LEADER Juni/Juli 2021

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Fokus MEM

Gescheitertes Rahmenabkommen: Unsicherheit oder Chance? Bislang sicherten die bilateralen Verträge den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Ende Mai hat der Bundesrat nun die Verhandlungen über ein Rahmenab­ kommen mit der EU abgebrochen. Dieses hätte für stabile Verhältnisse ­zwischen der EU und der Schweiz sorgen sollen. Was bedeutet das für die stark exportorientierte Ostschweizer MEM-Industrie?

Der LEADER hat bei Ökonomieprofessor Reto Föllmi von der Universität St.Gallen, der sich unter anderem mit Industrieökonomik befasst, bei der IHK Thurgau und beim Arbeitgeberverband Rheintal nachgefragt, wie sie die Rahmenbedingungen für die Ostschweizer MEM-Industrie beurteilen. 60 Prozent gehen in die EU Mit einem Anteil von rund 60 Prozent des Handelsvolumens ist der EU-Binnenmarkt für die Schweizer Wirtschaft essenziell. «Beim Handel mit Maschinen, Apparaten und Elektronik betrug das Handelsvolumen der Schweiz mit der EU 2019 über 38 Milliarden Franken», erklärt Jérôme Müggler, Direktor der Industrie- und Handelskammer (IHK) Thurgau. Rund 60 Prozent des Aussenhandels mit diesen Produkten wurde mit Mitgliedsländern des EU-Binnenmarktes abgewickelt. «Dies unterstreicht die eminente Bedeutung des EU-Binnenmarktes für die MEM-Industrie», so Müggler. Dies bestätigt auch Brigitte Lüchinger, Präsidentin des Arbeitgeberverbands Rheintal. Im Rheintal sind sehr viele MEM-Unternehmen angesiedelt. «Gerade für unsere exportorientierte Region Rheintal ist der EU-Binnenmarkt von ­existenzieller Bedeutung.» Auswirkungen schleichend Für Ökonomieprofessor Reto Föllmi von der Universität St.Gallen bringt der Vertragsabbruch mit der EU Unsicherheit. «Diese ist für langfristige Investitions- und Standortentscheide schädlich», so Föllmi. Allerdings müsse man die Situation nüchtern betrachten: Noch wurde kein Abkommen der Bilateralen gekündigt, und es sehe momentan auch nicht danach aus. «Unmittelbar sind die Wirkungen also beschränkt, aber mit der Zeit veralten die Abkommen. Diese Auswirkungen werden wir schleichend zu spüren be­kommen.» Diese Ansicht teilt auch Jérôme Müggler. Die Situation sei nicht vergleichbar mit dem Frankenschock von 2015, der LEADER | Juni | Juli 2021

ebenfalls grosse Herausforderungen für die Exportwirtschaft mit sich brachte. Dennoch sähen sich Unternehmen wohl zu Umstrukturierungen gezwungen, sollte es zu Einschränkungen beim Handel kommen. «Im Zuge dessen ist mit einem Stellenabbau und einer Verlegung der Produktionsstandorte zu rechnen, was unbedingt verhindert werden muss», betont Müggler. Zudem könnten andere Märkte an Relevanz ­gewinnen.

«Für die Ostschweiz bleibt der EU-Binnenmarkt für Produkte und Arbeitskräfte zentral.» Auswirkungen auf Medizinalbranche Die Medizinalbranche bekommt die Auswirkungen des gescheiterten Rahmenabkommens bereits zu spüren – so will die EU das Abkommen über den Abbau technischer Handelshemmnisse (MRA) nicht aufdatieren. «Das ist für diese Branche nun eine grosse Herausforderung», weiss der IHKThurgau Direktor. «Die Schweizer Medtech-Branche sieht sich im Verhältnis zur EU nun auf einen ‘Drittstaat’ zurückgestuft, was natürlich nicht gut ist.» Als Folge müssen hiesige Unternehmen ab sofort erhöhte Anforderungen für den Export ihrer Medizinprodukte in die EU erfüllen. «Das ist längerfristig kein haltbarer Zustand und zwingt Schweizer Unternehmen, Niederlassungen oder Vertretungen im EURaum zu etablieren», so Müggler. «Unsere Unternehmen müssen sich auf die neuen Gegebenheiten einstellen. Zum Glück haben sie frühzeitig entsprechende Massnahmen getroffen», sagt Brigitte Lüchinger. Klar sei, dass das in erster Linie einen Bevollmächtigten im EU-Raum und «mehr Aufwand und höhere Kosten» bedeute.


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