Moustache Magazin 17

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17 – ARM & REICH


Cover-Hommage: John Lennon – Imagine


Liebe Leser Einen Fake-Pelzmantel für 20 Euro im Pariser Secondhandshop, eine Tasche als Weihnachtswunsch und ein so leeres Konto, dass man nur noch Tomatensuppe kochen kann – für diese Ausgabe haben wir uns bei Moustache mit dem Thema «Arm/Reich» auseinander gesetzt. Immer wieder sind darüber Diskussionen entstanden. Können wir hier in der Schweiz überhaupt wissen, was es heisst, arm zu sein? Inwiefern haben wir eine Verantwortung gegenüber der Armut auf dieser Welt und wo liegen unsere Aufgaben und Möglichkeiten? Entstanden sind daraus wunderbare Portraits, Interviews und Reiseberichte – viel Spass mit der 17. Ausgabe vom Moustache Magazin! Miriam Suter Chefredaktorin

Playlist zum Thema Mein Lieblingsding Todo tranquilo Obst und Bildung für alle! Arm aber Bio

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Interview mit 2 Jungdesignerinnen 12 Raub-einiger Gewinnverlust 18 Literaturkolumne 20 Songzitate von Marcus Kraft 22 Ich kaufe also bin ich 26

How to be rich 28 Horoskope 32 Impressum 33 Come Fly With Me 34



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MEIN LIEBLINGSDING Meine Chelseaboots tragen mich nun schon den dritten Herbst 체ber verregnete Gassen und ich liebe sie immer noch von ganzem Herzen. Zwar dr체ckt langsam der linke kleine Zeh ein bisschen gegen das Leder, aber das passiert mir bei allen Schuhen. Ich werde sie, wie auch schon ihre Vorg채nger, so oft zum Schuhmacher bringen bis er sich weigert sie zu flicken und ich mich dann schweren Herzens von ihnen trennen muss. //Miriam Suter


«TODO TRANQUILO»:

CHE, BOLIVIEN & ERGONOMISCHE AUTOSITZE

Ich war in Bolivien. Dabei gibt es Bolivien seit 2009 nicht mehr. Der Stempel im Pass lautet auf «Estado pluronacional de Bolivia». Ein Ländername wie der Titel einer Seminararbeit. Die linksnationalistische Regierung, die sich den Namen ausgedacht hat, sieht sich in der Tradition jenes Manns, der im Zentrum dieses Texts steht: Che Guevara.

//Text & Bilder: Benjamin von Wyl

Es ist noch dunkel auf der Plaza. Ich bin müde. Kaum geduscht, weil das Wasser kalt gewesen ist. Kalt, weil ich das warme nicht angedreht habe. Das warme nicht angedreht habe ich, weil das Wasser über ein Stromkabel geheizt wird. Kalt ist das Wasser gewesen, weil ich es vorziehe, beim Duschen keinen elektrischen Zaun zu erfühlen. Ich warte auf Gonzalo. Gonzalo hat die Stadt, Vallegrande mit seinen 12000 Einwohnern, das erste Mal mit 15 Jahren gesehen. Aufgewachsen ist er in einem Seitental. Dahin laufen wir, um nach seinen Bienen zu schauen und im Lehmhaus nach dem Rechten und einigen Essensresten zu sehen. Gonzalos Elternhaus ist unbewohnt, ungewohnt ruhig. Bewohnt wird die Gegend nur von fünf Hunden, die heulen, jammern als Gonzalo sie am Abend einzäunt. Was Gonzalo nicht tut: Computer anstellen oder bedienen, die vereinbarten Englisch-Vokabeln lernen und Geschäftsbriefe formulieren (Am 12. Januar 2013 haben wir einen Entwurf vom 9. September 2011 reingeschrieben. Es ging um die Aufnahme in einen Gewerbeverband.) Was Gonzalo tut: Sanitär-, Schreiner- und Malerarbeiten verrichten, seinen Sohn zu Velorennen fahren, sich über Politik informieren, Honig vertreiben und in Eigen- und Hauptverantwortung Revolutionstouristen zu den Schauplätzen der (versuchten) bolivianischen Revolution führen. Dabei tränen schon mal Augen.

Touristen kommen (wenn sie kommen) wegen Che Guevara nach Vallegrande. Hier lag der Argentinier von 1967 bis 1997 vergraben. Hier wurde seine Leiche der Presse und den Leuten vom Ort präsentiert. Hier wurde der Che-Film Di buen día a papá (IMDb-Rating 4.8/10, Bolivianische Oscar-Bewerbung 2005) gedreht. (In Vallegrande weder im Original noch als Raubkopie verfügbar.) Mit «It's time for another revolution.» wirbt Dacia im deutschen Fernsehen für

einen Familienwagen. Die Formel «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.» wird auf verstellbare Autositze gemünzt. Die Karl Marx-Statue in Berlin ist Blickfang vieler Facebookprofile. Oscar Wilde›s Grab auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise ist mit Kussmündern übersät. Der nah verscharrte Doors-Frontmann Jim Morrison bekommt dauernd Besuch. Überall gibt es zu unterschiedlich unfairen Bedingungen produzierte Che-Shirts


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zu kaufen. In Vallegrande nicht. Todo tranquilo. Laut wird es nur, wenn sich Gonzalo über die productos transgénicos aufregt. Agronomie ist in Bolivien kein naturwissenschaftliches Studium, sondern eine pädagogische Angelegenheit. Angehende Agronomen lernen wie sie Gentech-Aussaat an Bauern verkaufen. Che Guevara ist während sieben Monaten durch diese Provinz gestolpert, hat sich von den Grosseltern jener Bauern an die Armee verraten lassen. Er wurde vom Militär erniedrigt, le-

bendig wie tot. Soldaten haben die zusammenhängenden Teile seiner Leiche unter dem Flugplatz vergraben. Castro benannte Schulen nach ihm. Die 68er entdeckten ihn als Ikone. Heute tragen ihn 15-Jährige Europäer (Alle, die nicht im Trachtenverein sind.) auf ihren T-Shirts. Über 20-jährigen Phil. 1-Studenten entlockt das nur ein Lächeln. Für die Vallegrandinos, deren Pro-Kopf-Einkommen nicht die Prämie unserer Hausratsversicherung deckt, ist er nicht leer, entleert und (nur) Werbesignet. Einigen

ist er Verkaufsmotor für 4x4-Tagestouren. Einige Wenige ehren ihn als katholischen Heiligen (nur echt mit Hausaltar). Vielen – Verkäufern, Museumswärtern, Strassenkehrern – ist er Beispiel für Widerstand, für Freiheitskampf. Was er für 20-jährige Phil. 1-Studenten sein könnte, wenn wir nicht den medialen Overkill seiner Mütze, seines Barts und seines Blicks erlebt hätten.

BENJAMIN VON WYL lebt zwischen und auf zwei Balkons. Mit seiner Umwelt interagiert er über lautes Bellen. Morgens wecken ihn drei Tauben, öffnet er das Dachfenster auf der Toilette, fallen – ironischerweise – Kellerasseln in die Badewanne.


OBST UND BILDUNG FÜR ALLE! Der Zugriff auf gute Ernährung und Bildung ist für uns oft selbstverständlich. Einige der folgenden Links zeigen, wie ungleich diese Ressourcen jedoch auf der Welt verteilt sind und manch anderer Link bietet die ein- oder andere Idee, wie wir das, was uns zur Verfügung steht bestmöglich nutzen können. //Text: Valerie Siba Rousparast // Illustrationen: Fine Heininger

Wer in Deutschland Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld II empfängt, hat bekanntermassen kein Geld für schicke Möbel. Damit das nächste Frühstück trotzdem nicht auf dem nackten, kalten Boden eingenommen werden muss, haben sich die Leute von «Hartz IV Möbel» ein Paar Gedanken gemacht und Anleitungen zu fast kostenfreien Möbeln ins Netz gestellt. (PS: Auch für mittellose Studenten interessant!) Im Web: hartzivmoebel.blogspot.de/ Oder als Buch: Van Bo Le-Mentzel «Build More Buy Less! Konstruieren

statt konsumieren.» Erschienen im Hatje Cantz Verlag für 12,99 Euro. Was machen eigentlich die, die mehr haben als ihr Geschmack zulässt? Die Antwort geben uns manche von ihnen dank Instagram, wo sie in farbenfrohen Fotos ihrem Reichtum fröhnen. «They have more money than you and this is what they do.» So lautet der Untertitel des Blogs, auf dem die besten Werke mit regelmässigen Updates gesammelt werden: richkidsofinstagram.tumblr.com/

Was bedeutet es arm zu sein und welche Rolle spielt dabei der Ort, an dem wir leben? Die Künstler Stefen Chow und Lin Hui-Yi haben diese Frage zum zentralen Thema ihres Kunstprojektes «The Poverty Line» gemacht. In ihrer Fotoserie zeigen sie die Menge von Lebensmitteln, die ein Mensch von seinem durchschnittlichen Einkommen an der Armutsgrenze in seinem jeweiligen Heimatland kaufen kann. Anzusehen sind die Bilder unter: www.thepovertyline.net/ Die einfachsten Ideen sind doch oft die besten! Den Beweis liefert Kai Gildhorn mit seiner Website Mundraub.org. Dort sammeln alle Interessierten europaweit Orte, an denen verlassene oder für die Öffentlichkeit freigegebene Obstbäume, Nuss- und Beerensträucher stehen. Hier dürfen sich fleissige Marmeladenkocher bedienen: www.mundraub.org/ Wer es sich in Brasilien leisten kann, lässt sein Kind in einer der teuren Privatschulen unterrichten. Diejenigen, die


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das nicht können, machen die Mehrheit aus und sind mit den Bedingungen unglücklich. In Anbetracht der enormen Summen, die die brasilianische Regierung derzeit in die Vorbereitung auf die FIFA Fussball- Weltmeisterschaft steckt,

wuchs der Ärger der Bevölkerung über die mangelhafte Unterstützung des Bildungssektors des Landes. So auch bei Isadora Faber. Die 14-jährige rief 2011 den Blog «Diário de Classe» ins Leben, auf dem

sie mithilfe von Handyfotos die miserablen Lernbedingungen an ihrer Schule protokolliert. Die Leserschaft umfasst schon längst mehrere hunderttausend Menschen und ist zu einem Portal für die Kritik an der brasilianischen Regierung geworden. Für Faber bringt der Erfolg des Blogs auch den Umgang mit Gegnern mit sich. Doch ihr Engagement zahlt sich hoffentlich aus und wird mittlerweile über die Landesgrenzen gewürdigt. So wurde sie von der Financial Times USA zu einer von Brasiliens 25 einflussreichsten Personen ernannt. Zu lesen ist ihr Blog hier: blog-diariodeclasse.blogspot.de/ Oder auf Facebook unter: www.facebook.com/DiariodeClasseSC

VALERIE-SIBA ROUSPARAST 25, beschäftigt sich des Studiums wegen viel mit visuellen Medien. Und das besonders gerne, wenn sie dabei auf Perlen stösst und diese mit anderen hier teilen kann.


ARM ABER BIO! Rozsika Farkas schreibt in ihrem Buch «Arm aber Bio!» darüber, wie sie sich einen Monat vom Hartz IV-Regelsatz für Nahrungsmittel durchgeschlagen hat. Uns hat sie erzählt, was ihr dabei am schwersten fiel – und was sie daraus gelernt hat. //Interview: Miriam Suter

Was war das Erste, was Sie sich nach dem einmonatigen Experiment gegönnt haben? Ein riesengrosser gemischter Salat! Wieso? Salat bringt zwar Vitamine, aber wenig Kalorien fürs Geld. Und wenn das Geld sehr knapp ist, spielt das eine Rolle, man will schliesslich satt werden. Was haben Sie während diesem Monat am meisten vermisst? Es war Mai, also Spargelzeit, und ich konnte mir nicht eine Stange genehmigen. Auch bei Erdbeeren musste ich mich sehr zurückhalten. Wo lagen die grössten Schwierigkeiten während des Experiments? Gibt es ein konkretes Beispiel, wie etwa Ihre Geburtstagsfeier, von der Sie im Buch schreiben? Ausgerechnet der Geburtstag war sehr entspannt. Ich habe meinen Freunden nicht mal gesagt, dass ich gerade am Sparen bin, sondern nur, dass ich keine Lust habe, mich ans Kochen zu machen. Also hat jeder etwas mitgebracht, und es war ein lustiges Fest, bei dem es an nichts fehlte. Gewöhnungsbedürftig war der Zwang zum Planen. Sich einfach unterwegs an der nächsten Ecke einen Happen zu kaufen war nicht drin. Schwierig wurde es, wenn ich Freunde treffen wollte. Ich konnte mich nicht einfach mit ihnen in einem Lokal treffen, musste also aus-

weichen und etwa sagen: «Ach, lass uns lieber spazierengehen.» Was natürlich letztlich die schönere Aktion war. Was haben Sie für die Zeit danach mitgenommen? Gibt es etwas, was Sie auch heute noch so tun wie während des Arm-aber-Bio-Monats? Worauf haben Sie gelernt zu verzichten? Auf Fertigsachen. Wenn ganz wenig Geld da ist, muss man alles selber machen – und dadurch isst man plötzlich erstaunlich gut. Das war für mich die beste Lehre: aus ganz simplen und preisgünstigen Zutaten wie Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln, Mehl usw. lassen sich grossartige Gerichte zubereiten, die besser schmecken als fünf mal so teures Fertigessen. Worauf wollen Sie ganz bestimmt nicht verzichten? Auf Qualität. Wenn ich sparen muss, kaufe ich nicht plötzlich fade Supermarkt-Karotten oder ödes Fabrikbrot, bloss weil sie ein paar Cent billiger sind. Für die beste Kartoffel reicht es immer, und die schmeckt ganz ohne Fleisch oder Schinken besser als ein wässriger Erdapfel mit fiesem Formschinken.


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Haben Sie Rückmeldungen bekommen? Zum Beispiel von Leuten, die eben mit diesem Geld für Lebensmittel auskommen müssen? Welche? Ganz unterschiedlich. Es gab Leute, meist Familien, die geschrieben haben: Was soll die Aufregung, so machen wir das seit Jahren. Andere, die sich bedankt haben, weil sie sich ermutigt fühlten. Eine schrieb, sie habe sich nach der Lektüre zum ersten Mal in einen Bioladen getraut. Besonders bewegt hat mich der Brief einer Frau, die schrieb, sie habe nach jahrzehntelanger Berufstätigkeit ihren Job verloren, müsse nun mit sehr wenig Geld auskommen, und ihr habe das Buch das Gefühl von Würde zurückgegeben. Wofür geben Sie gerne mehr Geld aus? Wo macht es Ihnen nichts aus zu sparen? Im Sommer für wirklich gute Tomaten. Dafür radle ich gern die paar Kilometer zum Viktualienmarkt, wo es einen Biostand gibt, der extrem köstliche Sorten hat, die ich sonst nirgendwo finde. Für die bin ich bereit, jeden Preis zu bezahlen. Dann Olivenöl. Ich hatte mehrfach Gelegenheit, bei Olivenölverkostungen mitzumachen und dabei gelernt, die unterschiedlichen Qualitäten zu unterscheiden. Leider habe ich dabei auch gelernt, wie rar im Handel gutes Olivenöl ist. Und das hat nicht unbedingt etwas mit Bio oder Nicht-Bio zu tun.

Gleichzeitig spare ich daran, und zwar so: Ich nehme zum Kochen oder Braten preiswertes Bratöl und verfeinere erst am Schluss das fertige Gericht mit einem Schuss besten Olivenöls. Wo macht es keinen Unterschied ob teuer oder günstig? Ebenfalls bezogen auf Lebensmittel. Da fällt mir auf Anhieb nichts ein. Aber bei vielen Sachen reicht mir die schlichte Variante, obwohl ich den Unterschied in der Sache durchaus wahrnehme. Beispielsweise bei Nudeln, da gibt es grosse Preisunterschiede. Aber gerade Spaghetti mit Tomatensauce – für mich immer noch eins der billigsten und zugleich leckersten Gerichte – schmecken auch mit den billigsten (Bio-)Nudeln.

«Arm aber Bio!», erschienen unter dem Autorennamen Rosa Wolff, 2010 bei Edition Butterbrot, ca. 22.– Franken

ROZSIKA FARKAS Als Journalistin schreibt sie seit Jahrzehnten über Essen und Trinken, da ist man zwangsläufig verwöhnt, was Essen betrifft. Andererseits hatte sie als Freiberuflerin und allein erziehende Mutter immer wieder finanzielle Engpässe zu bewältigen. So hat Rozsika Farkas gelernt, aus schlichten, preiswerten Zutaten gutes Essen zu zaubern, mit dem sie auch Gäste glücklich gemacht hat. Geärgert hat sie sich immer wieder über Bekannte, die – obwohl finanziell gutgestellt – Biolebensmittel zu teuer fanden. Insofern schlummerte die Idee, einmal zu beweisen, dass Bio für wenig Geld möglich ist, schon länger in ihr.


«EIN UMDENKEN IST VOR ALLEM FÜR JUNGE SCHWIERIG!»


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Beim Thema Arm und Reich denken wir auch an das Ungleichgewicht der Kleiderproduktion: Arme produzieren für (vermeintlich) Reiche und werden ausgebeutet. Während die grossen Medien auf Primark und Konsorten einprügeln haben wir zwei Schweizer Jungdesignerinnen gefragt, wie sie produzieren – und wie sie selber einkaufen und was ihnen wichtig ist. Stefanie Biggel und Claudia Nabholz standen uns Rede und Antwort. //Text & Interview: Miriam Suter

Stefanie und Claudia, wie shoppt ihr selber? Wie oft kauft ihr euch neue Kleider? Stefanie: Nicht sehr oft. Ich kaufe mir gerne etwas richtig tolles, das allerdings dann nur so zweimal pro Jahr. Auch trage ich Kleider aus meinen eigenen Kollektionen. Claudia: Seit ich das Café (Café Meise in Baden, Anmerk. d. Red.) habe mit der dazugehörigen Boutique kann ich meine Kauflust etwas anders befriedigen indem ich für die Boutique einkaufe. Ich gehe so etwa alle zwei Monate Mal einkaufen. Dann kann es aber gut sein, dass ich gleich einige Teile kaufe. Worauf achtet ihr beim privaten Einkaufen bei Kleidern? Stefanie: Als Designerin bin ich da eher kritisch. Schöne Materialien und Verarbeitung sind mir wichtig, sowie eine gewisse Zeitlosigkeit. Mittlerweile hat sich mein Stil gefestigt und ich kann einschätzen, wo sich eine Investition längerfristig lohnt. Claudia: Seit ich mein eigenes Label habe und intensiv über alles nachdenken und entscheiden muss, ist mir Fair Trade und der Herstellungsort sehr wichtig. Ich versuche sehr bewusst bei meinen Einkäufen darauf zu achten. Jedoch ist die Transparenz nicht immer da.


Wo kauft ihr gerne ein? Stefanie: Eigentlich fast nur wenn ich im Ausland bin. Der ganze Akt des Einkaufens ist dann viel spezieller. Grundsätzlich finde ich Shopping aber eher anstrengend. Die Sachen müssen mich finden. Claudia: Ich kaufe gerne direkt bei jungen Designern ein. Berenik, Fink und Star als Beispiel für schweizer Labels. Sonst gehe ich gerne bei Waldraud, Fräulein Frech, Karikari vorbei und lass mich vom Angebot überraschen.

Ihr als Designerinnen – wie und wo lasst ihr produzieren? Stefanie: Die Kleider in Bulgarien. Accessoires im Moment noch in Indien was ich jedoch bald ändern möchte. Obwohl ich selber da war und mir alles angeschaut habe, wünsche ich mir mehr Kontrolle. Claudia: Ich produziere zurzeit alles in meinem Atelier in Baden. Ich habe noch ein paar Helferinnen die mir mit ein paar Stücken zur Hand gingen. Meine ersten zwei Kollektionen liess ich im Tessin produzieren.

Was ist das teuerste Investment-Piece in eurem Kleiderschrank? Stefanie: Ein Paar weisse Schuhe von Céline. Claudia: Das ist ein Blusenkleid aus Seide eines deutschen Labels das ich aus Berlin mitgenommen habe.

Wo bezieht ihr die Materialien für eure Stücke? Stefanie: Hauptsächlich aus Europa. Österreich, Deutschland, Italien, England und in der Schweiz. Claudia: Ich habe einen deutschen Stofflieferanten der Stoffe aus Deutschland, Italien und Schweiz in seinem Sortiment hat.


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Stefanie, du hast gerade deine Produktion umgestellt. Inwiefern und weshalb? Hauptsächlich weil ich nun die Möglichkeit habe meine Samples vor Ort in Bulgarien direkt in der Produktion zu entwickeln. So spare ich viel Zeit und habe viel mehr Kontrolle. Auch läuft dann die tatsächliche Produktion reibungsloser ab und ich kann die hohe Qualität der Produkte garantieren. Was haltet ihr von Masseneinkäufen wie es viele junge Frauen bei Primark tun? Stefanie: Ich finde dies sehr bedenklich. Ich habe zwar früher selber oft bei H&M und so weiter eingekauft, jedoch nie in einem solchen Ausmass. Es ist schlimm, wie so der Wert an Mode sinkt. Kleidung sollte nicht als ein Wegwerfprodukt gesehen werden. Es schadet der ganzen Branche und den Menschen die involviert sind. Claudia: Ich finde es verständlich… Das Angebot ist riesig und die Preise sind unglaublich billig. Wer möchte schon nicht seine Garderobe ständig wieder neu auffüllen. Es ist unglaublich schade, dass damit das Verständnis für faire Preise völlig vergessen geht. Eine Bluse für 20 Franken, das ist einfach gar nicht machbar auf eine faire Art und Weise. Aber leider ist das einer jungen Frau gar nicht bewusst. Wenn es so angeboten wird denkt man doch gar nicht von alleine daran, wie diese Preise wohl zustande kommen. Ich habe das früher teilweise auch so gemacht, mir war das selber auch nicht wirklich bewusst. So richtig verstehe ich es auch erst seit ich selber nähe und sehe wie lange es braucht um ein Stück zu produzieren. Was brauchen wir als Konsumenten damit uns ein Umdenken bezüglich Wertschätzung der Kleidung und der Preisgestaltung gelingt? Stefanie: Ich beobachte in meinem Umfeld oft ein bedenkliches Einkaufsverhalten. Man kauft etwas so ne-


benbei, trägt es einmal und verkauft es dann wieder am Flohmarkt oder entsorgt es. Rechnet man dies hoch könnte man so viel Geld sparen und in etwas richtig Schönes investieren, das man dann auch wertschätzt. Diese Erkenntnis könnte helfen, ist aber bei jüngeren Konsumenten schwierig umzusetzen. Claudia: Viel informieren, immer und immer wieder. Dokumentationen in denen einem aufgezeigt wird in was für Bedingungen diese Leute produzieren müssen um unsere billigen Preise halten zu können. Wenn man es einmal weiss und verstanden hat, geht man mit einem anderen Bewusstsein einkaufen. In einer Dokumentation habe ich gesehen, dass es genügen würde wenn wir alle 5% mehr zahlen würde um den Arbeiter / innen einen angemessenen Lohn zu zahlen. Ich glaube die meisten wären bereit das zu bezahlen. Wir danken Stefanie und Claudia sehr herzlich für das Interview!


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STEFANIE BIGGEL Hat 2009 ihr Studium am Institut Mode Design an der FHNW in Basel abgeschlossen und 2012 ihr eigenes Label gegründet. Sie lebt und arbeitet in Zürich. www. stefaniebiggel.com

CLAUDIA NABHOLZ Studierte an der Universität Zürich und machte ihren Master in Wirtschaftspsychologie 2008. Während ihres Studiums besuchte sie zahlreiche Weiterbildungen im Bereich Mode im In- und Ausland. 2009 eröffnete sie in Baden «Frau Meise» Café und Boutique. 2012 gründete sie ihr eigenes Modelabel «Claudia Nabholz». www.claudianabholz.ch


RAUB -EINIGER GEWINNVERLUST //Text: Anna-Maria Goebel //Bild: Reiner Nicklas

Beim Eintritt in die Wohnung zieht ihr der Geruch von frisch gebratenen Zwiebeln entgegen. Jan erwartet sie zwei Schritte entfernt von der Tür, in seinem alten vergilbten Wollpulli und Jeans. Die Arme hat er freudig ausgebreitet. Hinter ihm stehen die zwei Freunde, diskret und doch neugierig ihre erste Begegnung zu beobachten. Niemand sagt etwas. Marie hat Matsch an den braunen Stiefeln und fühlt sich unsicher. Unter den erwartungsvollen Blicken zieht sie ihre Boots aus, mit der Schuhspitze gegen die Hacke. Dann geht sie mit einem löchrigen Strumpf auf die immer noch ausgebreiteten, unter der Wartezeit im Herabsinken begriffenen Arme zu. Sie fühlt sich unvorbereitet für das, was nun kommt. Ein Schritt und dann der Zweite und dann auf die Zehenspitzen und dabei mit Einer auf seinen Fuss und mit der linken Hand linkisch gegen seinen rechten Arm. Ein unsanftes Anstossen zweier Körper aus Holz, die sich so lange Zeit nicht berührt haben. Er lacht und will sie küssen, aber sie hat den Kopf schon zum Wangenkuss ausgerichtet, sodass ihre Jochbeinknochen aneinander knallen. Statt einer Begrüssung entfährt ihr als erstes Wort eine Entschuldigung. Der Moment vergeht ohne ein Gefühl zu hinterlassen. Sie übergeht sein Nachjustieren, geht schnell um Drea und Johannes zu begrüssen. Im Wohnzimmer ist der Tisch reich gedeckt. Salat, Brot, Äpfel, Olivenöl, Wein

und Wasser auf der rot karierten Decke, dampfendes Risotto, Kerzen und Salz. Sie hat auch einen Wein mitgebracht, aber er ist warm, darum stellt Drea ihn in den Kühlschrank und schenkt den schon auf dem Tisch Stehenden ein. Setzen, essen, reden, blicken. «Ein Foto!», sagt Paul und installiert die Kamera mit Selbstauslöser. Wie eine Holzpuppe sitzt Marie auf ihrem Stuhl und starrt Jan aus ihren grünen Augen an. Ihre grob geschnitzten Finger hinterlas-

fernt liegt. Warum eigentlich? Als die Freunde ins Bett gehen, bleibt sie allein mit ihm und den Wachsresten zurück. «Kannst du gut egoistisch sein?», fragt sie ihn. Überrascht sieht er zur Seite um nachzudenken. Sie folgt seinem Blick auf das Wohnzimmerregal. Da steht ein Foto mit Drea, Johannes, Jan und einer Frau, die zutraulich den Arm um seine Taille gelegt hat. Maries Bauch knurrt leise. «Nein,» sagt Jan. «Sollte ich? Mir fallen die Dinge eher zu, ohne dass ich

«KANNST DU GUT EGOISTISCH SEIN ? » sen keine Abdrücke am Glas. Jan guckt zurück, lächelt durch seinen Bart, blickt weg und ins Objektiv. Ein Blitz überlichtet ihr zur Unkenntlichkeit verzerrtes Maskengesicht, dann wieder Kerzenschein. Marie stopft den Reis in ihren Holzkörper, beim Kauen quietschen die Scharniere ihres Kiefers und das Wort Lärmbelästigung bleibt ihr im Hals stecken. Mit unstillbarem Hunger wartet sie höflich auf die zweite Runde. Doch Drea fragt nicht, ob noch jemand will, interpretiert ihre Zurückhaltung als Sattheit und räumt ab. Maries Augen folgen dem halbvollen Topf und wechseln von grün zu grau. An den Karos der Tischdecke entlang zieht sie stumm Parallelen zwischen Johannes zärtlicher Berührung auf Dreas Hand und ihrer Eigenen, die so unerreichbar weit von Jans ent-

sie für mich gewinnen müsste.» «Gewinnen?», wiederholt Marie nachdenklich, den Blick immer noch auf das Gruppenfoto geheftet. «Wie eine Lebenslotterie?» Er streckt die Hand aus, berührt ihre Wange, dreht ihren Kopf zu ihm zurück. Mit der flachen Hand streicht er ihr stumm lächelnd über das Gesicht, sodass sie die Übersicht verliert, fährt ihr durch die gefärbten Haare, um den Nacken, zieht sie näher und küsst sie. «Magst du Puppenspiele?», fragt sie in seine Lippen hinein. «Vielleicht», sagt er und küsst sie weiter. Ungelenk zieht er sie um den Tisch herum, manövriert sie auf seinen Schoss. Sie weiss nicht, wie sie sitzen soll, will ihm nicht ihre ungehobelten Sitzbeinhöcker in den Oberschenkel bohren, bewegt sich abgehackt.


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Später schwitzt sie unter der dicken Decke, klebt an seiner Haut, kein Millimeter Stoff trennt ihre Körper, die nicht ineinander passen wollen, die einfach nicht einrasten. Er greift nach ihrer Schulter, dreht sie herum, etwas ruppig. Es fällt ihr schwer, sich von ihm führen zu lassen und wieder quietschen ihre Gelenke und jetzt auch das Bett. In ihrer Körpermitte das Verlangen und sie unfähig, sich zu nehmen, was sie will, egoistisch zu sein. Müsste es nicht schöner sein? Sollte es nicht alles ganz natürlich fliessen? Sie spielt ihr Marionettenspiel und er verfängt sich zwischen den Fäden ihrer Überforderung. Umständlich entwinden sie sich wieder, brechen ab. In der Dunkelheit befühlt sie sein fragendes Gesicht. «Das ist nicht mein Platz», erklärt sie in die Stille. «Ich fühle mich, als ob ich etwas wegnehmen würde.» «Was denn?», fragt er sie geduldig. «Das Risotto, den Wein, die Teilnahmeberechtigung an euren Gesprächen, den Platz im Gruppenfoto, dich.» Er erwidert nichts wie um sie zu bestätigen, dreht sich auf den Rücken und zündet sich eine Zigarette an. Die Glut erhellt sein Gesicht. Es ist schön, so schön, dass man Angst haben könnte, es zu zerbrechen. Sie setzt sich auf, fühlt nach ihren Kleider auf dem Boden. Er versucht, sie zurück zu ziehen. «Ich mag es, dass du so kritisch bist.» Sie entschlüpft matt seinem Griff, zieht sich an. «Ich gehe jetzt.» «Wir können ja auch einfach nur

Arm in Arm schlafen.», sagt er sehnsüchtig. «Du bist ein Schatz.», erwidert sie, streicht ihm jetzt zärtlich über den Arm, «Aber du bist nicht frei.» Die

«ICH FÜHLE MICH, ALS OB ICH ETWAS WEGNEHMEN WÜRDE.» Erkenntnis treibt ihr bittere Tränen in die Augen. «Dann raub mich», säuselt er. «Das will ich nicht. Das fühlt sich falsch an, nicht rechtens und auch nicht besonders sexy», sie schluckt. «Ich habe keine Kraft, das Holz aufzubrechen. Es tut mir leid.» Beim Hinausgehen legt sie einen Zehner vor die Tür von Drea und Paul, wischt mit einem Taschentuch die schmutzigen Abdrücke ihrer Schuhe von der Diele, sie will nichts schuldig bleiben. Die Tür schlägt hinter ihr zu und die kühle Nachtluft in ihr Gesicht, lindert das einsetzende Brennen ihrer jetzt doch wütend funkelnden Augen. Auf dem Weg zur Bushaltestelle glaubt sie den Vorhang seines Schlafzimmerfensters zurückfallen zu hören, aber sie dreht sich nicht mehr um. Er kann ihr gestohlen bleiben. Ein Flaschensammler wühlt scheppernd in einem Mülleimer und klatscht einsam Beifall für ihr gewinnloses Puppenkistenspiel.

ANNA-MARIA GOEBEL geboren 1986 im Chiemgau, studierte Medizin in München, Madrid und derzeit in Berlin. Als Autorin verfasst sie Musikartikel, Kurzgeschichten und 2011 das Theaterstück «Kommen Sie nackt» (Werkschau in der Volksbühne und TiK Berlin). Sie beschreibt Zwischenmenschlichkeiten im Drahtseilakt zwischen Gewinn und Nutzen mit Fingerspitzengefühl und nimmt auch mal die Axt mit auf den Holzweg.


DIE SEITE FÜR DIE KURZEN Eine Seite, eine Geschichte. Wir geben Autoren Platz, die Autoren geben uns Buchstaben – und ihr bekommt in jeder Ausgabe eine Kurzgeschichte.

Wenn wir alle verschwunden sind, den Planeten in einer der denkbaren Formen verlassen haben, könnten die Kräne zum Leben erwachen. Jahrelang werden sie dastehen, gelb und gross, im Grün der Hügel des Schweizer Mittellands, im Braun Andalusiens werden sie in Kleingruppen oder einzeln neben halbvollendeten Gebäuden verharren und vergeblich darauf warten, dass die Arbeit wieder aufgenommen wird. Nichts wird zu hören sein ausser dem Gurren der Tauben, einigen Ratten vielleicht, die durch das Gestrüpp rascheln. Und der Wind, der Föhn, der weiterhin über die Alpen einmarschiert, wird die Maschinen zum Schwanken bringen, schwanken werden sie, aber sie werden nicht umfallen. Spinnen werden ihre Chance wahrnehmen und Taunetze zwischen die Gitterstäbe spannen, die den Winden trotzen. Mit den Jahren werden die Kräne schwarz-gelbe Muster aufweisen von all den Insekten, die sich zwischen ihren Eisenknochen verfangen haben: Feldmaikäfer, Marienkäfer, fliegende Ameisen, Eulenfalter. Von den geborstenen Scheiben verführt nisten sich Tauben in den Kabinen ein, die von Kabinenhebel zu -hebel und von Schaltknopf zu Schaltknopf springen, als ahnten sie deren Bedeutung. Dabei ernähren sie sich von Insekten, die von der Sonne gedörrt worden sind.

Und dann, eines Abends, wird sich ein Oberdreher-Kran in der Windstille bewegen, vielleicht aus eigenem Willen, vielleicht, weil die Tauben endlich die richtigen Knöpfe fanden. Aus der Feierabendposition, in der man ihn zurückgelassen hatte, wird er sich der Sonne zuwenden. Die Spinnennetze flattern etwas, aber sie bleiben bestehen. Der Kranausleger wird gegen den Ausleger eines Artgenossen prallen, der sich nun ebenfalls zur Sonne dreht. Andere Kräne folgen dem Vorbild. Ein Beobachter, ein letzter Mensch, könnte sehen, wie die Eisengalgen vor dem Sonnenuntergang tanzten. Tage später schiesst ein Hubseil hinunter, ohne dass jemand den Haken einspannt. Manchmal verrutscht eine Laufkatze, und die Seile zweier Nachbarn verfangen sich und biegen die Kräne zur ewigen Umarmung. Schräg stehen sie nun da, ohne umfallen zu können, denn die Fundamentplatten wurden zu sauber versetzt, der Schwerpunkt zu gewissenhaft berechnet. Erschreckt flattern dann die Tauben auf und suchen sich einen neuen Unterschlupf in der nächsten Krankabine oder auf Handyantennen, die keine Signale mehr senden. Adam Schwarz, 23, ist ein höheres Säugetier aus der Ordnung der Primaten und lebt, schreibt und studiert in Basel. Seit einigen Jahren veröffentlicht er Prosatexte in Schweizer Literaturzeitschriften, z. B. «entwürfe», «NaRr» oder «Lasso». www.adamcschwarz. wordpress.com


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WEST SIDE STORY IN ZÜRICH! Die West Side Story setzt ihre Erfolgsgeschichte fort. Der Broadway-Klassiker in der hochkarätigen und international gefeierten Inszenierung von Joey McKneely mit der selten gezeigten Originalchoreografie von Jerome Robbins ist in der Saison 2013 / 14 an den grossen europäischen Bühnen und in Tel Aviv zu erleben. In der Schweiz wird die Inszenierung ausschliesslich in Zürich zu sehen sein: Vom 18. Februar bis 16. März 2014 wird die West Side Story erneut im Theater 11 gastieren. //Text & Bilder: zVg von FBM Communications AG

Die Inszenierung von West Side Story vereint die unvergleichlich vitale Musik, die mitreissende Dramatik und die brennende Aktualität des Meisterwerks in einer aufwändigen Produktion mit 36 Darstellern und insgesamt über 80 Beteiligten. Und darüber hinaus charakterisiert sie etwas, das für die authentische Inszenierung des Meisterwerks wesentlich und doch derzeit weltweit einmalig ist: Jerome Robbins‘ unnachahmliche, atemberaubende Tanzsprache, einstudiert von Joey McKneely. Denn nicht nur Bernstein betrat mit seiner Komposition so mutig wie keiner vor ihm im Musik-theater Neuland. Robbins tat es ihm auf dramaturgischer Ebene gleich, indem er seine Choreografie zu einem wesentlichen Teil der Erzählung machte. Entfernt man die Originalchoreografie aus dem Stück, geht ein entscheidender Teil der Geschichte verloren. Die

Inszenierung des ehemaligen Robbins Schülers McKneely zeigt dessen Originalchoreografie so frisch, als hätte sie eben erst Premiere gefeiert. Die jungen, in New York gecasteten Darsteller interpretieren sie mit umwerfender Energie und technischer Brillanz, als lebten sie ganz in diesem einzigartigen Werk. Dieser Eindruck der Authentizität verstärkt sich noch durch die Darbietung in der englischen Originalsprache. Musikalisch besticht das Orchester unter der Leitung des renommierten Dirigenten und Komponisten Donald Chan. Mit der Verfilmung des Meisterwerkes wurde West Side Story aus der Feder des ersten «Creative Teams», bestehend aus den vier genialen Köpfen Leonard Bernstein, Jerome Robbins, Arthur Laurents und Stephen Sondheim, ausgezeichnet mit zehn Oscars, wenige Jahre nach der Broadwaypremiere einem Millionenpublikum bekannt. Als Musical geriet West Side Story zu einem der erfolgreichsten Bühnenstücke aller Zeiten und wurde für das amerikanische Musiktheater wegweisend. Von seiner ursprünglichen Brisanz und Aktualität hat dieses Stück bis heute nichts verloren. Unsterbliche Kompositionen wie «Tonight», «Maria», «America» oder «Somewhere» aus der Feder von Leonard Bernstein machen es neben der packenden und gleichsam tief bewegenden Geschichte auch musikalisch zu einem zeitlosen Glanzstück. «Ein aufregender, rasender Triumph!»,

schrieb The Observer aus London. «Ein Triumph wie er auf den Bühnen von Paris seit einer Ewigkeit nicht mehr zu erleben war», schwärmte Les Echos aus Paris während die Basler Zeitung «eine brillante West Side Story aus New York» gesehen hatte, «klassisch, knackig, kraftvoll», und Le Monde lobte: «Das Ballet gibt grossartige Tanzszenen. [...] Swing und Jazz sind von treibender Kraft». Le Nouvel Observateur aus Paris urteilte: «Einfach alles an dieser West Side Story rechtfertigt ihren enormen Erfolg am Théâtre du Châtelet» und Le Figaro konstatierte: «Alles ist perfekt und auf den Millimeter abgestimmt, bis in das kleinste Fingerschnipsen hinein.» Weitere Infos siehe www.musical.ch


AUS DEM HANDGELENK Der Zürcher Grafikdesigner Maracus Kraft hat einen starken Pinselstrich. Für diese Ausgabe hat er die passenden Songzitate aus seinem Buch «Don't Eat the Yellow Snow» herausgepickt //Text & Bilder: Marcus Kraft

EAT THE RICH Aerosmith


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EVERYBODY WANTS TO RULE THE WORLD Tears for Fears


COUNT YOUR BLESSINGS (INSTEAD OF SHEEP) Guru


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MONEY WON'T SAVE YOU Jimmy Cliff

MARCUS KRAFT lebt und arbeitet in Zürich. Er arbeitet mit Kunden aus der Schweiz und dem Ausland zusammen, ab und zu initiiert er auch eigene kreative Projekte – wie eben die Sammlung aus Songzitaten «Don't Eat the Yellow Snow», zu kaufen etwa im Waldraud Concept Store in Zürich.


I JUST DON'T KNOW WHERE TO BUY FOR MYSELF

ICH KAUFE ALSO BIN ICH. Herzlichen Glückwunsch zu 15'411 likes für Primark Schweiz, dem Versuch die irische Ladenkette in die Schweiz zu holen! Endlich sind wir dort angekommen, wo uns die vom Kapitalismus angetriebene Modewelt seit gut 20 Jahren hinlenkt. Relativ willensschwach, unzufrieden mit uns selbst und durch den Konsum stimulierbar wie eh und je. What a time to be alive! //Text: Stephanie Stefan Als ich im Oktober letzten Jahres auf Verwandtschaftsbesuch war in der Vojvodina, im Norden Serbiens, traf mich fast der Schlag. Während des gemeinsamen Abendessens hob mein Onkel die schwere, mit Fleisch beladene Platte vom Tisch und befahl mir zu lesen, was dort unten auf das weisse Porzellan gedruckt war. «REICHSARMEE. 1943. DAS DEUTSCHE REICH.», Reichsadler inklusive. Bitte, was? Mein Gesicht war eine Landschaft aus Schock und zugleich hiess es: «Stell dich nicht so! Das haben uns die Deutschen alles verzweifelt versucht zu verkaufen, als klar wurde, dass sie den Krieg verlieren würden. Die haben auch ihre Uniformen gegen die Kleidung von irgendwelchen Bauern getauscht. Ha! Manche von denen tragen noch heute so ein Nazi-Stück!» Und tatsächlich scheint es hier und da noch einen älteren Herrn zu geben, der in eine dunkelgrüne Hose schlüpft oder im Offiziersmantel rumläuft. Die Kleidung, so sagt man mir, habe eine ungeheure Qualität und schöne Schnitte hätten sie, das müsse man ihnen lassen, den Deutschen. Parallel dazu verzweifle ich über einen geliebten Rock, dessen Stoff nach gut fünf Jahren (schon?) völlig kratzig und hart geworden ist. Im besten Fall würde sich das arme Ding einfach in

Flusen auflösen, so wie schon manch anderes Stück, das ich zu Tode getragen habe. In meinem Schrank findet sich auch die Hochzeitshose meines

präsentierten. Erst in den 90ern kamen zusätzliche Kollektionen hinzu, um die Käufer in der Mitte der Saison bei Laune zu halten. Heute gibt es im

«Säcke von ausrangierten Kleidern stapeln sich im Keller meiner Eltern und darunter sogar ein schlichtes, weisses T-Shirt.» Vaters. Weil ja, auch ich nehme mir hier und da ein unorthodoxes Stück und trage es spazieren. 22 Jahre alt ist das gute Ding und das penetrante Petrolgrün von damals will und will nicht aufhören zu leuchten. Jedoch zu sagen, dass ich jedes Kleid und jeden Pulli trage, bis man sie als Stopfwolle brauchen kann, wäre gelogen. Säcke von ausrangierten Kleidern stapeln sich im Keller meiner Eltern und darunter sogar ein schlichtes, weisses T-Shirt. Einfach weil man ihm ansieht, dass es schon mehr als zwei Jahre alt ist. Und nein, es geht nicht mehr gut. Mir nicht und auch sonst nicht. Die heutige Modeindustrie produziert neue Stücke am Laufband. Es ist noch nicht lange her, dass die grossen Modehäuser zwei Kollektionen pro Jahr

High-End-Segment einen Dschungel, den man nur als Wahnsinn bezeichnen kann: Neben Spring- und Fall-, tummeln sich da die Haute-Couture- , Cruise-, Ready-to-Wear-, Pre-Fall- und Bla-bla-Spend-Money-Collections. Im heimischen H&M kommen um den Saisonwechsel herum täglich neue Stücke rein. Blickt man zurück auf die 60er (Minikleider), 70er (Schlaghosen), 80er (Leggins) und 90er (Grunge) sind noch gemeinsame Nenner zu finden. In diesen Jahrzehnten kamen und gingen modische Trends um ein vielfaches langsamer. So langsam, dass wir Kleidungsstücke ganzen Jahrezehnten zuordnen können. Aber was man zu den 2000ern sagen soll? Es lässt sich kaum ein Jahr vernünftig


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zusammenfassen. Ist es das Streben nach Individualismus? Ist es Chaos? Es ist Kaufsucht. Und die kommt von oben. Das übermässige Angebot allein kann den Käufer nicht dazu verleiten sein Geld auszugeben, aber mit einer Werbeindustrie, die nicht nur die Ideale des Produktes, sondern auch des Privatlebens verkauft, ist man dem Ziel schon näher. Werbung für Mode ist über das letzte Jahrzehnt deutlich aggressiver und provokanter geworden. Das Konsumieren von Medien und Werbung ist schon lange nicht mehr eine Option, zu der man Zugang hat, sie ist unausweichlich. Den Nachwirkungen zu

unterbewusst aufgenommen und gespeichert wird. Viel mehr als nur der Eindruck des Produktes, bleiben auch Ideale davon, wie Liebe, Körper und unser Verhalten auszusehen haben. Und darüber hinaus, werden eben diese Mitteilungen immer gefährlicher. Wo in der Modeindustrie ein Körperideal verkauft wird, das unerreichbar ist, wird auch eine einfache ‹Lösung› für das Dilemma mit Size Zero angeboten: Man könnte sich ja einfach schön kaufen. Dass dies für unser mentales Wohlbefinden schädlich ist haben wir erkannt, aber was der ausufernde Kaufrausch für andere Menschen und die Umwelt

«Das Konsumieren von Medien und Werbung ist schon lange nicht mehr eine Option, zu der man Zugang hat, sie ist unausweichlich.» entkommen ist kaum möglich, auch für jene, die meinen, solche Dinge einfach ignorieren zu können. Im Dokumentarfilm Killing Us Softly 4 (2010) erklärt Jean Kilbourne, wie die eigentliche Mitteilung von Werbung

bedeutet, fängt erst an zum Thema zu werden. In der Schweiz produzieren wir jährlich etwa 40'000 Tonnen Textilmüll, die Recyclingquote liegt bei 50%.

Das Angebot an Recyclingmode, Second-Hand und ‹fairer› Kleidung wächst zwar, aber am eigentlichen Problem kann auch das nichts ändern: Gekauft wird trotzdem, wenn auch vermeintlich ‹grün›. Slavoj Zizek, slowenischer Philosoph und Kulturkritiker, erklärt unser Verhalten am ‹Starbucks-Phänomen›: Wir sind bereit etwas mehr zu bezahlen, wenn man uns erzählt dass der Kaffee aus fairem Handel kommt, dass 30 Rappen bolivianischen Waisenkindern zukommen oder irgendwo ein Brunnen gebaut wird. Obwohl gut gemeint laufen Bio, Fairtrade und Konsorten darauf aus, dass ein moderner Ablasshandel betrieben wird. Wir bleiben brave Konsumenten, wir kaufen weiter und für ein paar Franken mehr, beruhigen wir auch unser Gewissen. Unser derzeitiges Wirtschaftsmodel ist ein Teufelskreis aus dem man nicht raus kommt, solange man es weiter nährt. Aber wie entkommen? Einfach mal Revolution? Einen konkreten Plan offeriert auch Zizek nicht, aber er mahnt davor einfach zu handeln. «Don't act. Just think». Sein Prinzip ist, dass wir die Situation mental vollumfänglich erfasst haben müssen, bis man sich daran machen kann in Aktion zu treten. Und in der Zwischenzeit? Sollte man ab sofort gar nichts kaufen? Ist die


gut gemeinte Biomarke nur Beschiss? Jein. Auf Dauer lässt sich so das Problem zwar nicht lösen, aber es ist bestimmt besser als Nichts. Ablasshandel hin oder her. Wenn die Lust nach Mode ruft, gibt es doch einige Alternativen, die zwar nicht perfekt sind aber auf jeden Fall besser als H&M, Zara und vorallem natürlich Primark.

tige Material und es kann los gehen! Für ein wirklich spezielles Statement Piece würde es sich auch lohnen zum Schneider zu gehen. Oft kann man zum Beispiel mit Lehrlingen oder Hobbyschneidern gute Preise vereinbaren. Oder mal bei Oma anfragen, ältere Damen sorgen in diesem Gebiet nicht selten für Überraschungen.

Kleider tauschen Die meisten Frauen horten irgendwo Kleider, die sie nicht mehr tragen. Warum nicht die Freundinnen zu Kaffee und Kuchen einladen und einfach mal einige Sachen austauschen? Man kann einerseits alte Stücke wiederbeleben oder einfach mal für einen Sommer Garderoben tauschen.

Adressen zum Materialkauf > Stofftrucke, Löwenstrasse 2, Zürich > Bastelboutique Leibundgut, Kuttelgasse 8, Zürich

Termine gibt es wieder im nächsten Frühjahr. Mehr Infos auf www.infoklick.ch/walkincloset

Etsy Schade ist Etsy verschrien für das Bleistift mit zwei angeklebten Plastikaugen, welches dann 5 Euro kostet, denn es gibt so viel mehr zu entdecken. Fleissige Bastler und noch unentdeckte Visionäre tummeln sich hier und bieten das an, was alle wollen, aber kaum jemand sich leisten kann: Einzigartigkeit. Mit etwas Geduld lässt sich hier etwas für jeden Geschmack finden. Zwar wird auch hier neu gekauft, jedoch unterstützt man private Produzenten, Freizeit- und Jungdesigner.

Selber machen und machen lassen Auf Pinterest stapeln sich DIY-Ordner mit Schnittmustern sowie Bastelanleitungen für Selfmade Schmuck. Dann braucht es nur noch das rich-

Einige Etsy Shops zum Einstieg: Kleidung: > BLUSHFASHION > RemixdClothing > Riordan Roache

Wer umgeben ist von Freundinnen mit zu unterschiedlichen Kleidergrössen, der kann sich hier Ideen holen: > Walk-in-Closet ist eine Aktion in der Schweiz wo man sich zum Kleidertausch treffen kann.

> Babooshka Boutique > deboy2000 > ZIBtextile Schmuck: > Celine H2O > HaKNiK > gudbling > beYOUtifulhandmade > NasuKka

STEPHANIE STEFAN ist 20 und dementsprechend verwirrt. Tanzt mit jedem Bein auf einem anderen Fest und Beine hat sie viele. Studentin an der UNIL und jetzt auch noch Regieassistenz der ZHdK. Bildet sich ein auch noch Zeit für Hobbys zu haben. Ist aber alles gelogen! Das einzig wahre ist Katzenmutter zu sein.


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HOW TO BE RICH //Text: Lucas Wirz //Bilder: Paulo Wirz

Mountains of gold. Emerald trees with diamond fruits. Rivers of money with sapphire fishes. Rubi birds flying on a blue pearl sky and i realize, i realize that i am alone. No one to tell about, no one to share it, no one to give some. I feel empty, desolate and all the brighty richness around me remains the same, indifferent. No help, no warmth, no affection, no compassion. While i walk, with the wish to find someone, far away i see two guys coming. I can not identify who they are, but at the same time i feel some wood fire starting inside my body. Suddenly i realize, it's my brothers and i run, run, run till them. We met and without thinking anymore on all that things of value we hugged each other. Silence and a extreme sensation of fulfillment invade my soul and make me the richest person on the universe. Be rich, embrace. From nothing to everything.



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A priceless recipe to be a millionaire Skill level: for any age

Directions Put everything together and let them hugging for how long you want and it's done.

Preparation time: variable. Ingredients You will need two or more persons that you can find everywhere and a long, long hug. Hugs are priceless and you do not need to care about money, sounds amazing, isn't?

Conclusion This recipe is super healthy for your soul and you will not need to spend any money to it. ÂŤA hug is enough to melt all the gold on this planet and fill your life with priceless wealth.Âť


Steinbock

Wassermann

22.12.–20.01.

21.01.–19.02.

Tanke Energie und halte Winterschlaf. Die Welt dreht sich ausnahmsweise auch mal ohne dich.

Arm bist du sicher nicht. Du hast die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Schätze das. Fische

Widder

20.02.–20.03.

21.03.–20.04.

Mit Geld kannst du zwar nicht sehr gut umgehen, momentan hast du aber eine gute Phase. Weiter so!

Eine Investition könnte sich bald lohnen. Immer schön die Augen offenhalten. Bleib dran!

Stier

Zwilling

21.04.–20.05.

21.05.–21.06.

Achtung bei hohen Ausgaben. Vor lauter Schenken hast du möglicherweise den Überblick über deine Finanzen verloren.

Immer mit dem Kopf durch die Wand. Geniesse ausnahmsweise mal die besinnliche Weihnachtszeit und sei nicht immer so stur. Krebs

Löwe

22.06.–22.07.

23.07.–23.08.

Nächstes Jahr wird alles besser, halte an deinen guten Vorsätzen fest und es wird sich lohnen!

Silvester lässt du die Korken knallen, das ist richtig so. Im Moment läuft bei dir alles perfekt!

Jungfrau

Waage

24.08.–23.09.

24.09.–23.10

Nutze die freien Tage und zieh dich ein bisschen zurück. Deine Freunde werden dich schon nicht vergessen.

Du bist momentan knapp bei Kasse? Egal! Ein DVD-Abend mit deinen Lieben und selbstgemachtem Popcorn ist auch schön. Skorpion

Schütze

24.10.–22.11.

23.11.–21.12.

Die Weihnachtszeit hat dich mehr gestresst als du erwartet hast. Schalte die nächsten Tage mal ein wenig ab.

Geld ist dir nicht wichtig und somit solltest du deine Energie lieber in deine Freunde investieren! Sie brauchen dich jetzt.


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REDAKTION Miriam Suter, Julian St辰uble LAYOUT Sara Suter Corinne Leuthard, Jasmine Varadi WEBSEITE Oliver Fabel, Sara Suter

KONTAKT www.moustache-magazin.ch info@moustache-magazin.ch redaktion@moustache-magazin.ch layout@moustache-magazin.ch inserat@moustache-magazin.ch 2013 moustache magazin. F端r unverlangt eingesandtes Text- und Bildmaterial wird keine Haftung 端bernommen. Alle Bild- und Textmaterialien sind Eigentum von www.moustache-magazin. ch und d端rfen nur mit deren Erlaubnis verwendet werden. Druck- und Satzfehler vorbehalten.

FREIE MITARBEITER Stefanie Biggel, Rozsika Farkas, Adam Schwarz, Benjamin von Wyl, Valerie-Siba Rousparast, Anna-Maria Goebel, Marcus Kraft, Fine Heiniger, Paulo Wirz, Lucas Wirz, Stephanie Stefan, Marlen Meier, Claudia Nabholz


Mein Hotelbett. Heute Nacht in: Montréal.

Wie jeder weiss, herrscht auch hoch über den Wolken eine Klassengesellschaft. Ein Vorhang trennt Kaviar von Chicken or Pasta. Vorne ist sich die feine Dame mit der Handtasche, die soviel gekostet hat wie ihr Flugticket, im hell ausgeleuchteten Waschraum die Nase am pudern und hinten ist die Nanny das vor einigen Monaten geborene Baby in der lauten Meute im engen Gang vor der ständig besetzten Toilette am in den Schlaf wippen. Ein Spaziergang zwischen den Vorhängen und warum ich gerne in der Economyklasse arbeite. Die meisten Passagiere steigen vorne ein und kämpfen sich, ständig mit dem Handgepäck an die Armlehnen stossend, langsam durch die Sitzreihen nach hinten. Es ist laut, viele stehen im Weg, breiten sich zu früh aus, müssen doch noch einmal aufs Klo, wollen Sitzplätze tauschen, Babygeschrei, erste Stresssituationen. Einmal in der Luft, gibts Getränke, Chicken or Pasta, vielleicht Salziges vorweg und Süsses mit Kaffee hinterher. Der Luftstrom der Triebwerke zieht an den eng aneinander gereihten Fenstern, die man durch die eng aneinander gereihten Sitzreihen kaum sieht, lautstark vorbei und hinterlegt die Szene mit einem permanenten Brummen. Ich habe etwa zwei bis drei Stunden nach dem Start die letzten Kaffeebe-

cher, in die möglicherweise noch gebrauchte Taschentücher gestopft sind, eingesammelt, wasche mir die Hände und spaziere mal nach vorne. Dahin, wo die Passagiere sitzen, die beim Einsteigen in die andere Richtung abgebogen sind. Die schlagartige Ruhe wenige Schritte nach dem Vorhang lässt mich kurz durchatmen. Das Licht ist leicht gedimmt, die Passagiere liegen gemütlich eingemummelt in ihren Sesseln, trinken einen Digestif, schauen einen Film oder gehen nochmals die Akten fürs bevorstehende Meeting durch. In der Küche liegen die Reste des mehrgängigen Menüs rum und ich stecke mir im Vorbeigehen eine Praline in den Mund. Wie es bei uns hinten gelaufen sei, wollen meine Kollegen und Kolleginnen wissen. Jaja, sie waren easy, viele Kinder. Bei euch so? Ach, ausser dem arroganten Sack auf 8A, dem wir es nicht recht machen konnten, wars ganz angenehm. Weiter nach vorne, noch ein Vorhang. Langsam wird es beinahe still. Die Triebwerke liegen einige Meter hinter mir, genauso die kleinen Kinder und der Fussballfanclub. Hier, ganz vorne, in der ersten Klasse, sitzt ein Ehepaar grad am mit weissem Stofftuch gedeckten Tisch und nippt am Espresso, während meine Kollegin das Bett für den Passagier auf der anderen Seite der Kabine aufschlägt. Dieser ist wohl auf der Toilette sein Pyjama am anziehen.

Auch ganz vorne schweife ich kurz durch die Küche, steck mir eine undefinierbare, von Sterneköchen kreierte Süssigkeit in den Mund und geh mal hinter der dicken Türe nach den Jungs am Steuerknüppel schauen. Unter uns die karge braune Landschaft der Mongolei, um uns das leuchtende Azur des Himmels und hinter uns die Dreiklassengesellschaft. Bevor ich wieder die paar dutzend Meter ins Heck zurückgehe, tanke ich noch einmal von der entspannten Atmosphäre aber freue mich dennoch, den meist bescheidenen und herzlichen Passagieren, die hinten auf mich warten, mit einem Wasser im Plastikbecher eine Freude zu machen. Und nicht erklären zu müssen, dass wir leider nicht drei, sondern nur zwei Bordeaux-Weine zur Auswahl haben oder es schwierig sei, mit den Flugzeugöfen das Rindsfilet à point zu servieren. Das gilt wie immer nicht für alle Flüge und alle Passagiere – ich arbeite auch gerne in der Business-Klasse, aber in Sachen Menschlichkeit erlebt man in der Menge nach wie vor die schönsten Dinge.

Julian Stäuble arbeitete als Flugbegleiter und erzählt von seinem Alltag: Geschichten aus der Bordküche, den Sitzreihen, den Flughäfen dieser Welt und Anekdoten zu Vorurteilen und Klischés rund um die Zivilluftfahrt. Ihr dürft euch in jeder Ausgabe über eine neue Episode «Come Fly With Me» freuen. Ready for Takeoff?!




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