Heim und Heimweh

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Der Umzug vom vertrauten Zuhause in eine fremde Institution hat für viele Menschen gravierende Folgen. Wie kommen sie mit der neuen Situation im Pflegeheim zurecht? Welche Rolle spielt dabei die Sehnsucht nach ihrem verlassenen Zuhause? Diesen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit.

Heimweh als Metapher einer ursprünglicheren Sehnsucht stiftet für die Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner Bedeutungsstrukturen, die die verlorene Geborgenheit rekonstruieren und einzuordnen vermögen – sowohl im Lebensrückblick als auch in Erwartung von Zukunft.

ISBN 978-3-86321-305-3

www.mabuse-verlag.de

Heim und Heimweh Gerd Schuster Heim und Heimweh

In qualitativen Forschungsstudien nähert sich der Autor schrittweise der Kultur der Institution und der emotionalen Welt der Betroffenen an. Der Abschied von Zuhause wird häufig als Sinnund Lebenskrise erlebt, zumal das Leben im Pflegeheim mit befremdlichen Erfahrungen verbunden sein kann und oft negative Auswirkungen auf Selbstwert, Identität und Gefühlswelt hat.

Gerd Schuster

Zur Sehnsucht alter Menschen an einem befremdlichen Ort

9 783863 213053 ISBN 978-3-86321-305-3

Mabuse-Verlag


Heim und Heimweh


Der Autor Gerd Schuster, Dr. phil., Pflegewissenschaftler, Dipl.-Psychologe, Theologe, ist seit vielen Jahren in unterschiedlichen F체hrungspositionen im Bereich Altenhilfe t채tig. Gegenw채rtig leitet er das Forschungsinstitut f체r Bildung, Altern und Demografie (FIBAD).


Gerd Schuster

Heim und Heimweh Zur Sehnsucht alter Menschen an einem befremdlichen Ort

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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Satz und Gestaltung: Björn Bordon/MetaLexis, Niedernhausen Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main Umschlagabbildung: © dundanim/istockphoto.com Druck: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza ISBN: 978-3-86321-305-3 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten


Inhaltsverzeichnis Danksagung

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Vorwort

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1 Einleitung

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1.1 1.2 1.3 1.4

HinfĂźhrung und Relevanz Forschungsleitendes Interesse und Motivation Wissenschaftliche Verankerung Gliederungsansatz

2 Stand der Forschung 2.1 2.2 2.3 2.4

Heimwehforschung und deren Ergebnisse Nostalgieforschung und deren Ergebnisse Sehnsuchtsforschung und deren Ergebnisse Forschungsansätze zur Befindlichkeit alter Menschen im Pflegeheim 2.5 Zusammenfassung 3 Gerontologische Aspekte 3.1 Psychologische und soziologische Perspektiven zu Altern und Alter 3.2 Alternsmodelle und Theorien 3.3 Altersbilder 3.3.1 Zur raum-zeitlichen Vielfalt von Altersbildern 3.3.2 Altersbilder in der gesundheitlichen Versorgung 3.3.3 Altersbilder im Pflegeheim 3.4 Zusammenfassung

15 18 22 25 29 30 35 39 45 49 51 51 54 62 63 67 69 71


4 Die Institution Pflegeheim als Wohn- und Arbeitswelt 4.1 Zur historischen Entwicklung von Pflegeheimen 4.2 Das Pflegeheime als Institution 4.2.1 Konzeptionelle und begriffliche Differenzierungen 4.2.2 Zur Bewohnerstruktur in Pflegeheimen 4.2.3 Interne und externe Regelkonzepte 4.3 Zum öffentlichen Bild von Pflegeheimen 4.4 Die Wohnwelt Pflegeheim 4.4.1 Zur Bedeutung des Umzugs ins Pflegeheim 4.4.2 Zur Gefahr der Institutionalisierung 4.5 Die Arbeitswelt Pflegeheim 4.5.1 Zur Herstellung von Lebens- und Pflegequalität 4.5.2 Anforderungen durch die Institution 4.5.3 Anforderungen durch die Individualität der Bewohner 4.5.4 Nursing versus Caring 4.6 Zusammenfassung 5 Methodologische Aspekte des Forschungsprojekts 5.1 Besinnung auf die Grundlagen qualitativ orientierter Methodologie 5.1.1 Zur Enge des historischen Heimwehdiskurses 5.1.2 Zur Weite der Begriffe in Sprachspielen und Lebensformen 5.2 Das Profil qualitativer Sozialforschung 5.3 Gütekriterien qualitativer Sozialforschung 5.4 Heuristik als Entdeckungsverfahren 5.5 Grounded Theory

73 73 77 77 79 83 87 89 89 93 94 94 95 96 97 100 103 103 103 105 107 109 112 114


5.6 Projektrelevante Forschungsansätze und angewandte Methoden 5.6.1 Ethnographischer Forschungsansatz 5.6.2 Organisationsanalyse 5.6.3 Biographischer Forschungsansatz 5.6.4 Fotostudie 5.6.5 Dokumentenanalyse 5.6.6 Problemzentriertes Interview 5.6.7 Tiefeninterview 6 Darstellung des Forschungsprojekts 6.1 6.2 6.3 6.4

Heuristischer Zugang zum Forschungsfeld Ziel und Fragestellung Methodik und Struktur des Forschungsprojekts Forschungsstudien 6.4.1 Fokussierte Organisationsanalyse (Studie 1) 6.4.2 Problemzentrierte Gruppeninterviews mit Mitarbeitern (Studie 2) 6.4.3 Problemzentrierte Einzelinterviews mit Angehörigen (Studie 3) 6.4.4 Teilstrukturierte Tiefeninterviews mit Bewohnern (Studie 4) 6.5 Zu erwartende Ergebnisse 6.6 Forschungsethische Aspekte 7 Darstellung der Ergebnisse 7.1 Gesamtschau der Material- und Datenlage 7.2 Struktur der Ergebnisdarstellung 7.3 Ergebnisse der fokussierten Organisationsanalyse (Studie 1) 7.3.1 Materiallage

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7.7 7.8

7.3.2 Ergebnisse der Dokumentenanalyse 152 7.3.3 Ergebnisse der beschreibenden Feldnotizen mit Fotostudie 158 7.3.4 Ergebnisse der Sprachanalyse 160 7.3.5 Beantwortung der studienleitenden Fragestellung 161 7.3.6 Kritische Würdigung der Erkenntnisse (Organisationsanalyse) 163 Ergebnisse der Gruppeninterviews mit Mitarbeitern (Studie 2) 165 7.4.1 Daten zu den Gruppen und ihrer Zusammensetzung 165 7.4.2 Darstellung der Einzelergebnisse 166 7.4.3 Beantwortung der studienleitenden Fragestellung 176 7.4.4 Kritische Würdigung der Erkenntnisse (Interviews mit Mitarbeitern) 178 Ergebnisse der Einzelinterviews mit Angehörigen (Studie 3) 180 7.5.1 Sozialdemografische Daten und Pseudonyme der Interviewpartner 180 7.5.2 Darstellung der Einzelergebnisse 181 7.5.3 Beantwortung der studienleitenden Fragestellung 189 7.5.4 Kritische Würdigung der Erkenntnisse (Interviews mit Angehörigen) 191 Ergebnisse der Tiefeninterviews mit Bewohnern (Studie 4) 193 7.6.1 Sozialdemografische Daten und Pseudonyme der Interviewpartner 193 7.6.2 Darstellung der Einzelergebnisse 195 7.6.3 Beantwortung der studienleitenden Fragestellung 209 7.6.4 Kritische Würdigung der Erkenntnisse (Interviews mit Bewohnern) 211 Zusammenführung der Ergebnisse 213 Beantwortung der Forschungsfrage 219


8 Diskussion ausgewählter Ergebnisse 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Diskussionsansatz Diskussion im Spiegel aktueller Heimwehforschung Diskussion im Spiegel aktueller Nostalgieforschung Diskussion im Spiegel aktueller Sehnsuchtsforschung Diskussion im Spiegel phänomenologisch orientierter Literatur 8.5.1 Heimweh in Metaphern und als Metapher 8.5.2 Der Mensch in Raum und Zeit als „Heim-weg-zur Heimat“ (Joisten) 8.5.3 Heimweh im gesprächshermeneutischen Kontext von Geschichten 8.6 Beispiel eines Gesprächs und seiner Deutungsmuster 8.7 Diskussion vor dem Hintergrund alterstheoretischer Kontexte 8.7.1 Zur Unzulänglichkeit von Alterstheorien 8.7.2 Zur Unstimmigkeit des Bildes von Pflegeheimen und ihrer Bewohner 8.8 Zusammenfassung der Diskussionsergebnisse 9 Ausblick 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Würdigung der Methode Limitationen Implikationen der Ergebnisse für die Praxis Weiterer Forschungsbedarf Statt eines Nachworts

Literaturverzeichnis

221 221 223 231 235 238 238 241 244 247 257 258 260 262 265 265 267 269 272 273 279


Anhang Anhang 1: Vollständige Transkription des Interviews mit Frau Abt (Pseudonym) Anhang 2: ThemenblÜcke und Sinnbeziehungen aus dem Interview mit Frau Abt

301 301 312


Danksagung Mein Dank gilt allen, die es mit ermöglicht haben, dass die vorliegende Untersuchung zum gelingenden Abschluss kommen konnte. An erster Stelle danke ich meiner Familie. Meine Frau Dr. Gudrun Schuster und meine beiden Söhne Johannes und Benedikt haben mir viel Nachsicht entgegengebracht und mir stets neue Kraft gegeben, trotz aller Belastungen mit Freude am Ball zu bleiben. Ich danke Herrn Prof. Dr. Seeberger für seine Offenheit und Unterstützung sowie dafür, dass er mich im Laufe meines Forschungsprojekts unermüdlich inspiriert und auf Kurs gehalten hat. Danken möchte ich ebenso meinem Chef Dr. Horst Wiesent. Über sein eigenes wissenschaftliches Engagement stellte er mir ein hohes Maß an beruflichen Freiräumen zur Verfügung, ohne die ein intensives nebenberufliches Arbeiten undenkbar gewesen wäre. Und schließlich danke ich allen, die mit ihrem Interesse an meinem Thema und den vielen tiefen, förderlichen Gesprächen immer wieder aufs Neue zu meiner Motivation und Begeisterung beigetragen haben: allen voran meinen beiden Kolleginnen Anne Zahn und Hermine Nowak, von deren fachlichem Wissen ich gleichermaßen profitieren konnte wie von ihrer Lebenserfahrung. Nicht zuletzt aber will ich meinen vielen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern danken. Sie haben mir ein großes Maß ihrer Zeit geschenkt und mit ihr all dieses, was die eigentliche Substanz des vorliegenden Textes ausmacht. Bamberg, im Februar 2016

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Vorwort Die vorliegende Abhandlung geht auf einen Text zurück, der im November 2013 an der Tiroler Landesuniversität (UMIT) Hall in Tirol mit dem Titel „Heimweh im Pflegeheim – eine qualitativ-heuristische Annäherung“ als Dissertation eingereicht wurde. Es handelt sich um ein gerontologisches Forschungsprojekt mit psychologischem und soziologischem Schwerpunkt im Kontext emotionaler Befindlichkeit von Pflegeheimbewohnern. Die Untersuchung soll Einblick in die emotionale Welt der betroffenen Menschen geben. Insbesondere soll beleuchtet werden, wie sie mit ihrer Situation im Pflegeheim zurechtkommen und welche Rolle dabei ihre Sehnsucht nach dem verlassenen Zuhause spielt. Die inhaltliche Darstellung greift eine wichtige und aktuelle Fragestellung auf. Die Fragestellung dieser Schrift ist von großer anthropologischer, gerontologischer und, im Hinblick auf den Umgang mit alten Menschen in Pflegeeinrichtungen, auch von pflegewissenschaftlicher Relevanz. Der Autor konnte durch seine Forschung einen Einblick in die Gefühlslage von Menschen geben, die in Pflegeheimen untergebracht sind. Durch seinen äußerst breit angelegten Forschungszugang konnte er die Komplexität der Gefühlslage aufzeigen und ebenso darlegen, dass die unterschiedlichen Akteure ihren Teil zu dem Phänomen Heimweh in einem komplexen Zusammenspiel beitragen. Eine auf Missstände fokussierte Darstellung von Pflegeheimen hat der Autor an unterschiedlichen Stellen aufgebrochen, ohne die Missstände in diesen Einrichtungen zu beschönigen. Der Autor hat sehr ambitioniert unterschiedliche methodische Zugänge zur Erforschung seines Themas gewählt. Dieser breite Zugang ermöglichte einen Einblick in das Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure und deren Beteiligung am Phänomen des Heimwehs. Spürbar ist die persönliche Wirkungsgeschichte der Forschungen beim Autor selbst, in der deutlich wird, dass die hermeneutische Erschließungs13


Vorwort

kraft relevanter Themen nicht auf eine Forschungskulisse zwischen Forscher und Forschungsgegenstand beschränkt bleiben muss. Der Autor legt nicht nur eine umfangreiche, methodisch vielfältige und originelle Arbeit vor. Er ist in der Lage, den Anschluss an die gerontologische Forschung vorzunehmen und durch Fortschreiben der Rezeption vorhandener Forschungsergebnisse die gewonnenen Erkenntnisse weiter zu führen. In hohem Maße gelingt es ihm, seine Erkenntnisse mit den vorhandenen Forschungsergebnissen zu Heimweh, Nostalgie, Sehnsucht sowie den phänomenologischen Deutungen dieser Themen zusammen zu sehen und fruchtbar zu gestalten. Es ist ein Kunststück dieser Abhandlung, ebenso nüchtern wie atmosphärenstark zu sein. Der sprachliche Ausdruck ist auf exzellentem Niveau. Diese Ästhetik hält der Autor bis in die Nuancen hinein durch. Die vorliegende Abhandlung zeugt nicht nur von Fleiß und Brillanz, sie lässt auch ohne Zweifel erkennen, dass sich Dr. Gerd Schuster sicher im wissenschaftlichen Feld zu bewegen weiß. Univ.-Prof. Dr. Bernd Seeberger Institut für Gerontologie und demografische Entwicklung Hall in Tirol/im Februar 2016

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1 Einleitung „Vielmehr findet sie allzeit weiche und schmeichelnde Worte, übt ihren Zauber, daß Ithakas ganz er vergesse. Odysseus will aber fort, um den Rauch nur der Heimat steigen zu sehen; Sehnsucht hat er zum Tode.“ (Homer, Odyssee, Erster Gesang, V. 56–58)

1.1 Hinführung und Relevanz Der durch den Schweizer Arzt Johannes Hofer begründete wissenschaftlich geleitete Heimwehdiskurs scheint nach fast 350 Jahren seiner Fortentwicklung in unseren Tagen weitgehend zu verstummen. In der Tat ist es schwierig geworden, sich in der Welt des 21. Jahrhunderts mit dem Phänomen des Heimischen und seiner Deprivation zu beschäftigen. Sowohl Heim als auch Weh muten vielfach als anachronistische Relikte an, die im modernen Sprachgebrauch kaum noch Platz finden. Darüber hinaus gehören Heimat und Heimweh zu den Begriffen und Phänomenen, die wegen ihrer sentimentalen oder ideologischen Konnotationen nicht ohne Vorbelastungen sind. Karen Joisten gewinnt in ihrer Philosophie der Heimat nach erstem Augenschein den Eindruck, dass nach allgemeinem Dafürhalten Heimat nur noch für einen Provinzler von Bedeutung sei, „[…] der engstirnig und borniert, vielleicht sogar reaktionär und anti-demokratisch, am Ewiggestrigen festhält und der in seiner kleingeistigen Haltung nicht in der Lage ist, über den Tellerrand seiner engen Grenzen zu blicken“ (Joisten, 2003, S. 12). Der Anspruch an die Menschen dieser Tage ist dem gänzlich entgegengesetzt. Im Zuge eines wiederum nahezu ideologisierten Globalisierungsgedankens, der Politik, Wirtschaft und öffentliches Leben bedeutsam prägt, wird das 15


1 Einleitung

Idealbild eines Menschen vorausgesetzt, der bindungsfrei und unbegrenzt anpassungsfähig den Strömungen und Forderungen zur Disposition steht, mobil, flexibel, weltweit vernetzt, überall zuhause, stets, an jedem Ort und für prinzipiell jeden erreichbar zu sein. Die Unterscheidung zwischen Nahem und Fernem verliert zunehmend an Bedeutung, die Welt schrumpft gleichsam zusammen auf zeitlich und räumlich beliebige „Nicht-Orte“ (Augé, 1994, S. 121; Mitzscherlich, 2000, S. 4), die wiederum einen Großteil modernen Zeit- und Raumempfindens zu prägen scheinen. Traditionelle Bindungen jeglicher Art gehen verloren, die menschliche Identität leidet unter den wachsenden Widersprüchen moderner Lebensanforderungen. In seiner einflussreichen Analyse der Consequences of Modernity prägte der britische Soziologe Anthony Giddens hierfür den Begriff des disembedding als „[…] the ‘lifting out’ of social relations from local contexts of interaction and their restructuring across indefinite spans of time-space“ (Giddens, 1991, S. 21). Die durch Giddens beschriebenen Konsequenzen moderner Anforderungen an den Menschen bestehen auf subjektiver Seite letztlich in einer Befremdung gegenüber sich selbst. Denn all diesen in Kürze dargestellten Diagnosen der Grunderfahrungen der Moderne ist nach Joisten gemeinsam, „[…] dass die mit dem Einzelnen und seiner Leiblichkeit gegebene Nahsphäre, die er unmittelbar erfahren und erleben kann und – was entscheidend ist – an die er gebunden ist und an die er im Laufe seines Lebens die Bindung vertiefen kann, ‚außer Konkurs geraten’ ist, weil statt dessen der Blick über sie hinweg auf das Allgemeine, Unspezifische, Weite und Überall fokussiert wird“ (Joisten, 2003, S. 11). Joisten verweist in diesem Zusammenhang auf Edmund Husserls Krisis-Schrift der 1930er Jahre und schließt sich dem Fazit an, dass im Zuge der immer weiter und schneller voranschreitenden Modernisierung „[…] die tatsächlich erlebte und gelebte Welt für den heutigen Menschen bedeutungslos geworden ist“ (Joisten, 2003, S. 13). „Bedeutungslos“ darf hier jedoch nicht im Sinne von unwichtig aufgefasst werden. Es bezeichnet 16


1.1 Hinführung und Relevanz

vielmehr die Fremdheit gegenüber dem eigenen Wesen, dem Herzen, dem Gefühl, das nach wie vor Faktum bleibt, nun jedoch ins Irrationale, nicht Vernünftige, ja eigentlich Unvernünftige abgeglitten scheint (vgl. dazu auch Habermas, 1981; 1985). Vor dem skizzierten krisenhaften Kontrast zwischen dem wirklich Erlebten und dem abstrakt Diffusen fällt ein schärferer Blick auf ein Drittes, Nötiges, das als integrative Kraft die Identität des Menschen aufrecht zu halten vermag. Seine fortschreitend verloren gehende Einbettung, die dabei geforderten Bewältigungsstrategien und Anpassungsfähigkeiten, setzen nämlich etwas voraus, das man mit einem teilweise zu Recht aus der Mode gekommenen und politisch problematischen Begriff wie Heimat (Gebhard u. a. 2007) und deshalb besser mit Beheimatung beschreiben könnte. Dieses gleichsam kontrafaktische Postulat zur Tendenz des disembedding wird in unseren Tagen zwar vorsichtig, aber zunehmend eingelöst. Es ist nämlich festzustellen, dass das Sprechen und Schreiben über Heimat, das Bekenntnis zu Tradition und Beheimatung, eine diffuse Gegenbewegung zum Entbettungsphänomen der Postmoderne zu werden beginnt und die Phänomene Beheimatung und Heimweh in ihrer Bedeutung für den Menschen zumindest allmählich wieder rehabilitiert werden (so z. B. Maurer, 2011; 2012). Vor diesem Hintergrund ist auch die vorliegende Untersuchung zu sehen. Denn die Forderung der modernen Welt nach bedingungsloser Flexibilität und Mobilität (Sennett, 1998), nach der Bereitschaft, zweckrational und ökonomisch zu handeln, auf neue anonyme Strukturen zu vertrauen (Giddens, 1991, S. 29 ff.), ständig aufs Neue aufzubrechen und buchstäblich alles zurückzulassen, überall und nirgends heimisch zu sein, ja letztlich sich auch von sich selbst und seiner Identität zu entfremden, findet nicht selten eine Zuspitzung im hohen Lebensalter. Die letztveröffentlichte Erhebung des statistischen Bundesamtes zur Lage der Pflege in Deutschland aus dem Jahr 2013 zeigt, dass es nach den Kriterien des SGB XI im Jahre 2011 insgesamt etwa 2,5 Millionen Pflege17


1 Einleitung

bedürftige gab. 743.000 pflegebedürftige Menschen (also 30 %) wurden nicht zuhause versorgt, sondern waren auf vollstationäre Unterbringung in fast 12.400 Pflegeheimen angewiesen. Im Vergleich zu den vorgängigen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes haben sich 2013 unter anderen folgende Tendenzen fortgesetzt: die Zahl der Pflegebedürftigen steigt kontinuierlich, ebenso die Zahl derer, die in Heimen versorgt werden; die Quote der Pflegeheimbewohner steigt mit dem 85. Lebensjahr steil an und liegt bei über 90jährigen jenseits von 85 %; die überwiegende Anzahl der Pflegebedürftigen, wird vor Heimeinzug beträchtliche Zeit von Angehörigen gepflegt; der Grad der Pflegebedürftigkeit ist bei Heimeintritt stetig höher. Die kontinuierlich wachsende Zahl immer älterer und pflegebedürftigerer Pflegeheimbewohner und damit auch der sie versorgenden Institutionen wirft die Frage auf, wie im Zuge einer auf das Machbare ausgerichteten Zeit und ihrer Forderung nach bedingungsloser Flexibilität und Mobilität mit schicksalhaft notwendigen Umzügen ins Pflegeheim umgegangen wird, wenn also durch Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Fremdheit und drohendes Lebensende die letzten Ressourcen einer vielleicht integrativen Kraft des Heimischen auf dem Spiel zu stehen scheinen.

1.2 Forschungsleitendes Interesse und Motivation Im Baseler Kunstmuseum ist ein großformatiges Gemälde ausgestellt, welches Arnold Böcklin 1883 vollendet hat. Es trägt den Titel Odysseus und Kalypso und deutet mit den Mitteln des Malers eine schicksalhafte Szene aus dem berühmten Epos Homers. Dieses Gemälde gilt in kunstgeschichtlichen Interpretationen als ikonographisches Sinnbild der schmerzlichen Sehnsucht nach Rückkehr in die Heimat: Nach zehn Jahren des Kampfes gegen Troja, fern dem eigenen Königreich und seiner Familie, muss der Held Odysseus auf seinen nicht enden wollenden 18


1.2 Forschungsleitendes Interesse und Motivation

Irrfahrten über das Meer vieles Fremde, Befremdliche und Bedrohliche erdulden: Gefahren, Schmerzen, Verluste und schließlich die sinkende Hoffnung, je wieder heimatlichen Boden zu erreichen. Seinen Höhepunkt findet das sehnsüchtige Bestreben des Odysseus, nachdem er auf der Insel Ogygia bei der Nymphe Kalypso gestrandet ist, als einziger Überlebender unter seinen Gefährten. Gerade jetzt, da der Held in Sicherheit ist und das Leben bei der liebevollen Nymphe genießen könnte, übermannt ihn heftiger denn je sein Heimweh und lässt ihn in depressive Todessehnsucht fallen. Kalypso betört ihn, wirbt um ihn, verspricht ihm ewiges Leben. Er aber steht am unwirtlichen Strand, blickt über die „unermessliche Salzflut“ und „sehnt sich danach, den Rauch seiner Heimat noch einmal steigen zu sehen und dann zu sterben“ (Homer, Odyssee, Erster Gesang, Verse 57 ff.). So tief ist sein Schmerz, dass sich die Götter auf dem Olymp schließlich der Angelegenheit annehmen und Hermes als Boten in die Szenerie senden, damit er die endgültige Heimreise für Odysseus vermitteln kann. Genau diesen Moment hält Böcklin in seinem Gemälde aus dem Blickwinkel des Hermes und somit aus im wahrsten Sinne des Wortes hermeneutischer Perspektive fest: die verführerisch werbende Nymphe; den einsamen, sehnenden, abgewandten Odysseus, der kein Auge für deren Schönheit hat und dessen äußere Welt trotz der üppig geschilderten Natur der Insel auf die Befremdlichkeit kalten Felsens und endlosen Meeres ohne Horizont reduziert ist. In seiner Seele jedoch, so wird der Hörer der vierundzwanzig Gesänge schließlich erfahren, trägt er einen unermesslichen Kosmos abenteuerlicher, tief bewegender Geschichten, welche das beschreiben, was sein Wesen erfüllt und gänzlich bestimmt: Sehnsucht nach Heimkehr. Spiegelt sich im Sehnen des Odysseus weg von Kalypso zu den Seinen die Sehnsucht von Pflegeheimbewohnern wider? Wie ist es bei letzteren jenseits aller gesellschaftlicher Forderungen, Erwartungen und Statistiken um ihre Innenseite bestellt, nachdem sie alt und krank ihr Zuhause verlassen mussten, um an einem vielleicht befremdlichen Ort 19


1 Einleitung

zu leben, der den Anspruch hat, das Verlorene zu ersetzen. Mit welchen qualitativen Merkmalen und Begriffen lässt sich beschreiben und verstehen, was genau hier passiert? Haben ältere pflegebedürftige Menschen in Pflegeheimen Sehnsucht nach ihrem Zuhause? Welche Rolle spielt sie für das Leben am neuen Ort? Wie denken Leitungspersonen, Pflegende und Angehörige darüber und von welchen Erfahrungen können sie berichten? Was vor allem antworten die alten Menschen selbst, wenn sie nach danach gefragt werden? Wie gehen sie mit dem Selbstanspruch der Einrichtung um, nun ihr neues Zuhause zu sein? Wohin fällt ihr Blick? Was ist ihnen wichtig und welchen Dingen kehren sie den Rücken? Was könnte helfen und Geborgenheit vermitteln? Sind Pflegeheime eher Heimwehfabriken im Sinne Draaismas (2009) oder können sie auch tatsächlich eine Art Zuhause herstellen? Wie immer diese Fragen im Folgenden auch beantwortet werden mögen – die oben skizzierten Konsequenzen der modernen Welt betreffen nicht nur das subjektive Empfinden ihrer Menschen, nicht nur einzelne Anforderungen und deren Ideologisierungen, sondern auch das grundlegende Menschenbild überhaupt. Denn dieses hat, so die These von Busch und Därmann (2007), das Interesse an Phänomenen verringert, die in der Antike als Pathos bezeichnet wurden. „In dem Maße, in dem die freiheitliche Selbstbestimmung des europäischen Menschen ins substantielle Zentrum seiner moralisch-politischen Existenz gestellt wird, kann das Bestimmtwerden durch Widerfahrnisse und heteronome Leidenschaften nur als störend gelten“ (Busch; Därmann, 2007, S. 7 f.). Und so verweist auch Elke Geenen in ihrem Beitrag Fremdheit und Pflege zur von Schroeter und Rosenthal herausgegebenen Soziologie der Pflege (2005) mit Blick auf die einschlägige Pflegeliteratur auf den merkwürdigen Umstand, „[…] dass Leiden, Gebrechen oder ähnliche Begriffe in ihr kaum aufzufinden sind“ (Geenen, 2005, S. 341). Der zu Pflegende stellt dort „lediglich eine fast zu vernachlässigende Randgröße“ (ebd., Fußnote 3) dar. Wäre es aber in diesem Zusammenhang eine noch viel gravie20


1.2 Forschungsleitendes Interesse und Motivation

rendere Störung für das Selbstempfinden und die Wahrnehmung modernisierter Menschen, wenn in der als Heim, Zuhause und Heimat hergestellten Institution Pflegeheim dessen Bewohner nun aber abgewandt am Fenster ihres Zimmers stehen und voller Sehnsucht in die Ferne einer eigenen Welt blicken – wie Odysseus auf dem Gemälde von Böcklin? Genau in diese unterschiedlichen Welten des Hergestellten, Erfahrenen, Gedeuteten und Gelebten hinein wird im folgenden Forschungsprojekt zu fragen sein – in gebotener Distanz und größtmöglicher Nähe zu den Betroffenen. Auf die vielen bereits jetzt gestellten Fragen soll versucht werden, Antworten zu finden. Und da dies in der Forschungsliteratur, wie noch darzustellen sein wird, bislang kaum oder nur unzulänglich geschehen ist, soll mit der vorliegenden Untersuchung ein der Vulnerabilität des Forschungsfeldes angemessener, vorsichtig geplanter und durchgeführter, heuristisch orientierter Beitrag geleistet werden. In diesem Rahmen sei das Ziel verfolgt, die systematische Erkenntnis der emotionalen Befindlichkeit von Pflegeheimbewohnern voranzubringen. Durch das Thematisieren, Befragen und Durchbrechen als sehr belastend erlebter Phänomene könnten darüber hinaus bestehende seelische Schmerzen gelindert (Thurber, 2007) und das gegenseitige Verstehen in Pflegeheimen verbessert werden. Da es sich bei diesem Forschungsfeld, wie es scheint, überhaupt um wenig systematisch betrachtete Gebilde handelt, soll darüber hinaus ein Beitrag zum weiteren Verständnis dieser Institutionen geleistet werden. Im Rahmen der übergeordneten Frage nach der emotionalen Befindlichkeit im Alter sollte durch die nachfolgende wissenschaftliche Untersuchung jedenfalls ein weiterer Mosaikstein geliefert werden, der darüber hinaus einen Beitrag zur Emotionspsychologie und Erinnerungsforschung im Allgemeinen darstellt. Hier könnte in der Erkenntnis des Phänomens Sehnsucht im Allgemeinen und Heimweh im hohen Lebensalter im Speziellen ein grundsätzlicher Ansatz liegen, der Frage nach dem Wesen des Menschen zumindest auf der Spur zu bleiben. 21


1 Einleitung

1.3 Wissenschaftliche Verankerung Um den konkreten Rahmen der Lebenswirklichkeit zu würdigen, innerhalb dessen sich die vorliegende Untersuchung bewegt, stellt sich diese bewusst in die Diskursgeschichte der Heimwehforschung. Dieser wissenschaftliche Diskurs findet nach Bunke (2009) seinen eindeutig zu datierenden Impetus in der Dissertation des Schweizer Arztes Johannes Hofer, die dieser im Jahre 1688 an der Universität Basel unter dem Titel Dissertatio medica De Nostalgia, Oder Heimwehe vorgelegt hatte. Der von Hofer so geprägte latinisierte Fachterminus nostalgia lehnt sich an die griechische Übersetzung des in der Schweiz bereits seit dem Jahre 1569 auch schriftlich nachgewiesene Dialektwort heimwe an (nostos = Heimkehr; algos = Schmerz). Der Schweizer General Ludwig Pfyffer hatte sich dieses Wortes bedient, um in seinem Bericht über die Schlacht bei Jarnac die Todesursache eines Schweizer Soldaten zu erklären. Hofer setzt sich in seiner Untersuchung mit Ursachen, Eigentümlichkeiten von Betroffenen sowie mit Verlauf und therapeutischen Einflussmöglichkeiten des Heimwehs auseinander. Bis zum vollständigen Verbrauch der Lebensgeister (spiritus animales) nämlich kann der am Heimweh Erkrankte nur noch an die Heimat denken, „[…] die ihm von der kranken Einbildungskraft in übermäßig schönen Bildern vergegenwärtigt wird, welchen die Heimat selbst gar nicht entspricht“ (Bunke, 2009, S. 28 f.). Die aus der Humuralpathologie stammende zeitgenössische Vorstellung der spiritus als flüchtige, an die Bahnen der Nervenfasern gebundene Substanzen erlaubt Hofer nun folgende Hypothese: „Wenn nun jemand in der Fremde an sein Vaterland denkt, dann entsteht dieses mentale Bild der Heimat dadurch, dass die Spiritus animales bestimmte Faserbahnen im Gehirn nehmen, die genau auch nur diese Vorstellung produzieren […]. Wenn man nun beständig an ein einziges Objekt wie z. B. das Vaterland denkt, dann werden die immer gleichen Faserbahnen durch den fortwährenden Kontakt der Spiritus langsam erweitert […]. 22


1.3 Wissenschaftliche Verankerung

Hingegen behalten alle übrigen Faserbahnen, die nicht zur Vorstellung von der Heimat führen, entweder die normale Größe oder verkümmern gar, da sie ja nicht mehr verwendet werden. Dies bedeutet, dass die Spiritus immer leichter durch jene erweiterten Bahnen strömen und sich so mehr und mehr einer Kontrolle entziehen“ (Bunke, 2009, S. 29 f.). Da die dem Menschen innewohnenden Lebensgeister quantitativ begrenzt sind, können sie die anderen lebenswichtigen Funktionen nicht mehr steuern. Sie brauchen sich vielmehr dadurch auf, indem sie nur noch in jenen Nervenbahnen laufen, die den Heimatvorstellungen zugeordnet sind. Schließlich kommt es zum totalen körperlichen Verfall, der Tod des vom Heimweh gezeichneten Menschen ist letztlich die Folge. Disponiert zur tödlichen Krankheit Heimweh sind nach Hofer vor allem junge Männer. Schon bei Hofer, aber noch deutlicher in der durch ihn ausgelösten Forschungsliteratur, wird als weiteres Dispositionskriterium die überdurchschnittlich häufige Schweizer Herkunft der Betroffenen, meist Söldner, angesehen. Aus dieser Tatsache heraus wurde ab dem 18. Jahrhundert das Heimweh auch als Schweizer Krankheit bezeichnet, als deren einzig sichere Therapie die Rückkehr des Heimwehkranken in die Heimat gilt. Hatte sich bereits Hofer in seiner Dissertation weniger auf empirisches Material als auf überlieferte und vorinterpretierte Fallbeispiele gestützt, so wurde diese empirische Enthaltsamkeit auch innerhalb des Heimwehdiskurses der folgenden 200 Jahre im Wesentlichen fortgesetzt. „Anstatt das Heimweh in immer neuen Beobachtungen zu verifizieren und so seine diskursive Fassung zu präzisieren oder zu modifizieren, beschränken sich viele Heimweh-Traktate darauf, die bekannten Fälle immer neu zu erzählen“ (Bunke, 2009, S. 42). Fest verortet in einer somatisch orientierten und in strengen Kausalitätszusammenhängen denkenden Medizin war dem Phänomen Heimweh eine befremdliche, feindliche und außerhalb individueller und gesellschaftlicher Zusammenhängen liegende Rolle zugeschrieben. „Dies impliziert, dass das 23


1 Einleitung

Heimweh immer vom beobachtenden Arzt her und nicht vom Subjekt her gedacht wird […]“ (Bunke, 2009, S. 87). Das resultierende Befremden nicht in erster Linie des Phänomens, sondern seiner ihm attribuierten Ursächlichkeit, zeigt sich bis ins 20. Jahrhundert hinein in seinen beiden wesentlichen Traditionslinien Psychiatrie und Forensik, die überaus deutlich in der Dissertation Karl Jaspers zum Thema Heimweh und Verbrechen (Jaspers, 1996) aus dem Jahr 1909 dominieren und aufs Engste miteinander verknüpft werden. Darüber hinaus jedoch bringt Jaspers die grundlegenden alten Gerichtsakten in den seinerzeit bereits bestehenden diskursiven Kontext nichtpathologischer Formen von Heimweh und markiert so eine Schwellenposition im Auflösungsprozess des Heimwehdiskurses und Umdefinieren des Heimwehs in Phänomene depressiver Verstimmungen und normaler emotionaler Ausdrucksformen. In diesen beiden Tatsachen, der Redundanz des Diskurses ohne Blick auf stets neues empirisches Material einerseits und dem Verschwimmen seines exakten somatischen, kausaltheoretischen Rahmens andererseits, sieht Bunke neben den neu entstehenden epistemiologischen Verschiebungen auf die Krankheitsbilder Neurasthenie und Shellshock das allmähliche Ende der Diskursgeschichte begründet (siehe Bunke, 2009, S. 218 ff.). Nach einer relativen Blütezeit bis in die 1940er Jahre hinein verschwindet das allgemeine wissenschaftliche Interesse am Heimweh fast völlig. Die Dissertationen von Ramming-Thön (1958) und Zwingmann (1959) sowie deren wenige Weiterentwicklungen stehen wie Monolithe auf der weiten Brache des in Frage stehenden Forschungsfeldes. Zwingmann ist es auch, der im Hinblick auf die problematische Begriffsgeschichte von Heimweh und der spezifischen Lebenssituation des modernen Menschen Heimweh durch den Terminus nostalgische Reaktion ersetzt (Zwingmann 1962, S. 312) und auf diese Weise vor allem für die Psychiatrie als diagnostische Kategorie aufbereitet.

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1.4 Gliederungsansatz

Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts bildeten sich wieder um Wissenschaftler wie Van Tilburg und Vingerhoets in den Niederlanden oder Thurber, Fisher und Baier in den USA kleinere Gruppen, die sich empirisch orientiert mit dem Ziel auseinandersetzen, homesickness in klinischen Belangen, Einschätzungs- und Anfälligkeitsskalen (z. B. Fisher 1989; Eurelings-Bontekoe u. a. 1995; Archer u. a. 1998) oder komplexeren Konzeptentwürfen (Fisher 1989) wenigstens ansatzweise zu thematisieren. Die Forschungsliteratur insgesamt blieb jedoch unbefriedigend. Hatten Van Tilburg et al. ihrer Hoffnung auf intensivere und systematischere Erforschung des Heimwehs Ausdruck verliehen (Van Tilburg et al. 1996, S. 912), so zeigen sich Van Tilburg et al. (2005) im Vorwort der zweiten Auflage des von ihnen herausgegebenen Buches Psychological Aspects of Geographical Moves überaus enttäuscht, dass zwischenzeitlich kaum eine Hand voll relevanter Forschungsstudien hinzugekommen war. Diese Tendenz zur weiteren Ausdünnung hat sich bis heute fortgesetzt.

1.4 Gliederungsansatz Um die oben formulierten grundsätzlichen exponierenden Fragestellungen in eine gezielte Forschungsfrage zu kanalisieren und in einen methodischen Rahmen zu bringen, ist zunächst im nachfolgenden Kapitel 2 der vorliegenden Untersuchung zum aktuellen Stand der Forschung eine entsprechende Literaturrecherche beschrieben. Auf ihrer Grundlage wird eine erste Klärung und Abgrenzung des Konzepts Heimweh mit anderen, vor allem verwandten psychologischen Begriffen und Konzepten vorgenommen. Zur systematischen Entwicklung einer den Zielen und der Fragestellung möglichste weitgehend angepassten Methodologie erläutert Kapitel 3 gewissermaßen die theoretischen Voraussetzungen und Vorurteile, denen auch der Forschende ausgesetzt ist. Überdies 25


1 Einleitung

unterliegt er, ebenso wie die in die Untersuchung einbezogenen Personen im Forschungsfeld, dem Einfluss bestimmter Altersbilder. Auch diese sollen vor dem Hintergrund entsprechender Forschung in ihrer Entwicklungsgeschichte, Formbarkeit und Konsequenz auf Fremd- und Selbstdeutungen dargestellt werden. Kapitel 4 befasst sich mit einschlägigen Erkenntnissen und relevanten Zusammenhängen im Hinblick auf das Forschungsfeld der vorliegenden Untersuchung, dem Pflegeheim. Seine besonderen Merkmale als Institution einerseits, als Wohnwelt andererseits, werden aus historischer Perspektive entwickelt und auf ihre Einflüsse auf das Erleben und Verhalten von Pflegeheimbewohnern und pflegenden Mitarbeitern hin dargestellt. Auch das öffentliche Bild der Institution Pflegeheim und dessen psychologische wie soziologische Bedeutsamkeit wird hier wichtiges Thema sein. Mit Bezug auf den aktuellen Forschungsstand, die daraus entwickelten Fragestellung für das vorliegende Forschungsprojekt und dessen Grundpositionen werden in Kapitel 5 die methodologischen Grundlagen qualitativer Sozialforschung und diejenigen Methoden zur näheren Darstellung und Diskussion gebracht, die im Zuge der vorliegenden Untersuchung als relevant erachtet werden. Besondere Schwerpunkte werden hier auf das dialogische Prinzip eines heuristischen Ansatzes und dessen forschungspragmatische Umsetzung in der Grounded Theory gelegt. Der gesamte Forschungsplan wird in Kapitel 6 beschrieben und in seinen im Wesentlichen vier Forschungsstudien entfaltet, die sich über eine Analyse der Institution Pflegeheim, Interviews mit pflegenden Mitarbeitern und Interviews mit Angehörigen schließlich den Bewohnern selbst nähern, um mit ihnen Gespräche zu führen. Kapitel 7 dieser Untersuchung wird die gewonnenen Einzelergebnisse der jeweiligen Forschungsstudie zur Darstellung bringen, diese zusammenführen und schließlich ein Beantworten der Forschungsfrage anzielen. Die wichtigsten der aufgezeigten Ergebnisse werden in Kapitel 8 analysiert und vor den Hintergrund aktueller Forschung gestellt. Dabei werden neben Erkenntnissen aus 26


1.4 Gliederungsansatz

Heimweh-, Nostalgie- und Sehnsuchtsforschung auch grundlegende Erkenntnisse phänomenologisch-hermeneutischer Literatur zur Diskussion gebracht, um die Besonderheiten der in der vorliegenden Untersuchung gewonnenen Ergebnisse zu verdeutlichen und in einen weiteren Interpretationsrahmen zu bringen. Kapitel 9 befasst sich nach einer abschließenden Gesamtwürdigung der Methodologie und Methoden der Untersuchung mit deren Limitationen, leitet aus den Ergebnissen Implikationen für die Praxis ab, benennt in diesen Zusammenhängen den weiteren Forschungsbedarf und endet statt eines Nachworts mit persönlichen Bemerkungen des Autors.

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