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Sagenhafte Antworten

Und die Frage nach dem richtigen Leben

Vom Goldenen Zeitalter

Früher ist es in den Alpen gewesen wie in einem Paradies. Wo heute der Schnee anfängt, endeten damals die Kornfelder. Wo man heute nur Felsgestein findet, stand damals ein mächtiger Wald. Es gab keinen Winter, in dessen Eis alles Leben erlischt, die Sonne schien einen Tag wie den anderen, alles gedieh unter ihrem milden Licht. Die Kühe waren so groß, dass man sie in eigene Teiche abmelken musste, und das dreimal am Tag. Milch gab es so viel, dass die Leute in kleinen Booten darauf herumfuhren, wenn sie den Rahm abschöpften. Die Natur stand ganz auf der Seite des Menschen und diente in allem seinem glückseligen Dasein.

So gab es auch keine Giftpflanzen, wie sie heute ganze Almen zerstören. Das Eisenhütchen und die Wolfsmilch waren sogar gesund für das Vieh, die Bienen sammelten den Honig, ohne zu stechen, das Obst reifte an den Bäumen ohne jeden Makel. Wenn man keine Zeit hatte, es rechtzeitig abzunehmen, faulte es nicht und blieb am Baum hängen bis tief in den Herbst. Die Menschen gingen gut gekleidet einher und waren schön anzusehen. In ihren Gesichtern war nichts, das an Krankheit und Mühsal erinnerte. Die Haut an den Händen konnte weiß und geschmeidig bleiben, niemand musste ins Schwitzen geraten, um genug für ein sorgenfreies Leben zu haben.

Doch es wären keine Menschen gewesen, wenn ihnen das irdische Glück nicht zu Kopf gestiegen wäre. Sie fingen an, die Wege zu ihren Häusern mit Käselaiben zu pflastern, um sich bei Regen die Schuhe nicht zu beschmutzen. Die Frauen putzten die Treppen mit Milch, weil sie ihre Fußsohlen so weich wünschten wie ihre Wangen. Am Sonntag nach der Messe kegelten die Männer mit Kugeln aus Butter und Figuren aus Brot. Statt Gott begannen sie in ihrem Reichtum das Geld anzubeten. Dabei wurden ihre Herzen so hart wie die Münzen, die sie mit Wohlgefallen von einer Hand in die andere zählten. Nichts galt mehr in dieser Zeit. Der Spiegel wurde zum Kostbarsten in den Häusern, denn er enthüllte den Menschen das Einzige, das ihnen noch heilig war: Sie selbst waren sich heilig. Sie selbst waren das Einzige, das sie noch liebten.

Auszug aus »Alpensagen – Der Traum vom Glück«, Alois Schöpf

Die Gamina

Die Gamina war so schön und lieblich, dass alle sie beneideten und den Mann glücklich priesen, den sie zum Bräutigam erwählt hatte; nur der schien von den zukünftigen Freuden, die das Schicksal für ihn bereithielt, nichts zu halten: Am Tag der Hochzeit nämlich zog er davon, niemand wusste wohin, und ließ sie sitzen. So stand sie allein da mit ihrer Schönheit, und die sie beneidet hatten, verlachten sie nun oder bemitleideten sie, was noch ärger schmerzt. Ob solcher Erniedrigung schlug alles in Hass um, was jemals Liebe in ihr gewesen war. Sie verließ ihr Haus und die Menschen und stieg in die Cadini-Berge hinauf, und weil sie nicht vergessen noch verzeihen konnte, gab es keine Ruhe für sie: Als böser Geist erschien sie den jungverheirateten Männern, blendete sie mit ihrer Schönheit, die immer noch leuchtete und nicht geringer wurde, sodass manche Ehe, kaum dass sie geschlossen war, mit einem bitteren Streit ihren Anfang nahm oder gleich wieder auseinanderbrach.

Nun kam einmal ein Zauberer ins Ampezzanertal, den fragten die Leute, wie der Geist der Gamina zu bannen sei, und er verriet ihnen: »Schickt einen Jüngling zu ihr mit einem Strauß Rosen, er darf aber noch nie eine Frau berührt haben, sonst kehrt er nicht lebend zurück.«

Und obgleich die Bedingung des Zauberers einfach klang, war sie nicht leicht zu erfüllen, denn so sittenstreng sich die jungen Männer auch gaben, um mit der geistlichen Obrigkeit in Frieden zu leben, sobald es galt, mit dem Leben dafür einzustehen, verflüchtigte sich ihr Wagemut, und erstaunliche Bescheidenheit trat an seine Stelle. Endlich wurde auf einem abgelegenen Hof doch einer gefunden, der mehr aus Mangel an Gelegenheit denn aus heiligem Streben dazu befähigt war, den Bann zu versuchen, und nachdem man ihm viel Geld nebst einer Bauerstochter im Tal mit Kühen, Äckern und einem ordentlichen Stück Wald in Aussicht gestellt hatte, willigte er ein, nahm den Strauß Rosen und stieg in die Cadini-Berge hinauf.

Dort kam er zu einer Felswand, in der sich eine Höhle auftat, und vor der Höhle stand eine Frau,

Auszug aus »Alpensagen – Der Traum vom Glück«, Alois Schöpf die war schön anzusehen, und sie fragte: »Wen suchst du?«

Der Jüngling antwortete: »Die Gamina such ich.«

Die Frau entgegnete: »Die du suchst, bin ich.«

Der Jüngling reichte ihr die Rosen und sprach: »Dann schenk ich dir die Rosen.«

Die Gamina nahm die Rosen entgegen, schaute sie lange sinnend an, drehte und wendete sie, als wisse sie nicht, was anfangen damit, schließlich fragte sie: »Sind die Blumen von dir, oder hat man sie dir gegeben?«

Der Jüngling antwortete: »Man hat sie mir gegeben, damit du dich daran erfreust.«

Die Gamina schwieg lange, dann fragte sie: »Wie alt bist du?«

»Sechzehn«, entgegnete er.

»Hast du schon eine Frau erkannt?«

»Nein.«

»Hast du eine gesehen, bei der du dir gewünscht hättest, sie zu erkennen?«

»Meine Mutter ist die einzige Frau, die ich kenne.«

»Und mich!«, fügte die Gamina hinzu.

»Vor dir aber habe ich Angst!«, entgegnete der Jüngling.

Da hielt sich die Gamina die Rosen vors Gesicht, und sie begann zu weinen, dass ihr die Tränen über die schönen Wangen hinabliefen, und wiewohl sie es zu verhindern suchte, erbebte sie am ganzen Körper. Sie wandte sich ab, weil sie nicht wollte, dass der Jüngling ihren Schmerz sehe, und weinend ging sie in den Berg hinein und ist von der Stunde an nicht wiedergekehrt.

Alois Schöpfs neues Buch »Der Traum vom Glück. Ausgewählte Alpensagen«

ca. 400 Seiten. Großformat. Gebunden. ISBN 978-3-99039-191-4

INTERVIEW MIT AUTOR ALOIS SCHÖPF

Alois Schöpf ist vielseitig: Dramatiker, Librettist, Dirigent, Veranstalter, vor allem aber hat er sich als freischaffender Schriftsteller und Journalist einen Namen gemacht. Er verfasste zahlreiche Romane und Essays, schrieb 35 Jahre lang für Zeitungen und Zeitschriften und ist bekannt für seine pointierten Kolumnen. Seine Heimat Tirol, die Tradition, die Berge und die Geschichten, die damit untrennbar verbunden sind, reizen ihn zeitlebens. Schon 1984 erschienen von Alois Schöpf im Ueberreuter Verlag die »Alpensagen«, die er damals für die Jugend neu erzählte. Im Gespräch erfahren wir mehr über seine Beziehung zur Sagenwelt.

Woher kommt Ihre Leidenschaft für Sagen? Was reizt Sie am Sagensammeln? Schöpf: Sagen versuchen zum einen unerklärliche Dinge zu erklären. Andererseits verfolgen sie auch pädagogische Zwecke, zum Beispiel Kinder von Seen und Bächen fernzuhalten, damit sie nicht ertrinken. Man erzählt ihnen einfach, dort wohne der Wassermann, ein Ungeheuer. Denn dass dort der Tod haust, wenn sie nicht aufpassen – um das zu verstehen, sind sie noch zu klein. Viele Erklärungsversuche sind durch die modernen Naturwissenschaften überholt worden. Dennoch sind das Leben selbst und die Frage nach dem richtigen Leben auch heute noch für die Menschen von zentraler Bedeutung. Und genau diese Frage steht im Zentrum vieler Sagen, die dadurch immer noch von hoher Relevanz sind.

Am Sammeln von Sagen reizt mich das Sammeln von Antworten auf die Frage nach dem richtigen Leben. Mein großes Vorbild dabei ist Giovanni Boccaccio, der sein »Decamerone« auch deshalb schrieb, um nach der großen Pestkatastrophe in seiner Heimatstadt Florenz, nachdem die sittliche Ordnung vollkommen zusammengebrochen war, die Frage nach dem richtigen Leben neu zu stellen.

Warum sind Sagen für die Menschen in einer Region wichtig? Schöpf: Was die Sagen einer bestimmten Region betrifft, so ist zu beobachten, dass die immer ähnlichen mythologischen Muster sich an regionalen Gegebenheiten wie Seen, Bergen, Wäldern etc. festmachen. Es ist also ein Irrtum, zu glauben, dass bestimmte Regionen bestimmte unverwechselbare Sagen hätten. Im Gegenteil: Das Unverwechselbare einer Region wird mit immer ähnlichen Erzählmustern erklärt.

Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen? Welche Quellen haben Sie herangezogen? Schöpf: Die Erzählmuster der Sagen sind in groß angelegten und bestens erforschten Sagen-Lexika festgehalten. Da geht es beispielsweise vom Hexerich zur Hexe, mit oder ohne Besen, und von den Hexen zum Teufel und vom Teufel zuletzt zum bedeutendsten deutschsprachigen Dramenwerk »Faust«, das auf einer Sage aufbaut. Die Aufgabe des Schriftstellers und Dichters besteht darin, diese Grundmuster, sozusagen die Mythologeme, für den heutigen Leser nachvollziehbar und emotional verständlich zu machen.

Welche kulturelle Bedeutung messen Sie den Sagen ganz allgemein bei? Schöpf: Die Bedeutung der Sagen besteht darin, dass sie die Fragmente alter Erklärungsversuche repräsentieren, die je nach Stand der naturwissenschaftlichen Forschung auch heute noch für den Menschen gültig sein können. Märchen, Sagen und Mythen sind jenes Material, von dem die großen literarischen Werke einer jeden Kultur ihren Ausgang nehmen. Es sei nur an »Ilias« und »Odyssee« von Homer erinnert, die, ähnlich wie Goethes »Faust«, bis ins Romanwerk »Ulysses« von James Joyce ihren modernen Ausdruck finden.

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