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Akzentuierte Ängste
Saure Zeiten für Sozialkontakte ... Foto: Gerd Altmann/Pixabay
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Corona und die Seele
Der Lockdown dauert an. Frauke Neßler, Marburger Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytikerin, zum Einfluss der Pandemie auf die Seele, besondere Gefährdungslagen und individuelle Bewältigungsstrategien.
Express: Die Harvard-Universität erwartet einen „weltweiten Tsunami psychischer Erkrankungen“ in Folge der Corona-Pandemie. Übertrieben oder angemessen?
Frauke Neßler: Ob es eine tsunamihafte Zunahme der psychischen Erkrankungen geben wird, ist eine schwierige Frage, weil das Problem sehr vielfältig ist und auch die Folgen in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind. So haben Länder wie Italien im Vergleich zu Deutschland sehr hohe Opferzahlen zu beklagen. Man denke an schreckliche Bilder der Zustände in Bergamo, wo viele Menschen persönlich betroffen waren und Tote und Erkrankte im Familien- und Freundeskreis zu beklagen hatten oder bis heute an den wirtschaftlichen Folgen leiden. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist, ob Länder, die mehr unter den Folgen der Pandemie leiden, auch stärker betroffen sind in Bezug auf psychische Erkrankungen.
Das bedeutet?
Selbstverständlich ist, dass das psychische Erleben von äußeren Ereignissen beeinflusst wird, die wiederum psychische Krisen auslösen können. So können sich nach traumatischen Erlebnissen posttraumatische Belastungsstörungen ausbilden. Allerdings passiert dies nicht zwangsläufig, sondern setzt eine gewisse Vulnerabilität oder Empfänglichkeit voraus beziehugsweise ist auch von der Stärke und der Zeitdauer des Traumas abhängig. Des weiteren spielen protektive Faktoren eine Rolle und ob Betroffene Unterstützung haben und über welche individuellen Bewätigungsstrategien jemand verfügt.
Ist aus der Praxis heraus aktuell ein Zuwachs an therapeutischem Bedarf zu verzeichnen?
In meiner Praxis kann ich keine grundsätzliche Zunahme an Anfragen verzeichnen. Die ein oder andere Anfrage zum jetzigen Zeitpunkt hängt allerdings schon mit der Pandemie zusammen, weil bestehende Konflikte sich verschärft haben, Ablenkungen weggefallen sind, Ängste vor Erkrankung oder um den Arbeitsplatz hinzugekommen sind. Allerdings ist das Thema in allen Therapien auf vielfältige Weise sehr präsent. So steht bei einigen Patienten die Sorge um eigene Erkrankung und Erkrankungen in der Familie im Vordergrund. Belastungen ergeben sich auch durch verminderte Kontakte zu Familie und Freunden. Ein weiteres Thema ist bei vielen Patienten die Veränderung der Arbeitsrealität, sei es durch Homeoffice, Kurzarbeit oder sogar Sorge um den Arbeitsplatz. Ein drittes großes Thema betrifft die durch Coronamaßnahmen veränderte häusliche Situation, die oft mit vermehr- ten Partnerschaftskonflikten und Schwierigkeiten mit den Kindern durch Schul- und Kindergartenschließungen einhergeht, Homeschooling, Wegfall von Hobbys und Sport, die für die psychische Ausgeglichenheit wichtig sind. Mein Eindruck ist, dass die Beschäftigung mit diesen Themen in ähnlicher Weise bei vielen Menschen stattfindet. Allerdings scheint es mir, dass Ängste bei Menschen, die sich in therapeutischer Behandlung befinden, oft akzentuierter auftreten.
Welche Symptome können sich aus dem Herunterfahren der sozialen Kontakte entwickeln?
Meines Erachtens beginnt das Problem nicht erst bei der Reduktion von sozialen Kontakten, sondern fängst schon vorher an. Soziale Beziehungen verändern sich durch Corona. Es fängt schon damit an, dass bestimmte Riten wie das Händeschütteln zur Begrüßung und beim Abschied nicht mehr stattfinden, was die Beziehung unverbindlicher macht und auch einen neuen Abstand mit sich bringt. Masken erschweren die Kommunikation zusätzlich, da man sich auf der Straße nicht mehr so leicht erkennt, das Verstehen durch die Masken erschwert ist und auch die Mimik nicht mehr so leicht entschlüsselt werden kann. Man trifft sich mit Freunden nicht mehr so wie früher, seltener, in kleineren Gruppen oder gar nicht. Feiern können nicht mehr stattfinden, der Körperkontakt nimmt ab, es gibt keine Umarmungen mehr ohne schlechtes Gewissen. Andere Menschen werden als Gefahr angesehen, als mögliche Überträger von potentiell tödlichen Erkrankungen. Viele Veranstaltungen wie Vorlesungen, Seminare und Tagungen finden zur Zeit nur noch online statt, wodurch ein wichti-