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Die Tücken der TransparenzGesellschaft In den Zeiten der sozialen Medien müssen Firmen der Lebensmittelbranche in Krisenfällen richtig reagieren und kommunizieren. Der deutsche Rechtsanwalt Prof. Alfred Hagen Meyer hilft ihnen dabei.
ROLAND WYSS-AERNI. «Unsere Gesellschaft ist eine Transparenzgesellschaft», sagte der deutsche Lebensmitteljurist Alfred Hagen Meyer am Lebensmitteltag vom 7. Mai in Luzern. «Bashing und Mobbing sind allgegenwärtig, alles muss geoutet werden.» Das bekommen hin und wieder auch Lebensmittelhersteller und Händler zu spüren, zu Recht oder auch zu Unrecht. Meyers Job ist es, ihnen dabei aus der Patsche zu helfen. Während Meyer die Transparenzgesellschaft als Fakt akzeptiert, stört ihn, dass auch die Politik beim Transparenzwahn mitmacht,
zumindest in Deutschland. So habe das deutsche Verbraucherministerium vor zwei Jahren auf seiner Webseite publik gemacht, welche Firmen von dem Pferdefleischskandal betroffen seien. «Alle Firmen waren geoutet. Aber wofür?», fragte Meyer. «Die Produkte waren ja gar nicht mehr auf dem Markt.» Das Ministerium sei auch sachlich gar nicht dafür zuständig gewesen, so etwas publik zu machen. Das Verbraucherschutzministerium unterstütze auch die Webseite «Lebensmittelklarheit» jährlich mit einer Million Euro. Die von dieser Webseite implizit gestellte Frage, ob Auslobun-
gen auf Produkten, die legal seien, auch legitim seien, findet Meyer kurios. Es frage sich, wer denn der Oberzensor sei, wenn nicht das Gesetz der Massstab sei. Es gibt aber Fälle, die auch Meyer kritisch betrachtet. Etwa wenn bei einer Quarkzubereitung Beeren als «Serviervorschlag» auf der Verpackung abgebildet werden und der Quark selber rötlich eingefärbt ist, obwohl das Produkt keine Früchte enthält. In solchen Fällen rate er den Firmen, andere, «ehrlichere» Lösungen zu wählen. Die Hersteller dürften auch NGO nicht blind bekämpfen, betonte Meyer. Er nannte die Firma Müller Milch, die gegen Greenpeace geklagt hatte. Greenpeace hatte Müller-Produkte mit «Gen-Milch» bezeichnet, weil die Milchkühe zum Teil mit Gentech-Soja gefüttert werden. Das Bundesverfassungsgericht gab Greenpeace letztlich Recht. Rückruf oder nicht? Meyer ist einer von drei externen Anwälten eines grossen deutschen Detailhändlers. Auf seinem Tisch landen täglich rund zehn Fälle,
«Es braucht Erfahrung, Intuition und Wissen» alimenta: Sie haben täglich zehn Fälle zur Beurteilung auf dem Pult, bei denen mit einem Lebensmittel irgendwas nicht stimmt. Was ist der häufigste Fall? ALFRED HAGEN MEYER: Das häufigste sind physikalische Agens, also Fremdstoffe oder Fremdkörper – das sind die weniger gravierende Fälle. Häufig sind Pestizide im Gemüse, das kommt mindestens einmal in der Woche vor. Der Bereich der Mikrobiologie ist gefährlich, kommt aber Gottseidank selten vor.
Die Firmen müssen sich der Transparenzgesellschaft stellen und Kommunikationssysteme entwickeln, um richtig reagieren zu können. Sie brauchen neue Kommunikationsstrategien und müssen anerkennen, dass es soziale Medien gibt und verstehen, wie
diese ticken. Wir haben heute keine Gesellschaft, die rational nachdenkt und zuhört, sondern eine, die schnell und auch unüberlegt Informationen verbreitet und negativ kommentiert. Man muss beobachten, aber auch wissen, wie und wann man gegensteu-
Sie sagen, wir leben in einer Transparenzgesellschaft. Was sind die konkreten Folgen für die Unternehmen der Lebensmittelindustrie?
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alimenta 10 | 2015
Bilder: Roland Wyss-Aerni
Wie muss man sich den Ablauf vorstellen, wenn es beispielsweise um einen Pestizid-Fall geht? Wird der gesetzlich festgelegte Höchstwert überschritten, muss die Akute Referenzdosis ARfD* ermittelt werden. Daneben wird ein Margin of Safety in die Risikobewertung miteinbezogen. Der ARfD ist also kein Dogma.
«Die Unternehmen müssen ihre Türen öffnen und Transparenz zeigen.» Rechtsanwalt Prof. Alfred Hagen Meyer.