Buchbesprechungen 2021

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Hedwig Herold-Schmidt

Florence Nightingale Die Frau hinter der Legende

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er Titel zeigt bereits das Anliegen der Autorin an: Es soll hinter die herkömmlichen Bilder von Florence Nightingale geschaut werden, die häufig zitiert wird, ohne dass ihr Leben und ihr breites Wirken wirklich präsent sind. Diese Horizonterweiterung liefert die Historikerin Hedwig Herold-Schmidt, die am Seminar für Volkskunde/Kulturgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität in Jena tätig ist. Nightingale (1820–1910) kommt als Kind wohlhabender Eltern auf die Welt und stemmt sich emotional und aktiv handelnd gegen die Perspektive einer höheren Tochter mit eigener Familie und karitativen Ambitionen. Sie ist stark christlich inspiriert und sieht früh die Krankenpflege als ihre Bestimmung. Hier wird das Buch spannend, weil quellenreich erläutert wird, dass die Anfänge der Krankenpflege in England wenig mit dem zu tun haben, was wir darunter heute verstehen und dass in der Verortung dieses neuen Berufs durch Nightingale aber zugleich all die Konflikte bereits angelegt sind, die Pflege bis heute begleiten: die Frage nach der eigenen fachlichen Basis und nach dem Verhältnis zur Ärzteschaft, die sie aus der Lehre und Unterrichtung der Pflege möglichst ganz heraushalten wollte. In der von extremer Armut gezeichneten englischen Gesellschaft war es vor allem der Kampf um bessere sanitäre und umfassender hygienische Lebensbedingungen. Und damit bewegte Nightingale sich zwischen den Polen Public Health und Armutsbekämpfung. Sie nutzte ihre exzellenten Kontakte zur Politik, um immer wieder durch eigene empirisch erarbeitete Berichte über Missstände und vermeidbare Todesfälle Einfluss auf die Gesetzgebung, auf eine würdige Versorgung von Kranken in den Armenhäusern und auf die Weiterentwicklung des gerade erst entstehenden Krankenhauswesens auszuüben. Großen Raum nimmt in der hoch informativen und sehr gut geschriebenen Darstellung von Herold-Schmidt dann Nightingales Rolle im Krimkrieg (1853– 1856) ein, während dessen sie um die Verbesserung der Versorgung verwundeter und infizierter Soldaten unermüdlich bemüht war: von praktischen und Vorbild stiftenden persönlichen pflegerischen Ein-

sätzen über das Einwerben von Spendenmitteln bis hin zur Erarbeitung von Versorgungskonzepten zur Milderung der extrem hohen Sterberaten. Ihr persönlicher Einsatz auf den Stationen fand seinen Niederschlag in der Stilisierung zur „Lady with the lamp“, die auch nachts nach den Schwerkranken suchte: eine beliebte, aber völlig unzulässige Verkürzung ihrer Rolle als Organisatorin, Politikerin, wissenschaftlich arbeitende Kritikerin unwürdiger Zustände und eben auch als Pionierin moderner Krankenpflege jenseits einer karitativen Opferinszenierung, die Pflege als qualifizierten, der Medizin ebenbürtigen Beruf beschreibt. Nach schweren, in ihren Ursachen nicht gut aufgeklärten Erkrankungen zog Nightingale sich frühzeitig auf eine einerseits sehr einsame, andererseits aber auch durch vielfältige soziale Kontakte gekennzeichnete private Insel zurück und widmete sich ganz empirischen Studien und dem Verfassen von Berichten und Positionspapieren, die von der Politik zum Teil sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen wurden. So beschäftigte sich Nightingale jahrzehntelang mit den sozialen und gesundheitlichen Missständen in der indischen Kolonie des britischen Empires. Sie war offenbar enzyklopädisch begabt und verfügte nicht zuletzt über die politische Kompetenz des Fädenziehens aus dem Hintergrund. Nightingales historische Verdienste sind bis heute Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. So wenig es ihr geschadet haben dürfte, dass sie vom Sockel einer Heiligen heruntergeholt worden ist, so unverständlich wirkt das jüngst erkennbare Bedürfnis, ihr jede Fortschrittlichkeit abzusprechen, ob in der Konzeption der Pflege als Frauenberuf, in ihrer Haltung zur Frauenbewegung oder ihrem Verständnis von sozialer Gleichheit im kolonialisierten Indien. All das ist hier großartig dargelegt. Einfache Antworten kann demnach nur erwarten, wer mit einem betonierten Weltbild eine Zeit bewerten will, die mit unserem Sozial- und Rechtsstaat wenig zu tun hatte. Norbert Schmacke, Bremen

WBG, Darmstadt 2020, 320 S., 30 Euro

Kirstin Büthe, Cornelia Schwenger-Fink

Evidenzbasierte Schwangerenbetreuung und Schwangerschaftsvorsorge Eine Arbeitshilfe für Hebammen im Praxisalltag

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as Buch ist ein Nachschlagewerk und enthält eine umfassende Sammlung zur evidenzbasierten Schwangerenbetreuung und -vorsorge. Die Kapitel sind gegliedert in: Definition, Betreuungsziele, Anpassungsprozesse in der Schwangerschaft, Beratung, Maßnahmen, Beginn und Dauer, Maßnahmen der traditionellen Hebammenkunst, fachärztliches Behandlungsschema und Kooperationspartner. Die Physiologie und die pathologischen Abweichungen werden definiert und erläutert, etwa im Kapitel über hypertensive Erkrankungen in der Schwangerschaft oder Gestationsdiabetes. Das ist die Stärke des Buches, wobei Printveröffentlichungen zu Leitlinien und Empfehlungen etc. generell das Manko haben, nur so lange aktuell zu sein, bis eine überarbeitete Neuauflage im Netz erscheint. Was mir persönlich zu kurz kommt, ist das Thema Schwangerschaftsbeschwerden (28 Seiten von 281), wobei nach meiner langjährigen Erfahrung dieser Bereich einen sehr großen Raum bei der Betreuung von schwangeren Frauen einnimmt. Die vorhandenen Tipps fallen zum Teil sehr kurz und wenig hebammenspezifisch aus. Beispiel Karpaltunnelsyndrom (KPS): Handgelenksmanschette, Infiltration mit Kortikosteroiden, Akupunktur, mit wiederum detaillierten Hinweisen wie He7, Pe6 etc. Als Hebamme ohne Akupunkturzusatzausbildung hat man dann keinen Hinweis bekommen, wie man die Beschwerden beim KPS lindern könnte. Eine Hebamme verordnet keine Manschette und infiltriert keine Steroide. Was ist mit Dehnübungen, Taping, Wasseranwendungen, Ernährungsberatung? Ebenso fehlen mir Hinweise auf die sozialen Aspekte der Schwangerschaft, die ja auch eine Wandlung in der Partnerschaft, Wohnsituation, der finanziellen und beruflichen Situation mit sich bringt bzw. bringen kann. Frauen anzusprechen, wenn sie alleinstehend, von Armut, Gewalt oder Traumata betroffen sind, wenn Dr. med. Mabuse 249 · Januar / Februar 2021


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sie selbstbestimmt gebären wollen oder Ängste haben, genauso wie ihnen Alternativen in problembehafteten Situationen aufzuzeigen, sind ebenso Maßnahmen, deren Einfluss auf den Verlauf und das Outcome der Schwangerschaft belegt sind und den Start der jungen Familie entscheidend mit prägen. Die Abbildungen, die Kirstin Büthe erstellt hat (z.B. intramuskuläre Injektion, Brustentleerung per Hand, Leopoldsche Handgriffe) würde man nicht erkennen, wenn man nicht wüsste, wie es gemeint ist. Das ist meines Erachtens ein Schwachpunkt des Buches, den man hätte vermeiden können. Schade. Eva Schneider, Hamburg

Kohlhammer, Stuttgart 2020, 291 S., 39 Euro

Timothy Snyder

Die amerikanische Krankheit Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital

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er amerikanische Traum beruht auf den verfassungsrechtlichen Grundsätzen, Gerechtigkeit zu verwirklichen und das allgemeine Wohl zu fördern sowie auf der Vorstellung, dass jeder Amerikaner sein Glück unabhängig von seiner Herkunft selbst verwirklichen kann. Dem stellt der Historiker Timothy Snyder die zeitaktuelle Diagnose der amerikanischen Krankheit entgegen: kommerzieller Wettbewerb und neoliberale Entsolidarisierung verschärfen bestehende Ungleichheiten und erheben Ungerechtigkeit zum Prinzip der Stärke. Dabei waren es die USA, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs humanitäre Standards über die WHO und die UNO in ihrer Einflusssphäre etablierten. Der Professor für Geschichte Snyder ist einem breiten Publikum durch populärwissenschaftliche Schriften („Der Weg in die Unfreiheit“, „Über Tyrannei“) als Totalitarismusforscher bekannt. Als lebensbedrohlich erkrankter Patient musste er sich zu Beginn der Corona-Pandemie in die Obhut des amerikanischen GesundDr. med. Mabuse 249 · Januar / Februar 2021

heitssystems begeben. Er beschreibt aber nicht nur die Probleme einer kommerzialisierten Gesundheitsversorgung, in der digitale Techniken vornehmlich dem Nachweis abrechenbarer Leistungen dienen, und deren Versagen angesichts der Corona-Pandemie. Snyder geht es vor allem darum, den Zusammenhang von sozialer Sicherheit, Freiheit, Solidarität und Demokratie aufzuzeigen. Mit Blick auf die global fortschreitende Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme und die Ausbreitung eines rechtskonservativen Populismus rührt diese kleine Schrift an aktuelle gesellschaftliche Fragen. Ihre gute Lesbarkeit bezieht sie aus der persönlichen Betroffenheit des medizinischen Laien und dem analytischen Blick des Historikers auf die soziale Sicherheit und Gesundheitsversorgung in ihrem gesellschaftspolitischen Kontext. Man muss kein Versorgungsforscher sein, um den Kern des Problems zu erfassen: Soziale Absicherung und eine allgemein zugängliche Gesundheitsversorgung sind kein Gnadenakt des Staates, sondern notwendige Voraussetzungen einer demokratischen bürgerlichen Gesellschaftsordnung. In vier „Lektionen“ arbeitet der Autor seine Thesen ab. Aus seinen Beobachtungen vom Krankenbett heraus entwickelt er das Verhältnis von individueller Einsamkeit, Empathie, Solidarität und Freiheit. Das Paradoxon der Freiheit besteht darin, dass niemand ohne Hilfe frei sein kann. „Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht“ (Kap.1) und darf deshalb nicht in einer kommerzialisierten Medizin enden, in der eine adäquate Versorgung zum Privileg oder gar zur Zahlenlotterie wird. Dies verdeutlicht Snyder am Zusammenhang von Selbstmedikation und der amerikanischen Opiodkrise. Aber es gibt bessere Wege. Die „Erneuerung fängt bei den Kindern an“ (Kap. 2). Eine soziale Infrastruktur mit Mutterschutz und Erziehungszeiten sowie prä- und postnataler Versorgung, wie es in der Bundesrepublik selbstverständlich geworden ist, sichert nicht nur Gesundheit und Lebenschancen, sondern ebenso Freiheit und somit Demokratie. Das 3. Kapitel über die Bedeutung von Wahrheit für das Wissen und Handeln erklärt am Beispiel des Corona-Managements unter der Trump-Administration das Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit, Internet/Big Data, Journalismus und Verschwörungsmythen sowie Machtmiss-

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brauch. Wenn der Autor im 4. und letzten Kapitel zu dem Schluss kommt, „die Ärzte sollten das Sagen haben“, ist dies ein Plädoyer dafür, den Zielkonflikt zwischen ökonomischer Gewinnorientierung und qualitativer Gesundheitsversorgung zum Wohle der Bevölkerung zu entscheiden. Denn der Kollaps des Gesundheitssystems und der Einbruch der Wirtschaft infolge der Corona-Pandemie kommen uns wesentlich teurer zu stehen. „Die amerikanische Krankheit“ ist keine gesundheitswissenschaftliche Diagnose. Die Schrift vermittelt einen verständlichen Einblick in das amerikanische Gesundheitswesen, an dem deutlich wird, dass soziale Sicherheit und Gesundheitsversorgung systemrelevant für das Gelingen der liberalen Demokratien sind. Gleichzeitig malt die Beschreibung der amerikanischen Verhältnisse das Menetekel einer kommerzialisierten und kompetitiven Gesundheitsversorgung an die Wand. Michael Rosentreter, Bremen

C. H. Beck, München 2020, 158 S., 12 Euro

Jeanette Alt

Gebärmütter der Nation Frauen und Familien als Leidtragende des demographischen Wandels

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as tun, um die Renten und Sozialversicherungsbezüge einer alternden Gesellschaft zu garantieren und zudem noch genügend Steuern für all die benötigten oder gewünschten Staatsausgaben einzunehmen, fragt Jeannette Alt in ihrem Buch. Und das angesichts der geburtenreichen Jahrgänge der „Babyboomer“, die zwischen 2020 und 2035 das Rentenalter erreichen werden. War Anfang dieses Jahrhunderts ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands über 60 Jahre alt, seien es 2050, wenn sich die jetzige Entwicklung fortsetze, rund 40 Prozent! Die Antwort des deutschen Staates darauf ist eine pronatalistische Politik: Anreize fürs Kinderkriegen, aber auch der Versuch, Frauen nach der Geburt mög-

lichst schnell wieder in das Erwerbsleben zurückzudrängen. Ein besonders kritisches Augenmerk richtet die promovierte Naturwissenschaftlerin, die 25 Jahre lang für die pharmazeutische Industrie medizinische Produkte für Frauen entwickelte und vermarktete, zudem auf das globale Bevölkerungswachstum. Damit verbunden sei eine fortschreitende Urbanisierung, die große Probleme mit sich brächte. „Metropolen verbrauchen bereits jetzt drei Viertel aller Ressourcen und sind für 80 Prozent aller klimaschädlichen Emissionen verantwortlich“, so Alt – eine fragwürdige Information, wenn man sich vor Augen hält, dass allein die Lebensmittelproduktion mit Landwirtschaft, Viehzucht und Landumnutzung global schon für knapp ein Drittel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. Überhaupt tappt Alt in dieselbe Falle wie so viele eurozentristische BevölkerungsforscherInnen und SozialwissenschaftlerInnen, die sich vor ihr diesem Thema zugewandt haben: Zwar räumt sie ein, der CO2-Ausstoß eines US-amerikanischen Kindes sei im Durchschnitt 85-mal so hoch wie der eines nigerianischen, doch insgesamt schert sie alle Kinder weltweit bezüglich ihres ökologischen Fußabdrucks über einen Kamm. Sie problematisiert angesichts der demografischen Entwicklung den Kinderreichtum vieler Länder des globalen Südens und zugleich den fehlenden Nachwuchs hierzulande. Im Folgenden holt Alt zu einem Rundumschlag aus: Sie erklärt den Geburtenrückgang in Europa mit der zunehmenden Bildung der Frauen, der Entwicklung der Pille und erstarkenden Frauenrechten. Sie schildert die daraus resultierende Bevölkerungspolitik zu verschiedenen Zeiten, geht auf neue Familienmodelle ein, beschäftigt sich mit der Schwierigkeit vieler Frauen, ihre Karriere mit ihrem Kinderwunsch in Einklang zu bringen, und erläutert, warum sich manche dafür entscheiden, kinderlos zu bleiben. Obwohl sie Menschen anderer Lebensentwürfe Toleranz entgegenbringt, liegt ihre Sympathie dabei stets bei den Müttern. Irritierend wirkt jedoch der hier wiederholte, von Teilen der hiesigen Gesellschaft geäußerte Vorwurf, keine Kinder zu gebären, sei egoistisch. Ökologisch betrachtet, wäre das Gegenteil der Fall. Aufs Glatteis bewegt sich die Autorin auch, wenn sie fragt, ob Migration die nied-

rige Geburtenrate ausgleichen könne. Mit ihrem Verweis auf die Kölner Silvesternacht 2015/16 schürt sie rassistische Ressentiments. Die ohnehin fragwürdige Instrumentalisierung Geflüchteter und MigrantInnen für demografische Zwecke erklärt sie schlussendlich für wenig erfolgversprechend, da bereits in der zweiten Generation ihre Gebärfreudigkeit auf das durchschnittliche Landesniveau absinke. Spannend liest sich dagegen Alts ausführliche Beschäftigung mit der Situation älterer und alter Menschen in unserer Gesellschaft, die abwechselnd als Belastung gesehen werden und andererseits als Kinderbetreuung und Ehrenamtliche durchaus gefragt sind. Mit ihrem Abschlusskapitel zu Demografie und Umwelt kehrt Alt zu ihren Ausgangsfragen zurück. Ärgerlich ist dabei, wie sie den weitverbreiteten Irrglauben wiederkäut, eine wachsende Weltbevölkerung könne nur durch eine zweite Grüne Revolution gestemmt werden und Armutsbekämpfung sei nur durch gesteigertes Wirtschaftswachstum möglich. So ist Alts Buch für alle, die sich für Bevölkerungspolitik interessieren, sicherlich lesenswert, ansonsten jedoch mit Vorsicht zu genießen. Ingrid Wenzl, Politologin und freie Journalistin

Büchner, Marburg 2020, 262 S., 18 Euro

Ursula Immenschuh

Unerhörte Scham in der Pflege Über die Notwendigkeit einer unbeliebten Emotion

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chamgefühle und schambehaftete Situationen kennen Pflegende aus dem beruflichen Alltag. Allzu selten wird darüber nachgedacht und gesprochen. Noch seltener ergreifen pflegewissenschaftlich Tätige die Gelegenheit, über die Forschung mehr Wissen über die Scham in der Pflege zu erarbeiten. Die Pflegewissenschaftlerin Ursula Immenschuh hat sich auf den Weg gemacht, sprichwörtlich in der Tiefe zu graben. Dr. med. Mabuse 249 · Januar / Februar 2021


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„Mit diesem Buch verschaffe ich Schamgeschichten Gehör, denen, die oft erzählt werden, wie auch den unerhörten“, schreibt Immenschuh am Anfang. Dabei hat es einen großen Wert, dass sie die Scham unbedingt mit der Würde der Pflegenden in Beziehung setzt. Denn sie ist der Überzeugung, dass Pflegende mit ihrer Scham nicht alleine gelassen werden sollten. Immenschuh hat Gruppensupervisionssitzungen in pflegerischen Teams zu ihrem Studienort gemacht. Exemplarisch stehen einzelne Pflegeteams für eine offenbar alltägliche Erfahrung Pflegender im Kollektiv. Für Immenschuh ist es wichtig, „subjektive Erlebnisse und Sichtweisen von Pflegenden zu Würde und Scham in Sprache zu bringen“ (S. 21). Dies gelingt der Pflegewissenschaftlerin auch. Viele dokumentierte Geschichten haben einen großen Erkennungswert, bei anderen Erzählungen erlebt die Praktikerin und der Praktiker den einen oder anderen Überraschungsmoment. Sie bringt einen Begriff von Pflegekultur in den Diskurs ein. Jene Pflegekultur, in der es verboten zu sein scheint, „sich mit Gefühlen zu beschäftigen, die in der Pflegearbeit aber ständig entstehen“ (S. 21). Irgendwie beschleicht die Praktikerin und den Praktiker das Gefühl, dass Immenschuh die Finger in eine offene Wunde legt. Erfahrungen und Erlebnisse von PraktikerInnen scheinen verschollen, bis Immenschuh in Supervisionssitzungen die Sensibilität und Empathie zeigt, Verschüttetes ans Tageslicht zu bringen. Natürlich ist es für das Seelenleben von Pflegenden nicht hilfreich, Beschämun-

gen und Schamhaftes zu verdrängen. Sie müssen Tag für Tag erkrankten und gebrechlichen Menschen Empathie entgegenbringen. Dies gelingt wirklich nur dann, wenn ihnen auch die Selbstempathie und die Selbstfürsorge gelingt. Feldforschung macht im Zusammenhang mit dem Gefühlserleben Pflegender natürlich Sinn. Schließlich, so belegt auch die Studie „Unerhörte Scham in der Pflege“, erfährt Immenschuh eine Unmittelbarkeit bei den Betroffenen, die sonst selten ist. Das Schamerleben Pflegender im beruflichen Alltag ist natürlich ein weites Feld. Es erschöpft sich nicht in einem Diskurs zur Intimsphäre und zur Sexualität im Alltagserleben. Es geht um Themen wie Anerkennung und Schutz, Zugehörigkeit und Integrität. Pflegende reiben sich vor allem am institutionellen Rahmen. Immenschuh bedauert deshalb: „Es wird innerhalb der Rollen agiert, sichtbar an der Dienstkleidung und an den Titeln bzw. Berufsbezeichnungen. Das Benutzen von Handschuhen dient nicht nur der Hygiene, sondern hilft auch, ein professionelles Verhältnis zu markieren und Distanz herzustellen“ (S. 131). Nachdenklich werden die PraktikerInnen immer wieder, wenn Immenschuh die Würde der Pflegenden thematisiert. Würde muss sicher auch gleichzeitig mit einem notwendigen Selbstbewusstsein Pflegender im Alltag und vor allem im Konzert der Multiprofessionalität mitgedacht werden. Das Buch „Unerhörte Scham in der Pflege“ macht deutlich, dass sich Pflegende mit dem eigenen Gefühlserleben auseinandersetzen müssen. Sonst wer-

Ein Thema – drei Zielgruppen

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Dr. med. Mabuse 249 · Januar / Februar 2021

den sie bei der gut gewollten Arbeit auch weiterhin an den eigenen Ansprüchen scheitern. Es wäre eine verpasste Chance. Christoph Müller, Wesseling

Mabuse, Frankfurt am Main 2020, 184 S., 22,95 Euro

Hubert Kolling (Hg.)

Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte „Who was who in nursing history“, Bd. 9

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igentlich muss ein neuer Band des Biographischen Lexikons zur Pflegegeschichte nicht mehr eingeführt werden: Die Reihe ist mittlerweile seit über zwei Jahrzehnten etabliert und Bestandteil jeder pflegewissenschaftlichen Bibliothek. Nichtsdestotrotz verdient dieser Band besondere Beachtung, da der Begründer des Lexikons – Horst-Peter Wolff (1934–2017) – nun selbst Eingang in sein Werk gefunden hat, das seit Band 4 von Hubert Kolling fortgeführt wird. Wie in den vorherigen Bänden werden in alphabetischer Reihenfolge Biographien von Personen der Pflegegeschichte vorgestellt: größtenteils Krankenschwestern, vereinzelt Pfleger sowie Ärzte, Pastoren oder FörderInnen der Pflege. Die meisten Biographien sind aus dem deutschsprachi-

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gen Raum; es finden sich aber auch Namen wie Glete de Alcântara (1910 –1974, Brasilien) oder Yae Niijima (1845 –1932, Japan), die sonst in der europäischen Pflegegeschichtsschreibung nicht wahrgenommen werden. Das Besondere am neunten Band ist die Aufnahme erst vor Kurzem verstorbener Persönlichkeiten, die vielen bekannt oder Vorbilder und etlichen geschätzte KollegInnen waren, etwa Faye Glenn Abdellah (1919–2017), Sylvelyn Hähner-Rombach (1959–2019) und Edith Kellnhauser (1933–2019). Neben Hubert Kolling, der die meisten Beiträge verfasst hat, gibt es auch AutorInnen aus Brasilien, Deutschland, Kroatien und Taiwan – alle haben ehrenamtlich mitgearbeitet. Dies trägt zum einen zur Diversität der Beiträge in Inhalt und Stil bei; gleichzeitig hängt das Lexikon von Kollings Engagement ab. Mancher Biographie täte intensivere Archivrecherche gut, die ohne ausreichende Forschungsfinanzierung jedoch nicht zu leisten ist. An dieser Stelle sei die Frage gestattet, wann die Geschichte des „systemrelevanten“ Berufs Pflege in Deutschland endlich auf spezifischen Professuren erforscht und gelehrt werden wird. Die Aktualität des Bandes ist gleichzeitig Stärke und Schwäche: Da die wissenschaftliche Community klein ist, kennt man sich – die Beiträge zu kürzlich Verstorbenen sind eher Nekrologe als kritische Geschichtsschreibung. So gehört es auch zur Biographie von Horst-Peter Wolff, dass er als Berufshistoriker in der DDR propagandistische Geschichtsdarstellungen verfasst hat. Das Biographische Lexikon ist ein engagiertes Projekt, das Pflegegeschichte auf einzigartige Weise greifbar macht und fast in Echtzeit dokumentiert. Es wäre zu wünschen, dass es nach 23 Jahren endlich langfristige Förderung erfahren würde. Dem aktuellen Band wünsche ich einen festen Platz sowohl in den Bibliotheken der Hoch- und Pflegeschulen als auch in den privaten Büchersammlungen von Pflegefachleuten und verwandten Berufsgruppen. Dr. Anja Katharina Peters, Ev. Hochschule Dresden

hpsmedia, Hungen 2020, 327 S., 34,80 Euro

Lutz Hieber, Wielant Machleidt

Zwischen den Kulturen Integrationschancen für Migrantinnen und Migranten

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in demokratisches Gesundheitswesen ist für alle da – für Einheimische und Touristen, Flüchtlinge und Expats, Schwarze und Weiße, Frauen und Männer. Sie alle sollen versorgt werden, und zwar gleich gut. Das heißt, das Personal begegnet den Kranken psychologisch professionell, sogar wenn diese in einem anderen sozialen Milieu daheim sind als sie selbst, oder in einer anderen Kultur. Das ist weniger eine Frage der Haltung als eine von Wissen und Können. Um das Können zu fördern, schickt man Gesundheitspersonal in interkulturelle Trainings. Ob sich der interkulturelle Berufsalltag dadurch tatsächlich professionalisiert, hängt nicht zuletzt an der empfohlenen Literatur. Und da sticht „Zwischen den Kulturen“ höchst positiv heraus. Geschrieben haben es die beiden emeritierten Altmeister des Interkulturellen aus Hannover, der Soziologe Lutz Hieber und der Psychiater Wielant Machleidt. Jeder spricht mit seiner Expertise, und beide beziehen sich konstruktiv aufeinander. Hieber und Machleidt liefern Hintergrundwissen für alle, die mit MigrantInnen arbeiten, als KollegInnen, im Sozialwesen oder im Medizinsystem. Und sie regen die Lesenden an, eigene Automatismen und Verhaltensweisen immer besser wahrzunehmen, was sie mit persönlichen Erfahrungen untermalen. Tatsächlich nehmen wir nicht bewusst wahr, wie wir im Alltag denken, reagieren und uns verhalten, weil wir dafür Routinen nutzen, die wir „implizit“ und unbewusst gelernt haben. Das Ergebnis ist nachhaltig und nicht ohne Weiteres zu ändern. Solche unbewussten Verhaltensweisen sind elementare Kultur, schließlich ist Kultur mehr als Namen und berühmte Werke, bei uns etwa Beethoven, Goethe, Dürer oder Einstein. Kultur prägt, wie wir sprechen, wie wir essen, wie wir uns bewegen, wie wir uns kleiden, wie wir uns gesund halten. Und sie beeinflusst, was wir vom Leben erwarten, wie wir uns selbst sehen und wie andere Menschen, wie wir ihnen begegnen und wie wir Konflikte lösen. Für dieses unbewusste Koordinatensystem benutzt Hieber den Begriff „Habi-

tus“ (lateinisch Aussehen, Erscheinung, Verhalten). Der Hamburger Kunsthistoriker Erwin Panofsky führte ihn vor bald hundert Jahren ein, um Bilder verschiedener Epochen oder Kulturen zu vergleichen. Der Habitus ist zeitgebunden, schichtabhängig und regionaltypisch. Er bestimmt, wie vertraut oder fremd uns ein Mensch spontan erscheint. Verstehen wir dessen Habitus nicht oder falsch, können Missverständnisse Schaden hervorrufen. Deshalb ist es beim medizinischen Umgang etwa mit MigrantInnen unerlässlich, den eigenen Habitus zu kennen und den der Kranken zumindest verstehen zu wollen. Dieses Buch motiviert zu vielem: die eigene Kultur, den eigenen Habitus, erkennen; auf dieser Basis anderes Handeln trainieren; Menschen verstehen, die ihren Habitus nicht auf Knopfdruck ändern. Es zeigt auch, dass es eine Lebensaufgabe ist, in ein neues Land einzuwandern, wenn man dort dazugehören, akzeptiert und geschätzt werden will. Das schaffen nur Personen, so Machleidts berühmte und gut belegte These, die eine bi-kulturelle Identität entwickeln. Sie verharren weder im mitgebrachten Habitus noch übernehmen sie einen neuen. Sie variieren den mitgebrachten und eignen sich zusätzlich Neues an. Dieser implizite Lernprozess strengt an, dauert lange und braucht Unterstützung. Etwas leichter lernt es sich im Gesundheitswesen, einer Person mit fremdem Habitus unterstützend und selbstbewusst zu begegnen. Fundiert und menschenfreundlich trägt dieses Buch dazu bei, dieses Können zu entwickeln. Dr. Barbara Knab, München, https://barbara-knab.de

Psychosozial, Gießen 2020, 164 S., 19,90 Euro

Dr. med. Mabuse 249 · Januar / Februar 2021


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Christine Jüngling, Schirin Homeier

Träumst du, Leon? Ein Kinderfachbuch über Epilepsie

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ann die Geschichte eines Jungen mit Absence-Epilepsie tatsächlich, wie im Untertitel beansprucht, „über Epilepsie“ im Allgemeinen aufklären? Unterscheiden sich Absencen nicht zu deutlich von den Krampfanfällen, welche die Wahrnehmung der Epilepsie prägen? Diese Fragen standen am Beginn meiner Lektüre von „Träumst du, Leon?“. Das Buch beantwortet sie überzeugend. Erzählt wird die Geschichte eines Drittklässlers, der zunächst unmerkliche, dann für ihn und sein Umfeld unerklärliche Aussetzer erlebt: Er erstarrt am Frühstückstisch, kann manchmal dem Unterricht nicht folgen, ist müde und lustlos. Sein Referat über Hunde bricht für lange Sekunden ab, beim Fußballspielen rollt ein Ball ins Tor, ohne dass Leon sagen könnte, wie. Er spürt die Irritation und den Ärger der anderen Kinder und schämt sich. Eine Lehrerin erkennt den Handlungsbedarf und informiert die Familie, der Leon sich nicht mitgeteilt hatte. Der Kinderarzt diagnostiziert korrekt eine Epilepsie und erläutert das Krankheitsbild auf kindgerechte Weise. Nach einem Klinikaufenthalt, bei dem er andere betroffene Kinder kennenlernt, kehrt Leon gestärkt in den Alltag zurück. Dort wartet eine Überraschung auf ihn: endlich der ersehnte Hund als Haustier! Der Hund wird auch lernen, einen Anfall zu erkennen. Als Leon in der Klasse von ihm erzählt, nimmt er seinen ganzen Mut zusammen und spricht offen über seine Krankheit. Er erlebt das Interesse und die Akzeptanz seiner MitschülerInnen. Erleichtert und stolz freut er sich auf das nächste Fußballspiel: „Da zeige ich euch, wer hier der beste Torwart ist!“ Die typischen Symptome einer Absence werden anschaulich geschildert. Leons Entwicklung verläuft optimal. Die farbenfrohen, lebensnahen Illustrationen von Schirin Homeier zeigen dazu freundliche Menschen mit großen Augen und offenen Gesichtern. Der Wunsch nach einem Haustier, die konsistent eingesetzte Bildmetapher der (fehlenden) Puzzleteile, ein knallbuntes Raumschiff, das in der Arztpraxis auftaucht und Leon einige Seiten später in den Alltag zurückfliegt – bei dieser Geschichte und Bebilderung werden sich LeserInnen im Grundschulalter, Dr. med. Mabuse 249 · Januar / Februar 2021

die aufgrund der Altersspezifizität der beschriebenen Epilepsieform die wichtigste Zielgruppe bilden, gut aufgehoben fühlen. Der das Buch abschließende Sachtext, geschrieben von ExpertInnen der Epilepsie-Zentren Berlin-Brandenburg und KehlKork, wendet sich an die Eltern. Er gibt der Vielfalt der Epilepsiesyndrome und verschiedenen Anfallsformen, auch den Herausforderungen eines Grand mal-Anfalls, mehr Raum als die voranstehende Geschichte. Die meisten LeserInnen werden mehr über die Epilepsie ihres Kindes wissen, als die acht Seiten vermitteln können. Alle anderen erhalten eine behutsame Einführung. Die Absence-Epilepsie des Kindesalters ist eine besonders häufig auftretende Epilepsie. Dass auch von einer anderen Form betroffene Kinder von dem Buch profitieren können, liegt daran, dass Christine Jüngling und die AutorInnen des Sachteils herausstellen, was allen Epilepsien gemeinsam ist. Sie verdeutlichen, dass generalisierte tonisch-klonische Anfälle im Prinzip auf die gleiche synchrone Entladung von Nervenzellen zurückgehen wie die deutlich unauffälligeren Absencen. Das hilft dabei, Ängste abzubauen und Stigmatisierungen zu vermeiden. Außerdem fokussiert die Geschichte nicht auf ein bestimmtes Behandlungsergebnis: Das „Happy End“ stellt sich ein, als es Leon gelingt, die Epilepsie als Teil seines Lebens anzunehmen und offen darüber zu sprechen. So ist „Träumst du, Leon?“ ein Buch für alle Anfälle: Es erzählt von dem, was für jedes betroffene Kind am wichtigsten ist. Die Absence-Epilepsie erweist sich als idealer Ausgangspunkt, um die Erkrankung begreiflich zu machen. Tobias Frisch, Vater einer Tochter, die mit vier Jahren eine Absence-Epilepsie entwickelte

Mabuse, Frankfurt am Main 2020, 59 S., 16,95 Euro

www.klett-cotta.de/schattauer

Das Grundlagenwerk für Aufklärung, Inter vention, Beratung und Therapie Melanie Büttner (Hrsg.)

Handbuch Häusliche Gewalt Gewalt

NEU Melanie Büt tner ( Hrsg.)

Handbuch Häusliche Gewalt • Praxisorientiert : Interventionen zum Gewaltschutz, Strategien für die Beratung und Therapie, Fallbeispiele • State of the Art : Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis geben Einblicke in Grundlagen und Handlungsansätze • Hochaktuell : Gewalt im häuslichen Umfeld ist bis heute weit verbreitet • Konkurrenzlos: Das erste Standardwerk für alle relevanten Berufsgruppen 2 0 2 0. 4 8 0 S e i t e n , g e b u n d e n € 4 5,– ( D ) I SB N 978 - 3 - 608 - 40 04 5 - 8

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Ina Hullmann

Psychologie der Leichtigkeit In 5 Schritten Wahrnehmungsperspektive und Bewusstsein erweitern

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ie habe das Buch geschrieben, weil sie sich die Frage gestellt habe, ob es möglich sei, dass Menschen zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen wechseln können, heißt es von der Autorin Ina Hullmann. Konkret meint sie dabei den Wechsel von einem inneren Stresszustand oder Überlebensmodus, in dem man entweder aggressiv wird, Angst bekommt oder in eine innere Starre gerät, hin zu einem erweiterten „Bewusstseinsmodus der Leichtigkeit“, der wieder bessere Entscheidungen und Verhaltensweisen ermöglicht. Sie beantwortet diese Frage positiv: Ja, es funktioniert. Die erweiterte Perspektive der Leichtigkeit ist erlernbar – und wie, das will die Diplom-Psychologin und Hypnotherapeutin in diesem Buch zeigen. Leicht hat es sich Ina Hullmann dabei allerdings nicht gemacht. Das liegt wohl auch daran, dass sie dem Schattauer-Verlag die Idee zu diesem Buchprojekt vorgestellt hat, offenbar ohne eine konkrete Vorstellung zu haben, welches Werk am Ende dabei herauskommt. So ist sie eine „Abenteuerreise“ angetreten von der Psychologie und Neuroforschung über die Quantenphysik bis hin zu antiken und modernen Bewusstseinsmodellen, bei der sie ihre LeserInnen auch in ihrem Entstehen und in ihren Interaktionen zu PatientInnen, Interviewanfragen und Filmsendungen mitnimmt. Dabei ist die Grundidee ebenso faszinierend wie verlockend: Mit „Leichtigkeit“ lässt sich ihrer Ansicht nach das volle Potenzial unseres Denkens und auch emotionalen Handels entwickeln und es lassen sich Perspektiven erweitern, während wir aus dem Gefangensein etwa in einer „Problemtrance“ selten ohne Hilfe herauskommen. Unterteilt hat Ina Hullmann ihr Buch in fünf Kapitel, die sie als „einen mentalen Lift“ verstanden wissen möchte. Dabei soll man allerdings nicht frei die Stockwerke wählen, sondern ist angehalten, sich in einem „ruhigen Tempo“ von Stockwerk zu Stockwerk auf 320 Seiten vorzuarbeiten. So wird in Kapitel 1 die „Magie der Leichtigkeit“ und ihre Wirkung auf Körper und Psyche ausgeführt. Kapitel 2 lei-

tet an, wie man in einen Zustand der Ruhe kommen kann, um sich emotional zu stabilisieren und das psychische Immunsystem zu stärken. Selbstanalyse und Glaubenssysteme sind Schwerpunkt des Kapitels 3, in dem Ina Hullmann auch viele Erkenntnisse aus der Naturwissenschaft und aus verschiedenen Weltbildern eingebaut hat. Im vierten Kapitel erfährt man – akzentuiert aus hypnotherapeutischer Sicht – Wissenswertes über verschiedene Bewusstseinszustände sowie über Meditation. Angekommen in Kapitel 5 wird noch einmal alles im Rückbezug auf die vorigen Kapitel zusammengestellt, um sich auf Basis der vorangegangenen Übungen und Erkenntnisse ein Trainingsprogramm zusammenzustellen, das Schritt für Schritt zu mehr Leichtigkeit führen soll. Was wir beim Lesen erfahren können, handelt von Vielem und Allem – auch zum Thema Ressourcen oder Resilienz – und ist letztlich nichts Neues. Das Buch leitet an, mithilfe einer inneren Ordnung innere Übersicht zu verschaffen und – solange man dazu in der Lage ist – eingeschränkte Sichtweisen zu erweitern, die einem dann später in schwierigen Situationen helfen können. Es werden Grundlagen und Techniken vermittelt, wie Menschen aus schweren Situationen, Krisen oder einem Burn-out-Zustand wieder herausfinden können. Das Trainingsprogramm für Leichtigkeit lädt zu einem doch sehr strukturierten Tag mit Suggestion für das Unterbewusste, Einschlafritualen, Tagebucharbeit, Leichtigkeitstankstellen und Selbstwertübungen ein, die allemal richtig, aber nicht immer leicht sind. Dies trotzdem leicht und oft auch heiter erscheinen zu lassen, verdankt das Buch der sicher gelebten Einstellung der Hypnotherapeutin, die eher einen „Ozean an Möglichkeiten“ als die „Ein-Engung auf Probleme“ sieht. Helmut Schaaf, Bad Arolsen

Schattauer-Verlag, Stuttgart 2020, 336 S., 25 Euro

Marianne Leuzinger-Bohleber, Alexa Grabhorn, Ulrich Bahrke (Hg.)

Was nur erzählt und nicht gemessen werden kann Einblicke in psychoanalytische Langzeitbehandlungen chronischer Depressionen

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atientInnen mit chronischen Depressionen stellen nicht nur behandelnde PsychiaterInnen, AllgemeinärztInnen und PsychotherapeutInnen vor gravierende Probleme. Sie sind auch für ihre Partner und Kinder, ihre Eltern und KollegInnen oft schwer zu ertragen. Umso wichtiger sind Studien zu den Erfolgsaussichten psychotherapeutischer Behandlungen, die Besserung oder gar Heilung herbeiführen sollen. Das vorliegende Buch handelt von dem Versuch, psychoanalytische Therapien dieser PatientInnen zu beforschen und die Ergebnisse dieser Forschung in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit darzustellen. Die Veröffentlichung ist aber nicht nur eine Forschungsstudie, sondern bietet auch neun intensive Fallberichte psychoanalytischer Therapie depressiver PatientInnen aus der Sicht ihrer AnalytikerInnen. Fünf der Berichte sind gefolgt von der objektivierenden Darstellung begleitender Forschungsinterviews mit den PatientInnen. Alle diese Forschungsberichte erschließen sich als „dichte Beschreibung“ eines psychoanalytischen Beziehungsgeschehens auch einem psychoanalytischen Laien und machen, da sie mehr als zwei Drittel des Gesamtumfangs des Buches umfassen, die Veröffentlichung für jeden Interessierten lesenswert. Die Einführung verortet den Stellenwert der Falldarstellungen im größeren Rahmen der sich über zehn Jahre erstreckenden Forschungsstudie „Langzeittherapie bei chronischen Depressionen“ (LACDepressionsstudie). Die Forschung hatte zum Ziel, psychoanalytische Therapie und kognitive Verhaltenstherapie bei der Behandlung von PatientInnen mit chronifizierter Depression zu vergleichen. Ihre Besonderheit bestand darin, dass hier eine Studie prospektiv angelegt wurde, also nicht auf Katamnesen (Beschreibung des Krankheits- und Therapieverlaufs nach der Behandlung eines Patienten, Anm. d. Red.) aufbaute, sondern den Behandlungsprozess begleitete. Dr. med. Mabuse 250 · März / April 2021


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Alle Behandlungen wurden immer wieder intensiv klinisch in einer begleitenden wöchentlichen Fallkonferenz am Sigmund Freud-Institut Frankfurt besprochen. Dazu kamen von den Behandlungen unabhängige Interviews im Sinne der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) zu Beginn der Behandlungen und nach einem Verlauf von jeweils ein, drei und fünf Jahren. In diesen Interviews sollte ein Verständnis dafür entstehen, wie die Befragten denken, fühlen und wie es ihnen mit anderen Menschen geht. Das Interview wurde jeweils von zwei speziell geschulten Forschern verblindet, also in Unkenntnis des Therapieverfahrens eingeschätzt und im multiaxialen Diagnosesystem der OPD verortet. Ein wichtiges Ergebnis war, dass strukturelle Veränderungen, also anhaltende psychische Umwandlungen der Selbst- und Objektrepräsentanzen, nach drei Jahren Behandlung statistisch signifikant häufiger in analytischen Psychotherapien als in Verhaltenstherapien zu finden waren. Die Darstellung dieser Forschungsergebnisse liefert auch ohne die im Buch abgedruckten klinischen Behandlungsberichte interessante Erkenntnisse. Sie bliebe aber gleichsam „kalt“ ohne die Begegnung mit dem Schicksal der PatientInnen, ihren Versuchen, sich in der Behandlung sprachlich und handelnd mit dem Analytiker und sich selbst über ihr Leiden, ihre Geschichte, ihre Verwicklungen in Beziehungen zu verständigen. In den Berichten begegnen uns oft in ihrem frühen Leben traumatisierte PatientInnen, die am Gelingen ihres Lebens verzweifelt sind und unbewusst auch im Behandlungsgeschehen ihre frühen Erfahrungen mitzuteilen versuchen. Die Falldarstellungen zeigen exemplarisch, wie PatientInnen in psychoanalytischen Therapien unterschiedlicher Länge und Frequenz ihre eigene biografische Vergangenheit, die verschüttet ist, entdecken, in oft mühsamen gemeinsamen Anstrengungen mit dem Analytiker zusammen integrieren und dabei eine nun bewusste, neue Erzählung ihrer Geschichte schaffen. Dem Leser vermittelt sich, dass bei jeder Patientin, jedem Patienten ganz eigene, individuelle Bedingungen in die Depression führten. Somit benötigt auch jede/r einen eigenen neuen Zugang zum eigenen Unbewussten. Bei einem mögen es unerträgliche Schuldgefühle nach dem Verlust einer geliebten Person sein, bei Dr. med. Mabuse 250 · März / April 2021

einem anderen eine gestörte Balance der Selbstwertregulierung, bei einem dritten traumatisierende Erfahrungen mit mangelnder Fürsorge der ersten Bezugspersonen. Die Berichte zeigen auch auf berührende Weise, wie die Behandler in den regressiven Prozess ihrer PatientInnen hineingezogen werden. Sie müssen oft zunächst an der eigenen Seele oder im eigenen Körpererleben erleiden, was den PatientInnen zugestoßen war. Erst dann lässt sich ein neues Verständnis der Verletzungen erschließen. Dr. med. habil. Dipl.-Soz. Alf Gerlach, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin – Psychoanalyse, Saarbrücken

Psychosozial-Verlag, Gießen 2020, 327 S., 34,90 Euro

Ylva Söderfeldt

Krankheit verbindet Strategien und Strukturen deutscher Patientenvereine im 20. Jahrhundert

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lva Söderfeldt ist Medizinhistorikerin und arbeitet an der Universität Uppsala am Institut für Wissenschaftsund Ideengeschichte. 2011 promovierte sie mit einer Arbeit über die Geschichte der deutschen Gehörlosenbewegung. Aus dieser Forschungsarbeit heraus entstand auch ein höchst interessanter Artikel im Selbsthilfegruppenjahrbuch 2013 der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen unter dem Titel „Der Anfang einer Selbsthilfebewegung? Die Organisation der Gehörlosen im 19. Jahrhundert“. In ihrem neuen Buch untersucht Söderfeldt die Entstehungsgeschichte von „Patientenvereinen“ exemplarisch anhand von drei Beispielen: der Deutschen Hämophiliegesellschaft (DHG), des Deutschen Diabetiker Bundes (DDB) und des Allergiker- und Asthmatikerbundes (AAB). Am Ende stellt sie selbst die Frage, „inwieweit die hier behandelten Organisationen repräsentativ sind“ (S. 95). Hierin liegt aus Sicht eines Lesers, der themenübergrei-

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fender „Selbsthilfe-Generalist“ ist, natürlich eine ganz bedeutsame Limitation dieser Arbeit, aber für eine Historikerin ist diese Vorgehensweise methodisch vermutlich vollkommen legitim. Nur sollte der Leser die Erkenntnisse aus diesen drei Einzelfällen nicht vorschnell generalisieren; die Autorin tut es im Übrigen auch nicht. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung sind die drei Falldarstellungen durchaus historisch hoch interessant. Man lernt etwas über die frühen Anfänge dieser heutzutage als „Selbsthilfeorganisationen“ bezeichneten Patientenvereine. Zeitweilig waren sie, wie Söderfeldt sich ausdrückt, „Tandemvereine“, also Patienten- und ärztliche Fachgesellschaft zugleich. Sie entstanden offenbar alle eher „top-down“, mit ganz wesentlicher Beteiligung einzelner Ärzte und unter starker Verflechtung mit Interessen Dritter (z.B. der Pharmaindustrie, aber auch dem Bädertourismus). Ärzte waren „Gallionsfiguren“ und Türöffner, „im Gegenzug erfüllten Patientenvereine wichtige Funktionen im Interesse der Ärzte“ (S. 85), etwa bei Aufklärung und Schulung der Patienten („Selbstkontrollgruppe“, S. 95), und sie halfen in ihren Verbandszeitschriften dabei, Außenseitermethoden zu bekämpfen (S. 86). „Ausgehend von den präsentierten Fallbeispielen wird deutlich, dass die vorherrschende Vorstellung einer Selbsthilfebewegung als Teil der in den 1960erJahren geborenen ‚Alternativbewegung‘ revidiert werden muss“, meint Söderfeldt (S. 87). Das ist Anlass zum Nachdenken. Allerdings: Wer schon lange genug dabei ist und sich an die enormen Widerstände der organisierten Ärzteschaft gegen die aufkommende Selbsthilfebewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren erinnern kann, als von ärztlicher Seite schon mal von „wildgewordenen Patientenmeuten“ die Rede war, fragt sich, wie das zusammenpasst. Vielleicht kam damals – eben im Geiste von 1968 – doch ein sehr viel stärker emanzipatorisch und weniger paternalistisch geprägtes Element hinzu, mehr Basisorientierung und solidarische Wechselseitigkeit, mehr Kritik an den Verhältnissen in unserem Gesundheitswesen, welches die Selbsthilfe-Landschaft in Deutschland ganz wesentlich veränderte und bereicherte. Insofern würden auch die unterschiedlichen Bezeichnungen („Patientenvereine“ bei Söderfeldt

und „Selbsthilfeorganisationen“ nach heutigem Sprachgebrauch in der Fachdiskussion in Deutschland) sehr sinnvoll und hilfreich sein. Analoges ist aus dem Suchtbereich bekannt: Das Blaue Kreuz zum Beispiel wurde zwar 1877 gegründet (allerdings ganz im Sinne der geistlichen und ehrenamtlichen Trinkerfürsorge, wie man damals sagte), aber erst in den 1970er-Jahren wandelte es sich zu einer Selbsthilfeorganisation, in der Betroffene mehr und mehr das Sagen hatten. In diesem Sinne könnte man festhalten, dass Söderfeldt Vorläuferorganisationen heutiger Selbsthilfeorganisationen untersucht hat, nicht jedoch die heutige Rolle von „Patientenvereinen“/ Selbsthilfeorganisationen im Gesundheitswesen und deren Verhältnis zur Ärzteschaft, zur Pharmaindustrie und zur Politik. Seit etwa zwei Jahrzehnten erfreut sich die Selbsthilfebewegung in Deutschland nicht nur einer wachsenden öffentlichen Anerkennung, sondern auch der öffentlichen Förderung vor allem aus Mitteln der Gesetzlichen Krankenversicherung nach SGB V, jedenfalls sofern sie gesundheitsbezogen ist. Dies könnte sie (zumindest ein Stück weit) immunisieren gegen fragwürdige Angebote der Industrie. Und in gesundheitspolitischen Gremien wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss sitzt die Patientenvertretung eben nicht auf der Bank der Leistungserbringer oder der Kostenträger, sondern ihnen gegenüber. Die Geschichte ging also weiter. Jürgen Matzat, Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen Gießen

Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020, 117 S., 36 Euro

Jonas A. Hamm

Trans* und Sex Gelingende Sexualität zwischen Selbstannahme, Normüberwindung und Kongruenzerleben

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as machen trans* Personen im Bett – und an allen anderen Orten, an denen Sex stattfindet?“ (S. 17) Was ist für sie guter Sex und wie sieht der Weg dahin aus? Darum geht es in diesem Buch. Bislang wurde wenig zu diesem Thema geschrieben. Der Autor Jonas Hamm ist Sexualwissenschaftler, systemischer Trans*Berater und Menschenrechtsaktivist mit langjähriger Erfahrung in der psychosozialen Begleitung von transgeschlechtlichen Menschen und deren Angehörigen. Er begegnet dieser Forschungslücke (S. 19), indem er im Rahmen seines partizipativen Forschungsprojektes trans* Personen interviewte, die mit ihren gewachsenen Genitalien und ihrer gelebten Sexualität zufrieden sind, sich also keine operativen Veränderungen wünschen. Er wertete aus, mithilfe welcher Strategien und Ressourcen dies jeweils gelingen konnte und welche Lernprozesse dabei stattgefunden haben. Ein wichtiger Beitrag, denn Fachkräfte aus Psychologie, Pädagogik und Medizin trauen sich häufig nicht, mit transgeschlechtlichen Menschen über ihre (un-) gelebte Sexualität zu sprechen. Ihnen fehlt das Wissen über gelingende Sexualität von transgeschlechtlichen Menschen und Reflexion darüber, wie sie diese akzeptierend und bestärkend begleiten können. Trans* Personen vermissen affirmative sowie ressourcen- und kreativitätsorientierte Gesprächsmöglichkeiten mit Kolleg*innen aus der Paar- und Sexualberatung beziehungsweise -therapie. Wen der etwas sperrige Untertitel des Buches irritiert, freut sich vielleicht umso mehr über die Wahl des aussagekräftigen Umschlagbildes. Eine Augenweide ist die wahrlich bunte Vielfalt an Genitalmodellen, angefertigt von der Künstlerin Stefanie Grübl. Lässt mensch die Augen im Bild spazieren gehen, erscheinen immer wieder neue Details der genitalen Vielfalt und geben einen Vorgeschmack auf den Inhalt des Buches. Das Buch ist trotz komplexer Thematik leicht zu lesen. Alle, die noch nicht tief im Thema sind, können aufatmen: Es beginnt mit einem Crash-Kurs zu den wichDr. med. Mabuse 250 · März / April 2021


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tigsten Begriffen und der Autor bietet durchgängig Begriffserklärungen an. Das Buch entspringt einer wissenschaftlichen Arbeit. Der Überblick zum bislang recht dünnen Forschungsstand ist anschlussfähig auch für Menschen, die neu sind im Thema. Wen die Hintergründe zum Forschungsvorgehen weniger interessieren, überblättert diese großzügig und steigt direkt bei den Ergebnissen ein. Dort geht es unter anderem um Räume und Settings, in denen Sex stattfinden kann, um sexuelle Rollen, die Neudefinition von Geschlecht und Genitalien mit weiblichen Penissen (S. 114) und Körpererweiterungen durch genitale Add-ons und Plug-ins (S. 87). Der Autor benennt Strategien der interviewten Personen im Umgang mit der eigenen Geschlechtsinkongruenz sowie für die Kommunikation mit der Außenwelt. Das Zusammenspiel von Geschlechtsidentitäten, Körpermerkmalen, Geschlechtsrollen und sexuellen Praktiken wird dabei breit aufgefächert. Wer jetzt denkt „Oje, das ist kompliziert“ – keine Sorge: Dem Autor gelingt es, komplexe Sachverhalte nachvollziehbar zu beschreiben, sodass Lesende die

Beschreibungen als Brücke zu neuen Gedankenufern nutzen können. Kurzportraits geben Einblicke in die geschlechtlichen und sexuellen Lebenswelten der Befragten. Wem bisher die Vorstellungskraft fehlte, wie gelingende Sexualitäten und Lernprozesse aussehen können, bekommt in diesem Kapitel konkrete Inspiration. Das Buch endet mit einer Zusammenfassung von Impulsen für die Beratungspraxis. Diese sind sehr wertvoll, allerdings hätten sie noch ausführlicher ausfallen können. Vielleicht dürfen wir auf einen Nachfolgeband hoffen mit einem Schwerpunkt auf Beratungsgesprächen. Wer sollte dieses Buch lesen? Jede Person, die über Geschlechtsidentitäten, gelingende Sexualitäten und sexuelle Weiterentwicklung sprechen möchte, im beruflichen Kontext vor allem Menschen aus den Feldern Beratung, Therapie, Medizin, Pflege und Pädagogik/Erwachsenenbildung. Trans* und geschlechtlich non-konforme Personen mit Fragen an ihre Sexualität(en) finden in diesem Buch Möglichkeiten zur Selbstermächtigung. Wer dieses Buch als nicht-trans* Mensch liest,

darf sich eingeladen fühlen, über Geschlechter, Sexualitäten und lustvolles Körpererleben zu reflektieren. Es gibt bestimmt die eine oder andere spannende Erkenntnis zu bergen, die gern – wie es die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und 2. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung Annette Güldenring im Geleitwort ausdrückt – „über trans* Erlebniswelten hinausgedacht“ (S. 14) und praktisch ausprobiert werden darf. Ich wünsche viel Freude dabei! K* Stern, Einzel- und Paartherapeut_in und Trans*Beratung in Hamburg, www.praxis-kstern.de

Psychosozial-Verlag, Gießen 2020, 147 S., 19,90 Euro

Neuerscheinungen zur Gesundhe eitsdebatte » K latssche n ände r t nichtss . Wiir brauche n e ine n Aufsschre i .«

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Berliner Bündnis f ür m e hr P e r s o na l im Krankenhaus

Ma ximiliane Schaffrath Sy stemrelevant Hinter den Kulis sen der P flege 2 4 0 S ei t e n K l a p p e n b r o s c h ur € 18,– [D] ISBN 978-3-7 7 76-294 2-1 E-Book: epub. € 13,90 [D] ISBN 978-3-7 7 76-2994-0

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Dr. med. Mabuse 250 · März / April 2021

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Olivia Dibelius, Gudrun Piechotta-Henze (Hg.)

Menschenrechtsbasierte Pflege Plädoyer für die Achtung und Anwendung von Menschenrechten in der Pflege

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ie kann man Menschenrechte in der Pflege achten und anwenden? Das ist die zentrale Frage der beiden Herausgeberinnen und Professorinnen aus Berlin. Das Fachbuch zur menschenrechtsbasierten Pflege analysiert, welche Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten sowie -verpflichtungen in Menschenrechten und Menschenwürde für die nationale und internationale pflegerische Versorgungspraxis liegen. Die Autorinnen stellen dies in drei Teilen und 19 Kapiteln vor. Dabei stehen nicht nur ethische Themen im Vordergrund: Das Spektrum reicht von Globalisierung, Arbeitsmigration und Flucht (Teil 1) über strukturelle Einbindung von Pflege im globalisierten und ökonomisierten Gesundheitssystem (Teil 2) bis zu Menschenwürde, Menschenbildern und Interaktionen in der Pflege (Teil 3). Bei der Auseinandersetzung mit den Inhalten kann man schon im ersten Teil, wenn es um Migration und Care-Arbeit geht, über den Tellerrand nationaler Pflegearbeit schauen und weiter denken. So untersucht Anne Wihstutz die Lebensverhältnisse junger Geflüchteter in Unterkünften und verhandelt ihr Recht auf Entwicklung, Versorgung, auf Teilhabe und Schutz vor Gewalt als Care-Recht. Im zweiten Teil sind die neun Beiträge sehr weit gefasst: von rechtlich-ethischen Aspekten in der Altenpflege über die schwierige ökonomische Situation im Gesundheitswesen bis zu Personal- und Ausbildungsfragen. Der zweite Teil endet mit einem Beitrag zu Digitalisierung und Partizipation. Deutlich wird in diesen Diskussionen: Menschenrechtsbasierte Pflege lässt sich nicht von menschenwürdigen Arbeitsbedingungen trennen. Dies wird im dritten Teil thematisiert, da Pflege meist in einem Umfeld stattfindet, in dem die eigenen Rechte auf einen würdigen Arbeitsplatz aktuell häufig nicht umgesetzt werden können. Eine menschenrechtsbasierte Pflege ist immer eine intensive Arbeit, wenn nicht nur die Würde, sondern auch

die Förderung der Selbstständigkeit, die Sicherung und Teilhabe, die Wahrung der körperlichen Integrität und Selbstbestimmung von KlientInnen einbezogen werden sollen. Wie funktioniert das bei gleichzeitigen knappen Ressourcen, zum Beispiel beim Personal? Ohne dass die Pflege diese beiden Aspekte selbst in den Mittelpunkt ihrer Entwicklung stellt, ist keine wirkliche Veränderung in Richtung menschenrechtsbasierter Pflege möglich. Obwohl Pflege als unverzichtbar für Politik und Gesellschaft gilt, verschärft sich die Situation von Pflegenden und zu Pflegenden weiterhin. Die Folgen zeigen sich verdeckt oder offen in menschenrechtswidrigen und -unwürdigen Arbeits- und Versorgungsbedingungen. In einem ökonomisierten Gesundheitssystem ist das allerdings nicht allein das Problem der Pflege, sondern das aller Beteiligten. Umso wichtiger ist es, diese Themen in die gemeinsamen Debatten einzubringen. Da mangelt es im Buch leider etwas an zukunftsgewandten Ideen zur Lösung oder einer lösungsorientierten Ausrichtung der Diskussion. Es bietet aber eine wichtige und breite Grundlage zur konstruktiven Neuorientierung und Erweiterung des Diskurses. Einerseits ist es nicht immer ganz einfach, den roten Faden zu behalten, da die Themenpalette sehr breit gefasst ist. Andererseits ist die Auseinandersetzung mit neuen Sichtweisen anregend. Für alle, die sich mit ethischen Themen und Professionalisierung in der Pflege befassen, eine sehr wichtige Lektüre. Sabine Kalkhoff, Hamburg

Hogrefe, Bern 2020, 288 S., 34,95 Euro

Martin Marianowicz

Die Gesundheitslüge Risiken und Nebenwirkungen eines kranken Systems

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ei der Sache mit der „Lüge“ ist es so: Man unterstellt damit irgendwem, so ungefähr das Gegenteil dessen zu erzählen, was tatsächlich der Fall ist, und verspricht indirekt, die Wahrheit zu enthüllen. Was heißt dann „Gesundheits“lüge? Martin Marianowicz, selbst klassischer Orthopäde und bekannter OP-Kritiker, meint damit die Behauptung, unser Gesundheitssystem zähle zu den besten der Welt. Genau das treffe erstens nicht zu, zweitens könnten es alle wissen und drittens wissen es die meisten auch. Insofern ist diese Behauptung eine Lüge. Dabei geht es nicht um Schönheitsfehler, sondern um strukturelle: Einerseits sind viele medizinische Interventionen hierzulande nicht nur überflüssig, nutzlos und kostenträchtig, viele sind sogar schädlich. Das beginnt bei den künstlichen Gelenken, mit denen nirgends ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung herumläuft wie in Deutschland. Doch auch Mandeln, Blinddarm und Gebärmutter werden hierzulande erheblich häufiger entfernt als in anderen europäischen Ländern. Und während man bei uns 405 von 100.000 Personen Jahr für Jahr einen HerzStent setzt, sind es in Spanien nur 126, nicht einmal ein Drittel. Dafür liegt Spanien in Sachen Lebenserwartung auf Platz 1 in Europa, wir dagegen auf Platz 17. Gleichzeitig wird hier technisch so viel diagnostiziert wie nirgends sonst. PatientInnen hilft das oft genug wenig, manchmal schadet es sogar; einzig die Geräte amortisieren sich. All das wurde schon vielfach kritisiert. Marianowicz fasst es aber gut zusammen, liefert schöne Zahlen und Abbildungen und das Buch liest sich gut. Darüber hinaus kritisiert er Abrechnungssysteme, undurchsichtige Verbindungen und die Lobbys des Gesundheitswesens, von Krankenhausgesellschaften über Pharmaindustrie bis Medizintechnik. Er geißelt die Verwaltungskosten der gesetzlichen Krankenkassen, ignoriert allerdings, dass die privaten pro Kopf erheblich mehr Verwaltungsgeld brauchen. Er plädiert für weniger Geräte und mehr Digitalisierung (braucht die keine Geräte?). Und er fordert, mehr abzuwarten und mehr vorzuDr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021


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Gräfe und Unzer, München 2020, 192 S., 19,99 Euro

Dr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021

Verena Brunschweiger

Die Childfree-Rebellion

www.familiendynamik.de

Warum „zu radikal“ gerade radikal genug ist 46. Jahrrgang a Heft 2 | 2021 2

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ave the earth, don’t give birth“ – für diesen Schlachtruf sei Deutschland nicht bereit, empört sich Verena Brunschweiger. Als einsame Ruferin in der Wüste prangert sie den Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und Klimakrise an, der doch offensichtlich und gut belegt sei – und dennoch weithin ausgeblendet werde. Ihr neues Buch liefert eine Fülle von Argumenten, reagiert aber vor allem auf die gesellschaftliche Wahrnehmung ihres 2019 erschienenen Manifestes „Kinderfrei statt kinderlos“. Gleich auf den ersten Seiten nimmt die Autorin uns mit in das Lehrerzimmer ihres Gymnasiums, dessen frostige Atmosphäre nach ihrer Publikation ebenso spürbar wird wie ihre emotional aufgeladene Verfolgung im Internet. Dagegen setzt sie Fakten aus vertrauenswürdigen Quellen und Zitate von Philosophen, Wissenschaftlern, Publizisten etc. – interessanterweise fast alle männlich. Rasch taucht das Thema des pronatalistischen Narrativs im Sinne einer durchgängig positiven Bewertung menschlicher Reproduktion auf. An vielen Beispielen wird offenbar, wie das idealisierte Wünschen, Bekommen und Haben von Kindern weite Bereiche unseres gesellschaftlichen Handelns und Wahrnehmens bestimmen, fast schon eine „Staatsreligion“ darstellen. Besonders kritisch erscheinen in dieser Hinsicht die passenden konservativen bis rechtspopulistischen Interessen und die verbreitete Blindheit gegenüber diesem Zusammenspiel. Angesichts der zentralen Bedeutung von Überbevölkerung für die Erderwärmung wettert Brunschweiger gegen die Irreführungen vermeintlich umweltbewussten Konsums („nachhaltige Biobaumwolle für Kinderpopos“), anstatt sich der Option Verzicht auf eigene Kinder und damit dem Vermeiden weiterer Konsumenten ernsthaft zu stellen. Sie holt beeindruckend weit aus bei der Aufzählung feministischer, sozialer, psychologischer, politischer, ökonomischer und philosophischer Gründe für Lebensentwürfe ohne eigenen Nachwuchs zugunsten des Klimas. So seien Frauen (aber auch Männer) ohne Kinder tendenziell glücklicher, frei-

n Familien dy dynamik k

DOI 10.21706 6/fd-46-2

Systemische Praxis a

und Forschungg

Herrausgegeben von Ulrike Borst und Christina Hunger-Schoppe

Abschiede ʟ ÜBER-SICHTEN Therapieende – wie Abschied nehmen? h ? | IM FOKUS

Abschiednehmen aus systemischer Perspektive Beendigung g von Paartherapien mit i älteren Paaren Verlust durch Tod eines engen Familienmitglieds Bilanz therapeutischer Arbeit

ʟ SEITEN-BLICKE Systemische Schreibtherapie Ambivalenzen spüren

familien ndynamik.de

A u s g a b e 2 / 2 0 21

beugen. Zu Recht. Warum passiert das nicht? Es wird zu schlecht bezahlt, sagt Marianowicz – und fordert mehr Geld dafür. Schließlich beklagt er, frei nach der neoliberalen Bertelsmann-Studie von 2019, es gebe in Deutschland viel zu viele Krankenhausbetten. Zum Schluss stellt er 15 Punkte zur „Genesung“ des Gesundheitssystems vor. Da geht es um politische Fragen der Organisation von Gesamtsteuerung bis zu einem nationalen Präventionsplan, die Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung, verpflichtende Begleitforschung und digitale Patientenakten. Er schlägt vor, dass es Rechnungen für alle gibt, die man dann einsehen kann. Und er meint, eine einzige gesetzliche Krankenkasse reiche aus, allerdings nicht „Eine für alle“; denn die Zweiklassenmedizin rührt er nicht an. Das lässt durchaus Fragen offen, genau wie der Punkt „drastisch weniger Krankenhausbetten“: Hielt doch das System der Corona-Pandemie auch deshalb stand, weil wir so viele Betten hatten. Drei wichtige Gesundheitsbereiche lässt Marianowicz außen vor, ein klares Manko in einem Buch über das System an sich: psychische Krankheiten, das öffentliche Gesundheitswesen und Infektionen oder Pandemien. Doch vorn im Buch klebt ein kleines Zusatz-Heftchen: „Nach Corona ist vor Corona“. So erwartet man dort ein paar Worte zu „vor Corona“ im Sinne von „vor der nächsten Pandemie“. Doch Marianowicz bekräftigt dort nur: Die aufgezeigten Probleme sind nicht vorbei, wenn Corona vorbei ist. Was ja auch noch nicht der Fall ist. Dr. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin in München, https://barbara-knab.de

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er, erfolgreicher und interessanter. Für Rente und soziale Absicherung bedürfe es keines Bevölkerungswachstums, und nicht zuletzt werde jedem neu geborenen Wesen ohne sein Zutun aus narzisstischen Beweggründen seiner Eltern ein tendenziell leidvolles Leben inmitten einer zunehmend beschädigten Welt aufgezwungen. Diese Ansätze stoßen vor allem in Deutschland auf Diskriminierung und Widerstände, welche in einer Vielfalt persönlicher Beobachtungen und Fakten illustriert werden. Insgesamt geht es der Autorin mit ihrem Plädoyer für individuelle Kinderfreiheit unmissverständlich um einen persönlichen verantwortungsvollen Beitrag für eine lebenswerte und langfristig existierende (Um-)Welt. Ungerechtfertigt ist es sicher, ihr Misanthropie zu unterstellen. Schade ist aber, wie sehr sie ihre eigene Opferrolle teils polemisch, teils mit emotionalen Appellen und unterschiedlich gut belegten Behauptungen unter die eigentlich gut strukturierten Kapitelüberschriften vermischt. Insofern ist ihrem Wunsch nach offener und kritischer Auseinandersetzung uneingeschränkt zuzustimmen. Dr. Alice Nennecke, Hamburg

Bilder, die den Blick aufs eigene Leben weiten Dieses Kartenset mit 90 Bildkarten lädt ein zu einem ressourcenorientierten Blick auf die eigene Biografie. Damit können die Schätze des Lebens (wieder-)entdeckt und gewürdigt werden: vergangene Erfahrungen, erlebte Geschichten, soziale Beziehungen, Übergänge und gelungene Neubeginne. Durch die Rückschau ermutigt, wird es leichter, das gegenwärtige Leben zu verstehen und die nächsten Schritte zu gestalten. Die Karten eignen sich sowohl für die Einzel- als auch Gruppenarbeit mit Erwachsenen in den unterschiedlichsten Feldern der Beratungsund Bildungsarbeit und zur Selbstreflexion.

Büchner-Verlag, Marburg 2020, 148 S., 16 Euro

T AL S NÄ

Susanne Hölzl / Birgit Lattschar (Hrsg.) 90 Impulskarten mit einem ausführlichen Booklet Format: 13,3 x 17,1 x 3,2 cm € 29,95; Bestell-Nr. 590455

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Esther Bockwyt

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WA S KO MM

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Die Verhaltensanalyse Schritt für Schritt zum individuellen Störungsmodell. Mit Leitfaden und ätiopathogenetischer Tabelle

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sther Bockwyt hat ihr (Übungs-)Buch zum grundlegenden diagnostischen Verfahren der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) stark überarbeitet und beschreibt das konkrete Vorgehen der Verhaltensanalyse sehr praxisnah und leitfadenorientiert. Auf wenigen Seiten werden zunächst der theoretische Hintergrund und wesent-

liche Begriffe komprimiert erläutert. Die Verhaltensanalyse gilt als „Kernelement“ der KVT, da sich aus der präzisen Beschreibung der Symptomatik und der Ressourcen, der Funktions- und Bedingungsanalyse die Behandlungsziele und die Interventionen ableiten. Sie besteht aus Problemanalyse (Was ist das Problem?), Situationsanalyse (In welcher Situation tritt das Verhalten auf?), Verhaltensanalyse (Welche Reaktionen treten auf?), Bedingungsanalyse (Was geht dem Verhalten voraus bzw. folgt ihm?) und Funktionsanalyse (Wozu dient das Verhalten?). Gemeinsamkeiten, etwa mit der Planund Schemaanalyse werden skizziert. Die klassische Mikroanalyse mittels S-O-RK-C-Schema bezieht sich bekanntermaßen auf eine umschriebene, beobachtbare (und gegenwärtige) Situation. Heute werde eher gefragt, in welcher Lebenssituation ein Mensch eine psychische Störung entwickelt – wie auf der Mikroebene geht es um kurz- und langfristige Konsequenzen sowie Organismusvariablen. Bei allen PatientInnen sind solchermaßen ihre Lerngeschichten und ihre aktuellen Lebensbedingungen einzubeziehen, wenn wir erklären wollen, weshalb sich gerade in einer ganz bestimmten Lebenssituation genau diese Störung entwickelt hat. Bedeutsam können zudem Ressourcen/ Verhaltensaktiva, Bewältigungsfähigkeiten, ungestörte Verhaltensbereiche und das subjektive Krankheitsverständnis sein. Im Anschluss an grundsätzliche Überlegungen zur Entstehung psychischer Störungen wird eine „ätiopathogenetische Tabelle“ vorgestellt, die aus entwicklungspsychologischer Perspektive und unter Brückenschlag zu psychodynamischen und schematherapeutischen Konzepten „Entstehungspfade“ nach übergeordneten Kategorien wie zum Beispiel Vernachlässigung/Missbrauch oder Zwang/Autonomiebehinderung zu unterscheiden versucht. Ausführliche und anschaulich formulierte Fallbeispiele werden exemplarisch vorgestellt, um das verhaltensanalytische Vorgehen auch praktisch einüben zu können. Anzuerkennen sind unter anderem die durchweg hohe Güte des psychischen (psychopathologischen) Befunds, die klare Gliederung und das – sieht man von der seitenweise doch recht kleinen Schriftgröße ab – nutzerfreundliche Layout. Insbesondere die ätiopathogenetische Tabelle erweist sich – nach erstem „FremDr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021


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deln“ mit der „komplexitätsreduzierenden Kategorisierung“ – als sehr hilfreich in der Erstellung des gutachterlichen Berichts. Zu Recht hebt die Autorin hervor, diese könne auch generell von Nutzen für das psychotherapeutische Arbeiten sein, indem sie zu einem tieferen Verständnis psychischer Erkrankungen anrege. Hasso Klimitz, Potsdam

Schattauer, Stuttgart 2020, 224 S., 35 Euro

Helmut Schaaf

Hilfe bei Schwindel Gleichgewichtsstörungen erkennen und verstehen

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un hat also auch der Schwindel Einzug in die Mabuse-Welt gefunden, diesmal selbst bestellt für das 14. Buch in der Reihe „Erste Hilfe“. Gewonnen werden konnte dabei ein Autor, der sich seit vielen Jahren mit den organischen und psychosomatischen Grundlagen des Schwindels beschäftigt, begonnen aus eigenem Erleben einer Innenohr-Erkrankung und inzwischen professionell als Leiter einer neurootologisch-psychosomatischen Gleichgewichtsambulanz in der Mitte Deutschlands. Aus diesem Erleben und Verständnis heraus schildert er zunächst, was für die Abwesenheit von Schwindel notwendig ist, nämlich ein funktionierendes Gleichgewichtssystem. Das ist nicht gerade wenig, ebenso wie es vielfältige Möglichkeiten gibt, das Gleichgewicht durcheinanderzubringen, sei es auf der organischen, psychischen oder gesellschaftlichen Ebene. „Nirgendwo wird so viel geschwindelt wie beim Schwindel“ lautet eine hausärztliche „Weisheit“ – und sie stimmt, wenn man den Ursprung des Wortes Schwindel hinzuzieht. So wird der Begriff Schwindel benutzt für das – meist passiv erlebte – Gefühl des Schwankens, der Unsicherheit und des Taumelns hinsichtlich des Körpererlebens und des Schwindens der Sinne. Es wird aber auch benutzt hinDr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021

sichtlich des aktiven Erzählens der Unwahrheit. So ergeben sich schon aus der Etymologie drei verschiedene Bedeutungen, wie Lamparter 1995 dies beschrieben hat: erstens ein körperlicher Vorgang, zweitens ein gefühlhaftes Erleben und drittens ein sozialer Tatbestand, zum Beispiel des Betrügens. So ist „der Schwindel“ nach „dem Schmerz“ eines der häufigsten Krankheitssymptome. Dennoch ist das Wissen um Diagnostik und Behandlung doch beschränkt, oder vielleicht besser gesagt, es liegt bei den jeweiligen Behandlern nur bruchstückhaft und jeweils „abgespalten“ vor. Integrierte Ansätze sind selten und scheinen paradoxerweise wenigen Spezialisten überlassen zu sein. Für die gängigen Gesundheitsstrukturen jedenfalls scheint es schwer zu sein, Klarheit und Struktur bei diesem Krankheitssymptom herzustellen. Dies liegt wohl auch daran, dass es in seiner ganzen Komplexität sicher ernsthaft von niemandem alleine beherrscht werden kann. Hilfreich ist es dann, sich selbst so schlau wie möglich zu machen. Dazu zählt ganz sicher zu wissen, dass gut 30 % aller Schwindelformen psychogen zu verstehen sind. Zumindest weisen 30 bis 50 % der an Schwindel Leidenden eine relevante psychogene Mitbeteiligung auf. Patienten mit psychogen verursachtem Schwindel sind meist stärker beeinträchtigt als Patienten mit organischem Schwindel. Aber auch bei einer primär organischen Erkrankung entscheidet der sich oft entwickelnde reaktive psychogene Schwindelanteil über den weiteren Verlauf bis hin zu Fragen der partiellen oder kompletten Berufsunfähigkeit. Gerade wegen dieser Berücksichtigung organischer und psychosomatischer Anteile des Schwindels kann man das Buch, das speziell für das Verstehen und Umsetzen beim Patienten geschrieben ist, empfehlen. So werden nach einer grundlegenden Einführung mit zahlreichen Abbildungen die verschiedenen Krankheitsbilder mit Symptomen, Diagnostik und Therapie verständlich erklärt. Das

beinhaltet unter anderem, dass kein Satz mehr als zwei Zeilen einnimmt. In aller Regel werden medizinische Begriffe und Sachverhalte möglichst „auf Deutsch“ beschrieben. Dabei nimmt auch der psychosomatische und – manchmal zutreffender – der somato-physische Schwindel ausreichend Raum ein. Darüber hinaus wird erklärt, welche Medikamente im Anfall hilfreich sein können und welche (danach) nicht. So liegen die Verbesserungspotenziale in aller Regel nicht im „mehr Medikament“, sondern in der Aufgabe der Vermeidung und Aufnahme von Aktivitäten, weswegen im Buch auch praktische Gleichgewichtsübungen beschrieben werden. Insgesamt ein gelungenes, gut verständliches Buch zu einem komplexen Thema, dass nicht nur für Ärzte, sondern auch für Psychotherapeuten hilfreich ist und aufgrund seiner Ansprache an den Patienten die Chance hat, auch von Betroffenen verstanden und genutzt zu werden. Detlef Kranz, Mülheim an der Ruhr

Mabuse, Frankfurt am Main 2021, 134 S., 16,95 Euro

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Lehren und Lernen in den Gesundheitswissenschaften Ein Praxishandbuch

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Neuerscheinung im Mabuse-Verlag

n den vergangenen zwei Jahrzehnten sind in Deutschland über 600 Studiengänge in den Gesundheitswissenschaften entstanden. Ebenso divers wie die Studienangebote ist die Studierendenschaft im Hinblick auf Vorerfahrung und vorherige Abschlüsse, aber auch in Bezug auf Fähigkeiten, Herkunft und Beeinträchtigungen. Nicht zuletzt kommen auch die Lehrenden aus unterschiedlichen Disziplinen. Die HerausgeberInnen wollen mit dem vorliegenden Buch neuen Dozierenden den Weg in die Lehre erleichtern sowie erfahrene KollegInnen zur Reflexion anregen und ihnen frischen Input geben. Die meisten AutorInnen verfügen über langjährige Lehrerfahrung. Bemerkenswert und innovativ ist jedoch, dass auch Studierende ihre Perspektive zu diesem Band beigetragen haben. Es geht dabei nicht um intuitives Befinden, sondern um Bedarfe und Bedürfnisse, die in einer Befragung erhoben wurden. Damit agieren die Studierenden auf akademischem Niveau und tragen auf Augenhöhe mit den Lehrenden zum Buch und zur Entwicklung der Lehre in den Gesundheitswissenschaften bei.

Im Einführungskapitel werden grundsätzliche Überlegungen zur akademischen Verortung der Gesundheitswissenschaften und den AdressatInnen präsentiert. Daran schließen Kapitel zu Diversität, zur Barrierefreiheit in der Lehre, den Rollen von Lehrenden und Lernenden und den zu erwerbenden Kompetenzen an. Besonders das Kapitel zu barrierefreier Lehre würde ich gerne Handbüchern zur Didaktik in allen gesundheitsbezogenen Fächern zur Übernahme empfehlen. Kapitel 4 (Lehrveranstaltungen planen und didaktisch umsetzen) und 6 (Veranstaltungsformate in gesundheitswissenschaftlicher Lehre: Vorlesung, Seminar und Tutorien) dürften das stärkste Interesse bei NeueinsteigerInnen in die Lehre wecken. Hier werden lehrpraxisnahe Einführungen und Hinweise gegeben. Da wir alle derzeit pandemiebedingt vor neuen didaktischen Herausforderungen stehen, können diese Abschnitte auch erfahrenen Lehrenden Denkanstöße geben, Online- und hybride Lehre innovativ und an den Studierenden orientiert zu gestalten. Das fünfte Kapitel demonstriert, wie Studierende an das wissenschaftliche Arbeiten herangeführt werden können, und das Schlusskapitel befasst sich mit Evaluation und Qualitätsentwicklung. Erfreulicherweise ist hier auch ein kurzer historischer Rückblick enthalten. Auch in diesen Kapiteln orientieren sich die AutorInnen konsequent an den Voraus-

setzungen und Bedürfnissen der Studierenden. In einem gelegentlich selbstreferenziellen Hochschulsystem ist allein dieser Ansatz ein möglicher Auslöser für nachhaltige Reflexion. In seinen grundsätzlichen Ausführungen ist der Band ein hervorragendes und für den Einstieg ausreichendes Handbuch. Um in die einzelnen Methoden wirklich einzusteigen, ist weiterführende Literatur, auf die reichlich verwiesen wird, notwendig. Hervorzuheben ist die hervorragende Lesbarkeit. Insgesamt ein Praxishandbuch, das zur Vereinheitlichung der Lehrstandards in den Gesundheitswissenschaften beitragen wird, aber auch eine Bereicherung für benachbarte und verwandte Disziplinen ist. Dr. Anja Katharina Peters, Hochschule Neubrandenburg

Hogrefe, Bern 2020, 208 S., 39,95 Euro

Christina Kuhn, Anja Rutenkröger, Magdalena Czolnowska

Oma Luise und die Schmetterlinge Ein Kinderfachbuch über Demenz 58 Seiten, 16,95 Euro ISBN 978-3-86321-453-1 Mit ihrer Oma erlebt Karla lustige Geschichten. Aber oft erzählt Oma Luise, dass sie Schmetterlinge im Kopf hat, die einen Namen oder eine Geschichte davontragen. Deswegen macht Oma statt Salz Zucker in die Suppe. Die Bildergeschichte erklärt Kindern in leicht verständlichen Worten die Krankheit Demenz. Zudem animieren Fragen, die direkt an die Kinder gestellt werden, zum interaktiven Vorlesen. Der anschließende Fachteil gibt Hintergrundinformationen zum Krankheitsbild. Für Kinder ab 4 Jahren

www.mabuse-verlag.de

Ansgar Gerhardus, Petra Kolip u. a. (Hg.)

Dr. med. Mabuse 251 · Mai / Juni 2021


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Uwe Kaminksy, Katharina Klöcker

Medikamente und Heimerziehung am Beispiel des Franz Sales Hauses Historische Klärungen – Ethische Perspektiven

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ie Verabreichung von Medikamenten an Kinder und Jugendliche im Rahmen der Heimerziehung in den 1950erbis 1970er-Jahren ist gegenwärtig ein großes Thema der historischen Forschung. Wer sich damit näher befassen will, dem sei zum Einstieg die Studie von Uwe Kaminsky und Katharina Klöcker empfohlen. Sie behandeln sämtliche wichtigen historischen und ethischen Fragestellungen anhand eines klar abgegrenzten Beispiels: der Gabe des Neuroleptikums Decentan durch den Anstaltsarzt Waldemar Strehl im Franz Sales Haus in Essen. Dadurch bekommt man nicht nur zügig einen Einblick in damalige Praktiken und Rahmenbedingungen der Heimfürsorge, sondern erfährt auch einiges über die in dieser Zeit geltenden medizinischen und rechtlichen Standards. Das Besondere an dieser Studie ist sicherlich die bewusst klare Trennung in einen historischen und einen ethischen Teil, die jeweils von Expert*innen auf diesen Gebieten verfasst wurden. Damit wirkt sie zwar kaum noch wie eine Arbeit „aus einem Guss“, doch man ist der Gefahr anderer historischer Studien entgangen, in denen eine moralische Bewertung des Aufgearbeiteten durch Historiker*innen erfolgt, die dazu nur bedingt befähigt sind. Im ersten Teil, dem historischen Abschnitt, wird ein multiperspektivischer Ansatz gewählt, in dem ganz unterschiedliche Quellenarten ausgewertet werden. Dazu zählt neben Aktenmaterial und Zeitzeugeninterviews auch eine Stichprobe von 100 Patientenakten. Lobend hervorzuheben ist die Einbeziehung von Akten aus dem Unternehmensarchiv der Pharmafirma Merck. Der Autor Uwe Kaminsky, dessen kirchengeschichtliche Expertise man ihm insbesondere in den ersten einführenden Seiten anmerkt, bettet seine Untersuchung gut sowohl in die allgemeine Geschichte des Franz Sales Hauses als auch in den größeren Kontext der Medikamentengaben in der Fürsorgeerziehung ein. Im Kern der Untersuchung kann Dr. med. Mabuse 252 · Juli / August 2021

Kaminsky zeigen, dass im Franz Sales Haus das Medikament Decentan bereits vor seiner Zulassung 1959 eingesetzt wurde. Das Einsatzfeld von Decentan war zur damaligen Zeit breit. Es diente der Behandlung von Schizophrenie, Depression, Erregungszuständen, Psychosen und weiteren psychischen Erkrankungen. Ein in der Anstalt durchaus erwünschter Nebeneffekt war die Ruhigstellung der Kinder und Jugendlichen durch die sedative Wirkung. Die Nebenwirkungen waren vielseitig und reichten von Schwindel über Appetitlosigkeit bis hin zu Übelkeit. Ob es sich um eine Arzneimittelerprobung oder aber eine Anwendungsbeobachtung handelte, ist hinsichtlich der Quellenlage nicht eindeutig zu beurteilen. Es fanden sich jedoch Belege dafür, dass der Anstaltsarzt Waldemar Strehl das Medikament bewusst überdosiert hat, um einen Effekt zu erzielen. Im zweiten Teil der Studie werden zwei Anliegen verfolgt: Zum einen sollen die Medikamentengaben im Franz Sales Haus moralisch bewertet werden. Darüber hinaus zielt Katharina Klöcker aber auch darauf ab, ein allgemeines ethisches Analyseverfahren für Medikamentengaben zu entwickeln, um anhand dessen auch andere Fälle einschätzen zu können. Eine ethische Urteilsbildung soll dabei anhand der Kriterien Motivation, Richtigkeit der Handlung und Folgen vorgenommen werden. Nach einer detaillierten Analyse kommt die Autorin zum Schluss, dass „der Anstaltsarzt Dr. Waldemar Strehl eine große Mitverantwortung daran trägt, dass den Heimkindern im Franz Sales Haus durch moralisch nicht zu rechtfertigende Medikamentengaben großes Leid widerfuhr“. Der historische Teil ist logisch gegliedert, gründlich erarbeitet und leserlich aufbereitet, aber erst der ethische Teil verleiht der Studie ihren innovativen Charakter und unterscheidet sie letztendlich von anderen Arbeiten auf diesem Gebiet. Pierre Pfütsch, Stuttgart

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Aschendorff, Münster 2020, 288 S., 36 Euro

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Edzard Ernst

Alternativmedizin – Was hilft, was schadet Die 20 besten, die 20 bedenklichsten Methoden

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st es möglich, über Alternativmedizin noch einmal etwas Neues zu schreiben? Edzard Ernst war Inhaber des ersten Lehrstuhls für Komplementärmedizin in Exeter/UK und gilt als kompromissloser Kritiker der Alternativmedizin, indem er sagt: Wenn etwas für Patientinnen und Patienten nützlich ist, dann gehört das zur Medizin – es kann keine zwei Welten der Behandlung geben, die unterschiedlichen Logiken gehorchen. Nun legt er ein Buch vor, das auf den ersten Blick verwirrt. Titel: Alternativmedizin – Was hilft, was schadet. Das Buch gliedert sich in zwei große Teile. Auf 50 Seiten wird der Rahmen aufgespannt zu den Kernfragen: Warum ist Alternativmedizin so beliebt? Was ist das Verbindende der verschiedenen Verfahren? Mit welchen Falschaussagen werden Ratsuchende und Kranke in die Irre geführt? Wie lassen sich verlässliche Aussagen über Nutzen und Risiken gewinnen? Der Autor greift dann 20 Verfahren heraus – von Abmagerungsmitteln über Bach®-BlütenTherapie und Irisdiagnostik bis zur Zellularmedizin –, die er anhand vorliegender Evidenzberichte grundsätzlich ablehnt: Das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist ihmzufolge nicht akzeptabel. Es handelt sich durchgängig um Verfahren, die vorgeben, Allheilmittel zu sein, mindestens aber über breite Indikationsbereiche zu verfügen. Dann folgt die Schilderung von 20 Verfahren, die in der Regel mit bescheidenerem Anspruch antreten, vor allem auf die Linderung von Bewegungseinschränkungen und auf Entspannung im weitesten Sinne abzielen, beginnend mit der Alexander-Technik und endend mit Yoga. Hier zeigt Ernst, dass es für umgrenzte Indikationsgebiete zumindest Erfolg versprechende Daten gibt und dass sie insofern ergänzend zu den in der Regel nun aber auch wieder überlegenen Standardverfahren der Medizin eingesetzt werden können, ohne Schaden anzurichten. Dass ein so gut informierter Mann wie Edzard Ernst dazu auch die Lachtherapie rechnet, das lässt den Rezensenten dann doch schmunzeln. Nur zu: Lachen ist gesund, wer würde nicht zustimmen?

Der Autor bindet seine 20 „besten Methoden“ dann am Ende auch noch einmal durch eine relativierende Einschätzung zusammen: Sie sind keine Wunderwaffen, sie sind eben keine Alternative zur Medizin. Manche könnten bei besserer Studienlage vielleicht übermorgen ganz normale Medizin sein. Angebote, deren Nutzen die Risiken ausweislich gescheiter Studien übersteigt. Wer sich noch gar nicht mit Alternativmedizin beschäftigt hat und statt emotionaler Ausbrüche im Freundeskreis gut belegte Erläuterungen sucht, der wird mit diesem Buch zufrieden sein – es hilft, eine eigene Meinung zu entwickeln. Norbert Schmacke, Bremen

Gräfe und Unzer, München 2021, 224 S., 14,99 Euro

Alfred Wolf, Pasquale Calabrese

Stressmedizin & Stresspsychologie Epidemiologie, Neurobiologie, Prävention und praktische Lösungsansätze

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rsprünglich stammt der Begriff Stress aus dem Englischen und wurde zunächst im Bereich der Materialprüfung gebraucht, was anschaulich im Titelbild dargestellt wird. Dort bedeutete er Anspannung, Verzerrung oder Verbiegung. In die Medizin wurde der Begriff 1946 von Hans Selye eingeführt, als sich die Erkenntnis verbreitete, dass sich Gesundheit und Krankheit nicht nur aus organischen Faktoren entwickeln. Dies bedeutete eine nahezu revolutionäre Erweiterung des damaligen Medizinverständnisses. In der Folge ging der Stress-Begriff so in den Alltagsgebrauch über, dass daraus fast schon ein Allgemeinplatz wurde. In ihrem Lehrbuch „Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin“ kommentieren Hoffmann und Hochapfel 1991 zugespitzt: „Das Stressmodell ist heute stark – nach unseren Vorstellungen fast sinnlos – aus-

geweitet worden. Stress ist gewissermaßen alles, was aufregt. Spezifischer erarbeiteten Lazarus et al., dass eine Stressreaktion mehr nur eine Reaktion auf einen Reiz von außen ist. Sie machten deutlich, dass Stress als Ergebnis (Bilanz) durch die Auseinandersetzung der Person mit einer Belastung und den Ressourcen der betroffenen Person entsteht. Lazarus sieht Stress dabei als Diskrepanz zwischen Belastung und individuell (wahrgenommenen) Bewältigungsmöglichkeiten und -fähigkeiten an. Ob der Mensch in Stress gerät, hänge daher auch von subjektiven Interpretationen und Bewertungsprozessen ab. Dabei können auch kritische Lebensereignisse oder alltägliche belastende Dinge die individuellen Anpassungsleistungen überfordern.“ Das Buch von Wolf und Calabrese verfolgt ein „biopsychosoziales“ Modell, das menschliches Erleben und Verhalten als Wechselspiel gemeinsam agierender, neurobiologischer, endokrinologischer und immunologischer Vorgänge im Gehirn und anderer Organsystemen versteht und Gesundheit beziehungsweise Krankheit als Resultat eines funktionierenden oder eben gestörten Wechselspiels zwischen diesen Komponenten interpretiert. Diesem Ansatz folgend haben sie sich um eine panoramaartige Darstellung des Themenbereiches „Stress“ bemüht – von der Genetik über die Klinik zu den sozialen Auswirkungen. So erfahren wir mit viel Empirie und auf der biologischen Ebene belegt, welche Wirkungen Stress akut auf Körper und Psyche hat. Die Autoren verdeutlichen konkret die neurobiologischen Mechanismen zwischen Stress und spezifischen Krankheitsbildern, zum Beispiel Schlafstörungen, Depressionen, Schmerz, Sucht- oder kardiologischen Erkrankungen. Erstaunlicherweise finden sich keine Ausführungen zum Sehen und Hören. Im letzten Fünftel beschreiben sie Konzepte der stresspsychologischen und -somatischen Diagnostik sowie unterschiedliche Ansätze der Therapie und Prävention von stressbedingten Erkrankungen. Wer allerdings konkrete Anleitungen erwartet hat, sollte sie nicht in diesem Buch suchen. Zwar werden die vielfältigen Konzepte zum Umgang mit Stress geschildert, aber vor allen Dingen, um die dabei erzielten Effekte empirisch darzustellen, also eine Art Qualitätskontrolle zu machen. Am Ende kann man also wissen, warum man es macht und wie effektiv sich dies Dr. med. Mabuse 252 · Juli / August 2021


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auf den Körper und die Verarbeitung auswirken kann. Das ist eine große Motivationshilfe. Wie man es macht, steht woanders. Helmut Schaaf, Bad Arolsen

Schattauer, Stuttgart 2020, 504 S., 58 Euro

Dieter Korczak (Hg.)

Digitale Heilsversprechen Zur Ambivalenz von Gesundheit, Algorithmen und Big Data

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ie Texte in diesem Sammelband entstanden im Kontext einer 2019 durchgeführten Tagung der VDW-Studiengruppe „Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe“ und wurden bis zum Sommer 2020 überarbeitet. Johann Behrens eröffnet mit einer Ideologiekritik: Digitalisierung sei kein durch technische Innovationen vorbestimmtes Schicksal, sondern eine dominant werdende Form des kapitalistischen Wirtschaftens. Die Rede von künstlicher Intelligenz überhöhe die Technologie und verschleiere, dass uns in ihr nur begegnet, was

Menschen entschieden und programmiert haben. Wenn Behrens sich wiederholt an der Vorstellung wärmt, durch Digitalisierung überflüssig gewordene Investmentbanker könnten auf Pflegeberufe umsatteln, trägt das auch komische Züge. Ein Gewinn ist seine Klarstellung bezüglich Datenschutz- und Einwilligungserklärungen: Unter den gegenwärtigen Verhältnissen kaschieren sie häufig nur das Übervorteilen der Nutzer*innen, anstatt es zu verhindern. Der nächste Beitrag fällt teilweise hinter die Einsicht zurück, dass Digitalisierung menschengemacht ist. Theodor Dierk Petzold kontrastiert binäre Logik und die Komplexität des Menschen, als ob es sich um vollständig entkoppelte Sphären handle. Sein Modell des Menschen in Um- und Mitwelt bekommt mehr Raum als nötig. Einwände gegen statistisch gewonnene Evidenz irritieren. Seine plausible Analyse, dass das Smartphone als Übergangsobjekt zwischen Menschen tritt, deren Begegnung es vermitteln soll, berührt jedoch ein zentrales Dilemma: Die regressive Fantasie, mit Endgerät und App wie mit einem sozialen Gegenüber zu interagieren, fördert auch bei gesundheitsbezogenen Anwendungen die Compliance – und damit idealiter deren Nutzen. Felix Tretter konkretisiert den monetären Wert von Gesundheitsdaten, die Verhältnisse zwischen den Marktteilnehmer*innen, wissenschaftliche Grundlagen der Algorithmen sowie deren Schwächen bei der Adaption von Assessments, die für die ärztliche Praxis entwickelt wurden. Aus zwei gesundheitswissenschaft-

Diee Siinnne veer erw rwöhhnenn

mitt natüürrlliicichhen Heeill-- und Dufttssto toffefen

Erhältlich im Buchhan nde el oder unter :

www.werkstatt-produ duktion.de/buchladen Dr. med. Mabuse 252 · Juli / August 2021

lichen Modellen leitet er Qualitätskriterien für digitale Gesundheitstechnologien ab, die bestehende Bewertungssysteme etwa im Bereich Datensicherheit und Ethik ergänzen könnten. Auf die Durchsetzung solcher Kriterien hoffen alle Autor*innen. Dieter Korczak lässt deutlich werden, dass insbesondere Wearables (wie Fitnessarmbänder) wissenschaftlich unzureichend fundiert sind, massenhaftes Einsammeln marktfähiger Daten erlauben und die Nutzer*innen durch das Feedback einer so verstandenen künstlichen Intelligenz tendenziell entmündigen. Auch bei durch Krankenkassen geförderten Apps und den verschreibungsfähigen „Digitalen Gesundheitsanwendungen“ (DiGA) beobachtet er eine Aufweichung der für Arzneimittel und Medizinprodukte entwickelten Standards. Dass die für Regulierung zuständige Politik selbst zur Schwächung des Datenschutzes beitrage, begründet Sylvia Johnigk mit entsprechenden Vorstößen einzelner Parteien und den Regelungen des E-Health-Gesetzes von 2015. Eingehend kritisiert sie die forcierte Einführung der Telematik-Infrastruktur („elektronische Patientenakte“) und die Dominanz der involvierten Bertelsmann-Gruppe: Während die Stiftung an Standards zur AppQualität mitwirkt, verdienen BertelsmannTochterunternehmen ihr Geld mit „Adresshandel, Scoring und Profiling“. Ralf Lankau argumentiert, dass die für die Corona-Warn-App ursprünglich vorgesehene zentrale Datenauswertung zu einer massiven Einschränkung informa-

Mit über 40 Basisrezepten für ü Produkte zur u Gesichts- und d Körperpflege

6. Auflage erweitert und aktualisie ert

ettina Malle/Helge Schmickl herische Öle selbst herstellen 92 Seiten, Hardcover, € 16,90

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tioneller Selbstbestimmung geführt hätte. Sein zweiter Beitrag schließt den Band mit einem Plädoyer unter anderem für konsequente Datenminimierung und die Veröffentlichung der Quellcodes und Algorithmen, welche die Verarbeitung steuern. Die Autor*innen sehen Sicherheit und Wirksamkeit einer digital gestützten Gesundheitsversorgung bedroht durch die Informationswirtschaft und einen Staat, der wichtige Standards zugunsten von Verwaltung und Wirtschaftsförderung relativiert. Als Beteiligter an einem einschlägigen Zulassungsverfahren empfinde ich die Regeln für DiGA zwar als klar und fordernd; im Oktober 2020 vom Chaos Computer Club aufgedeckte Sicherheitslücken zeigen jedoch, dass sie – gewollt oder ungewollt – noch zu leicht zu unterlaufen sind. „Digitale Heilsversprechen“ bietet wertvolle Einblicke in umkämpftes Terrain – und zahlreiche Anregungen, wie die entwickelten Technologien konsequent und wirkungsvoller zum Erhalt von Gesundheit beitragen könnten. Tobias Frisch, Frankfurt am Main

Mabuse, Frankfurt am Main 2020, 195 S., 29,95 Euro

Anja Röhl

Das Elend der Verschickungskinder Kindererholungsheime als Orte der Gewalt

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eim Lesen dieses Buches taucht man ein in ein vergangenes Zeitalter – und ist heilfroh, dass es vergangen ist! Die Verschickungen zwischen den 1950er- und 1990er-Jahren in Westdeutschland, die Kinder ab zwei Jahren für mindestens sechs Wochen trafen, wurden von ÄrztInnen verordnet, von den Krankenkassen bezahlt und über Steuergelder finanziert. Die Diagnosen waren beliebig: Die Kinder sollten aufgepäppelt werden, abspecken, wegen Haut- oder Lungenerkrankungen an die See.

Da das Aufpäppeln unbedingt von messbarem Erfolg gekrönt sein musste, wurden Kinder gezwungen zu essen – und mussten, falls sie es erbrachen, ihr Erbrochenes erneut essen. Beleibte Kinder mussten entsprechend hungern. Kinder, die aus Angst, Heimweh (Zweijährige!) und dem Verbot, nachts aufs Klo zu gehen, ins Bett nässten, wurden gedemütigt, bestraft, an den Pranger gestellt und bedroht („Du darfst nie mehr nach Hause!“). Die unwillkürlichen, und damit nicht steuerbaren Reaktionen der Kinder auf diese „Behandlung“ wie Erbrechen, Einnässen, Weinen wurden sanktioniert, Briefe nach Hause zensiert beziehungsweise direkt diktiert, Besuche waren verboten. Wenn Kinder später zu Hause von ihren Erlebnissen berichteten, wurde ihnen nicht geglaubt – was das Kind da erzählt, kann ja gar nicht sein, es übertreibt oder denkt sich das aus. Das Buch ist gut geschrieben und informativ, wenngleich ich mir mehr Fotos gewünscht hätte. Die Autorin Anja Röhl hat 2019 mit ihren Recherchen begonnen und über www.verschickungsheime.de viele Zuschriften erhalten. Nicht alle Kinder haben schlimme Erlebnisse machen müssen, einige haben sich durch inneren Rückzug und maximale Anpassung selbst geschützt. Viele leiden aber noch heute unter den traumatischen Erlebnissen. Eine Ärztin für Psychotherapie, der gegenüber ich dieses Thema erwähnte, meinte spontan: „Ich habe einige Patienten, die davon erzählen, zum Beispiel, dass sie Erbrochenes essen mussten.“ Zwei Aspekte seien in diesem Zusammenhang erwähnt: die Nutznießer dieser Kuren und das Personal. Die Verschickungen belebten die Kurorte, die nach dem Kriegsende verwaist waren und bescherten den Betreibern der Heime, zum Teil ehemalige Nazi-Funktionäre, viel Geld. Da die Kinder – meist mit einem Schild um den Hals – mit der Bahn zu ihrer Kur transportiert wurden, verdiente auch diese. Eine Heimbetreiberin stellte etwa der Deutschen Bahn eine Rechnung über ihren Verdienstausfall, da diese wegen Eis und Schnee die erwarteten Kinder nicht „geliefert“ hatte! Wer waren die „Tanten“ und „Schwestern“, die die Kinder drangsalierten? Die meisten der Pflegerinnen, die in den Heimen tätig waren, hatten selbst eine lückenlose Nazi-Sozialisierung in der Säuglings-, Kinder- und Jugendzeit durchlau-

fen. Angefangen von der Nicht-Erfüllung kindlicher Bedürfnisse (kein Stillen nach Bedarf, kein Hochnehmen beim Weinen, Füttern und Schlafen nach strengem Rhythmus, zwanghafte Sauberkeitserziehung) wurde das Kind als Feind betrachtet, das es zu bändigen galt. Später wurde weiter an der Nicht-Bindung gearbeitet, an der Erziehung zu Härte, Kälte und Disziplin: Die Bindung sollte nicht an die Eltern erfolgen, sondern an die Jugendgruppen, an den Führer. Durch grausame Rituale wurde die Bindungslosigkeit quasi antrainiert: So wurden kleine Jungen in einem Freizeitlager Kaninchen zur Betreuung gegeben, um die sie sich kümmern sollten. Am Ende der Freizeit sollten sie ihr Kaninchen schlachten, um zu beweisen, dass sie nicht weich sind, sondern geeignet, für all das, was noch von ihnen erwartet wird. Der Führer brauchte eine „eisenharte und mitleidlose“ Gefolgschaft. Dass dieses Personal selbst stark geschädigt war, steht außer Frage – und man sieht, wie lange die Nachwirkungen dieser Zeit noch in die heutige reichen. Das Buch zeigt, dass die Erlebnisse in den Kuren keine Einzelschicksale waren, sondern dass diese institutionelle Gewalt im System begründet war. Das mag für Betroffene eventuell eine kleine Entlastung sein. Ich kann nur empfehlen, das Buch selbst zu lesen. Zur weiteren Vertiefung möchte ich Interessierten den Besuch der oben genannten Website und aus der Literaturauswahl das Buch „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Sigrid Chamberlain ans Herz legen. Eva Schneider, Hamburg

Psychosozial, Gießen 2021, 305 S., 29,90 Euro

Dr. med. Mabuse 252 · Juli / August 2021


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Mark Honigsbaum

Das Jahrhundert der Pandemien Eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Grippe bis Covid-19

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enn eine bislang unbekannte, neue Krankheit auftaucht, herrscht bei ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen zunächst Ratlosigkeit. In der breiten Öffentlichkeit werden schnell die absonderlichsten Thesen aufgestellt, Verschwörungstheorien aller Couleur sind en vogue. Alarmismus und Panikmache verstärken die Unübersichtlichkeit. Diese Geschichte scheint sich bei jeder Pandemie zu wiederholen, und das macht das im Folgenden besprochene Buch für Pandemiegeschädigte von heute lesenswert. Schon lange vor Corona begann der Medizinhistoriker Mark Honigsbaum, Materialien zur Geschichte der Pandemien zu sammeln. Es ist ein dickes Buch geworden, welches den Nerv der Zeit trifft und sich einreiht in all die Werke, die sich derzeit mit dem weltbeherrschenden Thema beschäftigen. Es ist nichts für zarte Saiten: Die zum Teil recht drastisch beschriebenen Pandemiegeschichten reichen von der Spanischen Grippe 1918 über Pestausbrüche in den USA, Psittakose, Legionellen, Zika und AIDS, SARS bis hin zu Covid-19 heute, Stand Mitte 2020. Bedrückend und klar dargestellt wird, dass viele der großen Seuchen unmittelbare Folge politischer Umwälzungen, aber auch unbedachter Eingriffe des Menschen in Ökosysteme sind. Und dass wir auch heute nicht in der Lage sind, die Folgen vorauszusehen. Umgekehrt münden die Folgen der Pandemien wiederum in persönliche, psychosoziale, wirtschaftliche und ökologische Katastrophen. Zum Überfliegen eignet sich das Buch nicht. Es ist eine anschauliche, gut recherchierte und spannend zu lesende Mischung aus Reportage und Wissenschaftsgeschichte. Für deutsche LeserInnen sollte hinzugefügt werden, dass der Autor eine angloamerikanische Sichtweise darstellt. Das mag manche kleinen Übersetzungsfehler, etwa den bekannten „falschen Freund“ Typhus für Fleckfieber, entschuldigen. Die vielen sorgfältig nach Zeit und Ort recherchierten Details und die vielen Namen von ÄrztInnen und WissenschaftlerInnen erfordern große Konzentration beim Lesen. Gerade der Detailreichtum Dr. med. Mabuse 252 · Juli / August 2021

aber fesselt und führt in all seinen zum Teil schwer erträglichen Facetten an die Methoden und Grenzen der Wissenschaft heran. Der Rezensent erlaubt sich, hinzuzufügen: Andere Influenza-Pandemien, etwa von 1957 und 1968, kommen im Gedenken der Menschen kaum vor, auch wenn weltweit Millionen starben, wie auch bei den alljährlichen Influenza-Epidemien, die übrigens 2021 völlig ausgefallen ist. So hat das entstehende kollektive immunologische Gedächtnis dazu geführt, dass 2009 die „Schweinegrippe“ eher Jüngere befiel: Der größte Teil der älteren Bevölkerung hatte eine vorbestehende Teilimmunität – wie möglicherweise auch bei der Spanischen Grippe, der Influenza-Pandemie um 1890. Eine solche müssen wir jetzt durch eine möglichst große Durchseuchung im Sinne einer Herdenimmunität (durch Impfung oder natürliche Erkrankung) schaffen, damit künftige Corona-Ausbrüche nicht mehr so eindrucksvoll sind. Der Historiker Yuval Noah Harari hat in einem Interview mit der ZEIT im Oktober 2020 gesagt, dass die Covid-19-Pandemie es wohl niemals in die Geschichtsbücher geschafft hätte, wenn sie im Mittelalter aufgetreten wäre. An Covid-19 sterben vor allem ältere Menschen und die Todesrate ist, etwa im Vergleich mit Pest, Gelbfieber, Ebola oder Pocken, doch sehr gering. Und ohne die moderne Medizin und ihre weltweiten epidemiologischen Überwachungssysteme würden sehr viel weniger Menschen mitbekommen, dass gerade eine ungewöhnliche Krankheit weltweit Menschen tötet. Die Pandemie 1918 war viel schlimmer, wurde aber weniger bemerkt – und selbst das Wort Pandemie gab es vor 1918 nicht. Die verheerenden dezimierenden Pestausbrüche des Mittelalters, den „Schwarzen Tod“, bezeichnen wir erst retrospektiv als Pandemie. „Nicht die Dinge an sich beunruhigen, sondern die Sicht der Dinge.“ (Epiktet) Stephan Heinrich Nolte, Marburg

Ein Blick transna auf tion Betreuu ales n arrange gsment

Betreuung im eigenen Zuhause verspricht gute Sorge im Alter, geht aber oft nicht mit guten Arbeitsbedingungen einher. Das Buch zeigt, wie das transnationale Betreuungsarrangement in den drei Ländern ausgestaltet ist und wie Agenturen, Betreuende, Betreute, Angehörige und weitere Stakeholder mit der Situation umgehen. 2021, 264 Seiten, broschiert, € 24,95 ISBN 978-3-7799-6260-1

Mit meh 90 Übun r als gsfrag zur Prax en Diskuss is, ion u Reflexio nd n!

Wie sieht der Alltag Sozialer Arbeit aus? Was machen Sozialarbeiter/innen genau? Ungeschönt, unverblümt und unzensiert kommen in diesem Sammelband Sozialpädagog_innen und Sozialarbeiter_innen zu Wort. 2021, 438 Seiten, broschiert, € 29,95, ISBN 978-3-7799-6330-1

Piper, München 2021, 480 S., 24 Euro

www.juventa.de

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Andreas Frewer, Lutz Bergemann und Elisabeth Langmann (Hg.)

Unsicherheit in der Medizin Zum Umgang mit Ungewissheit im Gesundheitswesen

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ier liegen die – zum Teil noch deutlich fortgeschriebenen – Ergebnisse des Ethiktages 2019 am Universitätsklinikum Erlangen in gedruckter Form vor. Das erklärt auch die große Zahl der Beiträge: rund 30 sind es. Den Fokus benennt das Editorial: „Medizin ist eine Wissenschaft und eine Kunst – sowie geplagt von Unsicherheit“, einem Zitat von Margaret Pelling, Medizinhistorikerin aus Oxford/UK, folgend. Nun ist der Rezensent fast gefährdet, dem entgegenzuhalten: Ist das wirklich eine Plage – oder schlicht eine unumstößliche Tatsache, die nur verleugnen könnte, wer nie in einem Gesundheitsfachberuf tätig oder nie krank war? Durch die Beiträge wird dann aber rasch deutlich, dass es genau darum geht, die Vielfalt an Problemen darzustellen, die auf der Seite der Akteure wie der Kranken und ihrer Zugehörigen bestehen; und die damit verbunden sind, dass es in der Medizin fast immer darum geht, auswählen und sich entscheiden zu müssen – wenn man denn nicht Anhänger eines puren Paternalismus ist, bei dem vermeintlich klar ist, was getan und erduldet werden muss. Diese Grundhaltung ist zumindest in purer Form aber nicht mehr vorhanden. Und je weiter eine Gesellschaft wegrückt von der Fiktion einfacher Lösungen für alles und jedes, umso größer wird der Bedarf an Information, Diskurs und Aushandlung von Lösungen. Im ersten Teil des Sammelbandes geht es um theoretische und ethische Fragen des Umgangs mit Unsicherheit, zum Beispiel in der Neuropädiatrie oder bei neuartigen onkologischen Behandlungsverfahren. Dann folgen Beiträge zur Sicherheits- und Qualitätskultur, wobei sich ein Beitrag mit dem Thema „Unsicherheit im Team – Pflegeethische Perspektiven auf die klinische Praxis“ beschäftigt, dabei die Frage des Findens von Therapiezielen für Demenzkranke berührend. Es schließen sich Kasuistiken an, die das zuvor Gesagte exemplarisch vertiefen. Hier ragen vielleicht zwei Beiträge zu Entscheidungsfragen in der COVID-19-Pandemie heraus, weil – unvermeidbar – vor allem in den

Anfangsmonaten eigentlich nur neue Fragen auftauchten, für die es nur wenige Erfahrungshintergründe geben konnte. In vielen Beiträgen wird die langjährige Kultur der klinischen Ethikberatung deutlich, die als eigene Forschungsdisziplin immer noch recht jung ist. Der Band wird abgerundet durch drei einschlägige Buchrezensionen und Schlüsseldokumente zur Ethik- und Patientenberatung. Eine Fundgrube im allerbesten Sinne, dieser Band. Norbert Schmacke, Bremen

Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, 390 S., 48 Euro

Hilde Schädle-Deininger

Der Geschichte eine Zukunft geben Psychiatrische Pflege 1960 bis 1990

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ie hat als Krankenschwester die Psychiatrie-Enquete und die PsychiatrieReform miterlebt. Sie ist eine Wegbegleiterin der sozialpsychiatrischen Vordenker*innen Ursula Plog und Klaus Dörner, Maria Rave-Schwank und Asmus Finzen. Sie hat als Mitbegründerin die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP), die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) und die Deutsche Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP) geprägt. Hilde Schädle-Deininger ist eine Person, die die Psychiatrie und die psychiatrische Pflege im besten Sinne mitgestaltet hat. Nun hat sie die Chance genutzt und mit der Studie „Der Geschichte eine Zukunft geben“ eine ganze Epoche unter die Lupe genommen. Sie hat in die Jahre zwischen 1960 und 1990, in denen in der psychiatrischen Versorgung ungemein viel passiert ist, zurückgeschaut. Gelungen ist Schädle-Deininger ein ebenso persönlicher wie wissenschaftlich gekonnter Rückblick auf diese Zeit. Und sie betont, dass Geschichte und Geschichten zusammengehörten. Facettenreich zeigt die Autorin, was psychiatrisch Pflegende in den Verbänden,

auf Tagungen oder mit Veröffentlichungen erarbeitet haben. Dass der Arbeitskreis Pflege in der DGSP eine wichtige Rolle in den Überlegungen Schädle-Deiningers spielt, verwundert nicht. Schließlich gehörte sie zu den Motoren dieser Gruppe, die im Austausch zur Pflegebildung mit unterschiedlichen Interessengruppen innerhalb der eigenen Profession letztlich feststellen musste, „dass sich die Berufsgruppe einmal mehr für eine bildungspolitische Entwicklung selbst behinderte“ (S. 43). Der Arbeitskreis Pflege in der DGSP ist jedoch nur ein Meilenstein in der historischen Entwicklung der psychiatrischen Pflege gewesen, den Schädle-Deininger mit der Studie im Blick hatte. Sie zeichnet die „Bedburger Fortbildungstage“ und die „Viersener Badetage“ nach. Sie erinnert an die Pflege-Fortbildungstage der Aktion Psychisch Kranke (APK) in den 1970erund 1980er-Jahren. Schädle-Deininger geht auch darauf ein, in welcher Rolle Pflegende an der Psychiatrie-Enquete mitgewirkt haben. Sie hätten sich eher vor Ort für eine humanere psychiatrische Versorgung eingesetzt, wenn beispielsweise die eigene Klinik als unwürdig empfunden wurde. Wörtlich schreibt Schädle-Deininger: „Im Vordergrund stand, dass nur gemeinsam mit anderen Berufsgruppen Veränderungen der psychiatrischen Versorgung bewerkstelligt werden konnten und es im Alltag auch darum ging, andere, oft ungewöhnliche Wege zu gehen …“ (S. 105). Ein Schlaglicht wirft die Autorin auf die unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten, die sich entwickelten, um dem eigenen beruflichen Handeln mehr Profil zu geben. In den Jahren 1960 bis 1990 wurden verschiedene Bildungsstätten für die psychiatrische Pflege-Fachweiterbildung geschaffen. Die Sozialpsychiatrische Zusatzausbildung (SPZA) der DGSP entwickelte sich zu einem Mosaikstein in der Bildungslandschaft. Unverzichtbar erscheint es für SchädleDeininger, im Rahmen ihrer historischen Studie Schlüsselbegriffe zu benennen. So beschreibt sie Identitätsbildung und Identität, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Schlüsselqualifikationen und Kompetenz als zeitenübergreifende Termini. Sie sieht psychiatrische Pflege in der Pflicht, sich „mehr mit Wissen sowie Wissenschaft und vor allem auch Forschung“ (S. 129) auseinanderzusetzen, „die das Instrumentarium Dr. med. Mabuse 253 · September / Oktober 2021


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und das Vorgehen wissenschaftlicher Erkundung enthält, um Anstöße für relevante Pflegeforschung sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Bereich zu geben“ (ebd.). Schädle-Deininger schafft es durch die gesamte Studie hindurch, individuelle Erfahrungen und kollektives Geschehen zu kontextualisieren. Somit wird deutlich, dass mit Engagement und Überzeugungskraft Gestaltung in der psychiatrischen Pflege möglich ist. Und mit Blick auf den Titel der Studie zeigt sich, dass sich ein Brückenschlag aus der Vergangenheit in die Zukunft lohnt. Christoph Müller, Wesseling

Psychiatrie-Verlag, Köln 2021, 249 S., 29 Euro

Ulrich Mechler

Zwischen Morphologie und Biomedizin Karl Lennerts Karteikasten und die Klassifikation maligner Lymphome 1945–1990

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twa 5.400 Karteimäppchen, untergebracht in einem unscheinbaren, grauen Schrank in einem Winkel des Instituts für Pathologie des Universitätsklinikums Kiel, gespickt mit histologischen Schnittpräparaten. Sie sind das Ergebnis aus gut 45 Jahren Sammelarbeit, das Lebenswerk des 1989 emeritierten Institutsleiters und Lymph-Pathologen Karl Lennert. Diesem einzigartigen Stück Wissenschaftsgeschichte widmet sich Ulrich Mechler, Medizinhistoriker am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, in seiner Promotionsarbeit „Zwischen Morphologie und Biomedizin – Karl Lennerts Karteikasten und die Klassifikation maligner Lymphome 1945–1990“. Mechler orientiert sich dabei eng am Werdegang des Pathologen. Karl Lennert, Jahrgang 1921, studierte in Erlangen von 1939 bis 1945 Medizin, habilitierte sich in Frankfurt/Main und wurde nach einer VertretungspositiDr. med. Mabuse 253 · September / Oktober 2021

on als Institutsleiter an das Pathologische Institut in Kiel berufen, wo er auch bis zu seiner Emeritierung 1989 blieb. In seiner Arbeit zeigt Mechler nicht nur die Weiterentwicklung der Pathologie in Lennerts aktiver Schaffenszeit. Er gewährt anhand von Lennerts Karteikasten auch Einblick in die Problemstellungen und Herausforderungen anderer Fachgebiete wie der Hämatologie und der Strahlentherapie und die zwischen den Feldern bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse. Hochspannend sind hier die Exkurse zur Kontextualisierung von Lennerts Arbeit, unter anderem durch den Blick auf die Theoriegenese, wie dem historischen Werdegang der „Theorie der Blutbildung“ (S. 103) als Teil des „histologischen Rahmenkonzeptes“ (S. 105) für Lennerts Sammlung. Greifbar werden Mechlers teils äußerst komplexe Ausführungen auch durch die immer wieder eingefügten Dokumente aus dem Karteikasten sowie Skizzen zu dessen Aufbau und Bilder der Schnitte. Das Buch zeigt auch die mitunter enorm aufwendigen Arbeitsmethoden im Wandel der Zeit, die von Lennert zur Stützung seiner Thesen genutzt wurden. Anschaulich ist das beispielsweise auch bei der Bestimmung des Volumens der Zellkerne der Zellentitäten des Lymphknotens: Diese wurden zunächst fotografiert, dann abgepaust und anschließend so das Volumen errechnet – ein Vorgang, der mindestens 500 Mal auf diese Weise wiederholt wurde. Auch Lennerts Rückschläge lässt Mechler in seiner Arbeit nicht aus. Präzise zeichnet er beispielsweise die Entwicklungen der 1960er-Jahre nach. Kurz nach der Veröffentlichung von Lennerts 600-seitigem Werk zur Pathologie der Lymphknoten in zwei Bänden, an dem dieser acht Jahre lang arbeitete, steht der „Vorabend eines Paradigmenwechsels“ (S.111) bevor. Lennert schuf somit ein lymphpathologisches Standardwerk mit der wohl „kürzesten theoretischen Standzeit“ (S. 111), wie Mechler konstatiert. Im Laufe der Jahre wandten sich Lennerts eher kasuistisch orientierten histologisch-morphologischen Arbeitsweisen durch die Anpassung seiner Methoden stärker zur naturwissenschaftlich fundierten Biomedizin, der er so für die Lymphpathologie als Forschungsstratege den Weg ebnete. Der Morphologie blieb Lennert dennoch auch nach seiner Emeritierung treu: „Morphologie ist das Alpha und Omega in unserem

Was zu tun ist Nkechi Madubuko analyisert aus der Betroffenenperspektive, welche Haltung, Reflexion und welches Wissen als Fachkraft unabdingbar ist, um Rassismus zu erkennen und Empowerment mitzudenken. Das Besondere: Erstmals stellen EmpowermentTrainer_innen ihre Methoden in geschützten Räumen (Safer Spaces) vor. 2021, 228 Seiten, broschiert, € 19,95 ISBN 978-3-7799-6478-0

Eine verloren Genera e tion? Besteht tatsächlich die Gefahr, dass die Covid-19-Pandemie eine Generation von Heranwachsenden zur Folge hat, die in vielerlei Hinsicht »abgehängt« ist – eine »Generation Corona« eben? Und welche Kinder und Jugendliche sind besonders gefährdet? Der Band greift diese Fragen auf. 2021, 302 Seiten, broschiert, € 24,95 ISBN 978-3-7799-6546-6

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Fach.“ (S. 256) Für Mechler bleibt der Lymphomforscher Lennert eine Schlüsselfigur auf dem Weg zur Biomedizin, die für das Buch namensgebende Entwicklung. Lennerts Bemühungen und sein damit verbundener wissenschaftlicher Erfolg führten zur Gründung des Kieler Lymphknotenregisters und schließlich zur „Kiel-Klassifikation“ (S. 167), der Untergliederung des Non-Hodgkin-Lymphoms. Mechler untersucht mit Lennerts Karteikasten ein Unikat der Medizingeschichte und führt anschaulich die Entwicklung und Forschung der Lymphpathologie anhand des Beispiels Karl Lennert von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1990er-Jahre aus. Trotz der mitunter etwas überkomplexen und überaus detailreichen Ausführungen ist Mechlers Doktorarbeit ein durchweg gelungenes Buch, das auch medizinhistorisch interessierte Lesende außerhalb der Lymphpathologie begeistern wird. Jonas Feldt, Doktorand an der Charité Universitätsmedizin, Fach Medizingeschichte

Wallstein, Göttingen 2021, 272 S., 28 Euro

Ruth Ketzer, Renate Adam-Paffrath u. a.

Ambulante Pflege in der modernen Gesellschaft Aktuelle Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven

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ie ambulante Pflege hat in Deutschland eine lange Tradition, die sich bis in die 1990er-Jahre durch eine starke kirchliche und freigemeinnützige Prägung auszeichnete. Erst mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurden privatgewerbliche Anbieter zunehmend wichtiger. Heute ist bereits der größte Teil ambulanter Pflegedienste privatwirtschaftlich organisiert; eine knappe Finanzierung und ein zunehmender Personalmangel kennzeichnen die derzeitige Situation.

Der vorliegende Sammelband ist in der Reihe „Gerontologische Pflege“, herausgegeben vom Lehrstuhl für Gerontologische Pflege an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar, erschienen und greift verschiedene Aspekte in vier Kapiteln auf. Renate Adam-Paffrath geht zunächst auf die Bedeutung des „Zuhauses“ ein und legt damit die Grundlage für ethische Überlegungen zur Situation von Menschen mit Pflegebedarf, die zu Hause gepflegt werden möchten. Das nächste Kapitel von Karola Selge thematisiert das Spannungsfeld zwischen den Erwartungen an die Fürsorge einerseits und den ökonomischen Grenzen andererseits. Die Problematiken, die sich aus unklaren Zuständigkeiten in einer Pflegesituation und durch die politisch gewünschte Wettbewerbsorientierung unter den Anbietern ambulanter Pflege ergeben, werden von Manfred Borutta aufgegriffen. Das letzte Kapitel geht auf Anforderungen an die Führung in ambulanten Pflegediensten ein. Den Kapiteln vorangestellt ist ein Fallbeispiel in der Einleitung des Buches, nämlich das Ehepaar Meier mit Pflegebedarf. Anhand dieses Fallbeispiels wird erläutert, welche Anforderungen sich für Angehörige, für die Koordination des gesamten Pflegearrangements und das Umfeld ergeben. Als Rahmung für die Kapitel greifen die AutorInnen dieses Beispiel dann wieder auf. Besonders gut gelungen ist das in den Kapiteln von Karola Selge und Manfred Borutta, die die Widersprüchlichkeit zwischen den Wünschen und konkreten Bedarfen des betroffenen Ehepaares und den derzeitigen Rahmenbedingungen sehr plastisch schildern. Es gelingt allen AutorInnen sehr gut, die aktuelle Situation der ambulanten Pflege in ihren Diskrepanzen darzustellen. Für „den Blick über den Tellerrand“ (S. 5) kann dieses Buch allen empfohlen werden, die sich bisher noch nicht mit der ambulanten Pflege in Deutschland beschäftigt haben, sich aber einen Eindruck über rein rechtliche und organisatorische Grundlagen hinaus verschaffen wollen. Das Buch richtet sich an Verantwortliche in den Einrichtungen des Gesundheits- und Pflegewesens, aber auch an Studierende. Die im Untertitel angekündigte aktuelle Bestandsaufnahme erfolgt aus unterschiedlichen Perspektiven, lediglich die Zukunftsperspektiven werden zwar im letzten Ka-

pitel in Bezug auf die interne Organisation ambulanter Pflegedienste thematisiert, bleiben aber insgesamt überschaubar. Kritisch anzumerken ist das unzureichende Lektorat des Verlages. Tippfehler, Fehler in der Interpunktion und gelegentlich komplizierte, unverständliche Satzkonstruktionen hätten sich bei einem sorgfältigen Lektorat sicher reduzieren lassen. Mathilde Hackmann, Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie, Hamburg

Kohlhammer, Stuttgart 2020, 159 S., 37 Euro

Günther Loewit

Sehnsucht Unsterblichkeit Wie die Medizin zur neuen Religion der Menschen wird

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pätestens seit der Corona-Pandemie stellen sich viele Menschen die Fragen, ob es denn im Leben auch noch etwas anderes gibt als die Medizin, wie sehr sie in unser Leben eingreifen darf, aber auch, ob und wie viel Macht über Leben und Tod sie tatsächlich hat. Der Autor Günther Loewit stellt die Frage, ob sie nicht viel zu tief in unsere Existenz eingreift, so tief wie früher die Kirche, von der die meisten glauben, dass wir sie spätestens durch die Aufklärung längst hinter uns gelassen haben. Religion hat ja auch den Anspruch auf etwas Heilendes als bedeutender Teil des Selbstverständnisses aller Weltreligionen – warum also nicht die Medizin zur Religion erklären? Wenn Glauben hilft – warum nicht gleich an die Medizin glauben? Wer sich auf einen Arztbesuch einlässt, tritt der Glaubensgemeinschaft der Medizinjünger bei, die Kliniken sind die Kathedralen unserer Zeit. Loewit, geboren 1958, ist seit 1987 niedergelassener Allgemeinarzt in Österreich, Essayist und Sachbuchautor. Sein neues, auch im Hinblick auf Corona aktuelles Buch ist im Herbst 2020 erschienen. Aus seiner eigenen katholisch geprägten Biografie weist Loewit provokativ auf die PaDr. med. Mabuse 253 · September / Oktober 2021


FACHWISSEN SEIT 1974

Dr. med. Mabuse 253 · September / Oktober 2021

zahl von Denkprozessen an, die letztlich dazu anregen sollen, mehr Verantwortung für sich und das eigene Leben zu übernehmen und es nicht mehr oder weniger interessengesteuerten Fachleuten oder „der Gesellschaft“ zu überlassen. Das Leben darf nicht nur der Religion Medizin huldigen – und es endet immer tödlich. Stephan Heinrich Nolte, Marburg

Tim Parks

Bin ich mein Gehirn? Dem Bewusstsein auf der Spur

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im Parks ist kein Neurowissenschaftler und auch kein Philosoph. Er hat aber mit ihnen gesprochen, vor allem mit Riccardo Manzotti, ein bisschen auch mit anderen. Über das Bewusstsein, Kognitionen, unser Erleben, die Neurowissenschaften und vieles mehr. Über diese Gespräche, aber auch viele seiner eigenen Erlebnisse und Gedanken hat er dieses Buch geschrieben. Im Klappentext wird versprochen, dass das Buch „die philosophischen und neurowissenschaftlichen Theorien mit der eigenen Erfahrung konfrontiert – geistreich, witzig und klug“ sei. Hier wurde mir ein innovativer Ansatz versprochen; eine weniger wissenschaftliche Perspektive. Etwas, das das Thema auch denen nahebringt, die sich bisher nicht damit beschäftigt haben. Mein Fazit: Diese Behauptung ist zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Parks‘ Ansatz ist anders, erzählerischer, persönlicher, weniger wissenschaftlich. Aber dennoch begeistert er nicht. Das Buch beginnt mit einem sich schier endlos hinziehenden Kapitel, in dem der Autor mit geschlossenen Augen im Bett liegt und sich Fragen zu seinem Bewusstsein stellt, zu seinen Erinnerungen, Träumen und Fantasien, zu seinen Wahrnehmungen inklusive seiner neben ihm liegenden Partnerin. Bereits nach den ersten Kapiteln beschleicht mich ein seltsames

Unser Themenhef t über sichere Höhlen, schlechte Architektur und Ideen für die Zukunf t

PSYC CHOLOGIE HEU U TE compac ct

Goldegg, Berlin 2020, 260 S., 24 Euro

2 Zimmer, Küche – ich!

2021 HEFT 66 € 8,90 SFR 13,50 4 3254

rallelen von Religion und Medizin hin. Wenn früher Lebensinhalt, Sinn und Sicherheit in der Religion gesucht wurden, werden sie heute in der Medizin verortet. Die Rituale des Glaubens werden durch medizinische Regularien ersetzt. Die heutige Medizin wird Loewit zufolge durch sieben „Sakramente“ geheiligt: Impfungen statt Taufe, Psychotherapie statt Firmung, Krankenhaus statt Eucharistie, Vorsorgeuntersuchung statt Buße, Kinderwunschklinik statt Ehe, Promotion und Fortbildung statt Weihe und Intensivstation statt Krankensalbung – die Parallelen sind manchmal etwas weit hergeholt. Nun stehen die Heilversprechen der Medizin letztlich genauso auf tönernen Füßen wie das ewige Leben im Jenseits: nicht beweisbar, aber anzustreben. Das Schlagwort heißt Sicherheit, für die alles getan werden muss, und die ist heute in Corona-Zeiten für alle sichtbar: Masken, Abstand, Plexiglasscheiben. „Wenn Gesundheit militant in den Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Ziele gestellt wird, kann das nur auf Kosten der individuellen Freiheit geschehen“, schreibt der Autor. Sehr schön ist die Frage, wo eigentlich die Ethikkommissionen, die sonst inzwischen den medizinischen Alltag begleiten, in der Corona-Krise geblieben sind. Warum hört man nichts von ihnen? Früher hatte man Angst um das Seelenheil, um etwas, das jenseits des Lebens lag. Heute werden – seit Corona potenziert – Ängste um die Gesundheit geschürt. Rituale wie Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen zu unterlassen, kommt einer Sünde gleich – und die wird nicht im Jenseits, sondern hier und heute verbüßt. Das oberste Gebot der Medizin lautet: Der Tod muss um jeden Preis bekämpft und das Sterben mit allen Mitteln verzögert werden. Je mehr Entscheidungen im Gesundheitssystem durch Standardvorgehen und Leitlinien getroffen werden, umso unmenschlicher und teurer wird das System. Aber dennoch: „Austritte“ aus der Medizin sind im Vergleich zu Kirchenaustritten selten. Zu übermächtig ist die Angst, dass die Medizin doch recht haben könnte. Es gibt nur einen Ausweg aus dem drohenden Lebensende: die Zeugung neuen Lebens. Nur diese kann Baustein zur Unsterblichkeit sein. Aber neben dem Sterben haben wir auch das Kinderkriegen verlernt – und das Heilende der Liebe. Loewit stellt mehr Fragen, als fertige Antworten zu geben. Er stößt eine Viel-

compact

Meine e Wohnung Wo ohnu ung g und d ich , Was unsere vier Wänd de e über uns erzählen Wie wir den Ort fürs Leb ben finden

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Lesegefühl: Einerseits ein wenig wie im Philosophie-Grundkurs, wo ein besonders Aufgeweckter immer noch mehr „große und kleine“ Fragen stellt, obwohl man schon lange verstanden hat, worum es geht und eigentlich gern zum nächsten Punkt kommen würde. Andererseits gibt es wenig Raum für eigene Überlegungen. Tim Parks regt uns nicht an, unsere eigenen Gedanken zu denken, sondern er erzählt etwas zu haarklein, etwas zu ausgebreitet seine eigenen. Inklusive persönlicher Details, die ich teils gar nicht wissen möchte. Seine nicht – oder vielleicht doch? – vorhandene Midlife-Crisis. Dass seine neue Freundin halb so alt ist und sie immer wieder für Vater und Tochter gehalten werden. Wie sein Kosename für sie ist. Was seine Familie dazu dachte. Und, und, und. Die theoretischen Ansätze, um die es im Buch natürlich auch gehen soll, werden teils knapp gehalten, teils in Diskussionen in wörtlicher Rede verpackt und teils über verschiedene Kapitel verteilt. Sein liebster Ansatz – Ricardo Manzottis „Spread Mind-Theorie“ – wird immer wieder kurz erwähnt und dann wieder fallen gelassen. Man ahnt, worauf es ankommt, doch eine richtige Hinführung zum Thema soll scheinbar durch Parks Erleben, nicht durch langweilige Theorieherleitung erfolgen. Das Gesamtpaket hilft mir leider wenig dabei, sanft und neuartig in Gedankengänge eingeführt zu werden, sondern weckt eine vage (oder auch konkrete) Abwehr. Das mag an mir liegen, einer eher jüngeren Frau, die sich mit dem älteren Mann und seinen vielen Worten nicht so recht identifiziert und immer wieder ganz offensichtlich nicht so tickt wie er. In meinen Augen ziehen die genannten Intermezzi das Buch in die Länge und wecken eine Distanz zum Lesestoff. Und zu diesem älteren Herrn, der selbstgefällig denkt, seine Gedanken seien so spannend, dass sie die „trockene“ Wissenschaft zum Leben erwecken. Auch wenn – wie ich es zu verstehen meine – dieser Erzählansatz gut zu Manzottis Annäherung an das Bewusstsein passt: Ich scheine mit meinen Fragen, meiner Erlebniswelt und meinem Tempo leider eine Spur zu weit weg von Parks zu sein, um diesen Ansatz wertschätzen zu können. Da lese ich dann doch lieber Bücher, in denen es etwas klassischer zugeht und die dennoch mitreißend geschrieben sein können, wo Ideen neutraler formuliert,

Theorien hergeleitet und Diskurse nachgezeichnet werden. Bücher, in denen ich mir selbst die Anknüpfungspunkte zur Theorie suchen kann – denn um dieses subjektive Erleben muss es schließlich gehen, wenn man sich mit dem eigenen Bewusstsein beschäftigt. Und da bin ich sogar ganz bei Parks und Manzotti. Franziska Brugger, Göttingen

Kunstmann, München 2021, 301 S., 25 Euro

Josephine Links

Stilles Herz Über den Verlust meines Kindes und die Kraft, neu zu leben

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as Herz, um das es geht, schlägt nicht mehr. Es ist kurz vor der Geburt stiller und stiller geworden, umschlungen von einer Nabelschnur, unbemerkt von der Geburtshilfe, zu lange schon still, um noch ins Leben gebracht zu werden. „Mein erstes Kind starb während ich es zur Welt brachte. Als wir unsere Tochter endlich in den Armen hielten, atmete sie nicht. Die Begrüßung war Abschied, Liebe und tiefster Schmerz in einem. Von einem Moment auf den anderen drehte sich unsere Welt. Elternwerden hieß für uns trauern lernen.“ Nach diesem mächtigen Anfang hat man nur zwei Möglichkeiten: Das Buch ganz schnell weglegen – oder weiterlesen, zwischendurch Tränen wegwischen, wieder mitfühlen und am Ende doch wieder zunehmend Luft bekommen, wenn man mit Josephine Links die lange Strecke an trauern, loslassen und sich neu in der Welt wiederfinden in den folgenden Tagen, Monaten, Jahren mitgehen kann. Am tiefsten Punkt „ist es so, dass ich sterben möchte, um dir nah zu sein. Dort sein, wo du bist [...] Raus aus dem Trennungsschmerz und der Sehnsucht.“ Und es kommen immer wieder Fragen und Vorwürfe an sich selbst: „Kurz bevor ich den Supermarkt ging, hatte ich dieses Gefühl, plötzlich diesen Gedanken. Vielleicht wolltest du mich warnen, dich vor der tödlichen Geburt ret-

ten [...] Mein liebstes Kind, verzeih’. Ich habe dich nicht verstanden. [...] Haben wir deine Zeichen nicht erkannt? Ich habe sie nicht erkannt, die Hebamme auch nicht.“ Atmen, weitergehen, wieder atmen. Heilung, Trauer und Angst kommen in Wellen – meistens „von hinten, sie sind nicht zu planen und kaum zu kontrollieren. Unsicher sein, haltlos, unklar. All das wollte ich früher nie sein und war es auch nur selten. Jetzt kann ich nicht anders, Unsicherheit und Zweifel haben mich fest im Griff. […] Wie krank sein, ohne krank zu sein.“ Doch es gibt eine Kraft, die sie anschiebt und auch dann weiterschubst, wenn sich das Gefühl breit macht, dass nichts vorangeht. Das hilft, „aus dem Haufen von Fragmenten, in den sich mein Leben und mein Selbst verwandelt haben, eine neue Form zu schaffen. Eine Form, die auch ich bin. Ist es mein Überlebensinstinkt, Resilienz oder eine universellere Kraft? Ich kann es nicht gut fassen, aber etwas ist da im Untergrund und das bringt mich voran.“ Und sie traut sich, dem Leben noch einmal eine Chance zu geben und bringt zwei Jungs auf die Welt. Am Ende des Buches schreibt sie ihrer Tochter Milla zum siebten Geburtstag einen eindrücklichen Brief, der zeigt, dass sie für immer einen Platz im Leben der Familie und in deren Herzen haben wird. Das Buch hätte auch bitter werden können, stattdessen gibt es Einblicke in die vielen Gesichter des Lebens und der Hoffnung. Obwohl es in einer Ratgeber-Reihe erschienen ist, ist es eine persönliche Erzählung geworden, auch wenn Josephine Links versucht, erzählerisch ein bisschen Abstand zu halten, indem sie von einer dritten Person berichtet. Das Buch kann helfen, einen eigenen Weg ins Leben zu finden, und sich dabei nicht alleine fühlen zu müssen. Helmut Schaaf, Bad Arolsen

Beltz, Weinheim/Basel 2021, 160 S., 17 Euro

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Roy Kühne, Jürgen Graalmann u. a. (Hg.)

Die Zukunft der Gesundheits(fach)berufe Mehr Kompetenzen – mehr Verantwortung

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önnen wir uns das arztzentrierte Gesundheitssystem noch leisten? Die Herausgeber des Buches – Roy Kühne, (2013–2021 MdB, Berichterstatter der CDU/ CSU Bundestagsfraktion für Heilmittel, Hilfsmittel und Pflege), Jürgen Graalmann (Geschäftsführer „Die Brückenköpfe“ und des Deutschen Pflegetages) und Franz Knieps (Vorstand des BKK Dachverband e.V.) – beschreiben, welche Möglichkeiten und Kapazitäten in den Gesundheitsfachberufen stecken. Sie lassen die jeweiligen Berufsgruppen selbstbewusst und kompetent zu Wort kommen. Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Im ersten Teil werden die Strukturen des Gesundheitswesens unter anderem aus der Sicht von Kassen, Krankenhäusern, Ärzt*innen und der Industrie erläutert; ergänzt durch rechtliche Rahmungen, eine gesundheitswirtschaftliche Dimension sowie die politische Neuverortung der Gesundheitsfachberufe in Reformdebatten. Für die reflektierten Darstellungen der Berufe im zweiten Teil des Buches kommen 36 Autor*innen zu Wort; die Diskussion wird für die einzelnen Berufe geführt, jedoch ohne die Interprofessionalität außer Acht zu lassen. In 14 Kapiteln stellen sich folgende Berufsgruppen vor: Pflege, Hebammen, Physio- und Ergotherapie, Logopädie, medizinisch-/operations-/anästhesie- und pharmazeutischtechnische Assistenz, Notfallsanitäter*innen, Augenoptiker*innen, Hörgeräteversorger*innen, Orthopädietechniker*innen, Apotheker*innen und medizinische Fachangestellte. Das Buch schließt mit dem dritten Teil „Aufbruch 2030“ und der Aufforderung, Chancen wahrzunehmen sowie Perspektiven für mehr Kompetenzen und Verantwortung der Gesundheitsfachberufe zu sehen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der Zunahme multimorbider sowie chronisch kranker Menschen steht das deutsche Gesundheitssystem vor großen Herausforderungen. Aktuell beklagen Krankenkassen strukturelle Defizite in Milliardenhöhe, in Einrichtungen werden prekäre PersonalDr. med. Mabuse 254 · November / Dezember 2021

situationen mit wachsendem Fachkräftemangel angezeigt und es besteht die Sorge, dass die Gesundheitsfachberufe die flächendeckende Gesundheitsversorgung nicht mehr sicherstellen können. Einfach weiterzumachen wie bisher, wird angesichts dessen ungenügend sein. Es braucht neue tragfähige Formen der Gestaltung. Hier kommen den Gesundheitsfachberufen entscheidende Rollen und Aufgaben zu. Mit Thesen wie „Pflege kann mehr, und deshalb braucht Pflege Bildung“ oder „Interprofessionalität steigert Versorgungsqualität und erhöht die Patientensicherheit“ werden Schlüsselfaktoren wie Rollenbewusstsein und Verantwortung, Digitalisierung oder interprofessionelle Kooperation für einen erfolgreichen Aufbruch und ein Ankommen in einer zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung 2030 zusammengefasst. Dieses Werk schließt eine Lücke, denn gute Literatur zu nicht-ärztlichen Berufen ist selten. Es gehört unbedingt in Ausbildung und Lehre, und darf auf dem Weg der Interprofessionalität und Professionalisierung der Gesundheitsfachberufe als Verstärker nicht fehlen. Der multiprofessionelle Blickwinkel von Repräsentant*innen, anerkannten Expert*innen sowie Wissenschaftler*innen in diesem Buch könnte der Debatte der Gesundheitsfachberufe eine neue Wendung geben. Verschiedene Akteur*innen, denen sonst kein Raum gegeben wird, kommen hier deutlich zu Wort. Die Kernkompetenzen der Gesundheitsfachberufe werden sichtbar; ebenso, was sie lernen, was sie tun, welche Potenziale sie haben. Für jede Person mit dem nötigen Verantwortungsbewusstsein und der Courage, Veränderung mitzugestalten, ist das Buch eine sehr zu empfehlende Lektüre. Nadine Dressler, Physiotherapeutin, Berlin

mwv, Berlin 2021, 299 S., 49,95 Euro

Das Standard wer vollstän k – dig überarb eitet Dieses ausbildungs- und praxisbezogene Standardwerk gibt zuverlässig Auskunft über Ziele, Aufgaben, Arbeitsfelder und Methoden der Sozialen Arbeit – von A bis Z. 9., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage 2021, 1167 Seiten, Hardcover, € 78,– ISBN 978-3-7799-3869-9

Widerst ands fähigke it nachha ltig stärken Resilienz wird als Widerstandsfähigkeit definiert, Belastungsfaktoren bewältigen sowie Schutzfaktoren so einzusetzen zu können, dass Krisensituationen gemeistert werden. Dieser Band stellt diese diversen Perspektiven zum Thema »Resilienz im Alter« vor. 2021, 312 Seiten, broschiert, € 34,95 ISBN 978-3-7799-6317-2

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Katholische Akademie der Erzdiözese Freiburg, Caritasverband FreiburgStadt e. V. (Hg.)

Inklusion am Lebensende Menschen mit geistiger Behinderung begleiten

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ie Unterstützung von Menschen mit Lernbehinderung in palliativer Situation ist erst seit wenigen Jahren in den Fokus geraten und wird als neue Aufgabe beschrieben, der sich die Dienste intensiv zuwenden müssen. Dieser Band versammelt 16 Beiträge, die zum Teil im Rahmen eines Fachtags der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg und des Caritasverbands der Stadt Freiburg im Frühjahr 2019 präsentiert worden waren und durch Praxisbeispiele Ergänzung fanden. Als erstes besticht dieses Werk durch das Konzept, auch Menschen mit Behinderung als Leser*innen anzusprechen. Daher wird jedem Artikel, ob der Einleitung, Praxisbeispielen, der Präsentation wissenschaftlicher Projekte oder dem Fazit, konsequent eine grafisch hervorgehoben Zusammenfassung vorangestellt. Der Band präsentiert in der Einleitung zwei inhaltliche Heranführungen und Begründungen, warum es notwendig und wichtig ist, sich mit der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung inhaltlich und wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Ein Gedicht und ein abstraktes farbiges Gemälde schließen diesen Teil ab. Es folgen unter der Überschrift „Beiträge“ vier unterschiedlich umfangreiche Texte. Zunächst gibt Frank Schöberl einen knappen Einblick in die Geschichte der Hospizbewegung. Dem folgt Barbara Schroer, die das in Münster, Berlin und Leipzig angesiedelte Forschungsprojekt PiCarDi vorstellt. Hierbei geht es um die aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtete Befassung mit hospizlicher und palliativer Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung und deren Bedürfnissen. Im Anschluss stellt Christiane Ohl exemplarisch eine Patientenverfügung in leichter Sprache vor und Martina Zabel berichtet von der palliativen Begleitung von Bewohner*innen in Häusern der Lebenshilfe in Bochum. Im nächsten Kapitel geht es unter dem Titel „Arbeitsgruppen“ um schon bestehende Kooperationen von Hospizgruppen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe, um Fragen der Implementierung von

Patientenverfügungen in leichter Sprache, um das Instrument der ethischen Fallbesprechungen bei Therapiezieländerungen und Therapieabbruch, um Angebote der Trauerbegleitung sowie um einen Bericht aus der Praxis des Caritasverbandes der Stadt Freiburg e.V. Das nächste Kapitel vereint nun nochmals „Erfahrungen aus der Praxis“. Nicole Günter und Susanne Weiß berichten anhand eines Fallbeispiels vom konkreten Umgang mit Trauer in einer Tagesgruppe. Dem schließt sich der Bericht der Trauerbegleiterinnen Anita Pfanner und Elisabeth Weisenberger an, in dem sie ganz konkrete Materialien und Kommunikationsideen vorstellen. Älteren Menschen mit geistiger Behinderung und der Arbeit mit ihnen widmet sich Anja Pokorny; Silvia Wolfgarten berichtet von den Vorsorgegesprächen in einer Wohngruppe. Reichlich ist die Materialsammlung mit Hinweisen zu wissenschaftlicher Literatur, Bilderbüchern, Broschüren und Arbeitsheften. Die Texte in ihrer Vielfalt geben einen Einblick in das Feld von Wissenschaft und Praxis, zeigen die Dynamik in der Befassung mit dem Thema, aber auch noch die Notwendigkeit einer tatsächlich inklusiven Arbeit auf. Dieses Buch ist als Einstieg in das Thema durch die vielen Praxisbeispiele hervorragend geeignet. Unklar ist jedoch die Gliederung, da sich Projekterfahrungen in allen Kapiteln finden und nicht nur in dem Kapitel, das so benannt ist. Ebenso zu hinterfragen ist der Titel des Buches: Denn hier wird zum einen Inklusion auf die Gruppe von Menschen mit geistiger Behinderung reduziert und zum anderen ein tatsächlich inklusives Herangehen, in dem Menschen mit Behinderung demokratisch an den Prozessen beteiligt sind, nicht entwickelt. Dies schmälert den Gehalt des Sammelbandes nicht, vielmehr wird deutlich, was noch alles anzupacken ist. Gudrun Silberzahn-Jandt, Esslingen

Lambertus, Freiburg 2021, 168 S., 22 Euro

Walter Schaupp, Wolfgang Kröll (Hg.)

Spannungsfeld Pflege Herausforderungen in klinischen und außerklinischen Settings

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er Sammelband enthält Aufsätze von Teilnehmer*innen der gleichnamigen Tagung. Dieser 9. Band der Reihe „Bioethik in Wissenschaft und Gesellschaft“ möchte auf die Herausforderungen und Belastungen im Pflegeberuf hinweisen, wobei bewusst auf ökonomische sowie strukturelle Perspektiven verzichtet wurde. Man findet insgesamt sieben Beiträge aus Pflege- und Rechtswissenschaft, Philosophie, Soziologie, Pflegepraxis und -management, die einen breiten Einblick in interessante und wichtige die Pflege betreffende Themen geben. Selbst die Entwicklung eines pflegewissenschaftlichen Curriculums sowie die selten erwähnte psychiatrische Pflege von Jugendlichen haben einen Platz bekommen. In einer ausführlichen Einleitung der Herausgeber wird die Entwicklung der Pflegewissenschaften im Sinne einer Emanzipation der Pflege gegenüber der ärztlichen Profession und medizinischer Wissenschaft als gleichberechtigte Säule in der Führung von Krankenhäusern beschrieben. Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass sich der pflegerische Alltag nicht selten von dem beruflichen Ideal (und dem Gelernten) unterscheidet. Sabine Ruppert geht im Anschluss auf das Thema Ethik in Form von Grund- und Menschenrechten in der Pflegepraxis ein und bestimmt die notwendigen theoretischen Grundlagen. Für die Pflegepraxis wird gefordert, dass Pflegepersonen zum Beispiel durch Bildungsangebote ethisch-moralische (Handlungs-)Kompetenz erwerben. Der Beitrag von Werner Hauser befasst sich mit der Akkreditierung von Gesundheitsstudiengängen, der Curriculumsgestaltung sowie deren gesetzlichen Grundlagen am Beispiel der FH Johanneum. Monique Weissenberger-Leduc widmet sich dem Thema Gewalt in der Pflege. Sie beschreibt die Dimensionen direkter, struktureller sowie kultureller Gewalt nach Johan Galtung und erläutert die Wichtigkeit von geriatrischer (primärer) Gewaltprävention im Sinne von Gesundheitsförderung. Im Folgenden bieten Hartmann Jörg Hohensinner und Christina Peyker einen Blick auf den Pflegealltag am Department Dr. med. Mabuse 254 · November / Dezember 2021


Buchbesprechungen

Franz-Gerstenbrand der Albert Schweitzer Klinik Graz, indem sie unter anderem die Versorgungsstruktur von Wachkomapatient*innen in Österreich skizzieren. Angelika Feichtner liefert einen Beitrag zum Thema häusliche Pflege und Rolle(n) der Angehörigen. Darin umreißt sie das Spannungsfeld der möglichen Rollenkonflikte und -veränderungen in der Pflege chronisch- und/oder schwerstkranker Menschen sowie das Risiko als Angehöriger Patient*in zweiter Ordnung (hidden patient) zu werden. Von ihren praktischen Erfahrungen auf einer kinder- und jugendpsychiatrischen Station berichtet Andrea Schober. Ein Interview von Wolfgang Kröll mit Renate Skledar thematisiert abschließend die Kommunikation und Hierarchie im Krankenhaus. Darin wird auf das Verhältnis und die veränderte Hierarchie zwischen Medizin und Pflege hingewiesen und es werden konkrete Fälle der Ombudschaft beleuchtet, in denen es um Patientenrechte, aber auch um Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geht. Gut lesbar und wichtige Themen beleuchtend kann dieses Buch als interessante Lektüre im Bereich der Pflegewissenschaften eingeordnet werden. Themen wie die Rolle der (meist osteuropäischen) in Vollzeit arbeitenden Haushalts- beziehungsweise Pflegekräfte sowie von Palliativpflege und deren Organisation wären darüber hinaus sicherlich auch spannend gewesen, aber dieser Band ist nichtsdestotrotz lesenswert – sowohl für akademische als auch für nicht-akademische Le-

ser*innen. Nach der Lektüre bleiben viele prägnante Zitate im Kopf und so auch thematische Anreize, denen man weiter nachgehen möchte. Mia Feldmann, Bielefeld

der jeweiligen Bundesregierung zu werten? An welcher Stelle erfolgt eine Medikalisierung von Problemen, die eigentlich anders gelöst werden müssten und, und, und … Für „alte Häsinnen und Hasen“ erinnert das Buch zum Beispiel an den langen und beschwerlichen Weg der „Gegenöffentlichkeit“ gegenüber der stetigen Werbetour der Pharmaindustrie, an die verlorenen Kämpfe um die Positivliste, an das zähe Ringen um die Nutzenbewertung, an die Kämpfe rund um die Rabattverträge. Für alle diejenigen, die sich erst seit Kurzem mit den Themen Arzneimittelmarkt und -politik kritisch auseinandersetzen, ist dieses Buch sicherlich unverzichtbar für einen Einstieg: Es liefert eine Übersicht über Arzneimittelthemen, die auch heute noch in der Diskussion sind. Und es ist eine Sammlung, die zeigt, wie Glaeske „Gegenöffentlichkeit“ lebt. Kein*e Apotheker*in hat sich wie er zu fast allen Fragen des Arzneimittelmarktes öffentlich geäußert, nicht nur schriftlich und durch die Organisation von Kongressen, sondern ganz besonders und bewusst auch in Presse, Funk und Fernsehen. Er war und ist gern gesehener Gast in Verbrauchermagazinen und Sendungen zu Arzneimittelfragen. Glaeske hat im Laufe seines Lebens viele berufliche Stationen durchlaufen und noch viel mehr angestoßen. So war er beispielsweise bei der Gründung des Vereins demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) dabei und ist auch heute noch Mitglied. Und auch bei der

Nomos, Baden-Baden 2020, 146 S., 29 Euro

Gerd Glaeske

Auf Kosten der Patienten? Kritische Kommentare zur Pharmaindustrie

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er sie noch nicht kennt, kann sich jetzt einen Überblick verschaffen: Zehn Jahre kritische Kommentare des Pharmamarktes von Gerd Glaeske zusammengefasst in einem Buch und zeitgleich veröffentlicht mit der 250. Ausgabe der Zeitschrift Dr. med. Mabuse. In nahezu jeder Ausgabe dieser Zeitschrift hat Glaeske zu aktuellen Fragen des Arzneimittelmarktes Stellung bezogen: Welche Arzneimittel werden verschrieben, die eigentlich gar nicht angezeigt wären? An welcher Stelle werden zu hohe Preise für Medikamente verlangt? Wo bestehen unvertretbare Risiken bei der Anwendung von Arzneimitteln? Wie sind die gesetzlichen Initiativen

Dr. med. Mabuse 254 · November / Dezember 2021

(978-3-497-03063-7) kt

(978-3-497-03062-0) kt

Neues aus Reinhardts Gerontologischer Reihe!

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Buchbesprechungen

Gründung der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie war seine Expertise gefragt. Nicht zuletzt mischte er beim Aufbau des Deutschen Netzwerks zur Versorgungsforschung mit, und er war viele Jahre Mitglied des Sachverständigenrates für Fragen des Gesundheitswesens (SVR). Noch heute sind seine Ausführungen im Sondergutachten des SVR aus dem Jahr 2009 zur Zukunft des Apothekenwesens sehr lesenswert, auch wenn er mit seiner Haltung gegenüber dem Versandhandel nicht die Linie des VdPP vertritt. Er engagiert sich seit den 1980er-Jahren – damals noch als Pionier bei der Datenerfassung und -auswertung von Arzneimittel-Rezepten. Seine Kämpfe gegen die verordnete Arzneimittelabhängigkeit (Benzodiazepine) oder gegen eine unverantwortliche Selbstmedikation (z.B. Thomapyrin, MediNait) sind legendär, ebenfalls sein Einsatz gegen Gefahren bei der Einnahme von bestimmten Kontrazeptiva. Vieles davon findet sich regelmäßig in seinen Kolumnen in der Zeitschrift Dr. med. Mabuse und ist jetzt für die vergangenen zehn Jahre nochmals in Buchform dokumentiert. Dr. Udo Puteanus, Apotheker und VdPP-Vorstandsmitglied

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2021, 213 S., 19,95 Euro

Angelika Maase

Internationale Pflegefachkräfte in der akutmedizinischen Versorgung Kulturelle Herausforderungen und Spannungsfelder

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ie Studie von Angelika Maase zeigt, dass es Alltagsrassismus in der Pflege gibt und dass die Themen Migration und Wandel im Gesundheitswesen hochaktuell sind, da sich die Situation durch den Fachkräftemangel zuspitzt. Die Heraus-

forderungen, die nach der Rekrutierung internationaler Pflegekräfte in Deutschland zu lösen sind, untersucht Maase in ihrer Masterarbeit exemplarisch am Beispiel brasilianischer und italienischer Pflegefachkräfte. Ihr zentrales Interesse sind die kulturellen Herausforderungen und Spannungsfelder, mit denen zugewanderte Pflegefachkräfte in der akutmedizinischen Versorgung in Deutschland konfrontiert sind. Zudem befasst sie sich mit den Faktoren, die ihren Integrationsprozess positiv stärken oder negativ beeinflussen, sowie mit der Zusammenarbeit im Team. Zum besseren Verständnis der nationalen Hintergründe wird zunächst der bilaterale Bezugsrahmen der exemplarisch gewählten Nationalitäten dargestellt. Maase skizziert dann die theoretischen Ansätze ihrer Arbeit. Beim Thema Integration bezieht sie sich auf den Wissenschaftler Aladin El-Mafaalani, der Integration als einen Prozess beschreibt, der nicht ohne Widerstände und Konflikte ablaufen kann. Der Fokus liegt ihm zufolge auf der Teilhabe an Positionen und Ressourcen. Soziale Privilegien und kulturelle Dominanzverhältnisse werden infrage gestellt und neu ausgehandelt. Maase gibt im Folgenden einen umfassenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand und leitet daraus vier Phänomene ab: 1. Das Erleben kultureller Differenziertheit; 2. Das Krankenhaus als Feld von Machtbeziehungen; 3. Das Erleben von Diskrepanzen im fachlichen Wissen und in den Kompetenzen sowie 4. Bewältigungsstrategien im Umgang mit Herausforderungen und Spannungsfeldern. Maase stellt das Erleben der Pflegefachkräfte aus Brasilien und Italien in den Vordergrund. Welche Erfahrungen machen sie? Wie erleben sie Zusammenarbeit? Welche Faktoren wirken sich hemmend oder unterstützend auf die Integration aus? Interessant ist, dass die Befragten die eigenen, persönlichen Ressourcen und Berufserfahrungen als stabilisierend erlebten. Und es wird deutlich, dass die „etablierten“ Mitarbeitenden kaum auf die Herausforderung vorbereitet wurden, neue zugewanderte Kolleg*innen in ihre Arbeit und ihr Team einzubeziehen. Die Studie beschreibt die erlebten Probleme und Herausforderungen der zugewanderten Pflegefachkräfte detailliert und ausführlich. Insofern kann sie wesentlich dazu beitragen, umfassende Entwicklungen

zur erfolgreichen Integration internationaler Pflegefachkräfte auf den Weg zu bringen. Nach El-Mafaalani können Integrationskonflikte „ein Treibstoff für Fortschritt und Innovationen sein“. Insofern wünscht man den Integrationsprozessen in den Kliniken viel Energie und Neugierde, um die Chance des sozialen Wandels durch Integrationsprozesse wahrzunehmen und Menschen in ihrer Verschiedenheit und Pluralität als Gewinn und nicht als Problem zu begreifen. Das Buch ist allen sehr zu empfehlen, die sich mit der Thematik Integration, Kultur und Pflege beschäftigen und/oder dazu wissenschaftlich arbeiten. Es bildet den aktuellen Forschungsstand zu der Thematik ab und ist übersichtlich und nachvollziehbar geschrieben. Die Inhalte können einige Impulse für weitere Arbeiten oder Projekte liefern, die mit der Integration internationaler Pflegefachkräfte verbunden sind. Maase schloss ihren Master „Pflegewissenschaft“ an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar ab. Trotz dringend benötigter akademischer Nachwuchskräfte und guter wissenschaftlicher Arbeit wird die Fakultät Pflegewissenschaft aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen. Ein Schlag ins Gesicht für die Akademisierung der Gesundheitsberufe in Deutschland. Warum diese wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe nicht staatlich gefördert wird und es privaten Instituten überlassen wird, sich durch Gebühren einer nicht gerade hochverdienenden Berufsgruppe zu finanzieren, erschließt sich nicht. Sabine Kalkhoff, Hamburg

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2021, 203 S., 29,95 Euro

Martin Staats, Jan Steinhaußen (Hg.)

Resilienz im Alter

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leich zu Beginn markieren die Autor*innen ihre kritische Distanz zum Modewort Resilienz: „Resilienz, verstanden als psychische Widerstandskraft, könnte Dr. med. Mabuse 254 · November / Dezember 2021


Buchbesprechungen

in dieser Debatte um die aktuelle Krisenbewältigung ein Schlüsselbegriff sein, wenn er es nicht seit mindestens zwei Jahrzehnten wäre.“ Sie wenden den Begriff auf belastende Situationen im Leben alter Menschen an – Armut, Krankheit, Einsamkeit; aktuell dazu der Hinweis auf die CoronaPandemie mit ihren Folgen sozialer Isolation. Sie sehen in der „Fähigkeit, angesichts widriger Lebensumstände unverdrossen und psychisch stabil zu bleiben, […] eine zeitlose Forderung an Menschen“ und nennen sie „ein durchaus sinnvolles Konstrukt“. Zudem wird in den Beiträgen dieses Sammelbandes Resilienz als „eine variable Größe“, die „situationsspezifisch und multidimensional“ ist, bezeichnet. Wichtig ist allen Autor*innen: „Resilienz ist kein ‚Allheilmittel‘ für alle Lebenssituationen.“ Zum einen bestehe das Risiko, soziale Problemlagen zu individualisieren; denn wer nicht mit einer Situation klarkommt, sei eben nicht resilient genug. Dem halten sie entgegen, Resilienz sei doch „nicht lediglich eine individuelle Anpassungsleistung, sondern zu einem guten Teil auch Ergebnis gesellschaftlicher Gelegenheitsstrukturen und Teilhabechancen“ und entstehe „in einer frühen Phase der Kindheit“. „Im Kontext individueller Bewältigungsressourcen“ arbeiten die Autor*innen sich an unterschiedlichen Aspekten ab, von der ganzheitlichen Betrachtung der Gesundheit über soziale Beziehungen, Bildung, Achtsamkeit, die Philosophie der Lebenskunst bis hin zum Umgang mit Traumafolgestörungen und dem Nutzen, über den Tod zu sprechen (Teil III). Spannend wird es im vierten Teil, „Resilienz und Gesellschaft“, sehen sie doch „die Maschen sozialstaatlicher Sicherungsnetze ausgedünnt und verstärkt marktwirtschaftlichen Logiken (Stichwort: private Vorsorge) unterworfen“. Resilienz ist für sie der „Komplementärbegriff zur Vulnerabilität“, was den Schluss nahelege: „Alte Menschen sollten resilienter werden, um sämtliche psychosozialen Brüche und körperliche Einschränkungen bewältigen zu können.“ Sie legen entsprechende individuelle Anpassungsprozesse dar und streichen die Bedeutung unterstützender Rahmenbedingungen heraus: Gefordert ist der Sozialstaat mit seinen Institutionen. Der Frage nach dem „Wie“ der Resilienzsteigerung bei alten Menschen stellen sie noch einmal die grundsätzliche Frage gegenüber: „Warum sollten sie resilienter werden?“ – und verstehen die Frage als „Kritik einer Dr. med. Mabuse 254 · November / Dezember 2021

hegemonial neoliberalen Deutung des Resilienzbegriffs“. Dieser Kritik unterziehen sie auch verschiedene Konzepte der Sozialplanung. „Das späte Glück ist mit den Tapferen?“, fragt die Autorin des letzten Kapitels, und sieht „Resilienz als problematische neue Altersnorm“, als ein Angebot, „die Wirklichkeit zu deuten“ und „die folgerichtige Antwort auf die entfesselten flexibel-kapitalistischen Wachstums- und Optimierungsimperative des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts samt der von ihnen produzierten sozialen, psychischen und ökologischen Folgeschäden“. Dabei werde das Alter „als grundsätzlich krisenförmige […] hochgradig riskante Angelegenheit aufgefasst“, an die es sich emotional und kognitiv anzupassen gelte: „Alter als Katastrophe, Resilienz als Ausweg.“ Es gehe in derartigen Konzepten nicht darum, die Verhältnisse zu ändern, sondern mit ihnen klarzukommen, sich an sie zu gewöhnen und an ihnen zu wachsen. Logisch sei dann der – verblüffende – Schluss: „Wer mit dem Alter nicht klarkommt, der oder die hat es sich in jüngeren Jahren womöglich schlicht zu gut gehen lassen.“ Das Ideal sind damit nicht die Alten, die versuchen, ihre bedrückenden Lebensumstände zu verändern, sondern die vorleben „‚Ich halte aus‘, ‚Ich bin tapfer‘, ‚Ich lasse mich nicht unterkriegen‘“. Das Fazit ist die mit schlagkräftigen Argumenten unterlegte Befürchtung, dass „der Diskurs um Resilienz […] die weitere psychopolitische Privatisierung gesellschaftlicher Problemlagen“ begünstigen könne, was in vielen Bereichen schon zu beobachten sei. Die kritische Distanz der Autor*innen zu ihrem Untersuchungsgegenstand ist wohltuend. Mit ihrem gut, teilweise hervorragend geschriebenen Buch reihen sie sich nicht in die lange Liste wohlmeinender Ratgeberliteratur ein. Lesenswert! Burkhard Plemper, Hamburg

‫ ؚءبإؘؗإآؙئبؔإؘ‬ ‫ءإؘائ؜ؘؠ ؘؘؚ؟ؙ‬

erscheint im November

Weitere interessante Titel zum Thema auf ǁƢƹᄙƩƴᄧƻƥƷƣƨƣ

Beltz Juventa, Weinheim/ Basel 2021, 312 S., 34,95 Euro

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