwendigen Veränderungen sichtbar machen kann. Im letzten Kapitel will Jorde Wege aus dem Pflegenotstand aufzeigen. Auch hier spricht er die „heißen Eisen“ konkret an, beschreibt aber auch Lösungsmöglichkeiten. Potenziellen Einwänden im Hinblick auf die Finanzierung begegnet er mit folgender Idee: „(Ich) finde es angemessen, wenn Menschen, die eine hohe Verantwortung tragen, auch entsprechend entlohnt werden. Aber niemand kann eine so hohe Verantwortung tragen, dass er dafür an einem Tag soviel Geld erhält, wie eine Pflegekraft in einem ganzen Jahr, (daher) plädiere ich dafür, unser Krankenund Pflegeversicherungssystem in ein beitragsbemessungsfreies System umzuwandeln. (…) Das ist sozial gerecht.“ Dem ist nur noch das vom Autor selbst zitierte Wort von Albert Einstein hinzuzufügen: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Das Buch ist allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes zur Lektüre zu empfehlen. Es informiert anschaulich und verständlich zur beruflichen Pflege, deren Situation zweifelsfrei auch eine Wirkung auf pflegende Angehörige hat. So gilt auch in 2019 noch, was die langjährige Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth 2005 bei einer Pflegekonferenz uns PflegeDr. med. Mabuse 240 · Juli / August 2019


Buchbesprechungen

fachkundigen zurief: „Sie brauchen die Solidarität der Bevölkerung.“ Uta Bornschein, Ostfildern

Tropen, Stuttgart 2019, 211 S., 17 Euro

Beate Unruh, Ingrid Moeslein-Teising, Susanne Walz-Pawlita (Hg.)

Rebellion gegen die Endlichkeit

V

orweg zwei Empfehlungen zum Lesen dieses Buches: 1. Für Laien ist es über weite Strecken unverständlich. Man sollte bereit und in der Lage sein, die psychoanalytische Denkund Schreibweise vorurteilslos nachzuvollziehen. Allerdings wird man sich auch dann noch verwundert die Augen reiben, wenn man eine Fallvignette aus der siebenhundertsten Stunde einer mittlerweile sechsjährigen Behandlung liest. 2. Die ausführliche und sehr informative Einleitung ist wichtig. Sie stimmt auf den Inhalt ein und ermöglicht es, das Passende auszusuchen. Nun aber zum Buch selbst: Es ist ein Tagungsband, also ein sehr vielfältiges Buch und dementsprechend auch sehr zwiespältig. Als besonders lesenswert und bereichernd habe ich die Beiträge von Hartmut Radebold und Christa RhodeDachser erlebt, die auf angenehm authentische Weise psychoanalytische Theorie, Berufserfahrung und wie bei Radebold auch die eigene Lebensgeschichte in einer sehr ausgewogenen Zusammenschau vortragen. Interessant und bewegend sind auch einige Beiträge zum Thema „Forever Young“, vor allem der Beitrag von Andrea Schleu und Jürgen Thorwart, in dem die Gefahr der Verführung in der Zeitlosigkeit der Therapie zur Darstellung kommt. Sie zeigen es anhand der therapeutischen Verfehlungen, die in der Ethikkommission verhandelt werden. Auch sehr gut nachzuvollziehen ist in weiteren Vorträgen die Darstellung der Fantasie von ewiger Jugend als eine kollektive Abwehr gegen die Angst vor der eigenen Endlichkeit. Dr. med. Mabuse 240 · Juli / August 2019

Beiträge aus Kunst und Literatur werden auf sehr unterschiedliche Weise angeboten, so taucht der wohlbekannte Sisyphos wieder auf, auch Laios und Lord Voldemort finden ihren Platz. Ein wirklich genussvolles Eintauchen in die Thematik bietet der Artikel von Andreas Kruse, der Verletzlichkeit und Endlichkeit am Spätwerk von Johann Sebastian Bach sehr einfühlsam deutlich werden lässt. Kritisch möchte ich Folgendes anmerken: Übereinstimmend wird das Akzeptieren der eigenen Endlichkeit als wichtiges Therapieziel geschildert. Der nächste Schritt aber bleibt auch im Vortrag von Wolfgang Krieger über Psychoonkologie unerwähnt. Krebspatienten haben nachdrücklich die Erfahrung der eigenen Endlichkeit gemacht und müssen nun mit der Ungewissheit leben, wissen nicht, wie es weitergehen wird. Jeder Mensch weiß, dass er einmal sterben muss, keiner weiß, wie viel Zeit er noch hat. Den gravierenden Unterschied zwischen diesem kognitiven Wissen und dem unmittelbar Erlebten schildert Christiane Schrader sehr klar. Die Realität der Endlichkeit ist akzeptiert, die Frage aber, wie Patienten mit dieser erlebten Ungewissheit leben, wie man sie dabei therapeutisch unterstützen kann, wird im Buch erstaunlicherweise nicht erwähnt. Einige Beiträge beschränken sich nicht auf eine Aussage, sondern reihen ein Zitat an das andere, zitieren viele Größen der Psychoanalyse, deren Bücher man alle gelesen haben müsste, zumindest wenn man die umfangreichen, einschüchternden Literaturangaben studiert. Irritierend wirken die beiden Vorträge, die eine Synthese von Psychoanalyse und Philosophie versuchen. Das wirkt zunächst reizvoll, verliert aber rasch an Faszination, weil die philosophische Gepflogenheit der logischen Schlussfolgerung nicht eingehalten wird. Vielmehr wird eine Unzahl von Thesen und Theorien in freier Assoziation angeboten, die erst einmal ratlos stimmt und einem dann die Wahl lässt, ob man sich nun verwirrt oder ungebildet fühlen soll. Insgesamt ist es aber ein interessantes und hilfreiches Buch, wenn man eine für sich passende Auswahl trifft. Dr. med. Peter Weyland, Ingoldingen

Psychosozial-Verlag, Gießen 2018, 322 S., 34,90 Euro

Die Spraa c der Dem he enz

Demenzerkrankte zu begleiten, zu pflegen ist herausffor o dernd. Der Schlüssel zur Lösung schwierigeer Situationen liegt im Verstehen und darauf aufbauendem wirksamen n Handeln. Dafür steht mit »Demenzerrisch® lernen« ein umfangreicher wie fu undierter Handwerkskoff ffeer zur Verfügu ung. 2019, 242 Seiten, broschiert, € 19,955 ISBN 978-3-7799-3903-0 978 3 7799 3903 0 Auch als E-Book erhältlich

Sozia i le Altenar be Ein Lehr itt – buch

Das Lehrbuch richtet sich an Studierende der Bachelorstudiengängee zur Sozialen Arbeit, an Beruffsk s olleg__innen sowie an alle Leser_innen, die mehr über die Bedeutung des Älterwer e dens der Gesellschafft für die Soziale Ar A beit erfahren möchten. 2019, 328 Seiten, broschiert, € 24,955 ISBN 978-3-7799-3837-8 Auch als E-Book erhältlich www.juventa.de

JUVENTA

67


Jubelnde Schwestern Die „Jubelnden Schwestern“ bringen Schwung in Ihren Alltag! Postkarten „Jubelnde Schwestern“ und „Glückwunsch“ Staffelpreise: ab 1 Ex.: 1 Euro/Stück ab 30 Ex.: 90 Cent/Stück ab 50 Ex.: 80 Cent/Stück Nr. 16820 und Nr. 17876

„Jubelnde Schwestern“, Nr. 16820

„Glückwunsch“, Nr. 17876

Klemm-Mappe mit einer starken Dokumentenklemme Das über die Ecken gezogene Verschlussgummi hält den Inhalt zusammen und verhindert das Herausfallen von einzelnen Blättern. Die Mappe hat zusammengeklappt die Maße 25 x 32 x 2 cm. 9,99 EUR, Nr. 19848

Klappkarte mit passendem Umschlag Maße: 17 cm x 12 cm, gefertigt aus hochwertigem und stabilem Karton (280 g), Innenseiten blanko, beschreibbar 2 EUR, Nr. 19752

Twinbox Ob Stiftebox oder Spardose: Bei der Twinbox „Jubelnde Schwestern“ haben Sie freie Wahl! Maße: H|B|T = 8,5 cm x 8,5 cm x 11 cm 9,90 EUR, Nr. 31913

Praktischer Magnet, ein originelles Geschenk, fürs Büro oder für zu Hause. Maße: 54 x 80 mm 2,95 EUR, Nr. 16888

Formschöner, stabiler Kugelschreiber aus naturfarbenem Birkenholz mit Aufdruck: „Für ein solidarisches Gesundheitswesen!“ Blauschreibende, auswechselbare Mine 2,99 EUR ab 10 Stück je 2,50 EUR, ab 30 Stück je 1,99 EUR, Nr. 19826

Hocker „Jubelnde Schwestern“ Bei diesem innovativen Sitzmöbel kommt unser Lieblingsmotiv ganz groß raus! Stabile, umweltfreundliche Holzwerkstoffplatten (MDF), mit Schutzlack, bis max. 150 kg belastbar. Das bewährte Werkhaus-Stecksystem macht den Hocker zu einem trendigen und langlebigen Sitzmöbel – und auch als Beistelltisch macht er eine gute Figur. Maße: H|B|T = 42 cm x 29,5 cm x 29,5 cm 24,90 EUR, Nr. 31912

www.mabuse-verlag.de

Porzellantasse mit farbigem Aufdruck, spülmaschinenfest, Inhalt 300 ml 9,95 EUR, ab 10 Stück je 8,95 EUR, Nr. 31197

Tissue-Box Die Tissue-Box „Jubelnde Schwestern“ fällt ins Auge und ist bei Bedarf als trendiges und nützliches Wohnaccessoire schnell griffbereit. Maße: H|B|T = 9 cm x 26 cm x 14,5 cm. Zur Wandmontage geeignet. 11,90 EUR, Nr. 31914


Franz Renggli

Früheste Erfahrungen – ein Schlüssel zum Leben Wie unsere Traumata aus Schwangerschaft und Geburt ausheilen können

D

ie früheste Zeit im Leben eines Menschen – Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Babyzeit – entscheidet eigentlich alles. Auf ihr fußt der erwachsene Gesundheitszustand, Psyche und Persönlichkeit werden ebenso geprägt wie Beziehungsfähigkeit, Erleben und Verhalten. Zumindest die Geburt ist in aller Regel mit Schmerzen verbunden. Fast zwingend ergibt sich daraus die Annahme, praktisch jede/r, quasi unsere gesamte Gesellschaft, sei verletzt, krank und traumatisiert. Überspitzt lässt sich so der Ansatz von Franz Renggli beziehungsweise der von ihm vertretenen Psychologie und Psychotherapie rund um die Geburt formulieren. Man, vor allem aber Frau und Mutter, fühlt sich erschüttert, erkannt, ertappt, schließlich aber gleichermaßen entlastet für die eigenen Macken und irgendwo verantwortlich für die Traumata der Kinder. Die elterlichen Schuldgefühle scheinen dem Autor so geläufig, dass er gleich im ersten Kapitel feststellt: „Sie haben nichts falsch gemacht!“ Anschließend stellt er uns ein eher kleines Forschungsgebiet der Psychologie und Psychotherapie vor, welches sich mit den Einflüssen der Geburt und drumherum (prä- und perinatale Ereignisse) auf Erwachsene befasst. Erste psychoanalytische Annahmen zur vorgeburtlichen Lebensphase wurden schon vor etwa 100 Jahren beschrieben. Später folgten Theorien auf der Basis von Traumdeutungen, LSD-Experimenten und Ultraschallbeobachtungen. Renggli setzt hier mutig Ansätze verschiedenster Herkunft mit eigenen Ideen und therapeutischen Erfahrungen zu einem mehr oder weniger stimmigen Gedankengebäude zusammen. Die nächsten Kapitel widmen sich den Phänomenen Stress, Trauma und Schock im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt. Sie werden beschrieben als Bedrohungsreaktionen zunehmender Intensität bis hin zum Erleben unmittelbarer Todesnähe. Anders als Tiere, die die „Traumaenergie“ nach überstandenen tödlichen Gefahren „herauszittern“, könnten Dr. med. Mabuse 241 · September / Oktober 2019

sich Babys nicht entziehen und speicherten diese Erfahrungen im Körper. Laut Renggli weckt jede Stress erzeugende Situation, sei es Schulbeginn, Lampenfieber oder Heirat, dieses Urerleben. Zwar sei das Überstehen der Geburtsschmerzen und -ängste immer auch grundlegend für Selbstvertrauen und Optimismus, aber traumatische Wirkungen scheinen fast unausweichlich. Ursächlich sei vor allem die von drastischen operativen und medikamentösen Eingriffen geprägte Geburtspraxis unserer hoch entwickelten Gesellschaft. „Ursprüngliche“ Kulturen und alternative Ansätze bieten hingegen Optionen für den sanften, angst- und schmerzfreien Eintritt ins Leben. Im letzten Abschnitt gibt der Autor ebenso wie in den eingestreuten Fallbeispielen Einblicke in seine analytisch orientierte körpertherapeutische Praxis. Eindrucksvoll entwickelt er die Geschichten seiner Klienten als unbewusste (vor-)geburtliche Verletzungen. Ihre Heilung gelingt, wenn sie in Begleitung der Therapeuten und der Gruppe nachholen können, was sie damals gebraucht hätten. Wenn man vom Klappentext ausgeht – aktuelle Erkenntnisse der pränatalen Psychologie und Psychotherapie in leicht verständlicher Sprache – dann fehlt die kritische Auseinandersetzung mit Gegenpositionen zu den zitierten Referenzen. Zwischen psychoanalytischen Annahmen und empirischen Forschungsergebnissen anderer Disziplinen wird nicht sauber differenziert. Zu manchen Stichworten sucht man vergeblich nach schlüssigen Erläuterungen (wie schließt man beispielsweise von LSD-Experimenten auf pränatale Erfahrungen?), auch eine Diskussion möglicher Misserfolge und Risiken wäre eine sinnvolle Ergänzung. Insgesamt bietet das Buch aber einen interessanten und gut lesbaren Einblick in den von umfangreicher Erfahrung und einer grundsätzlichen Menschenliebe geprägten Ansatz prä- und perinataler Körperpsychotherapie des Franz Renggli. Dr. Alice Nennecke, Hamburg

Psychosozial-Verlag, Gießen 2018, 168 S., 19,90 Euro

rmationen 6.000 Affi 2116 drehen m u d im Han

.


64

Buchbesprechungen

Alisa Tretau (Hg.)

Nicht nur Mütter waren schwanger Unerhörte Perspektiven auf die vermeintlich natürlichste Sache der Welt

D

er Titel dieses Sammelbands ist ein wenig irreführend – schließlich geht es hier nicht nur um Schwangerschaften bei Personen, die nicht dem konservativen Verständnis von „Vater, Mutter, Kind“ entsprechen, also beispielsweise um Transpersonen, homosexuelle Paare oder Adoptivfamilien. Es geht um viel mehr: um unerfüllte Kinderwünsche, Frauenrollen, Langzeitstillen, Pränataldiagnostik, Abtreibung und Fehlgeburt, Wechseljahre, unheilbare Krankheiten und RassismusErfahrungen, um nur einige Themen zu nennen. Die Protagonist*innen und Autor*innen sind so vielfältig wie die Themen und das schlägt sich auch in der Sprache der einzelnen Kapitel nieder. So schreibt Herausgeberin Alisa Tretau im Vorwort von Geschichten aus einer „Vielfalt von Geschlechterkonstruktionen und Familienvorstellungen“, von denen „keine einzige dabei ist, die der von mir einst angestrebten Norm entspricht (…) Die hier versammelten Geschichten sind voller Leben: in ihnen existieren Tragik und Witz, Hoffnung und Enttäuschung neben- und miteinander.“ Das Buch fällt nicht hinter diese Ankündigung zurück. In drei Abschnitten (Wünsche – Katastrophen – Umgänge) werden grob die Situationen Kinderwunsch, Schwangerschaft und Elternsein aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Die Autor*innen widmen sich dem jeweiligen Inhalt in meist kurz gehaltenen Kapiteln, mal literarisch, mal als Interview, mal in Gedichtform. Untermalt sind die Texte immer wieder mit einfachen wie berührenden schwarz-weißen Illustrationen der Künstlerin Pia Eisenträger. Die Herausgeberin möchte vor allem vermitteln, dass alle im Buch versammelten Geschichten keine Spezialfälle sind, sondern Alltag. Egal, ob es der Wunsch nach Kindern oder nach Kinderlosigkeit ist, erst die Vielzahl der Perspektiven, Erfahrungen und Gefühle ermöglicht ein Verständnis der Komplexität dieser Wünsche. Sie selbst hat zu jedem Abschnitt

einen Text beigetragen, der immer denselben Titel trägt: „Für immer scheinschwanger“. Darin schildert sie ihre persönlichen Erfahrungen mit enttäuschtem Kinderwunsch, Neid auf andere Schwangere, Hoffnung, Frust und Verzweiflung. Sehr persönlich und manchmal wütend ist auch der Beitrag von Daniela Thielen mit dem trockenen Titel „Wir brauchen doch nur Sperma und Geld“. Es ist eine hindernisgespickte Geschichte rund um ein lesbisches Paar, das Kinder kriegen möchte, die gleichzeitig die (erschreckenden, wenn auch nicht verwunderlichen) juristischen Fallstricke und Benachteiligungen aufzeigt. Berührend liest sich das Kapitel von Naseku, die von ihrem Dasein als Pflegetochter und dem Leben zwischen alkoholabhängiger biologischer Mutter und Pflegemutter berichtet. Wenn Letztere dann ein eigenes Kind bekommt und Naseku ein zweites Mal von einer Mutter fallengelassen wird, steigen sicherlich einigen Leser*innen ein paar Tränen in die Augen. Wer diesen Sammelband liest, wird nicht nur mit großen, ehrlichen Emotionen und interessanten Anregungen zum Nachdenken belohnt, sondern kann sich den gesellschaftskritischen Fragen, die viele der Autor*innen stellen, kaum entziehen. Eine lohnenswerte und erkenntnisreiche Lektüre, für die man sich etwas Zeit nehmen sollte – zum Verdauen der teils emotional schweren Kost. Franziska Brugger, Psychologin (M.Sc.), Göttingen

edition assemblage, Münster 2018, 176 S., 14 Euro

Lorrie Greenhouse Gardella

Louis Lowy Sozialarbeit unter extremen Bedingungen

L

ouis Lowy (1920–1991) ist den meisten deutschen SozialwissenschaftlerInnen, PädagogInnen und SozialarbeiterInnen heute durch seinen Beitrag zur Gruppenarbeit bekannt. Wie umfassend aber sein wissenschaftliches und sein Le-

benswerk tatsächlich ist – seine Beiträge zur Sozialen Arbeit mit Älteren, zur Gemeinwesenarbeit, zur Supervision, um weitere wichtige Felder zu nennen –, wird häufig übersehen. Lowy gehört zu den vergessenen SozialarbeiterInnen und SupervisorInnen der ersten Generation nach 1945, ohne deren Arbeit ein demokratischer Wiederaufbau des vom Nationalsozialismus infizierten Fürsorgesystems überhaupt nicht denkbar gewesen wäre. Seine Bedeutung für eine Theorie schulischer Sozialer Arbeit und eine Theorie der Inklusion ist ebenso wenig anerkannt, wie viele seiner Gedanken und Entwürfe noch auf weitere wissenschaftliche Bearbeitung warten. Es ist deshalb von großer Bedeutung, dass die US-amerikanische Professorin für Soziale Arbeit Lorrie Greenhouse Gardella und eine Reihe deutscher Kollegen wie Joachim Wieler, Klaus Martin Ellerbrock und Heidrun Stenzel diese Person und ihr Lebenswerk nun dem Vergessen entreißen, andres als es bei so vielen Intellektuellen und Reformern jüdischen Glaubens und Verfolgten des Naziregimes der Fall war. Es ist Teil der Verantwortung der Deutschen und vor allem der jüngeren Generation von Sozialwissenschaftlern und Theoretikern zu verhindern, dass die Beiträge jüdischer Wissenschaftler ausgelöscht werden. Gardella hat das Buch in einem narrativen Ton verfasst, sodass es gut und flüssig zu lesen ist. Die LeserInnen werden so mitgenommen auf den Lebensweg eines wichtigen Sozialarbeitswissenschaftlers und praktischen Sozialarbeiters. Das Buch verbindet zudem die soziale und historische Zeit mit Lowys persönlichen Lebensereignissen und Entscheidungen. Auch dies macht den Stoff leserlich und verständlich. Und gerade die regelmäßigen Bezüge vor allem zur Entwicklung des Holocausts und zur Politik der Nationalsozialisten sind sehr eindrücklich. Wie ein roter Faden zieht sich dabei die Bedeutung von Bildung, Wissen, Moral und Einfühlung für die Menschenwürde, aber auch für den Widerstand durch die Kapitel des Buches. So zeigt die Autorin, dass Lowy die traumatischen Bedingungen des Ghettos Theresienstadt und des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau nicht nur körperlich überlebt hat, sondern er seine Persönlichkeit im Kern bewahren konnte. Das hat mit seiner Fähigkeit zu tun, sich auch unter ExtremDr. med. Mabuse 241 · September / Oktober 2019


Buchbesprechungen

Lambertus-Verlag, Freiburg i. B. 2019, 224 S., 26 Euro

Eric Pfeifer (Hg.)

Natur in Psychotherapie und Kßnstlerischer Therapie Theoretische, methodische und praktische Grundlagen (2 Bände)

F

ragen nach dem Zusammenhang von Natur und Gesundheit haben Konjunktur. Nun ist ein Sammelband erschienen, der auf 933 Seiten schulenßbergreifend und hierarchiefrei eine Vielzahl von therapeutischen Ansätzen aus der ganzen Welt erfasst, in denen Natur eine wirksame Rolle zukommt. In alphabetischer OrdDr. med. Mabuse 241 ¡ September / Oktober 2019

www.klett-cotta.de/fachbuch

NEU

172 Seiten, broschiert ₏ 20,– (D) ISBN 978-3-608-89235-2

nung reichen sie von „Environmental and nature-based creative arts therapies“ bis „Psychoanalyse und Tiefenpsychologie“ im ersten Teilband und von „Existenzanalyse, Logotherapie, Initiatische Therapie und Verhaltenstherapie“ bis zu „Verhaltenstherapie und tiergestĂźtzte Therapie“ im zweiten. 35 der 51 Beiträge sind auf Deutsch verfasst, die Ăźbrigen auf Englisch. Es zeigt sich, dass es in allen gängigen kĂźnstlerischen Therapien wie Musik-, Tanz- und Kunsttherapie sowie Psychodrama u.v.m. jeweils auch Arbeitsformen gibt, die „Natur“ auf die eine oder andere Weise einbeziehen. Stellenwert und Begriff von Natur sind dabei hĂśchst heterogen. Gleiches gilt fĂźr die Auffassung von (psychischer) Gesundheit und die daraus abgeleiteten Handlungsmaximen sowie die grundsätzlichen Ziele der Therapien und das Selbstverständnis der TherapeutInnen. Konkret reicht der Naturanteil in den vorgestellten Therapien etwa von bloĂ&#x; imaginierter Natur und dem Ă–ffnen eines Fensters Ăźber den Einsatz von Naturmaterialien in kreativen Arbeiten hin zu Spaziergängen und zur Verlegung des musikoder kunsttherapeutischen Settings nach drauĂ&#x;en. Weiterhin fassen einige AutorInnen therapeutische und umweltpädagogische Ideen in einem Ansatz zusammen. Am anderen Ende des Spektrums finden sich zwei dezidiert naturtherapeutische Schulen: Nature Therapy (Berger, Naor & Mayseless, Nevo) und Systemische Naturtherapie (Kreszmeier). Was die Autoren erstgenannter Schule in Zukunft noch anstreben, ist eine konzeptionelle Vereinheitlichung verschiedener PraxisstrĂśmungen, die eine Lehrbarkeit ermĂśglichen wĂźrde. DemgegenĂźber ist die Systemische Naturtherapie unter den vorgestellten Schulen die weitestgehende. Sie lässt KlientInnen unmittelbar mit Natur in Kontakt kommen und stellt fĂźr die Begleitung und Intervention Grundannahmen und Modelle zur VerfĂźgung, die lehrbar sind. Während der GroĂ&#x;teil der AutorInnen Natur im Rahmen der je eigenen Spezialisierung einbezieht und konzeptionell zu fassen sucht, liegt hier eine konsistente Naturtherapie vor. Erfreulicherweise verleiht der Sammelband der vielfältigen therapeutischen Praxis und ihrer fachlichen Grundlegung und Methodik mehr Gewicht als einem rein akademischen Zugang. So klingt auch die grundsätzliche Frage der Erklärbar-

Hartwig Hansen Lieben ist schĂśner als Siegen Paartherapie live in 100 SchlĂźsselsätzen Paartherapie konkret und kompakt â€“ die 100 SchlĂźsselsätze in diesem Buch demonstrieren anschaulich das Prinzip: kleine Intervention, gezielte Wirkung. Sie bilden die Essenz von zwanzig Jahren Praxiserfahrung des Autors.

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe

346 Seiten, gebunden ₏ 28,– (D) ISBN 978-3-608-96458-5

bedingungen nicht „in ein StĂźck Fleisch“ verwandeln zu lassen und menschlich zu bleiben – dabei halfen ihm seine Bildung, sein Wissen, sein Geist. Aus diesen extremen Erfahrungen des totalen Terrors hat Lowy Prinzipien demokratischer Sozialer Arbeit entwickelt und praktiziert. Schon im KZ unterrichtete er – trotz permanenter Todesdrohungen – Kinder, um sie auf ein Leben in der Demokratie vorzubereiten. Denn er war der Ansicht, dass es unter extremen psychologischen Bedingungen wichtiger ist, seine Menschlichkeit zu bewahren als physisch zu Ăźberleben. Im Prinzip war fĂźr Lowy die Seele wichtiger als der KĂśrper. Das Buch basiert auf insgesamt 16 Stunden aufgezeichneter autobiografischer Erzählung und ist in acht Kapitel aufgeteilt. Eine weitere Bearbeitung seines umfassenden wissenschaftlichen Werkes ist in dieser Biografie nicht vorhanden und bleibt weiterer Forschung vorbehalten. Der unbedingte Wert des Buches liegt aber darin, dass mit Lowy ein weiterer Sozialarbeiter mit jĂźdischen Wurzeln vor dem Vergessen bewahrt werden konnte. Dazu allein sollte es von Studierenden der Sozialen Arbeit, (FrĂźhkind-)Pädagogik, Pflege sowie in der Lehrerbildung, den Sozialwissenschaften und von BeraterInnen gelesen werden. Prof. Dr. Katharina GrĂśning, Universität Bielefeld

Weiss, Harrer, Dietz Das Achtsamkeitsbuch Grundlagen, Ăœbungen, Anwendungen Auf der Basis langjähriger Erfahrungen zeigen die Autoren, wie Achtsamkeit im täglichen Leben zu einem freundlicheren, mitfĂźhlenden und fĂźrsorglichen Umgang mit sich selbst beitragen kann. ÂťDie gewonnene Klarheit, Gleichmut und Konzentration bereichern das Leben und mindern den Alltagsstress.ÂŤ STERN Gesund Leben

Blättern Sie online in unseren Bßchern und bestellen Sie bequem und versandkostenfrei unter: www.klett-cotta.de

65


66

Buchbesprechungen

keit und Messbarkeit menschlicher Erfahrungen an. Ein Beitrag verweist ausdrücklich auf die Grenzen empirischer Wissenschaft auch in der Psychotherapie und betont (in Anlehnung an Karl Jaspers), dass zur Erforschung des Menschen neben naturwissenschaftlicher Betrachtung auch „philosophische Existenzerhellung“ notwendig sei (Zimmermann). Hier ließe sich weiter gehen: Generell wäre es wünschenswert, dass in der fachlichen Selbstverständigung ein phänomenologisches Vorgehen wieder verstärkt Einzug hielte, also das Verfahren der Beschreibung unter Einbeziehung jeglicher Erfahrung. Fazit: Von einem Handbuch – ein Begriff, mit dem der Herausgeber im Vorwort kokettiert – lässt sich zwar nicht sprechen, doch von einem wichtigen Werk, das Natur und psychische Gesundheit zum Thema macht und therapeutische Ansätze dazu versammelt. Insofern stellt es eine reiche Fundgrube für alle KollegInnen dar, die in diesen Bereichen arbeiten und Inspiration für ihre Praxis oder deren fachliche Basis suchen. TheoretikerInnen wiederum bietet es ausführliche Einblicke in die Methodik und Konzeptionen naturtherapeutischer Vorgehensweisen. Und schließlich markiert es einen begrüßenswerten Ausgangspunkt zur Erweiterung der öffentlichen Diskussion zum Zusammenhang von Natur und Gesundheit. Dr. Bettina Grote, Systemische Prozessgestaltung, Berlin

Psychosozial-Verlag, Gießen 2019, 933 S., 99 Euro

Burkhard Plemper

... und nichts vergessen?! Die gesellschaftliche Herausforderung Demenz

D

as Alter birgt verschiedene Facetten, Demenz kann eine davon sein. Häufig ist in dem Zusammenhang die Rede von Demenz als einer Herausforderung. Aber ist es wirklich eine oder liegt es nicht vielmehr an der Reaktion des Gegenübers, wie die Demenz erlebt und wahr-

genommen wird? Stetig wachsen die Sorgen und Ängste über Demenz. Fraglich ist, ob es sich hierbei um die Realität oder nur um eine medial erzeugte Wirklichkeit handelt. Zudem assoziieren viele Menschen Hilflosigkeit, Belastung und Unzufriedenheit mit Demenz. Nicht selten wird diese dämonisiert und als etwas deklariert, vor dem man Angst hat, sich gar bedroht fühlt. Wie dies zustande kommt, ist auch für den Autor dieses Buches unerklärlich. Burkhard Plemper ist Soziologe, freier Journalist, Filmemacher und Moderator für Hörfunk- und Fernsehredaktionen sowie zahlreiche Veranstaltungen und Kongresse. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema Demenz und hat im Rahmen seiner Tätigkeit schon unzählige Interviews geführt, Eindrücke gesammelt und Informationen zusammengetragen. Einiges davon vereint er in seinem Buch: In 18 Kapiteln stellt er allgemein verbreitete Bilder und Zuschreibungen zum Thema Demenz vor, veranschaulicht diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln und stellt sie infrage. Im Fokus stehen stets die gesellschaftlichen Reaktionen. Zahlreiche Interviewausschnitte verdeutlichen, welche Erfahrungen Betroffene, Angehörige, Mediziner, Psychologen, Sozialarbeiter u. v. m. mit Demenz machen, zusätzlich werden einzelne Persönlichkeiten, darunter auch die Demenzaktivistin Helga Rohra, detaillierter vorgestellt. Deutlich wird, dass Altern zwar menschlich ist, alte Menschen zu versorgen jedoch eine sozialpolitische Herausforderung. Dies kann nicht nur die Aufgabe von professionellen Pflegekräften und Angehörigen sein. An verschiedenen Stellen weist der Autor darauf hin, dass Menschen mit Demenz nicht auf Defizite reduziert werden sollten, dass Rückzug der falsche Weg sei und sich sowohl die Betroffenen als auch die Angehörigen häufig allein gelassen fühlen. Um dem zu begegnen, sei Integration gefordert. Es gehe um Akzeptanz, Anerkennung, Respekt, Teilhabe und die Förderung der Selbstbestimmung. Daneben werden Themen wie die Wahrung der Rechte von Menschen mit Demenz, die Patientenverfügung und die wirtschaftliche Ausnutzung der Angst vor der Demenz problematisiert. Insgesamt weist Plemper darauf hin, dass ein menschenwürdiges Leben mit Demenz möglich ist und es „nicht um die Utopie einer Gesellschaft ohne Demenz

(geht), sondern um Versuche mit ihr zu leben“ (S. 7). Um dies zu verdeutlichen, stellt er verschiedene Projekte und Konzepte vor, u.a. das „Nachbarschaftsprojekt“, die Demenzfreundliche Kommune, ein Demenzdorf und die Demenz-WG. Es geht um bedarfsgerechtes Wohnen, darum die Umgebung demenzfreundlich zu gestalten, zu informieren, aber vor allem auch zu sensibilisieren. Übrigens bietet auch das Theater eine gute Möglichkeit, der Gesellschaft das Thema Demenz näherzubringen. Das Buch ist gesellschaftskritisch, aufrüttelnd, regt zum Mitfühlen und Nachdenken an. Es hinterfragt die Alltagsbilder zu Demenz und schafft so neue Reflexionsräume zum Überdenken bisheriger Handlungsweisen. Untermauert werden diese durch die gesellschaftlichen Reaktionen, die lebensweltlichen Erfahrungen, teilweise aber auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse. Der Leser bekommt so einen guten Rundumblick. Wer selbst bereits Erfahrungen mit Menschen mit Demenz gemacht hat, dem werden einige Erzählungen, Reaktionen der Umwelt und Umgangsweisen bekannt vorkommen. Leider war die Lektüre zum Teil sehr anstrengend. Die für das Buch so wichtigen Interviewausschnitte sind so zahlreich, dass sie manchmal mehr verwirren und den Lesefluss stören. Gleichzeitig sind es gerade diese Erzählungen, die das Buch interessant machen. Der kritische Schreibstil ist hingegen sehr erfrischend. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird uns das Thema Demenz künftig vermutlich in einem noch stärkeren Maße beschäftigen als heute. Entsprechend wichtig ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung damit, wie ein Leben mit Demenz noch besser gelingen kann. Dieses Buch bietet eine sehr gute Grundlage hierfür! Carina Schiller, M.A., Erziehungswissenschaftlerin und Doktorandin der Universität Bielefeld

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018, 288 S., 20 Euro

Dr. med. Mabuse 241 · September / Oktober 2019


Buchbesprechungen

Helmut Milz

Der eigen-sinnige Mensch Körper, Leib & Seele im Wandel

E

s ist ein erstaunliches Buch, das Helmut Milz, Facharzt für psychosomatische Medizin und Allgemeinmedizin, gerade publiziert hat. Es geht um nicht weniger als um die Beantwortung der Frage, wie sich Erleben und Verstehen des menschlichen Körpers während der vergangenen Jahrhunderte verändert haben. Er zeigt, wie sich die sinnlichen Erfahrungen im Rahmen der neurobiologischen Forschung mehr und mehr zu messbaren elektrischen Impulsen gewandelt haben. So wird heute mit einem Mikrogramm mehr oder weniger Serotonin in unserem Gehirn eine Depression erklärt und die entsprechende therapeutische Intervention begründet. So wichtig die Neurobiologie als wissenschaftliche Disziplin sein mag, so wichtig ist es gleichzeitig, die menschlichen Sinne nicht gering zu schätzen. Es muss eine Verbindung zwischen gewachsenen Erfahrungen und aktuellen Erkenntnissen in der Medizin und ihrem Umgang mit PatientInnen hergestellt werden. Die Kapitel haben mit unseren wichtigsten „eigenen Sinnen“ bzw. den Funktionsbereichen unseres Körpers zu tun. Es geht um das Berühren, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen. Die weiteren Kapitel handeln vom Herzen, vom Atmen, unserem Nervengeflecht, dem Bauch(gefühl), von den Knochen, der Muskelkraft und schließlich vom inneren Fluss des Lebens. In jedem der etwa 20- bis 30-seitigen Kapitel wird erläutert, was es mit den jeweiligen Sinnen, auch in einer kurzen historischen Betrachtung, auf sich hat und wie sie sich im Laufe der Zeit (auch im Blick der Wissenschaft) entwickelt haben: So geht es etwa im ersten Kapitel zur Hand von ärztlicher und therapeutischer Berührung bis hin zum Händedruck als Kommunikationsmittel, der uns Menschen auch mit unseren Sinnen einordnen lässt. Beim Schmecken geht es dann um die Metaphern des Geschmacks – „süß“ als Beschreibung von Wohlgeschmack und Freude, Liebe und sogar Rache, bei „salzig“ wird der Zusammenhang in der Bergpredigt angesprochen („Ihr seid das Salz der Erde“), aber auch die zusätzliche Gratifikation römischer Legionäre, die zu ihrem Dr. med. Mabuse 241 · September / Oktober 2019

Sold zusätzlich Salz als Lohn erhielten, daher der Begriff „Salär“ (lat. Salarium). Das Hören wiederum hat gerade in der Psychotherapie einen wichtigen Platz. Denn es gibt keine technischen Apparaturen, um die persönlichen Gespräche mit den Klienten zu objektivieren. Daneben gibt es aufseiten der TherapeutInnen die Supervision, die ebenfalls mit Sprechen und Hören bei erfahrenen KollegInnen zu tun haben. Die Entwicklung im Umgang mit unseren Sinnen und Sinneserfahrungen wird von Milz durchaus mit kritischer Distanz begleitet. Einerseits wird es kaum verhinderbar sein, dass sich die Entwicklung einer computergestützten, immer tiefer in das menschliche Gehirn eindringenden Entschlüsselungswissenschaft aufhalten lässt. Anderseits lassen sich dadurch aber intuitiver Spürsinn, Bauchgefühl, Empfindungen des Herzens und vor allem der Gemeinsinn der Menschen nicht verdrängen, weil sie sich einer objektiven Messbarkeit entziehen. Ein „gelingendes Leben“ ist auch im Spiegel dieser Sinnesempfindungen zu erklären und zu entwickeln, messbare elektrische Impulse sind dabei weder sinnstiftend noch erklärend. Dies sollte auch bei den digitalen Selbstoptimierungsprogrammen bedacht werden, da hinter all den anfallenden Daten Interessen zu vermuten sind, die entweder für Geschäftemacherei oder technische Kontrolle genutzt werden. Das Buch von Milz ist ein ausgesprochen lesenswertes und gelungenes Manifest zur Bedeutung eines wohlverstandenen „Eigensinns“, der für uns Menschen auch eine unverwechselbare Individualität in unserem (Er-)Leben bedeutet. Die einzelnen Kapitel zeigen aber auch die Veränderbarkeit der menschlichen Sinne im Laufe der Zeit, etwa durch kulturelle, gesellschaftliche und wissenschaftliche Einflüsse. Das – übrigens auch noch optisch schön gestaltete – Buch hilft uns zu erkennen, warum dies ein lohnender Weg ist. Ich habe dieses Buch gern gelesen und möchte es allen ans Herz legen, die mit wachen Sinnen ihr Leben gestalten wollen. Prof. Dr. Gerd Glaeske, Universität Bremen

TRAUER UND BEGLEITU NG

Ein Mut machendes Buch füür die Elterntrauerbegleitung 2019. 128 Seiten, kartoniert € 17,00 ISBN 978-3-525-45909-6

Grundlagen der Seelsorgee in klinischen Einrichtunggen 5., überarb. und erw. Auflage 2019. 6000 Seiten, mit 8 Abb. und 5 Taab., kartoniert € 45,00 ISBN 978-3-525-61626-0

Arzt und Patient: Gemeinssam Lösungen erarbeiten

2019. 296 Seiten inklusive Downloadmaterial, kartoniert ca. ca € 40,00 0 00 ISBN 978-3-525-40394 -5

vdn.hk/Psychologie

AT Verlag, Aarau/München 2019, 340 S., 38 Euro

67


68

Buchbesprechungen

Hartwig Hansen

Lieben ist schöner als Siegen Paartherapie live in 100 Schlüsselsätzen

U

Genau hinschauen – entschieden handeln Menschen ins Gespräch bringen über Rassismus und Diskriminierung Für die Gruppenarbeit mit Menschen ab 14 Jahren Geeignet für Jugendarbeit, Bildungsarbeit, Schule und Train the Trainer Entwickelt vom IDA e.V. (Inffo ormations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit)

Reflexionswissen durch fünf Perspektiven Begriff ffe Rassismuskritische Ansätze und Methoden Zitate Daten und Zahlen Beispielsituationen Booklet mit Erläuterungen zum pädagogischen Gebrauch und Begriffserklärungen

RA SS IS US KR ITTIIS M U CH C H AN SÄ S TZ E E U D UN M ET HO DE N

Diverrsit s ätsb ewusst sein

Unter Div ersittä äts tsb be ew Berücks wu ussstsein ichtigun versteht ngg der unter man die Viel er ande elffal altt einer rem in rG i Bezu Gesells ti rung, tie g au cchaft uff die se Herk kunft, Re xuelle Or das Al eliligggio Alterr. Die ion on ienn, Behin hi nd da d de d rung mi m t jjew Voro und und eils ein Na acch he hte teiile rg rgehe le in d h nden ste tettss mi der Gese tgedach lls chaft so t werde alss P llen Po ote n. D n t nzial Die V iel ielffal wahrrg altt wi rge ge g nomm wird da respektv be b enen un ei ollles es Z Zusa d es so am hung de mm me en ll ein nle leb e eb r untersc be e en n unte ter E hiedlich lic Einbezie iccht we en n Leben rden n. sla l gen erm ög-

105 Karten mit einem ausführlichen Booklet Format: 13,3 x 17,1 x 3,2 cm € 29,95; Bestell-Nr. 4019172400002 www.juventa.de

JUVENTA

nter dem Titel „Lieben ist schöner als Siegen“ ist in der Klett-Cotta-Reihe „kurz & wirksam“ ein neues Buch des Hamburger Familientherapeuten und Verlegers Hartwig Hansen erschienen: ein Praxisratgeber für die Paartherapie, in dem 100 bewährte Interventionen anhand von Schlüsselsätzen vorgestellt werden. Zum Einstieg stellt Hansen sein Konzept der vier großen A der (Paar-)Beratung vor – eine Art innerer Kompass für das Vorgehen in der Beratung. Die vier A sind: Ankoppeln bzw. Anschließen an das, was die Ratsuchenden sagen; am Auftrag arbeiten; durch Interventionen Aufmerksamkeit fokussieren und im Verlauf immer wieder die Auswirkungen überprüfen. Beim anschließenden Beschreiben der Schlüsselsatzinterventionen macht er immer wieder sichtbar, welchem Kompassbereich sie zuzuordnen sind und wie er den Kompass nutzt, um zu entscheiden, mit welchen Interventionen er auf die jeweils präsentierten Themen reagiert. Im Anschluss an einen unterhaltsamen Blick auf die wechselnden Rollen, die er im Verlauf einer Paarberatung einnimmt – Tourguide, Archäologe für Herkunftsfamilien und Beziehungsvorerfahrungen, Floskeldetektiv, Beziehungslotse, Brückenbauer und Dolmetscher, Anbieter von Vorschlägen u.v.m – werden dann in sieben Kapiteln die hundert Schlüsselsatzinterventionen vorgestellt. Jeder Schlüsselsatz ist eingebettet in eine kleine Live-Gesprächssituation, die aus der Perspektive des Autors erzählt wird. So guckt der Leser ihm quasi beim Arbeiten über die Schulter und in den Kopf hinein. So wird der innere Prozess bei der Auswahl der Intervention und deren Wirkung auf das jeweilige Paar „hautnah“ miterlebt. Mit diesem Kunstgriff verdeutlicht Hansen gleichzeitig, wie er die Bühne für seine Intervention bereitet und den angestoßenen Prozess dann weiter begleitet, wodurch er auch die normalerweise unsichtbaren Bestandteile gelingender Interventionen sichtbar machen kann. Dadurch, dass die einzelnen Interventionen fast wie in einem klei-

nen Film dargestellt werden, werden sie so anschaulich und nachvollziehbar, dass es ein leichtes ist, sie zu übernehmen und selbst anzuwenden. Die Kapitel orientieren sich grob am Verlauf eines Beratungsgesprächs – so werden im ersten Kapitel Interventionen fürs Anfangen und zur Auftragsklärung vorgestellt, im letzten hingegen Schlüsselsätze für den Abschluss und die Phase zwischen den Terminen. Dazwischen gibt es Kapitel zur Arbeit mit Sprache und Kommunikation zwischen den Partnern, zum Erforschen der gegenseitigen Erfahrung und Herkunftsfamilien, ein Kapitel mit „Notausgängen“ für schwierige Momente und eines mit psychoedukativen Inputs und Ideen. Jede Gesprächssequenz ist mit sorgfältigen Querverweisen zu anderen möglichen Interventionen versehen, wodurch verschiedene Alternativen zur Arbeit mit typischen Paarthemen und Kommunikationsmustern sichtbar werden. All diese Details tragen dazu bei, dass die hier vorgestellten Interventionen leicht in die eigene Praxis übertragen werden können. Mit 172 Seiten und einem kleinen Format ist es ein „Büchlein“, das schnell gelesen und dank der klaren Struktur und der Live-Sequenzen sehr praxisnah und anschaulich ist. Gleichzeitig ist es ein gelungenes und sehr lebendiges „Destillat“ aus gelebter Beratungserfahrung, in der man stöbern, sich anregen lassen, auswählen, ausprobieren kann – um das zu übernehmen, was in die eigenen Beratungssituationen und zum eigenen Beratungsstil passt. Als Familientherapeutin, die überwiegend mit Eltern-Kind-Konstellationen arbeitet, finde ich in dem Buch viele hilfreiche und leicht umzusetzende Anregungen, wie ich die dabei auftauchenden Paarthemen aufgreifen und wirkungsvoll begleiten kann. Steffi Reinders-Schmidt, Dipl.-Sozialpädagogin, www.reinders-schmidt.de

Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 172 S., 20 Euro

Dr. med. Mabuse 241 · September / Oktober 2019


Buchbesprechungen

Mein Bauch gehört mir – noch lange nicht

I

n Deutschland wird seit drei Jahren wieder über Abtreibungen diskutiert. Durch die angenommene Klage gegen die Gießener Ärztin Christina Hähnel in Hinblick auf den § 219a, der Werbung für Abtreibung verbietet, mit weiteren Prozessen in Kassel und Berlin in der Folge. Zwar wurde § 219a im Januar 2019 abgeändert, doch es ist noch fraglich, ob dies wirklich die Situation befriedet. Sich als Lebensschützer bezeichnende Abtreibungsgegner stehen Menschen gegenüber, die Abtreibungen durchführen, die das aktuell gültige Verfahren der Abtreibung in Deutschland kritisieren und Menschen, die der Auffassung sind, dass Abtreibung nichts im Strafrecht zu suchen hat. Wie wird Abtreibung in anderen Ländern gehandhabt, welche gesetzlichen Regelungen gibt es, wie verlaufen dort die Diskurse, welche Argumente werden andernorts für oder gegen Abtreibung von wem ins Feld geführt? Darüber erfahren wir im aufgeregten aktuellen Diskurs viel zu wenig. Daher ist es ein gesellschaftliches Verdienst des Wagenbach-Verlags, diese Publikation aus Australien ins Deutsche übersetzt und herausgegeben zu haben. In Australien ist, in der Folge des Abortion Act von 1967 in Großbritannien, Abtreibung nicht mehr strafbar und bis zur 24. Schwangerschaftswoche erlaubt. In der Bundesrepublik Deutschland wurde hingegen in den 1970ern die Abtreibungsregelung medikalisiert, in der DDR war die Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft erlaubt. Die gelockerte Regelung in Australien, Neuseeland und Kanada hat die argumentative Aufmerksamkeit der Abtreibungsgegner/Lebensschützer vom Wohl des Fötus auf das vermeintliche Weh der abtreibenden Frau verlagert. Das sogenannte Post-Abortion-Syndrom, eingedeutscht als Post-Abtreibungs-Syndrom bezeichnet, soll erklären, warum sich Frauen nach einer Abtreibung schlecht, traurig, beschämt, miserabel fühlen. Und um Frauen dies zu ersparen, sollten Abtreibungen verhindert werden (die postpartale Depression wird dabei ebenso wenig als Vergleichssyndrom herangezogen wie das mögliche Gefühlsspektrum nach einer Adoptionsfreigabe). Dr. med. Mabuse 242 · November / Dezember 2019

www.klett-cotta.de/schatta auer

Claas-Hinrich Lammers Gunnar Eismann

Bin ich ein Narzisst? Oder einfach nur sehr selbstbewusst??

NEU Mit Selbsttest und vielen Beispielen

Reih e Wis s e n & L e b e n 2019. Ca. 170 S eit e n, K l ap p e nb ros c hur € 20,– ( D ) . I SB N 978 - 3 - 608 - 40 024 - 3

Happy Abortions

Ziel dieser Publikation ist es aufzuzeigen, wie die Entscheidung für eine Abtreibung und die Gefühlswelt der Frau in den vergangenen fünfzig Jahren aus verschiedenen Blickrichtungen dargestellt wurden. Dazu führt uns Erica Millar vor Augen, wie der emotionale Möglichkeitsraum für Frauen nach ungewollter Schwangerschaft auf Gefühle wie Scham und Schuld eingeengt wird, mit einer sich dazugesellenden vermeintlichen Verantwortungslosigkeit. Verantwortung und Verpflichtung für das eigene Wohl, das Wohl der Familie und das Wohl der Nation lasten auf der Frau, die sich nicht befreit fühlen darf nach einer Abtreibung. Der Versuch, aus der Position der Rechtfertigungslosigkeit ein anderes Abtreibungsnarrativ zu erzählen, konnte sich bislang nicht durchsetzen. Der Begriff der ungewollten Zeugschaft bei Männern mit einem vergleichbar psychopathologischen Bezeichnungsraum ist in der gesellschaftlichen Debatte nicht vorhanden. Millar zeigt auf, dass auch hier Sprache und Begriffe machtvoll eingesetzt werden: Wird von einer Mutter mit einem Baby im Bauch gesprochen oder von einer Schwangeren und einem Embryo oder Fötus? Der Begriff „Baby“ deutet auf etwas Schützenswertes hin, dem jedoch durchaus schon autonome Qualitäten zugesprochen werden können. Kritik kommt aus der Queer Community, die darauf hinweist, dass es eben nicht nur Frauen gibt, die schwanger sein oder werden können, sondern auch trans-Menschen, die als Mann oder anders gelesen werden wollen. Das mag Vielen verschwurbelt vorkommen. Doch geschieht etwas mit einer Diskussion, wenn nicht immer nur von Frauen, sondern von Menschen gesprochen wird. Hier wird vermeintlich weiblich konnotierte Verantwortung breiter verteilt. Abtreibung ist zwar statistisch normal, eine von drei Frauen wird einmal in ihrem Leben eine Abtreibung vornehmen lassen, aber Abtreibung ist noch weit davon entfernt normativ zu sein. Abtreibungspolitik ist heute Kulturpolitik. Die „Freiheit der Entscheidung“ wird von Millar entlarvt als eine neoliberale Konstruktion von Politikern in Industrieländern, wo Frauen die Entscheidungsfreiheit haben – abzutreiben oder nicht. In vielen Ländern der Welt ist Abtreibung immer noch strafbar und wird unter schlechten gesundheitlichen Bedingungen illegal

Claas-Hinrich Lammers, Gunnar Eismann

Bin ich ein Narzisst? Oder einfach nur sehr selbstbew wusst? Narzissmus ist in aller Munde, es heißt, die Gesellschaf t würde immer narzisstischer. Aber was bedeutet das eigentlich, was zeichnet einen Narzissten aus und sind narzisstische Persönlichkeitszüge immer negativ?

NEU

Reih e Wis s e n & L e b e n 2019. Ca. 368 Seiten, Klappenbroschur, mit zahlreichen Abbildungen € 20,– ( D ). ISBN 978 - 3 - 608 - 40029- 8

Erica Millar

Manfre d Spitzer

Musik, Meditation und Mit telmeerdiät Miniaturen zu Geist, Gehirn und Gesundheit Neurowissenschaf tler und Bestseel lerautor Manfred Spitzer stellt Ihnen spannende neurowissenschaf tliche h und psychologische Fragen und ihre faszinierenden Ant worten vor. Wie untersucht man meditierende Mäuse und was erfährt man dadurch über Neuroplastizität ? Warum gibt es eigentlich Musik und was hat Dar win dazu zu sagen? Sind Schlipsträge g r kognitiv beeinträchtigt ?

61


62

Buchbesprechungen

durchgeführt. Was in der westlichen Hemisphäre eingeengt wird, ist das Emotionsspektrum. Das in fünf Kapitel und ein Fazit gegliederte Buch lässt sich trotz seiner wissenschaftlichen Perspektive gut lesen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) fordert fünf Millionen Euro für ein Forschungsprojekt zum Post-AbtreibungsSyndrom. Dieses Buch kostet 22 Euro und hat alle relevanten Studien aus dem englischsprachigen Raum kritisch aufbereitet. So können Steuergelder sinnfälliger eingesetzt werden. Marion Hulverscheidt, Ärztin und Medizinhistorikerin, Kassel

Wagenbach Verlag, Berlin 2018, 224 S., 22 Euro

Anke Bramesfeld, Manfred Koller, Hans-Joachim Salize (Hg.)

Public Mental Health Steuerung der Versorgung für psychisch kranke Menschen

D

er Sachverständigenrat im Gesundheitswesen hat sich in seinem Gutachten 2018 auch mit der koordinierten Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen beschäftigt. Genauer müsste man wohl sagen, mit ihrer unkoordinierten Versorgung. Das Urteil des Sachverständigenrats ist unmissverständlich: „Die Angebotsstrukturen im Versorgungssystem für psychisch erkrankte Menschen sind insgesamt fragmentiert und unübersichtlich.“ Notwendig sind also mehr Koordination – und als Voraussetzung dafür mehr Transparenz über die Versorgungssituation. In die gleiche Richtung argumentiert das im Februar 2019 erschienene Schwerpunktheft des Bundesgesundheitsblatts „Versorgung psychischer Störungen in Deutschland: Kooperation, Vernetzung, Integration“. Das Buch „Public Mental Health“ von Bramesfeld et al. ist ein Beitrag zur Linderung der Unübersichtlichkeit dieses Versorgungssegments. Es beginnt mit Übersichtsbeiträgen zur psychischen Gesundheit der Bevölkerung sowie zur Versorgung und stellt dann Steuerungsmöglichkeiten aus der Sicht einzelner Akteure dar. Zu

Wort kommen der Bund, Nordrhein-Westfalen stellvertretend für die Länder, die Kommunen, die Krankenkassen, die kassenärztlichen Vereinigungen, die Allgemeinmedizin, die Krankenhäuser und die Selbsthilfe. Ein Fazit der HerausgeberInnen mit Empfehlungen schließt den Band ab. Man erfährt viele Details aus der jeweiligen sektoralen Perspektive und hier liegt – neben den einführenden Übersichtsdarstellungen – auch die Stärke des Buchs. Diese sektoralen Perspektiven sind aber zugleich auch seine Schwäche. Die Autoren dieser Kapitel sind durchweg Praxisvertreter und ihr Blick ist teilweise sehr durch ihre spezifische „Akteursbrille“ geprägt. Die psychotherapeutische Versorgung kommt beispielsweise so gut wie gar nicht vor – aus diesem Bereich ist auch kein/e AutorIn im Band vertreten. Dort, wo sie angesprochen wird, etwa im Kapitel über die Krankenkassen, werden berufsständische Positionen aus Teilen der Psychiatrie formuliert: Psychotherapeuten würden im Vergleich zu Psychiatern weniger und leichtere Fälle behandeln, aber mehr Budget beanspruchen. Das ist in dieser Pauschalität falsch. Ähnliche unausgewogene Darstellungen finden sich wiederholt auch an anderen Stellen. So werden beispielsweise die Aufgaben der Kommunen beziehungsweise des Öffentlichen Gesundheitsdienstes zu sehr aus dem niedersächsischen Erfahrungshintergrund beschrieben, die Situation ist hier je nach Bundesland aber sehr unterschiedlich. Kritisch sind auch thematische Lücken: Neben der Psychotherapie erfährt man auch wenig über die Spezifik der Versorgung psychisch kranker Kinder. Die ethisch hochbrisante Problematik freiheitsentziehender Maßnahmen (zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Unterbringungen, Maßregelvollzug) wird nur gestreift, ebenso die Versorgung im Suchtbereich. Mit der Prävention psychischer Störungen fehlt zudem ein wesentlicher Teil zur Einlösung des Anspruchs, „Public Mental Health“ – denn das sollte mehr sein als die Beschreibung des Versorgungssystems. In seinem Geleitwort regt Reinhard Busse zu Recht an, bei einer wünschenswerten zweiten Auflage auch die internationale Perspektive aufzunehmen. Dass Werner Heyde die Leitung des nationalsozialistischen Mordprogramms T4 zugeschrieben wird (er war bis 1941 Leiter der medizinischen Abteilung der

Zentraldienststelle T4) oder dass die LeserInnen damit allein gelassen werden, was wohl eine „tagesbezogene Abrechnung über Relativgewichte“ sein mag, sind kleinere redaktionelle Mängel, die bei einer zweiten Auflage zusammen mit der einen oder anderen stilistischen Auffälligkeit bereinigt werden sollten. Die sektoralen Beiträge fügen sich am Ende nicht zu einem Gesamtbild zusammen, das haben auch die HerausgeberInnen in ihrem Fazit gesehen. Insofern spiegelt der Band die Unübersichtlichkeit und Heterogenität des Versorgungsfeldes wider. Die HerausgeberInnen formulieren vor diesem Hintergrund einige Empfehlungen, etwa zur Notwendigkeit von Foren zum sektorenübergreifenden Austausch, zur Kompetenzerweiterung für die Kommunen, zur erforderlichen Reform der Bedarfsplanung oder der Erschließung sozialräumlicher Daten. Insgesamt ist das Buch mit viel Informationsgewinn zu lesen. Es verstärkt – auch durch die Heterogenität seiner Beiträge – das Bewusstsein, dass ein neuer Aufbruch in der Versorgung psychischer Störungen überfällig ist. Der Aufbau eines Arbeitsbereichs „Mental Health Surveillance“ am Robert Koch-Institut könnte dazu, wie auch das Gutachten des Sachverständigenrats, einen Impuls geben. Das Buch ist dabei ein hilfreicher Begleiter, trotz der genannten Schwächen. Es ist kein Buch für Laien, aber wer sich mit Psychiatrieplanung oder allgemeiner mit der Versorgung psychischer Störungen beschäftigt, dem sei es empfohlen. Dr. Joseph Kuhn, Dachau

hogrefe Verlag, Bern 2019, 296 S., 49,95 Euro

Klaus Gauger

Meine Schizophrenie

G

egen drei Uhr in einer Februarnacht 1994 wurde Klaus Gauger verrückt. Er zerlegte alle Lampen, schlug mit der Faust ein Loch in die Holzvertäfelung neben dem Bett, riss die Latten von der Wand, drehte sein Bett um, inspizierte alles. Es war ihm klar, dass sie ihn abhörten. Seine Dr. med. Mabuse 242 · November / Dezember 2019


Buchbesprechungen

Eltern alarmierten die Polizei. Zwei Polizisten lieferten ihn in der geschlossenen Psychiatrie der Freiburger Universitätsklinik ab. Er war 28 Jahre alt und schrieb an einer Doktorarbeit über Ernst Jünger. Gauger schildert die Szene fast 25 Jahre später in einem eindrucksvollen Bericht über seine Erkrankung. Traumatisierend erlebte er, wie der Chefarzt der Psychiatrie ihn zwang, wochenlang Haldol® und andere stark antipsychotisch wirkende Mittel einzunehmen. Er hatte Magenkrämpfe und entwickelte einen „Robotergang“, Apathie und Fresssucht. Die Ärzte gingen nur wenig auf ihn ein, er fühlte sich nicht respektiert. Erst durch die Rechnung der Klinik erfuhr er, woran er litt: paranoide Schizophrenie. Eine Stärke des Buches ist, dass es über den Einzelfall hinausgeht und der Autor seine Erfahrungen wissenschaftlich einordnet. Einer von 100 Menschen erkrankt im Laufe seines Lebens an der Krankheit, Männer meist schon vor ihrem 30. Lebensjahr. Bei 80 Prozent der Betroffenen liegt eine familiäre Veranlagung vor. Die Krankheit geht mit biochemischen Veränderungen einher: Der Neurotransmitter Dopamin überflutet gewisse Hirnareale, was in manischen Phasen Wahn und Halluzinationen hervorruft, andere Areale bleiben unterversorgt, was die Betroffenen phasenweise antriebslos und depressiv macht. Gauger schildert, wie er die Krankheit jahrelang mit Medikamenten in Schach hielt. Er gehöre zu dem einen Drittel von Betroffenen, bei denen das klappt. Bei einem weiteren Drittel tritt die Psychose nur einmal auf, ein letztes Drittel bleibt chronisch krank. Dennoch blieb auch bei ihm eine „Restsymptomatik“. Er fühlte sich oft verfolgt und überwacht. Zum Beispiel bezog er die Aufschrift „Halts Maul“ auf dem T-Shirt eines Passanten auf sich. In einem anderen Fall gab ihm seine Mutter zwei Tüten mit, um sie bei jemandem abzuliefern. Das machte ihn wütend, weil er bei einem Angriff auf der Straße keine Hand frei haben würde. Zudem stand für ihn fest: Angela Merkel und Wolfgang Schäuble jagten ihn, da er ihre EU-Sparpolitik in Internetbeiträgen scharf kritisiert hatte. Dabei las kaum jemand seinen Blog. Die Krankheit verschlimmerte sich im Jahr 2011. Er verfiel in den Wahn, es gebe ein System von Psychiatern, die direkt in sein Gehirn schauen könnten. Er flog nach San Francisco, reiste zum Mental Research Dr. med. Mabuse 242 · November / Dezember 2019

Institute in Palo Alto, um Zugang zum, wie er es nannte „Kybernetischen Weltsystem“ und dessen Chef zu bekommen. Das klappte nicht. Er fuhr nach New York und Toronto, flog nach Tokio. Überall sah er tätowierte Totenköpfe – ein Zeichen, dass ihm die Häscher auf den Fersen waren und er fliehen musste. Die Wahnsinnsreise dauerte drei Monate und kostete 10.000 Euro. Gaugers Erzählweise ist nüchtern und präzise, frei von Beschönigungen oder Pathos. Manchmal fällt sein Urteil über Ärzte, denen es an Fingerspitzengefühl, Empathie und Fachkenntnis fehlt, zu harsch und pauschal aus. Auf jeden Fall zeigt er, wie hartnäckig die Krankheit ist. Viele Betroffene sträuben sich gegen die Diagnose, ein typisches Symptom. Sie bleiben psychotisch. Gauger kritisiert, dass ein Arzt schizophrene Patienten in Deutschland nur zwangsweise einweisen darf, wenn eine Fremd- oder Selbstgefährdung vorliege. Ein weiteres Problem sei, dass Ärzte zu wenig für die ambulante Behandlung abrechnen können. Eine Freiburger Psychiaterin reduzierte aus Spargründen seine tägliche Medikamentendosis von vier auf ein Milligramm. Seine Psychose blühte wieder voll auf. Erst im Sommer 2014 begegnete er in einer spanischen Kleinstadt einem Psychiater, der ihm aufmerksam zuhörte. Er wies ihn zu seinem Schutz zwangsweise ein und verabreichte ihm eine Depotspritze. Nach zehn Tagen wichen der Wahn und seine Halluzinationen. Er lebt seitdem symptomfrei, aber mit Medikamenten. Dennoch hat die Krankheit vieles verhindert. Gauger hat promoviert und eine Lehrerausbildung absolviert, konnte aber den Beruf nie ausüben. Mit dem Buch verarbeitet er seine Erfahrungen und schreibt gegen die Stigmatisierung Schizophrener an. Die Lektüre lohnt sich nicht zuletzt für Menschen aus ihrem Umfeld. Inzwischen arbeitet Gauger als „Genesungsbegleiter“ mit psychisch Kranken in der Psychiatrie. Sein Rat: Setze die Medikamente nie ab, die Psychose kommt sonst zurück. Eric Breitinger, Autor und Redakteur, Pratteln/Schweiz

Neuerscheinung

Irene Leu Mit Demenz gut leben – aber wie? Perspektiven für Betroffene und Pflegende 381 Seiten, 29 Euro ISBN 978-3-7296-5018-3

Immer mehr Menschen erkranken an Demenz. Und immer mehr Menschen sind als Angehörige oder Pflegende betroffen. Irene Leu, Pionierin beim Aufbau einer Demenzstation in Basel, heute Dozentin und Coach, erzählt aus dem Alltag in der Pflege Demenzerkrankter, der Betreuung von Angehörigen und der Begleitung von Fachpersonen. Sie hinterfragt gängige Herangehensweisen und Konzepte und zeigt, wie es möglich ist, zu einem Verständnis zu gelangen, das die Person in den Mittelpunkt der Betreuung stellt.

www.zytglogge.ch Herder Verlag, Freiburg 2018, 224 S., 20 Euro

63


64

Buchbesprechungen

Birgit Panke-Kochinke

Krankenschwesternromane (1914–2018) Kontexte – Muster – Perspektiven

S

ie heißen oft Angela, Lisa und Karin, sind jung und hübsch, ebenso kompetent wie freundlich. Und sie haben private Wünsche, die vor allem die Liebe berühren. Als Krankenschwestern rechnen sie neben Ärzten zu den Lieblingsfiguren mancher Romane, ob in trivialen oder anderen. Doch was steckt hinter diesen Figuren, hinter den populären Stoffen? Die Historikerin und Soziologin Birgit Panke-Kochinke – zum Thema Pflege hat sie bereits viel publiziert – will darauf Antworten geben. Zu diesem Zweck hat sie an die 300 (!) dieser Romane gelesen, die zwischen 1914 und 2018 erschienen sind, ob in Buchform oder als Hefte. Da hatte sie extrem viel zu lesen und zu analysieren. Sie begnügt sich nicht damit, den Inhalt einiger Geschichten nachzuerzählen und zu bewerten, nein, sie schreibt auch über das (gewandelte) Berufsbild der Krankenschwester, über die Trivialität und Fiktionalität der Texte, über die Rolle von Zufall, Schicksal und Liebe. Und sie zieht, um Unterschiede besser herausarbeiten zu können, zum Vergleich die Sekretärinnen heran, die in solchen Geschichten auch vorkommen. So ambitioniert diese Studie gewiss ist, in vielen Abschnitten erhellend und aufklärend, so enthält sie doch einige Schwächen. Das beginnt mit dem allzu trockenen Titel (warum nicht vorweg ein authentisches „Rettender Engel hilflos verliebt“ oder „Sie hätte so gern den Chefarzt geliebt“?) und endet nicht mit einem zwar sehr ausführlichen, aber unübersichtlichen Literaturverzeichnis, das derlei Titel nicht von der Sekundärliteratur trennt. Dazwischen sind weitere Mängel zu diagnostizieren: Etliche Ausführungen, so sehr sie zum Thema gehören und aufschlussreich sind, erscheinen – wenigstens mir, sicher subjektiv – zu abgehoben, zu akademisch, etwa unter den Rubriken „Zufall und Schicksal“ und „Heldenreise“. Ebenso erfährt man nichts zur Entwicklung der Trivialliteratur mit ihren hohen Auflagen, die es ja schon seit Jahrhunderten gibt, und zu wenig über diesen springenden Punkt: Was unterscheidet solche Vorlagen von guter, wertvoller Literatur, die weniger oder gar nicht auf

Oberflächlichkeit, Klischees und SchwarzWeiß-Malerei setzt? Schade ist überdies, dass nichts dazu gesagt wird, wie Dutzende von Arzt- und Klinikfilmen seit Jahrzehnten Krankenschwestern darstellen. Während auf Seite 53 zu lesen ist, dass Panke-Kochinke 154 einschlägige Romane untersucht hat, folgt auf Seite 83 unter „Mustererkennung 2“ der Hinweis auf 144 weitere von ihr gelesene; dazu wird jedoch kaum etwas vermittelt. Womöglich wäre es besser gewesen, nicht gar so viele Bücher heranzuziehen, sondern nur zehn oder 20 – und denen einige Titel der gehobenen Art gegenüberzustellen. Dabei ließe sich wohl beobachten, dass es auch dort um Liebe, Zufall und Schicksal in fiktiven Welten geht. Es mag zutreffen, dass es zum Thema Krankenschwesternromane kaum Literatur gibt, wie auf Seite 50 zu lesen ist. Dass dazu bisher aber nur ein Artikel (im Krankenpflege Journal von 1997) vorliegt, stimmt nicht. Zumindest die schwestern-revue veröffentlichte dazu schon 1970 in den Heften 11 und 12 einen längeren Aufsatz. Im Band 97 (1978) brachte auch die Zeitschrift für Deutsche Philologie dazu etwas. Das wird nicht alles sein. Auch (Literatur-)Soziologen wie Leo Löwenthal und Alphons Silbermann haben sich für solche Objekte interessiert. Ein Ärgernis für sich ist die Kommasetzung. Hier regiert neben dem Prinzip Zufall die engagierte Abkehr von Regeln aller Art. Als störend empfinde ich zudem, dass Begriffe wie Schicksal, Liebe, Helfen, Heldin und viele andere fast durchweg kursiv gesetzt wurden – warum? Nicht leicht zu verstehen sind, um nur ein Beispiel zu nennen, Sätze wie „Mit diesem sondierenden Rahmen lässt sich der Begriff des Schicksals zunächst einmal als Versprachlichung unanschaulicher Seinsund Sinnfragen verstehen“ im Anschluss an ein Zitat (S. 30). Im Anhang finden sich dann Inhaltsangaben und die zentralen Aussagen zu zwölf Romanen, darunter diese: „Eine Krankenschwester zu werden und eine zu sein ist eine wichtige und befriedigende Lebensentscheidung.“ Mit viel Mühe wird ferner über die Pseudonyme aufgeklärt, mit denen – das ist nicht neu – fast alle VerfasserInnen dieser Stoffe arbeiten. Ob solche Recherchen und Auflistungen wichtig sind, sei dahingestellt. Dieses Buch „schließt eine Lücke in der Pflegeforschung“, so die Ankündigung

des Verlages. Was meinen jene dazu, die in Theorie und Praxis in der Pflege arbeiten, ob in Krankenhäusern oder Pflegeheimen? Wird es bald auch Geschichten über die Angestellten in solchen Heimen mit deren Konflikten und Beziehungen geben? Oder liefert das Leben und Leiden dort keine attraktive Kulisse, zumal man Ärzte da nur höchst selten findet? Das aber wäre ein neuer Stoff – und kaum trivial. Dr. Eckart Roloff, Medizinjournalist, Bonn

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2019, 153 S., 24,95 Euro

Ulrike Moser

Schwindsucht Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte

D

ie Tuberkulose ist eine der großen epidemischen und endemischen Krankheiten der Weltgeschichte. Im 19. Jahrhundert war sie in Europa – und nicht nur hier – neben der Cholera die am weitesten verbreitete Krankheit, verantwortlich für den Tod vieler Menschen. In Europa ist sie noch immer nicht vollständig besiegt, weltweit zählt sie zu den zehn häufigsten Todesursachen. Die Geschichte der Tuberkulose lässt sich unterteilen in die Phase der Schwindsucht und die Phase der Tuberkulose. Letztere begann mit der Entdeckung des Mycobacterium tuberculosis durch Robert Koch im Jahre 1882. Allerdings wurde erst 1944 das Antibiotikum Streptomyzin als ein wirksames Medikament gefunden. Bis zur Entdeckung des Tuberkulosebazillus galt die Krankheit vorwiegend nicht durch Übertragung verursacht, sondern als erblich, als Veranlagung. Sie wurde als Schwindsucht bezeichnet, weil im Endstadium der sich oft jahrzehntelang hinziehenden Krankheit das Leben des oder der Betroffenen nach den ersten beiden Phasen des Hustens und Spuckens, des Immer-matter-Werdens mit fiebrigen Anfällen regelrecht dahinschwand und es in einem qualvollen Tod endete. Die weite Verbreitung der Tuberkulose im 19. und auch noch im 20. JahrhunDr. med. Mabuse 242 · November / Dezember 2019


Buchbesprechungen

dert war im Wesentlichen der raschen Industrialisierung und Urbanisierung mit extrem schlechten Arbeits- und Wohnbedingungen geschuldet. Aber sie betraf auch die besseren Kreise – der Verbreitung über die Luft waren keine Grenzen gesetzt. Ende des 19. Jahrhunderts kamen die Luftkuren auf, entstanden Sanatorien für finanziell bessergestellte Lungenkranke, erlangte Davos in der Schweiz mit seinen Sanatorien Weltruhm – in einem von ihnen spielt Thomas Manns „Zauberberg“. Dass die Tuberkulose einen großen Nachhall in Kunst, Literatur und Musik fand, lag an der romantischen Deutung der Krankheit. Viele Schriftsteller und Künstler erlagen ihr, etwa Chopin und Kafka. Auch Effi Briest stirbt in Theodor Fontanes gleichnamigen Roman an Schwindsucht und Verdi bringt in „La Traviata“ den Tod durch Schwindsucht auf die Opernbühne. Nietzsche verkündete in „Der Wille zur Macht“, dass es nicht möglich scheint, „Künstler zu sein und nicht krank zu sein.“ Im „Zauberberg“ lässt Thomas Mann einen Arzt sagen: „Alle Krankheit ist verwandelte Liebe!“ Nach Kochs Entdeckung und den Fortschritten der Radiologie begann diese romantische Deutungshoheit allmählich zu schwinden. Die Journalistin und Historikerin Ulrike Moser beschreibt in ihrem Buch den Wandel der Tuberkulose als gesellschaftliche Krankheit und zeichnet ihren „Abstieg“ nach: „von dem Podest, auf dem Krankheit in Literatur, Kunst und Musik ihre romantische Deutung fand, als ironischer Nachhall noch einmal bei Thomas Mann. Weiter hinab zur Krankheit der Armen bis in die Abgründe einer menschenverachtenden NS-Gesundheitspolitik. Es ist der Weg vom Zauberberg ins KZ.“ Mit der „Entzauberung“ der Krankheit durch Robert Koch ändert sich das Bild. Tuberkulose wurde zur Volkskrankheit, zur „Krankheit der Proletarier“. Diese wurden nicht in „mystisch entrückten“ Sanatorien untergebracht, sondern, wenn überhaupt, in „Hustenburgen“. Die romantische Überhöhung in der Literatur ist dann nach dem Ersten Weltkrieg endgültig passé. Die Angst, im Alltag durch Spucken und Auswurf angesteckt zu werden, griff um sich, da nun die Übertragungsmechanismen bekannt waren. Im Nationalsozialismus wurde die Tuberkulose Bestandteil der Rassenlehre. Schon 1923 sagte Hitler: „Das Judentum Dr. med. Mabuse 242 · November / Dezember 2019

bedeutet Rassentuberkulose der Völker.“ Tuberkulosekranke (wie etwa auch Geschlechtskranke, Alkoholiker etc.) passten nicht zur arischen Volksgemeinschaft, Krankheit galt als Versagen, Tuberkulosekranke wurden als asozial eingestuft. In den KZs war Tuberkulose eine häufige Todesursache, im besetzten Polen wurden zahlreiche Tuberkulosekranke umgebracht. Das thüringische Städtchen Stadtroda erlangte traurige Berühmtheit wegen der 1934 gegründeten Landesheilanstalt mit der „ersten geschlossenen Abteilung für asoziale Offentuberkulöse“ in Deutschland. Dort waren Tuberkulosekranke zusammen mit Psychiatriepatienten untergebracht, da sie als schwer lenkbar galten. Zwangsweise unterernährt starben viele, im KZ Neuengamme (u. a.) wurden bei Versuchen Häftlinge mit Tuberkulosebazillen geimpft. Auch an Kindern wurden solche Versuche durchgeführt. Seit den 1950er-Jahren ist Tuberkulose heilbar. Der Autor dieser Rezension verbrachte 1968 etliche Monate in einem Sanatorium im Nordschwarzwald, das heute eine allgemeine Rehaeinrichtung ist – denn Lungensanatorien gehören seit den 1970er-Jahren praktisch der Vergangenheit an. In Deutschland ist die Krankheit weitgehend überwunden, neben den Behandlungsmöglichkeiten haben sich auch die Lebensverhältnisse verbessert. Die Zahl der Neuerkrankungen sank von über 100.000 pro Jahr vor 1950 auf unter 17.000 im Jahr 1986. „Als die Tuberkulose begann, ihren Schrecken zu verlieren, schwand sie auch aus der Literatur. Andere Leiden, Schizophrenie, Depression, Sucht- und Krebserkrankungen bewegen nun die Autoren“, schreibt Ulrike Moser. Ulrike Moser weiß als erfahrene Journalistin ihren Stoff anschaulich, spannend und unterhaltsam zu präsentieren. Ihre Theorie vom „Wertabstieg“ der Tuberkulose ermöglicht ihr eine klare thematische Gliederung. Ihre These, dass das „romantisch verklärte Bild von der veredelnden Schwindsucht nur entstehen konnte, als sie noch nicht zur Seuche der Massen geworden war“, ist problematisch, denn auch schon im 19. Jahrhundert war meines Erachtens die Tuberkulose als Infektionskrankheit die epidemische Krankheit der Massen. Unter der Perspektive der Schwindsucht gelingt ihr eine lesenswerte „andere deutsche Gesellschaftsgeschichte“, die zugleich teil-

Was ist „Qualitä t“ in der Gesund he förderu itsng?

Das Buch führt alltagsnah in die Qualitätsentwicklung ein und präsentiert zahlreiche praxistaugliche Instrumente zur Verbesserung von Planungs-, Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. 2019, 228 Seiten, broschiert, € 29,95 ISBN 978-3-7799-6040-9 Auch als E-Book erhältlich

Am Kern d Professio er n

Das Buch führt ausgehend vom Dialog der Teildisziplinen in systematische Grundfragen pädagogischen Handelns ein. 4.,aktualisierte und erweiterte Auflage 2019, 250 Seiten, broschiert, € 19,95 ISBN 978-3-7799-6025-6 Auch als E-Book erhältlich

www.juventa.de

JUVENTA

65


66

Buchbesprechungen

weise auch eine Geschichte der Schwindsucht in Literatur, Kunst und Musik ist. Helmut Forster, Frankfurt am Main

Matthes & Seitz, Berlin 2018, 264 S., 26 Euro

Bernd Hontschik

Erkranken schadet Ihrer Gesundheit

W

ohin bewegt sich unser Gesundheitswesen? Es ist nicht ganz einfach, aktuell den Überblick zu behalten. Ein Gesetzesvorhaben jagt das andere. Nachdem jahrelang das Thema Qualitätssicherung die politischen Debatten beherrschte, drängt sich jetzt „Künstliche Intelligenz“ in den Vordergrund und es wird der Eindruck erweckt, Deutschland verliere einmal mehr den Anschluss an die Neuzeit. Man muss wohl ein paar Schritte zurücktreten, um den Horizont hinter dem Begriffsnebel wieder zu entdecken. Einer, der das unbeirrt seit vielen Jahren versucht, vor allem mit seinen kurzen Kolumnen in überregionalen Tageszeitungen, ist der Frankfurter Chirurg Bernd Hontschik, langjähriger Oberarzt und niedergelassener Facharzt, ein Brückenbau-

er zwischen handwerklicher und psychosomatischer Medizin und Herausgeber einer der kritischen Medizin verpflichteten Buchreihe. Eine Auswahl solcher Kolumnen und anderer Artikel aus seiner Feder sind jetzt in dem hier besprochenen Buch versammelt. Hontschik durchstreift das weite Gelände der Medizin mit klassischem sozialmedizinischen Hintergrund. Mit dem Blick auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Gesundheit und Krankheit thematisiert er sowohl die enormen Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen reich und arm in den wohlhabenden Ländern wie Deutschland als auch die beschämende Situation der medizinischen Vernachlässigung in den weitgehend abgehängten Kontinenten und Ländern der Welt. Mit immer neuen Beispielen entlarvt Hontschik des Weiteren die Kluft zwischen den Möglichkeiten guter Medizin und der Pervertierung des Medizinbetriebs durch grenzenlose Indikationsstellungen und das Negieren basaler Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin. Dass in der modernen Welt der gewinnorientierten Medizin die Beziehungsarbeit zwischen ÄrztInnen und ihren PatientInnen fast zur Luxusware verkommen ist, scheint aus vielen der Kurzberichte bedrückend hervor. Hontschik lässt zwischen GesundheitsApps, Cannabis und Transplantationsmedizin fast keines der wichtigen Themen aus. Das bedingt, dass vieles in der Verdichtung provozierend wirkt – und

genau das ist intendiert, bis hin zur Reflexion über die Macht von Verschwörungstheorien, denen auch kluge Menschen nicht ohne Weiteres entkommen können. Über viele der hier vertretenen Schlussfolgerungen lässt sich diskutieren, hoffentlich! Das Spannende an dieser Zusammenschau ist am Ende, dass es Hontschik gelingt, auf jeweils ganz kurzem Raum fachliche und politische Debatten anzuregen, deren wichtigste sich um die Anklage der immer stärker auf reinen Gewinn orientierenden Gesundheitspolitik und -praxis rankt. Die hier zu findende Grundorientierung hat etwas von der Trauer über vergangene Tage einer weltweit vorbildlichen sozialen Krankenversicherung. Und Hontschik ist damit im wohlverstandenen Sinne unmodern. Mögen viele LeserInnen entdecken, warum gerade diese zugespitzte Analyse von zentraler Bedeutung ist. Es wäre zu wünschen, dass vor allem die vielen gewählten ParlamentarierInnen Hontschiks provozierende wie informative Thesen lesen. Es ist immer Zeit für einen Kurswechsel. Norbert Schmacke, Bremen

Westend Verlag, Frankfurt am Main 2019, 160 S., 16 Euro

Fachlich fundiert und praxisnah Manfred Seiler

Christiane Pröllochs

Pflege und Strafrecht Kompendium für die Praxis

Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz

2019, 336 S., brosch. Print 58,00 € • E-Book 45,99 € ISBN 978-3-8288-4212-0 ePDF 978-3-8288-7106-9 ePub 977-3-8288-7107-6

2019, 264 S., brosch. Print 25,00 € • E-Book 19,99 € ISBN 978-3-8288-4343-1 ePDF 978-3-8288-7292-9 ePub 977-3-8288-7293-6

Anhand von Beispielen aus dem Pflegealltag skizziert der Autor die einzelnen Tatbestände, erklärt, wie eine Strafbarkeit vermieden werden kann, und zeigt Wege für den Umgang mit Ermittlungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft auf.

Die Autorin vermittelt Grundlagenwissen und schafft Verständnis für Menschen mit Demenz in der letzten Lebensphase. Ein wertvoller Ratgeber für Pflegende, Angehörige und alle, die sich mit dem Thema Demenz befassen möchten.

Bestellen Sie im Buchhandel oder versandkostenfrei unter www.tectum-shop.de, telefonisch (+49)7221/2104-310 oder per E-Mail email@tectum-verlag.de

Dr. med. Mabuse 242 · November / Dezember 2019


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.