8 minute read

Mein Vater Andreas Pfleiderer

Next Article
MATTHÄUS FELDER

MATTHÄUS FELDER

DR. ALFRED PFLEIDERER †

Unter den Nachkommen unseres Urahnen Georg Pfleuderer gibt es, soweit ich weiß, eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Originalen. Ein solches Original war mein Vater, „der alte Pfleiderer unter der Mauer von Stuttgart“.

Advertisement

Er wurde am 17. April 1810 in Oppelsbohm als drittes Kind seiner Eltern geboren. Seine Kinderjahre fielen in eine schwierige Zeit. Die Niederlage bei Jena hatte uns Deutschen schwere Lasten von Gebietsverlusten, Kriegsreparationen, Opfern zur Beseitigung der Kriegsschäden im Lande selbst und tiefe Demütigungen aller Art beschert. Hinzu kamen die schweren menschlichen Verluste, die uns der Russlandfeldzug und die Befreiungskriege auferlegten; und schließlich die Not des Hungerjahres 1816, von dem uns mein Vater oft erzählte. Er erzählte uns Kindern, als er uns mit unserem Schicksal zufrieden stellen wollte, dass das Brot damals aus einer Mischung aus halb Schwarzmehl und halb Baumrindenmehl gebacken wurde.

Wir alle wissen, dass das Schulsystem zu dieser Zeit nicht so anspruchsvoll war, wie es heute ist. Und wir können uns auch vorstellen, dass die schulischen Bedingungen in jenen schweren Kriegs- und Notjahren noch schlechter waren als in den guten Jahren jener Zeit. Das gilt besonders für so kleine und vom Verkehr abgelegene Dörfer wie Oppelsbohm damals.

So kam es, dass mein Vater sein ganzes Leben lang mit dem Lesen und Schreiben auf Kriegsfuß gestanden hat. Nur sehr wenige und sehr kurze Schriftstücke kamen von seiner Hand zu uns Kindern. Ich habe ihn nie in einem Buch lesen sehen. Und wenn er ein Schulzeugnis oder ein anderes Dokument zu unterschreiben hatte, war das eine Haupt- und Staatsaktion, an die ich mich heute noch lebhaft erinnern kann.

Unmittelbar nach der Konfirmation kam mein Vater als „Hausknechtle“ im Hotel Marquardt in Stuttgart unter. Es ist bezeichnend, dass die Familie Marquardt die Beziehungen zu ihm bis zu seinem Tod aufrechterhielt.

Im Jahr 1840 heiratete er die gut 15 Jahre ältere Gastwirts witwe

Birck, geborene Stanger. Sie war kinderlos und Besitzerin der Weinstube „Zur Wagenmeisterei“ in der Schmalenstraße „unter der Mauer“.

Das Haus, das heute* noch steht und eine Gaststätte beherbergt, ist eines der ältesten Häuser Stuttgarts. Eine seiner Wände steht auf der alten Stadtmauer. In meiner Jugend ragte diese noch ein Stück weit vor das Haus vor. Mein Vater hatte darauf ein Gärtchen angelegt, dessen Pflege mir in meiner frühen Jugend anvertraut wurde. Vielmehr habe ich mir dieses Amt stillschweigend angeeignet. Ich bepflanzte sie, soweit die alte Hauswurz und der über die Mauer hängende Efeu Platz dafür ließen, mit bunten Blumen und vor allem mit Sonnenblumen und Feuerbohnen. Letztere rankten sich hinauf bis an und um das steinerne, in Hochrelief ausgeführte Wappen, das auf Schild und Helm Stierhörner und ferner die Jahreszahl 1641 aufwies. Unser Haus gehörte einst den Freiherren von Sachsenheim und kam später an Herzog Ulrich.

Die erste Frau meines Vaters starb 1860, aber da sich bald herausstellte, dass eine Wirtschaft ohne Hausfrau eine miserable Angelegenheit war, heiratete mein Vater 1861 zum zweiten Mal, und zwar Marie Langfritz, die Tochter seiner Base Johanna, einer geborenen Pfleiderer. Die Braut wurde am 29. Oktober 1838 in Reutin bei Lindau geboren, wo auch die Hochzeit stattfand. Vater Langfritz war dort Lehrer. Am Abend des Hochzeitstages wollten meine Eltern mit dem Schiff nach Friedrichshafen fahren und waren unangenehm berührt, dass dieses bereits abgelegt hatte, als sie im Lindauer Hafen eintrafen. Am nächsten Morgen erfuhren sie, dass der Dampfer vom Kapitän eines österreichischen Dampfschiffes wegen dessen Trunkenheit in zwei Hälften geteilt worden war und dass nur wenige Menschen gerettet

Quelle: „Bilder aus Alt-Stuttgart“ Verlag von Robert Lutz; Stgt. 1896

Zeichnung: August Federer, 1900, in Gustav Wais ’ Buch: „Alt-Stuttgarts Bauten im Bild“; Stgt. 1951

* Der Originaltext stammt aus dem Jahr 1930

Gemeinsame Vorfahrenschaft

worden waren. (Das erste, aber leider nicht das letzte Mal, dass Alkohol in meiner Familiengeschichte eine üble Rolle gespielt hat).

Bier und Tabak lehnte er ab Mein Vater war einer der schärfsten Biergegner, die ich kenne. Er benutzte die abschätzigsten Begriffe, um dieses Getränk zu beschreiben: „G’söff“, „Dividendenjauche“, „Rattengift“ und dergleichen. Er sagte oft: „Net emol mein Finger steck i nei“. Sein größter Stolz war sein Weinkeller und sein Ruhm, dass er nur sehr reine und gut gepflegte Weine führte und ausschenkte. Ich habe meinen Vater nie betrunken gesehen. Er pflegte, an seinem Viertelliterglas, das natürlich den ganzen Tag bereit stand, nur zu „supfen“. (Heute weiß ich allerdings, dass dieses Supfen für das Gehirn mindestens genauso schädlich ist wie eine vorübergehende Trunkenheit). Anstoßen, exzessives Trinken und dergleichen waren ihm völlig zuwider. Überhaupt war es ihm höchst unangenehm, wenn einer seiner Gäste so viel getrunken hatte, dass er sich berauschte. Sobald mein Vater merkte, dass es so weit war, gab er ihm – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nichts mehr zu trinken und versuchte, den Betrunkenen mit Freundlichkeit und Zureden, notfalls aber auch mit Grobheit zum Verlassen des Raumes zu bewegen. Wenn ein Gast bereits betrunken hereinkam, gab er ihm nichts zu trinken. Außerdem bat er ihn, sein Lokal zu verlassen.

So gern er auch schönen Gesang hörte – jede Woche kamen an einem bestimmten Abend vier Mitglieder eines katholischen Gesangsvereins und sangen –, so sehr war ihm alkoholisches Gegröle zuwider. Das würde er unter keinen Umständen dulden, und er könnte sackgrob werden, wenn solche Gäste nicht aufhörten und gingen. Hinzu kam seine schroffe Abneigung gegen das Rauchen. An der Wand des Gastraums befand sich ein Plakat: „Das Mitbringen von Zigarren, Pfeifen und Hunden ist untersagt.“ Wenn ein Gast dennoch rauchen wollte – und sei es ein vornehmer Herr mit der feinsten Havanna-Zigarre – kam mein Vater mit der Kohlenschaufel und sagte:

„Do leget Se Ihren Stinknagel drauf, dass i en en de Ofe neischmeiße ka !“ Diese Freiheit der Wirtsstube von Bierdunst, Tabakrauch, Rauschgegröle und Hundegetue veranlasste nun gerade viele sensible Männer, die Wagenmeisterei aufzusuchen. Die Anwesenheit von Frauen in seiner Wirtschaft mochte er nicht. Dass bei ihm u. a. die Führer der schwäbischen Demokratie verkehrten, hängt hauptsächlich damit zusammen, dass er selber Demokrat war, ohne freilich parteipolitisch irgendwie hervorzutreten.

So lernte ich im Weinhaus, in dem ich mich mangels Familienlebens viel aufhielt, viele herausragende Männer kennen: Vor allem die Demokraten Friedrich Payer, Karl Schickler, Conrad und Friedrich Haußmann, den Dichter Ludwig Pfau, den Schriftsteller Wilhelm Bloß (späterer Staatspräsident), den Sozialistenführer Albert Duck, Ärzte, Juristen, Beamte, und so weiter. Mit all diesen Männern konnte mein Vater, obwohl er eigentlich gar keine Schulbildung hatte und (wie gesagt) kaum schreiben konnte, kraft seiner natürlichen Gescheitheit so reden, dass Staatspräsident Bloß noch nach vielen Jahren voller Wertschätzung über meinen Vater sprach, als ich ihn einmal kurz vor seinem Tod besuchte.

Mein Vater war einer der wortkargsten Menschen, die ich je gekannt habe. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals mit meiner Mutter, mit einem meiner Geschwister oder mit mir über etwas anderes als das gesprochen hat, was der Alltag erforderte. Nur in der Nacht vor seinem Tod sprach er zu mir, wie ein Vater in einer ernsten Stunde zu seinem Sohn spricht. Umso mehr konnte man sich auf sein Wort verlassen. Aber weil er selbst sein Wort unverbrüchlich hielt, konnte er anderen Menschen kaum verzeihen, wenn sie nicht so offen und aufrichtig und zuverlässig im Reden waren wie er. Kaum je hörte ich ihn ungut über andere sprechen.

Da er sich seinen Instinkt von seinen bäuerlichen Vorfahren und aus seiner bäuerlichen Kindheit gut bewahrt hatte, war er ein guter Menschenkenner. Dank dieses Instinkts konnte er die öffentlichen Verhältnisse richtig einschätzen. Er hat jedoch nie gebrandmarkt.

Das „Baatschen“ (leeres Geschwätz) war ihm ebenso verhasst wie das Zeit-Totschlagen. Wenn sich einige Frauen im Gang unter der Mauer trafen und miteinander baatschten, nahm er eine Sense, die er für solche Zwecke immer in einer Ecke der Schenke bereithielt, und ließ sie so über das Pflaster der Straße streichen, dass es einen höllischen Lärm gab und die Klatschbasen sich erschrocken zerstreuten und das Weite suchten. Wenn er aber einen guten Tag hatte, trug er zwei Stühle heraus, stellte sie neben die Klatschtanten hin und lud sie ein, sich doch zu setzen.

Am meisten danke ich ihm dafür, dass er mich meinen Weg gehen ließ mit den Worten: „Du wirst selbst wissen, was richtig ist.“

Geschlagen hat er mich nur ein einziges Mal. Ich habe ihn nur einmal weinen sehen, und das war bei der Verlobung meiner Schwester Karoline.

Hänseleien und Sticheleien seitens seiner Gäste nahm er freundlich entgegen und gab sie seinerseits zurück, wenn sich die Gelegenheit ergab.

Er vermochte die Armen ganz auf seine Weise zu unterstützen. Halb- invaliden hat er oft ins Haus aufgenommen.

Beim Essen war er ungewöhnlich bescheiden. Morgens trank er eine Tasse Milchkaffee mit trockenem Brot. Zu Mittag gab es ganz einfache Hausmannskost, möglichst wenig gesalzen. Und er aß nur so viel davon, wie nötig war, um seinen Hunger zu stillen. Heißes Essen blies er lange. Was er aß, kaute er gut. Abends gab es meist zwiebelgeschmälzte Brotsuppe, gefolgt von Dickmilch und Kartoffeln. Infolge dieser Lebensweise war er in seinem Leben nie fettleibig.

Sein Gesicht war hager, aber nicht mager. Es war umrahmt von einem Bartkranz. Seine Wangen, Lippen und sein Kinn rasierte er bis kurz vor seinem Tod immer selbst mit seinem ausgezeichneten Rasiermesser. Eine Brille brauchte er auch im 80. Lebensjahr nur für feine Arbeiten. Bei seinem Tod fehlten ihm nur drei Zähne, obwohl er in seinem Leben nie eine Zahnbürste benutzt hatte. Er putzte sich die Zähne mit einem feuchten Zipfel seines Handtuchs.

Solange ich mich erinnern kann, trug er Kleidung aus demselben einfarbigen grauen Stoff, den er immer im selben Geschäft kaufte. Seinen

Anzug ließ er immer nach demselben

Schnitt (mit Hosentürle) anfertigen. Er trug nie ein anderes Hemd als ein grobes Leinenhemd mit einem angenähten Umlegekragen, unter dem er eine schwarze Halsbinde knüpfte. Auch im hohen Alter war er immer ordentlich. Unsaubere und unfeinere Menschen mied er stets.

Nach dem frühen Tod meiner Mutter hatte er viele Jahre lang eine treue Magd im Haus, bis mein älterer Bruder heiratete und die Wirtschaft übernahm. Aber auch dann blieb er bis kurz vor seinem Tod in der Wirtschaft tätig.

Da er Garten und Feld, Pferd und Kuh besaß, hatte er sich angewöhnt, jeden Morgen zwischen 5 und 6 Uhr aufzustehen und immer selbst nach dem Rechten zu sehen. Seine Magd und seinen Knecht behandelte er mit Güte und Gerechtigkeit. Seinen Tieren gegenüber war er geradezu liebevoll veranlagt. Einmal, als eine Kuh geschlachtet werden musste, konnte er nichts von ihrem Fleisch essen. Als ich im letzten Jahr seines Lebens Vegetarier wurde, sagte er nur: „Das ist deine Sache.“

Weihnachten 1889 erkrankte er als einer der ersten an der Grippe, die damals wie ein Lauffeuer über Europa hinwegfegte. Er hielt sich jedoch noch aufrecht, bis ich in den Ferien nach Hause kam (ich war damals Medizinstudent). Sobald ich im Haus war, legte er sich hin, um kurz darauf klaglos und ganz gefasst zu sterben.

Er war ein guter Vertreter der Pfleiderer-Sippe, eine knorrige Eiche. ●

ZUM AUTOR, D 26.915.174.5

Dr. med. Alfred Pfleiderer (1868–1945) war praktischer Arzt ab 1902 in Ulm a. d. Donau, Heinrichstr. 6 Er war der Verfasser u. a. des Bildatlas zur Alkoholfrage. Reutlingen 1910.

Sterbefälle : Pfleiderer, Hans Friedrich (86)

Leser, Helmut (92)

Walker, Eberhard (55)

Schweitzer, Ortwin (84)

Pfleiderer, Alfred (78)

Pfleiderer Isolde, geb. Stahl (91)

Pfleiderer, Anneliese, geb. Laemmert (92)

7. Apr. 2022, Remshalden

20. Jun. 2022, Rapperswil, Schweiz

15. Sept. 2022, Langenargen

12. Okt. 2022, Leinfelden-Echterdingen

4. Feb. 2023, Königsbrunn

24. Feb. 2023, Winnenden

24. Feb. 2023, Krailling

D 26.915.172.11 81

D 64.215.478.463’

D 64.215.478.412.2’

D 64.215.482.10 ’3’3’

S 571.12 12.712

D 64.215.482.332’

D 64.255.114.53’

Beim Familientreffen 2022 in Winnenden-Bürg wurden alle Vorstandsmitglieder in ihren Ämtern bestätigt.

FAMILIENVERBAND PFLEIDERER E. V., ERSTGRÜNDUNG STUTTGART 1924

Vorsitzender Matthäus Felder (matthaeusf@aol.com) Tel. +49 (0)157 36206662

Stellv. Vorsitzender Wolfram Pfleiderer-Hatzner (wolfram.pfleiderer-hatzner@outlook.de)

Schatzmeisterin Susanne Schuster Tel. +49 (0)8041 8493 sowie Zuständige für die Enzianweg 23, 83677 Greiling Mitgliederbetreuung (schusterfamily@t-online.de)

Schriftführerin Andrea Hansen (a.andrea.hansen@googlemail.com)

Beisitzer Erich Pfleiderer (erich.pfleiderer@kuechenhaus-pfleiderer.de) Kurt- Georg Pfleiderer (kurt-georg.pfleiderer@naturehome.com)

Internet familienverbandpfleiderer.webador.de

Alte Familienblätter issuu.com/matthaeusfelder

Online-Stammbaum felder.tribalpages.com

Mitgliedsbeitrag

Mindestbeitrag € 10,– pro Jahr für Einzelpersonen Familienbeitrag pro Jahr € 15,–

Unser Konto Familienverband Pfleiderer e. V. Raiffeisenbank im Oberland Bad Tölz

IBAN: DE 81 7016 9598 0003 6261 21

BIC: GENODEF1MIB

Gläubiger- im SEPA-Lastschriftverfahren

Identifikationsnummer DE 11 ZZZ 0000 1515590

This article is from: